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Eine geheimnisvolle, wie auf ihn zugeschnittene Zeitungsanzeige. Eine Reise um die halbe Welt, ohne das Ziel zu kennen. Und ein verlassener, dem Verfall preisgegebener Freizeitpark: Phasenland.
Jean weiß nicht, warum er hierher gebracht wurde oder was von ihm erwartet wird. Allein das unbestimmte Gefühl, dass ein Aufenthalt in Phasenland sein festgefahrenes Leben zum Positiven verändern wird, treibt ihn an.
Inmitten des desolaten Vergnügungsparks stellt Jean sich den in Komplexität zunehmenden Aufgaben der zwölf Parkabschnitte. Dabei muss er allmählich erkennen, dass die verfallenen Kulissen, die unfertigen Bauten sowie die potenziell tödlichen Fahrgeschäfte nicht seine größten Herausforderungen darstellen. Denn Phasenland ist nicht ganz so vereinsamt, wie gedacht.
Neugierige Blicke richten sich auf ihn, sowohl wohlwollende als auch hasserfüllte. Doch wer ist Freund und wer ist Feind? Wer ist Angestellter oder Eindringling? Mitspieler oder Konkurrent?
Nur widerwillig gibt der Park seine Geheimnisse preis: Land für Land, Attraktion für Attraktion. Jean muss sich die Frage stellen, ob seine Anwesenheit dem Zufall geschuldet oder er Spielfigur in einem ausgeklügelten Plan ist. Und ist es überhaupt vorgesehen, dass er Phasenland wieder verlässt?
Ein in sich abgeschlossener Mystery-/Entwicklungsroman für Leser mit Freude an Urban Exploring, Rätseln, Spannung, Selbstfindung – und der ein oder anderen unerwarteten Wendung.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Phasenland
Yves Gorat Stommel
an die Ruine des nie fertiggestellten – und mittlerweile wieder abgerissenen – Freizeitparkes Wonderland nördlich von Peking, die als initiale Inspiration für diese Geschichte diente
Phasenland
© Yves Gorat Stommel
2021
ISBN-13 (Druckversion): 979-8714724800
Lektorat:
Anja Koda
Coverabbildung:
Daniel Lieske
Web:
www.yvesgoratstommel.com
Facebook: www.facebook.com/yvesgoratstommelautor
Email:
Postanschrift:
Kibbelstrasse 14, 45127, Essen
Er verlor keine weitere Sekunde. Die eine Seite der Zeitung zerknäulte er in der Faust, den Rest ließ er zu Boden fallen. Dann machte er auf dem Absatz kehrt.
Und rannte.
Seinen Rucksack, den Regenschirm, seinen eben gekauften Kaffee – alles ließ er am Kiosk zurück.
Bloß an der Zeitungsseite hing er wie an seinem Leben.
Fünfzehn Minuten blieben ihm noch.
Schneller und schneller schlugen seine Schuhe auf den Pflastersteinen auf, als er rechts und links an Leuten vorbeihetzte, Schirme aus dem Weg schlug, rote Ampeln ignorierend über Kreuzungen rannte und in der nächsten U-Bahn-Station verschwand. Böse Proteste erntend, drängte er mehrere Personen auf der Rolltreppe zur Seite, immer lauter »Aus dem Weg, bitte, gehen Sie aus dem Weg!« rufend. Er spürte, wie seine Lunge schmerzte, sein Herz gegen seine Rippen schlug, Schweiß ihm den Rücken herabrann. Aber er durfte nicht langsamer werden. Seine Zukunft hing davon ab.
»Verdammt!«, fluchte er, als er über einen übersehenen Koffer auf der Rolltreppe stolperte und sich beim Sturz die scharfe Kannte einer Stufe in die linke Hand rammte. Die Blutung ignorierend, stolperte er weiter, schob mehrere Personen aus dem Weg und drängte sich in die U-Bahn. Obwohl das Abfahrsignal bereits wenige Sekunden später tönte, kam ihm die Wartezeit wie Stunden vor.
Der Zug fuhr los – nun konnte er bloß warten. Er nahm die Brille ab, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Ihm fiel seine verletzte Hand ein und er betrachtete zuerst diese und dann seinen Anblick in der Fensterscheibe. Ein roter Strich verlief quer über sein Gesicht. Egal. Irrelevant.
Er schaute um sich. Trotz der Stoßzeit und der vielen Fahrgäste hatte sich um ihn herum eine freie Zone gebildet. Mehrere Leute starrten ihn verunsichert und gleichzeitig neugierig an.
Sein Umfeld ignorierend, versuchte er das durchnässte Papier in seiner Hand zu entfalten, zerriss es aber stattdessen mit seinen zitternden Fingern. Es spielte keine Rolle: Die Adresse war ihm ins Gehirn eingebrannt.
Ungeduldig schaute er auf seine Uhr, dann auf den Fahrplan. Zwei Stationen hatte er bereits hinter sich gebracht, an der nächsten würde er endlich aussteigen. Er versuchte sich zu erinnern, wo dort die in das Stadtzentrum führende Treppe zu finden war, und entschied sich für die Mitte der Station. Momentan befand er sich vorne in der Bahn. Um nach dem Ausstieg Zeit zu sparen, begann er daher, sich durch die Menschenmasse einen Weg Richtung Mitte zu bahnen. Er zitterte immer noch vor Aufregung, sein Atem rasselte und seine Beine fühlten sich hohl an. Gleich mehrere Male blieb er an Schuhen oder Gegenständen hängen. Als die U-Bahn schließlich bremste, stürzte er, dabei fast einen älteren Herrn mit sich reißend.
Mit einer gemurmelten Entschuldigung rappelte er sich wieder auf und schoss wie aus den Startlöchern auf die Plattform, kaum, dass sich die Türen geöffnet hatten.
Er hatte sich richtig erinnert: Die Treppe lag kaum zehn Meter von ihm entfernt. Innerhalb weniger Sekunden hatte er sie erreicht und raste sie, immer drei Stufen gleichzeitig nehmend, hinauf.
Nun war es nicht mehr weit.
Seine Chancen standen nicht schlecht.
Kaum zehn Minuten war der Kauf der Zeitung her.
Welches Glück er gehabt hatte: Dass er gerade heute noch einmal in die Stadt gefahren war. Dass er sich entschlossen hatte, eine Zeitung zu kaufen. Das tat er eigentlich so gut wie nie!
Aber … Ob die Zeit noch reichen würde? Unsicherheit machte sich bemerkbar, und er fluchte leise über seine aufkeimenden Zweifel.
Er bog um die nächste Ecke. Da war es. Da vorne. Sein Ziel. Dort würde sich zeigen, ob seine Mühen sich gelohnt hatten. Ein letzter Sprint über die Straße, ein lautes Hupen, eine Glastür – er hatte es geschafft!
Laut krachte die Tür gegen die Mauer, hektisch sah er sich um.
Eine etwa dreißigjährige Frau, dünn und mit markanter Nase, sah ihn von ihrem Platz hinter dem Empfang aus abwartend an.
»Ich … bin hier …«, keuchte er.
Sie hob bloß die Augenbrauen, schloss den Laptop, ließ ihn in ihrer Aktentasche verschwinden und stand auf.
»… wegen …«
Sie fixierte ihn, dem Anschein nach kaum verwundert über diesen merkwürdigen Besuch.
Er holte tief Luft, legte die zerfledderte Zeitungsseite auf den Tresen, richtete sich auf, tippte mit dem blutigen Finger auf die Anzeige und presste hervor:
»Das bin ich!«
Links unten auf der bildfreien Seite stand in kleinen Buchstaben geschrieben:
Sie tragen ein geflochtenes Lederband mit silbernem Anhänger, sind neunundzwanzig Jahre alt, ansässig in Frankfurt und besitzen die Initialen J. B. S.?
Heute, 12:05 Uhr in der Schopenhauerstraße 15, Firma Amusement, Experiences & Co.
Jean B. Sourire hob den zitternden Arm, zeigte auf seine Uhr. »Fünf nach Mittag.«
»Bitte hier entlang«, sagte die Frau und trat an ihm vorbei.
Vor etwa vierzehn Stunden war er noch durch die Frankfurter Straßen gehetzt. Jetzt zog eine deprimierend karge Savanne an seinem Autofenster vorbei.
Was für ein Kontrast!
Jean schüttelte langsam den Kopf. Was tat er bloß hier? Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Ohne seinen persönlichen Antrieb – oder die Beweggründe der Firma Amusement, Experiences & Co. – zu hinterfragen, war er der Rezeptionistin zu einer vor dem Büro parkenden Limousine gefolgt. Schweigend war der Fahrer losgefahren, kaum, dass die Tür ins Schloss gefallen war. Als Jean das Ziel der Fahrt erkannt und darauf hingewiesen hatte, dass er keinen Reisepass bei sich trug, war er ignoriert worden. Tatsächlich hatte Jean seinen Ausweis nicht benötigt, da am Flughafen ein Privatjet für ihn bereitgestanden hatte und eine Identitätskontrolle somit entfiel. Der im Flugzeug auf ihn wartende Handkoffer hatte frische, ihm wie auf den Leib geschneiderte Kleidung enthalten. Den Rest des vermutlich um die neun Stunden dauernden Fluges hatte er in gespannter Erwartung verbracht. Bloß hin und wieder war er weggenickt, da die schnell aufziehende Dunkelheit – sie flogen offensichtlich nach Osten – seinen Biorhythmus durcheinanderbrachte.
Vom vereinsamten und staubigen Zielflughafen aus, war die ihm zugeteilte Limousine am frühen Morgen auf eine vierspurige Piste inmitten einer unendlich erscheinenden Einöde eingebogen. Der Asphalt war als letztes Indiz der Zivilisation verblieben. Darauf das einsame Fahrzeug, in dem Jean einem unbekannten Ziel entgegenfuhr.
Trotz der abwechslungslosen Landschaft betrachtete Jean jedes an seinem Fenster vorbeiziehende Detail. Das rechte Bein hatte er angewinkelt, damit das, um sein Fußgelenk geflochtene Lederband in Reichweite bringend. Mit den Fingern rieb er nervös an dem daran befindlichen silbernen Anhänger. Kurz nach seiner Geburt hatte seine Mutter ihm das erste Bändchen umgebunden, viele waren seitdem gefolgt. Doch der Anhänger war geblieben. Er war schlicht, glänzte aufgrund des regelmäßigen Berührens und hatte die Form einer in sich geschlossenen Schleife. In der Mathematik stand das Symbol für die Unendlichkeit: ∞. Und immer, wenn Jean nervös oder unruhig war, fand er etwas Gelassenheit, wenn er mit den Fingern die Endlosschleife nachfuhr.
»Sie tragen ein geflochtenes Lederband mit silbernem Anhänger, sind neunundzwanzig Jahre alt, ansässig in Frankfurt und besitzen die Initialen J. B. S.?«, rezitierte er leise die Zeitungsanzeige aus dem Gedächtnis. »Das kann doch kein Zufall sein …« Er merkte, dass er nach einer Begründung suchte. Eine Begründung dafür, dass er eine Anzeige als Anlass dafür genommen hatte, sein gesamtes Leben über den Haufen zu werfen. War es eine nachvollziehbare Entscheidung gewesen? War es nicht der reine Wahnsinn, wegen einer Annonce durch die Stadt zu hetzen, um sich dann um die halbe Welt transportieren zu lassen? Aber er hatte diesen unerklärlichen Drang gespürt. Als ob er keine Wahl gehabt hätte. Als ob er sonst die Chance seines Lebens verpassen würde. Denn die Anzeige war doch eindeutig auf ihn gemünzt gewesen!
Oder?
Er zog sein mobiles Telefon hervor. Kein Empfang. Aber er brauchte ohnehin bloß die Rechenfunktion. Basierend auf einigen Annahmen, schätzte er ab, dass die Zeitungsannonce bei einer Stadt der Größe Frankfurts statistisch auf nicht mal eine Person zutreffen würde. Und das war noch ohne Berücksichtigung des doch sehr spezifischen Hinweises auf den silbernen Anhänger um das Fußgelenk.
Nachdenklich sah er aus dem Fenster. Mit Ausnahme des einen oder anderen Busches und ein paar mickriger Bäume, hatte die Natur auf der anderen Seite der Scheibe nicht viel zu bieten. Nur die hohen Berge, die sie von allen Seiten einzukesseln schienen, geboten dem Auge Einhalt. Sie warfen noch relativ lange Schatten, während die Sonne langsam am Himmel hinaufkletterte.
Kein anderes Auto, kein Gebäude, nicht einmal ein Vogel.
Trostlos.
Jean massierte sich den Nacken, als er leichte Kopfschmerzen aufziehen fühlte.
»Wahrscheinlichkeiten«, murmelte er. Wie wahrscheinlich war es, dass es jemanden gab, auf den die Anzeige genau passte? Auf der anderen Seite hieß eine geringe Wahrscheinlichkeit an sich nicht, dass sie nicht auf jemanden – oder sogar auf mehrere Personen – zutraf. Wahrscheinlichkeiten waren für Menschen schwer zu fassen. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit würden, wenn unendlich viele Schimpansen auf einer Computertastatur tippten, irgendwann unter anderem Mac Beth und jegliches andere Meisterwerk der Literatur dabei herauskommen. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung war eine Rechnung der großen Zahlen. Und da Menschen große Zahlen so schwer fassen konnten, wichen sie lieber auf Begriffe wie Schicksal oder Zufall aus.
»Wie lange brauchen wir noch?«, fragte Jean, sich an den Haltebügel klammernd. Die sinnvollere Frage wäre gewesen, wohin sie fuhren. Doch irgendwie scheute er vor dieser Frage zurück. Er befürchtete, die Antwort würde ihm nicht gefallen.
Der Fahrer machte nicht den Eindruck, als hätte er Jean gehört. Oder aber, er war angewiesen worden, Rede und Antwort zu verweigern. Niemand schien sich mit ihm unterhalten zu wollen. Weder der Fahrer in Frankfurt noch die Rezeptionistin noch die Flugbegleiterin. Der hiesige Chauffeur trieb das Ganze sogar einen Schritt weiter: Er verhielt sich, als wäre Jean unsichtbar. Doch vielleicht verstand er ihn auch einfach nicht? Er war eindeutig orientalischen Ursprungs, was Jeans Vermutung, er befinde sich in Asien, unterstützte.
Jean lehnte sich mit allmählich zunehmender Nervosität in seinem Sitz zurück und suchte die Steppe nach Hinweisen auf ihr Ziel ab. Er hatte keine Ahnung, wo in der Welt er sich befand – und im Umkehrschluss wusste auch keiner aus seinem persönlichen Umfeld, wo er abgeblieben war.
Einen Moment lang verspürte er eine gähnende Leere in der Bauchgegend. Was sagte es über ihn aus, wenn er einfach so in ein Flugzeug steigen und verschwinden konnte, ohne auch nur einer Seele davon zu erzählen? Es gab kaum jemanden, der sich über seine Abwesenheit wundern würde. Keine Familie, denn Geschwister hatte er keine, und seine Eltern waren vor drei Jahren gestorben. Er hatte nur wenige Arbeitskollegen, die er als freischaffender IT-Designer allerdings, wenn überhaupt, nur telefonisch kontaktierte. Bessere Bekannte gab es nur wenige, von echten Freunden ganz zu schweigen. Er war ein Einzelgänger – und ein verdammt einsamer dazu. Mit seinen neunundzwanzig Jahren hätte er sich eigentlich längst einen Freundesstamm aufbauen müssen. Leute, mit denen er sich unterhalten, ins Kino gehen oder sogar in den Urlaub fahren konnte. Doch er hatte keine Bekanntschaften, die mehr als ein flüchtiges »Hallo« hergaben. Außerdem fehlte eine romantische Beziehung. Der Grundstein einer eigenen Familie. Stattdessen war er Hobby-Philosoph und verbrachte seine freie Zeit mit dem Lesen von passenden Zeitschriften und Büchern. Nicht die Ursprungstexte – die waren ihm oft zu komplex aufgebaut, zu geschwollen geschrieben. Er bevorzugte stattdessen die interpretierten Texte, aufbereitet für den Normalbürger. Bisher suchte er – darauf wies sein Verhalten hin – den Lebenssinn in der Isolation und in der Theorie, nicht in der Gemeinschaft und in der Praxis.
Vielleicht war genau diese magere Lebensbilanz der Grund dafür, dass er sich Hals über Kopf in dieses Abenteuer gestürzt hatte? Doch worauf war die Panik zurückzuführen, die er bei dem Auffinden der Zeitungsannonce verspürt hatte? Die Panik, er könnte zu spät sein? Stimmte etwas nicht mit ihm? Was übersah er?
In derart selbstkritische Gedanken versunken, hatte Jean zwar bereits seit einiger Zeit auf die allmählich in Sicht kommende Baracke gestarrt, diese allerdings nicht bewusst wahrgenommen. Nun aber, als der Chauffeur entschleunigte, auf eine vierspurige Seitenstraße abbog und direkt auf den einstöckigen Bau zuhielt, erwachte Jean aus seiner Tagträumerei. Er rutschte in die Mitte der Rückbank, um durch die Frontscheibe das näherkommende Gebäude in Augenschein zu nehmen. Dabei wurde sein Blick abrupt durch etwas ganz anderes abgelenkt: Ein paar Kilometer hinter der Baracke und inmitten von nichts als trister, baumloser Steppe, tat sich eine Wand auf. Mindestens anderthalb Kilometer lang, strebte eine rosafarbene Mauer in die Höhe. Ein massiver Fremdkörper weitab der Zivilisation. Einzelne Gebäude überragten die Mauer. Unter anderem ein … Schloss? Details konnte Jean noch nicht erkennen, was aber auch an der unruhigen Fahrt liegen mochte. Die Konstruktion dieser Seitenstraße war offensichtlich mit wenig Sorgfalt erfolgt. Umso stärker war seine Erleichterung, als das Schaukeln plötzlich ohne jede Vorwarnung ein Ende fand.
Der Wagen hielt an, der Motor erstarb.
Schweigend warteten sowohl Jean als auch der Fahrer auf … ja, worauf denn? Im Rückspiegel suchte Jean den Blick des Chauffeurs, doch dieser schaute reglos auf die Baracke. Auch Jean lenkte seinen Blick erneut dorthin. Kaum fünf Meter breit und aus unverputzten, grauen Steinen gemauert, handelte es sich eher um einen Schuppen als um einen vollwertigen Bau. Zement trat aus den unregelmäßigen Fugen hervor und ein Riss arbeitete sich entlang der Vorderseite von der unteren linken Seite aus zum Dach vor. Das Wellblech – nicht weniger grau als die Steine – ragte über die Mauern hinaus. Der Sinn davon mochte sich Jean nicht ganz erschließen, denn angesichts der Trockenheit konnte er sich kaum vorstellen, dass jemals ein stärkerer Regen abgewehrt werden musste. Das eintönige Grau des Konstrukts wurde nur an einer einzigen Stelle unterbrochen: Auf der weißen Plastiktür war ein großformatiger, farbiger Ausdruck angebracht. In Regenbogenfarben stand zu lesen:
Firma Amusement,
Experiences & Co.
Reiseberatung
»Das ist die Firma …«, begann er, verstummte aber, als plötzlich die Tür der Baracke aufschwang.
Ein älterer Herr trat heraus. Umständlich wuchtete der etwa Fünfzigjährige eine Werbetafel ins Freie und lehnte sie gegen die Tür. Merkwürdigerweise schien er dabei die direkt vor ihm parkende Limousine nicht wahrzunehmen. Nach einer kurzen Pause, während der er sich die halblangen, grauen Haare aus der Stirn strich, griff er erneut nach dem Ständer und brachte ihn an seinen endgültigen Ort, einige Meter von der Baracke entfernt. Er positionierte das Schild so, dass der Pfeil darauf genau auf die Baracke gerichtet war. In ähnlich bunten Farben wie der Ausdruck an der Baracke, warb auch der Aufsteller für das gleiche Unternehmen:
Das Erlebnis deines Lebens!
Firma Amusement, Experiences & Co.!
Deine persönliche Beratung, hier und heute!
Verwundert beobachtete Jean, wie der Mann zufrieden sein Schild begutachtete und dabei langsam mit der rechten Hand an seinem gestutzten Vollbart entlangfuhr. Dann lief er zurück zum Eingang, nach wie vor keinerlei Notiz von dem Wagen und den zwei darin befindlichen Personen nehmend. Trotz seines fortgeschrittenen Alters zeugte der entspannte und aufrechte Gang von einem jung gebliebenen Körper. Er verschwand wieder in seiner Baracke und schloss die Tür hinter sich.
Nervös wanderte Jeans Blick zwischen dem Chauffeur und dem Gebäude hin und her. Spielten sie ein Spiel mit ihm? Wurde von ihm irgendeine Aktion erwartet?
»Entschuldigung?«
Keine Reaktion.
Kurzentschlossen griff er nach der Tür, um sie zu öffnen. Doch die Zentralverriegelung war aktiviert, der Austritt blieb ihm verwehrt. Allerdings regte sich nun der Chauffeur und hob die Sperre mittels Knopfdruck auf.
Ohne zu zögern trat Jean hinaus. Trockene, warme Luft schlug ihm entgegen.
Kaum ließ Jean die Tür ins Schloss fallen, startete der Wagen. Ohne einen weiteren Blick an Jean zu verschwenden, lenkte der Chauffeur das Fahrzeug zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Aufgewirbelter Sand hüllte Jean einen Moment lang ein, und er hielt die Luft an.
Als der Sand sich wieder gelegt hatte, war Jean nicht länger allein. Der ältere Herr war erneut aus seinem Gebäude getreten und sah ihn freudestrahlend an. Oder war es ein anderer Mann? Der Vollbart und die grauen Haare waren geblieben, doch anstelle von Jeans und Hemd, steckte der Herr vor ihm in einem dunkelblauen Anzug. Maßgeschneidert, soweit Jean das einzuschätzen vermochte: Die schlanke und große Gestalt kam voll zur Geltung. Ein Zylinder saß kerzengerade auf seinem Kopf und spendete kaum Schatten in der noch schräg stehenden Morgensonne.
»Guten Tag! Jean B. Sourire, richtig?«
Jean konnte nicht anders: Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Endlich jemand, der mit ihm sprach!
»Freut mich.« Er ging auf sein Gegenüber zu, von der verlassenen Straße in den Sand tretend.
»Sergiy Jekorich mein Name«, begrüßte der Mann Jean mit einem Handschlag. »Gerne einfach nur Sergiy.« Seine Hände waren weich. Es waren die Hände eines Mannes, der mit dem Kopf und nicht mit dem Körper arbeitete. »Komm, komm!« Er ging voran und betrat das kleine Gebäude, das von Innen einen etwas besseren Eindruck machte. Auch wenn bis auf einen Schreibtisch und zwei Stühle kein weiterer Einrichtungsgegenstand zugegen war, so waren die Wände immerhin weiß gestrichen und der Boden mit Fliesen ausgelegt.
»Ein Getränk?«, fragte Sergiy, schüttelte aber direkt den Kopf. »Nein, dazu können wir später noch kommen. Viel wichtiger ist die Antwort auf die Frage: Bist du bereit?«
Eigentlich hätte Jean ein Getränk gut vertragen können, aber er wollte nicht unhöflich erscheinen. Außerdem beschäftigte ihn die gestellte Frage. Wofür sollte er bereit sein? Er räusperte sich. »Nun …«
Enttäuschung zeigte sich in Sergiys Gesicht, das aus der Nähe einen orientalischen Einschlag verriet. Er stand hinter dem Schreibtisch, die Hände auf die Oberfläche gestützt. »Zweifel?« Tief einatmend, gab er sich einen Ruck und sein Lächeln kehrte zurück. »Es ist die Unsicherheit, richtig? Nicht zu wissen, worauf man sich einlässt. Tja, mein Sohn, so ist das Leben: eine Reise ins Ungewisse!«
Nun musste auch Jean lächeln. »Das kannst du wohl laut sagen! Ich weiß nicht einmal, wo ich bin!«
»Das spielt auch keinerlei Rolle«, erwiderte Sergiy. »Wichtig ist vielmehr, warum du hier bist.«
Jean hoffte, Sergiy würde dies nun kundtun, doch der Mann lächelte ihn bloß an und schien vielmehr auf eine Aufforderung zu warten. Jean tat ihm den Gefallen: »Und warum bin ich hier?«
»Ganz einfach!«, freute Sergiy sich über die Frage, dabei auf seinem Holzstuhl Platz nehmend. »Weil du deine Chance wahrgenommen hast! Die Firma Amusement, Experiences & Co. bietet dir diese Gelegenheit, diese einmalige Möglichkeit, etwas Besonderes zu erleben.«
»Und diese Möglichkeit besteht woraus?«, wagte Jean sich vor, auf den zweiten Stuhl sinkend.
Sergiy schien vor Freude ein wenig zu wachsen, als er verkündete: »Aus dem Erleben des Phasenlands!«
»Phasenland?«
Mit ausgestrecktem Arm – und nicht wenig Pathos – zeigte Sergiy auf ein einzelnes Poster an der Wand hinter sich. »Phasenland!«
Unruhig rutschte Jean auf seinem harten Sitz hin und her. Bei dem Poster handelte es sich um eine farbige Zeichnung, nicht um ein Foto. Von seiner Position aus sah das abgebildete Areal wie ein Freizeitpark aus. Einige Gebäude waren dreidimensional hervorgehoben, die Farben waren unnatürlich grell.
»Hier!«, ereiferte sich Sergiy und zog aus einer Schublade ein Blatt Papier hervor, welches das gleiche Motiv zeigte.
Neugierig überflog Jean die Zeichnung. Unten auf dem Plan befand sich der Eingang mit einem zweigeteilten, vorgelagerten Platz, Welcome Plaza genannt. Eine lange Promenade mit dem Namen Main Street schloss sich daran an. Sie führte zu einem runden, zentralen Platz, in dessen Mitte das für Freizeitparks obligatorische Schloss stand. Von dort aus führte eine Reihe an sternförmig abgehenden Wegen zu Gebieten, die lediglich mit Nummern versehen waren.
»Ein Freizeitpark?«, fragte er ungläubig.
»So etwas Ähnliches.« Die Begeisterung in Sergiys Stimme war nicht zu überhören.
»Und was ist meine Aufgabe?«
»Ha!«, freute sich Sergiy über diese Frage. »Ganz einfach: Deine Aufgabe ist es, alle Phasen zu besuchen.«
Jean warf einen weiteren Blick auf den Ausdruck vor sich. Von dem zentralen Platz gingen zwölf Gebiete ab.
»Die Nummern hier bezeichnen die Areale. Beziehungsweise heißen die in Freizeitparks oft Länder, richtig? Meinst du die, wenn du von Phasen sprichst?«
»Genau!«
In jedem Land war eine Hauptattraktion gekennzeichnet. Unter anderem eine Achterbahn, eine Geisterbahn und eine Wasserbahn. »Und warum soll ich sie alle besuchen?«
»Diese Frage zu beantworten, deswegen bist du hier.« Sergiys selbstzufriedenem Aussehen nach, schien nun alles Wesentliche geklärt zu sein.
Jean sah dies anders. »Das hört sich nun eher nach zwei Aufgaben an. Ich soll den Freizeitpark besuchen – alle Phasen – und dabei außerdem herausfinden, warum ich das tue?«
Sergiy nickte.
»Erübrigt sich die zweite Frage nicht? Wenn ich mitmache, tue ich dies doch genau deswegen, weil ich dafür angeheuert wurde!«
»Aber ist das wirklich so?«, fragte Sergiy. Dabei stellte er nach wie vor sein, Jean nun langsam irritierendes, Lächeln zur Schau. Er hatte, wie ein junges Schulmädchen, den Kopf mit beiden Armen auf dem Schreibtisch abgestützt und sah Jean erwartungsvoll an.
»Nun, einen Vertrag habe ich bisher nicht unterschrieben«, erwiderte Jean. »Aber ich bin davon ausgegangen, dass …«
»Ein ausgezeichneter Punkt!«, unterbrach ihn Sergiy und öffnete mit gewichtiger Miene eine weitere Schublade. »Das hätte ich fast vergessen: der Arbeitsvertrag!« Vorsichtig zog er einen langen, rechteckigen Holzkasten hervor, den er mit Bedacht auf dem Schreibtisch abstellte. Dann schob er den Deckel beiseite. Im Inneren befanden sich zwölf Vertiefungen – in fünf davon lag jeweils eine Pille.
»Nimm eine. Nicht kauen, nicht lutschen, sondern direkt hinunterschlucken.«
»Welche?«
»Das ist deine Wahl.«
»Wofür sind sie?«
Sergiy ließ das Behältnis los und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Das Holz knarzte aufgrund der Belastung. Die Stimme des Mannes wurde nun zum ersten Mal nachdenklich, fast ernst. »Das ist dein Arbeitsvertrag. Dein Vertrauensbeweis.«
»Sind sie alle gleich?«
Sergiy zuckte die Schultern.
»Sind sie alle ungefährlich?«
Sergiy zuckte erneut die Schultern. Es sah merkwürdig kindisch aus.
»Nur damit ich das richtig verstanden habe«, sagte Jean. »Ich soll irgendeine Pille nehmen, von der ich nicht weiß, wofür sie gut ist? Um mein Vertrauen in die Firma zu beweisen? Eine Firma, die ich vor einem Tag noch nicht kannte?«
»Richtig.«
»Vertrauen ist doch eher ein bidirektionales Konzept. Was ist euer Vertrauensbeweis?«
»Immerhin haben wir dich um die halbe Welt geflogen«, gab Sergiy zu bedenken. »In einem privaten Flugzeug.«
»Okay«, lenkte Jean nach kurzer Überlegung ein. »Wenn ihr mich hättet umbringen wollen, um meine Organe am Schwarzmarkt zu verkaufen, dann hättet ihr das einfacher haben können.« Er lachte etwas gezwungen, um die Abwegigkeit dieser Idee zu betonen.
Zu Jeans Beunruhigung stimmte Sergiy nicht in das Lachen mit ein. Stattdessen fragte er mit zu einem Dreieck gefalteten Händen: »Wäre es denn überhaupt jemandem aufgefallen, wenn der Erdboden
sich plötzlich aufgetan und dich verschluckt hätte?«
Die Frage kam unerwartet und traf Jean wie eine schallende Ohrfeige. Verunsichert sah er Sergiy an, der sich nun aufrichtete und ihn plötzlich wieder breit anlächelte. So, als hätte er diese derart persönliche und schmerzhafte Frage nie gestellt.
»Es ist deine Entscheidung. Du weißt nicht, wohin die Wahl dich führen wird, doch du musst sie treffen. So ist das Leben. Jeden Tag aufs Neue. Jede Handlung, jede Entscheidung, beeinflusst deine Zukunft. Auch die Wahl, nichts zu tun. Zehnmal, hundertmal, tausendmal am Tag justierst du den Weg deines Lebens nach.«
Erneut lehnte Jean sich nach vorne und betrachtete die unscheinbaren, weißen Pillen. Sie hatten eine längliche Form und schienen von einer glänzenden Hülle umgeben zu sein.
Sergiy hatte recht: Was wartete zu Hause auf ihn? Und was hätte die Firma davon, ihn zu vergiften?
Kurzentschlossen griff Jean nach einer Pille und schluckte sie ohne weiteres Zögern hinunter. Dann lehnte er sich zurück – und wartete.
Zufrieden sah Sergiy ihn an. Er räumte den Plan des Freizeitparks wieder in die Schreibtischschublade und schloss den vor ihm auf der Tischplatte stehenden Schieber mit den vier verbliebenen Pillen.
»Warum waren eigentlich nur noch fünf von zwölf Pillen drin?«, fiel Jean plötzlich auf.
»Kannst du dir das nicht selbst beantworten?«, fragte Sergiy, während er den Holzkasten in der Schublade verstaute.
»Ich bin nicht der erste, der diese Vereinbarung mit euch eingeht?« Er nickte langsam. »Was ist aus ihnen geworden? Haben sie die Antwort auf die Frage gefunden? Die Frage, warum sie die Phasen besuchen mussten?«
»Leider ist auch diese Frage nicht leicht zu beantworten. Einige haben herausgefunden, warum sie die Phasen besuchen mussten. Und doch blieb die übergeordnete Frage unbeantwortet.«
»Hm«, überlegte Jean. »Hört sich alles recht philosophisch an. Spezifischere Aussagen bekomme ich wohl erst einmal nicht, vermute ich?«
Sergiy schüttelte lächelnd den Kopf. »Das liefe dem Ziel zuwider.«
Jean überlegte kurz: »Was wäre gewesen, wenn ich abgelehnt hätte?«
»Wir zwingen niemanden zu seinem Glück«, erwiderte Sergiy und zeigte zur Tür. »Der Weg zurück in das normale Leben stand dir immer offen.«
»Stand?«
Sergiy neigte bloß kurz den Kopf.
Jean verkniff sich jeden weiteren Kommentar. Denn auch vor seiner Entscheidung hatte er keine wirkliche Wahl gehabt. Hinter der Tür breitete sich nichts als öde, staubige Landschaft aus. Kein Wasser, keine Nahrung, dafür ein mehrstündiger Fußmarsch – wenn man denn wusste, wohin man sich zu wenden hatte …
»Folge mir!«, sagte Sergiy, als er an ihm vorbei trat.
Und wieder folgte Jean einem Wildfremden hinaus ins Freie.
Die breite Betonpiste vollführte kurz hinter der Baracke eine Linkskurve, um dann schnurstracks auf die deplatziert wirkende Mauer zuzuhalten. Eine rosa Grenze in einer braungelben Landschaft.
Jean befand sich in einem weiteren Auto – der dritte Wagen in weniger als vierundzwanzig Stunden. Das Fahrzeug hatte hinter der Baracke gestanden und war deutlich weniger luxuriös als die bisher von Jean genutzten Fahrzeuge. Er saß auf dem Vordersitz, denn diverse Kartons nahmen die Hinterbank des Zweitürers in Beschlag.
Sie schienen auf das Tor des Freizeitparkes zuzuhalten. Es klaffte als einzige Öffnung in der den Park umgebenden Mauer. Darüber zeichneten sich einige wenige Gebäude gegen den blauen Himmel ab. Als Mittelpunkt fungierte eindeutig das obligatorische Schloss.
»Sieht aus wie Disneyland«, sagte Jean leise. »Nur kitschiger.«
Langsam näherten sie sich dem Freizeitpark Phasenland. Rechts und links führten in regelmäßigen Abständen staubige Betonstraßen auf riesige Parkplätze. Die hier einst angepflanzten Blumenbeete waren längst von stacheligen Büschen verdrängt worden. Wildwuchs sprengte an mehreren Stellen die Betonflächen. Häuschen mit abblätternder rosa Farbe sollten vermutlich einst den Parkplatzwächtern Schutz vor der Sonne bieten. Mülleimer, geformt wie überdimensionierte Pilze, rosteten unbenutzt vor sich hin. Eine Fußgängerbrücke spannte sich über der Zufahrtsstraße, an beiden Seiten von einem blassrosa Turm gekrönt. In der Mitte der Brücke prangte breit der Schriftzug Phasenland.
Direkt hinter der Fußgängerbrücke strebte die Parkmauer in den Himmel. Kein Mensch weit und breit, bloß Staub, Sand, Gestrüpp und eine riesige Bauruine.
Das Auto hielt vor dem Tor und Sergiy stieg aus.
»Hier hindurch und immer geradeaus, dann triffst du auf das Hotel«, erklärte er. »Ich verabschiede mich. Viel Erfolg!«
Damit legte er wieder den Gang ein und rollte bereits an, bevor Jean die Autotür richtig geschlossen hatte.
Der Wagen stob davon, Staub und kleine Steine aufwirbelnd.
Jean schaute nach links. Die rosa Mauer schien sich gefühlt unendlich auszudehnen. Nach rechts bot sich ein identischer Anblick. Er sah nach oben und erkannte, dass die Zinnen vorgelagert waren. Wie bei einer echten Burg. Das kindliche Rosa stand in eklatantem Kontrast zu der massiven Bauweise der Mauer. Auch hier zeigten sich Verfallserscheinungen, aber sie waren weniger offensichtlich: Risse im Beton, abgeblätterte Farbe und die ein oder andere kleine Pflanze, die ihren Beitrag zum Verfall der Mauer leistete.
Ein letztes Mal ließ Jean seinen Blick über den riesigen, leeren und damit umso trostloseren Parkplatz schweifen, dann wandte er sich der Pforte zu.
Geschätzte acht Meter breit und nicht viel weniger hoch, gähnte der Zugang zum Phasenland wie ein riesiges Maul in dem ansonsten eintönigen Wall. Die Umrandung des Tores war mit großen, grauen Steinquadern gesäumt, die sich aber bei genauerem Hinsehen als angemalter Beton herausstellten. Hoch über ihm ließen sich die Spitzen des Fallgitters ausmachen. Wurde dieses zur Nacht tatsächlich herabgelassen, oder handelte es sich bloß um eine Attrappe?
Zaghaft trat er durch das Tor. Eindeutiger Blickfang war ein, die gesamte Straßenbreite einnehmender und gute zehn Meter hoher, grüner Vorhang. Etwa fünfzehn Meter vom Eingangstor entfernt und an einer schmiedeeisernen Bogenkonstruktion befestigt, verhinderte er den tieferen Blick hinein in den Freizeitpark.
Jean drehte sich um die eigene Achse. Zu beiden Seiten der Einfallstraße befanden sich – etwas zurückgesetzt – mehrere niedrige Gebäude. An deren Wänden wiederum, fanden sich Prospekthalter und eingerahmte Poster. Sie schienen eher neueren Datums. Die stilisierten Plakate zeigten unter anderem eine Geisterbahn, das Märchenschloss und eine Maya-Pyramide. Auf den Handzetteln wurde das für zwanzig Uhr angekündigte Feuerwerk in Phasen angepriesen.
Langsam ging Jean auf den Vorhang zu, der ihn von dem eigentlichen Park trennte. Erst als er näherkam, erkannte er, dass es sich hier nicht um das übliche Gebilde aus Stoff handelte. Der Vorhang schien aus einem grobmaschigen Netz zu bestehen, welches das Substrat bildete, auf dem Pflanzen und Grasmatten Halt fanden. Ein automatischer Mechanismus schien eingebaut zu sein, denn als Jean sich dem Vorhang auf wenige Meter näherte, teilte dieser sich in der Mitte und wich schwerfällig zu beiden Seiten zurück.
Das schrille Pfeifen alarmierter Vögel hob an und zwei Pfauen stoben erschrocken davon. Erstaunt hielt Jean inne.
Der ovale Platz vor ihm – es handelte sich vermutlich um das vorhin auf dem Plan gesehene Welcome Plaza – war in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Mit Ausnahme eines Fußwegs direkt vor und entlang den Gebäuden, gab es kein Straßenpflaster. Stattdessen wechselten sich Felsbrocken mit sandigen und erdigen Flächen ab und Wasser durchschnitt die Landschaft in Form von Rinnsalen und kleinen Bächen. Außer einem einzigen, zentralen Baum waren keine höheren Gewächse zugegen, sodass der Platz, der entfernt an eine Savanne erinnerte, mit einem Blick zu erfassen war.
Langsam ging Jean den linken Fußweg entlang. Die den Platz umgebenden Gebäude waren von unregelmäßiger Form und boten Nischen, Erker und schräge Oberflächen, auf denen sich sowohl Tiere als auch Pflanzen eingerichtet hatten. Obwohl bis auf wenige Ausnahmen nicht höher als vier bis fünf Stockwerke, vermittelten die Gebäude Jean das Gefühl, er befände sich in einem Tal inmitten einer Bergregion. Dazu trug wohl auch das imposanteste Gebilde des Areals bei: ein Konstrukt, direkt dem grünen Vorhang gegenüber. An der Basis dieses Gebäudes zeigten sich rechts und links bogenförmige Durchgänge, die gleichzeitig die Basis für eine den Platz überspannende Eisenbahnbrücke bildeten. Zumindest schloss Jean aufgrund der dort oben thronenden, gelben Eisenbahn darauf. Die Gleise verliefen damit parallel zu der vorderen Mauer des Freizeitparks. Direkt dahinter, und mit der Brücke eine Einheit bildend, wuchs ein massives Bauwerk in die Höhe, die gesamte Breite der Welcome Plaza einnehmend.
Fasziniert ging Jean direkt auf die Eisenbahnbrücke zu. Dabei kam er kurz von dem Fußweg ab und musste daher einem Felsen ausweichen. Er fragte sich, aus welchem Grund die Architekten von Phasenland bloß einen solchen Eintritt zu einem Freizeitpark gewählt hatten. Zugegeben: Die Idee, die Illusion eines natürlichen Gebirgstals durch künstliche Berge in Form von Gebäuden zu schaffen, war interessant. Eine gelungene Mixtur aus einzelnen artifiziellen Gebilden, die in ihrer Gesamtheit der Natur so merkwürdig ähnlich sah. Ein Versuch, die Natur zu kopieren und gleichzeitig zu funktionalisieren.
Jean wollte gerade innehalten, um das Gebäude vor sich genauer zu betrachten, als ihm ein Schild auffiel.
Phasenlandhotel
Mit Mosaiksteinchen gelegt, passte sich das blau-grüne Schild nahtlos dem Rest der Fassade an. Bloß, dass diese hier vorstand.
Neugierig ging Jean ein paar Schritte zur Seite und entdeckte auf der rechten Seite dieses Vorsprungs, unsichtbar für den frontal vor dem Bau stehenden Besucher, eine Tür.
Er hatte den Eingang zu dem Gebäude gefunden!
Lautlos glitt die Schiebetür zur Seite und Jean trat ein.
Das Innere des Phasenlandhotels griff die organische Formgebung des Außenbereichs auf: geschwungene Kurven und fließende Übergänge. Doch anstelle von Blau- und Grünnuancen dominierten hier warme Rot- und Orangetöne. Das Foyer war relativ niedrig gebaut und wie auf dem Welcome Plaza tropfte und rauschte auch hier überall Wasser. Kleine Brücken überspannten Rinnsale, Wasser lief an den Wänden entlang und spiegelte tausendfach das Licht.
Über den unebenen Boden ging Jean auf die Rezeption zu, die sich mittig an der Rückseite des Foyers befand. Eine einzelne Person stand hinter dem aus einem liegenden Baumstamm gefertigten Empfang. Der Mann blätterte in einem großformatigen Buch und machte hier und da eine Notiz. Als Jean herantrat, hob der Rezeptionist den Blick – und grinste breit.
»Willkommen im Phasenland, Jean!«
Jean konnte nicht anders: Er kniff die Augen zusammen. Dieser Bart, die Augen, die sich unter dem langen Gewandt abzeichnende aufrechte Statur. War das nicht …
»Sergiy?«
»Entschuldige … Wie bitte?«, erwiderte der Rezeptionist verwirrt.
»Sind Sie nicht …? Sorry, Sie erinnern mich an Sergiy Jekorich.«
Der Rezeptionist lächelte breit und seine Augen funkelten, auch wenn sie unter seinem Turban im Halbschatten lagen.
»Mein älterer Bruder. Uns wird nachgesagt, eine gewisse Ähnlichkeit zu haben. Mein Name ist Ibrahim.«
Tatsächlich erkannte Jean nun, dass Ibrahim eher Anfang vierzig als um die fünfzig war.
»Ich stehe für die Dauer deines Aufenthalts ganz zu deinen Diensten«, fuhr der Rezeptionist indes fort.
»Dauer?«, hakte Jean ein. »Ich meine: Für wie lange ist denn reserviert?«
Mit gerunzelter Stirn blätterte Ibrahim in seinem Buch. »Wenn ich das richtig sehe, ist die Reservierung für zwei Wochen.«
Zugegeben: Der Zeitraum erschien Jean mehr als ausreichend für den Besuch eines Freizeitparks. Auf der anderen Seite fehlte ihm nach wie vor das Verständnis bezüglich der Aufgabe, die er hier zu bewältigen hatte.
»Zimmer 701 ist bezugsbereit«, stellte Ibrahim fest, auf eine Stelle in seinem Buch tippend.
»Sind noch andere Gäste da?«, wollte Jean wissen, während er seinen Blick durch die weitläufige und bis auf ihn und Ibrahim leere Lobby schweifen ließ.
»Dazu darf ich leider keine Auskunft geben«, erwiderte der Rezeptionist freundlich, aber bestimmt.
»Ich möchte ja nicht die genaue Anzahl wissen …«, setzte Jean an, verstummte aber angesichts des plötzlich verkniffenen Munds Ibrahims. »Egal«, schloss er das Thema ab.
»Wunderbar!« Ibrahims Gesicht leuchtete sofort wieder auf. Er hämmerte auf die Klingel und wie aus dem Nichts erschien jemand vor der Rezeption. Erschrocken fuhr Jean zurück – unter anderem, weil er die neu hinzugekommene Person sonst gar nicht vollständig in Augenschein nehmen konnte. Der Mann war ein veritabler Riese! Etwa zwei Meter groß, mit einem Kreuz, das mindestens halb so breit war. Dazu ein gewaltiger, kahler Schädel und einer Reihe an schwarzen Tattoos, die in geschwungenen Linien aus dem ebenso schwarzen Anzug am Nacken hinaufstrebten.
»Maori?«, fragte Jean, als er sich wieder gefangen hatte. Die Tattoos schienen ihm der neuseeländischen und damit der polynesischen Kultur zugehörig.
Der Riese antwortete nicht, sondern sah weiter schweigend auf Ibrahim, der ihm den Zimmerschlüssel überreichte. Mit seiner überdimensionalen Pranke nahm er die elektronische Karte in Empfang.
»Ja«, sagte Ibrahim indes. »Ein Maori. Sein Name ist Tane.«
»Ta-ne«, wiederholte Jean die einzeln ausgesprochenen Silben.
»Übersetzt bedeutet dies einfach nur Mann. In der polynesischen Mythologie ist Tane der Gott des Waldes und des Lichts. Er kreierte den Vogel Tui und ist in gewisser Weise für die Geburt der Menschheit verantwortlich.«
»Hm«, erwiderte Jean, unsicher, warum ihm nun plötzlich doch so viele Details mitgeteilt wurden.
Tane wandte sich Jean zu, schien einen Moment lang nach Gepäck zu suchen – und sah dann Ibrahim fragend an. Dieser schüttelte nur den Kopf, woraufhin Tane sich ohne weitere sichtbare Regung dem rechts von der Rezeption liegenden Fahrstuhl zuwandte, vorher aber noch Jean mit einem Kopfnicken zu verstehen gab, dieser habe ihm zu folgen.
Dem freundlichen Lächeln Ibrahims zufolge, sollte er genau dies tun, und so trottete Jean gehorsam dem Maori hinterher.
»Einen lehrreichen Aufenthalt!«, rief Ibrahim ihm noch hinterher, dann betrat Jean gleich nach Tane den, im Vergleich zu der Lobby, bemerkenswert unspektakulären Aufzug. Nicht verblendete metallische Oberflächen, Kratzer in Hülle und Fülle, ein einfaches und angelaufenes Eingabepanel, das auch in einem Lastenaufzug nicht fehl am Platz gewesen wäre. Reste eines Posters hingen an der Rückwand, zwei offene Kabel ragten aus der Decke in die Kabine hinab und eine Kamera überwachte die Fahrgäste. Tatsächlich schien die Kamera mit dem blinkenden, roten Lämpchen eines der wenigen Gegenstände zu sein, die hier drinnen einwandfrei funktionierten: Zwei der drei Glühbirnen in der Deckenplatte waren kaputt und auch das Display, das die Stockwerke anzeigen sollte, war nur teilweise in Betrieb. So brauchte es etwas Fantasie, anhand der noch intakten Leuchtelemente die Stockwerkzahlen erkennen zu können.
Ruckelnd und quietschend arbeitete sich die Kabine nach oben, dabei auf seiner Bahn durch den Schacht hin und wieder gegen unsichtbare Hindernisse stoßend.
»Zeit für eine Wartung«, scherzte Jean und sah erwartungsvoll auf Tane, der aber keine Anzeichen zeigte, ihn verstanden zu haben. Still und regungslos sah der Maori auf die geschlossenen Türen.
Jean seufzte. Gerade erst hatte er sich wieder daran gewöhnt, dass Leute mit ihm sprachen!
Quietschend und mit sich fortlaufend änderndem Tempo gewannen sie an Höhe. Die Fahrt nach oben schien für den Fahrstuhl ein Kampf zu sein. Sogar das die Ankunft bestätigende Ping hörte sich mühselig an. Erst mit Tanes Hilfestellung öffneten sich die Fahrstuhltüren vollständig, um den Blick auf den dahinter liegenden Flur im siebten Stockwerk freizugeben.
Jean konnte nicht anders, als Tane fragend anzusehen. Es musste ein Missverständnis vorliegen! Doch der Maori gab ihm mit einer Geste zu verstehen, er solle die Kabine verlassen, und so trat Jean in die spärlich beleuchtete Fahrstuhllobby. Direkt dahinter vollführte der in beide Richtungen abgehende Gang einen langgezogenen Bogen, sodass die Sicht auf wenige Meter begrenzt war. Doch auch ohne diese architektonische Eigenheit hätte Jean kaum weit schauen können, denn bis auf vier kümmerliche Glühbirnen, die an ihren Kabeln von der unverputzten Betondecke herabbaumelten, existierten keine Lichtquellen. Weder Fenster noch eine Notfallbeleuchtung waren zugegen. Eine einzige Tür wurde durch die nackten Glühbirnen aus der Dunkelheit gehoben: direkt gegenüber von der Fahrstuhllobby lag Nummer 701.
Tane trat an ihm vorbei. Seine Schritte hallten nach, da sich nicht nur die Decke und die Wände in ihrem Rohzustand befanden, sondern auch der Boden. Es ließen sich noch die Arbeitsspuren der Handwerker ausmachen: die Markierungen von Leitungsverläufen sowie die Wischspuren der Latten, mit denen die Oberfläche des damals noch weichen Betons eingeebnet worden war.
Jean realisierte, dass das Hotelinnere nicht etwa verfallen, sondern vielmehr nie fertiggestellt worden war. Die Errichter des Gebäudes hatten zwar den äußeren Schein gewahrt, indem sie die Fassade und auch die Lobby in vollem Glanz hergerichtet hatten, doch der Rest des Hotels war nie über das Stadium eines Rohbaus hinausgekommen.
Hoffentlich galt dies nicht auch für sein Zimmer!
Schwungvoll zog Tane die Zimmerkarte durch den dafür vorgesehenen Schlitz und ein grünes Lämpchen blitzte auf. Licht flutete in den Flur hinaus, als der Maori die Tür aufstieß und erneut Jean den Vortritt ließ.
Sein Verbleib für die nächsten etwa zwei Wochen bestand aus einem kleinen Flur, von dem rechts das Bad abging, und der geradeaus auf ein offenes Schlafzimmer führte. Links des Flurs befanden sich die üblichen Verdächtigen: ein großer Kleiderschrank mit Schiebetüren, direkt daneben ein paar Schubladen und wiederum daneben ein Kühlschrank, darüber ein paar Ablagen, auf denen sich ein Teekocher, zwei Tassen und zwei Teebeutel befanden. Das Schlafzimmer war relativ klein, sehr sparsam eingerichtet, bot aber immerhin einen Teppich und gestrichene Wände. Alles in allem war sein neues, temporäres Domizil sehr konservativ und nichtssagend eingerichtet: ein Doppelbett, zwei Nachtschränkchen, ein Schreibtisch mit einem einzelnen Stuhl, ein Sessel mit Fußablage sowie zwei Stehlampen. Die Möbel waren in einem dunklen Braun gehalten, der Teppich in Grautönen, die Wände waren beige.
Dennoch war Jean erleichtert. Denn nach dem Fahrstuhl und dem Flur hatte er Schlimmeres befürchtet. Immerhin war das Zimmer bewohnbar und sauber.
Seinen Rundgang fortsetzend, suchte er nun das Badzimmer auf. Auch hier nur das Nötigste, in möglichst funktioneller Form. Die Toilette und die Dusche direkt nebeneinander, ihnen gegenüber ein in der Ablage abgesenktes Waschbecken, darüber ein Spiegel. Er sah hinein.
Sein eigenes Aussehen erschreckte ihn. Ein müdes, hageres Gesicht mit dunklen Ringen unter tiefliegenden, braunen Augen. Das rechte war etwas niedriger im Gesicht platziert als das linke. Eine Anomalie, die ihm erst mit neunzehn Jahren aufgefallen war. Und die ihm auf Fotos und in Spiegeln seitdem immer sofort ins Auge stach. Dass ihn auch bis heute niemand auf diesen Schönheitsfehler angesprochen hatte, schmälerte nicht die Tatsache, dass es ihm nicht mehr möglich war, ihn zu übersehen.
Auf der Unterlippe kauend, strich er durch seine kurzgeschnittenen, dunkelblonden Haare. Geheimratsecken deuteten sich an. Auf der einen Seite hatte er noch ein jugendliches Aussehen, auf der anderen Seite klopfte das Alter bereits an die Tür. Und obwohl er die Jugend längst hinter sich gelassen hatte, war da immer noch der ein oder andere Mitesser!
»Verdammt!«, fluchte Jean, als er den roten Pickel am rechten Nasenflügel entdeckte. Mit einem Seufzen richtete er sich auf, straffte die Schultern unter dem dunklen Pullover und verließ das Badezimmer mit einem letzten Blick auf die kleine Dusche.
»Keine fünf Sterne, aber es wird reichen«, murmelte Jean, als er wieder in das Zimmer trat. Tane hatte die über die gesamte Höhe des Zimmers reichenden Gardinen geöffnet und stand vor dem eher kleinen Fenster. Licht umgab ihn, sodass er im ersten Moment wie ein extrem korpulenter Engel aussah. Als Jean hinzukam, trat Tane zur Seite, den Blick freigebend.
Und dieser verschlug Jean den Atem.
»Wow«, murmelte Jean immer wieder. Obwohl er nun schon mindestens fünf Minuten am Fenster stand, wusste er immer noch nicht, wohin er als nächstes schauen sollte. Der Großteil von Phasenland war von seiner Position aus nicht sichtbar, aber allein der einsehbare Ausschnitt war beeindruckend.
So breitete sich unter ihm ein weiterer Platz aus. Wobei … Vermutlich war es bloß die zweite Hälfte des Platzes, von dem aus er das Hotel betreten hatte. Die Eisenbahnbrücke schien eine ehemals größere Freifläche – das Welcome Plaza – zu durchtrennen. Das Hotel hatte diese Teilung weiter zementiert. Es lag nun sozusagen quer im ursprünglichen Platz, der nun in zwei getrennte Teilbereiche aufgeteilt worden war. Einen ersten, der einem Tal nachempfunden war. Und einem zweiten, von dem aus man tiefer in den Freizeitpark vorstoßen konnte.
Jeans Blick folgte erneut der vom Platz wegführenden Straße. Sie markierte den eigentlichen Zugang zum Phasenland und führte schnurstracks auf das Zentrum der Anlage zu. Dort öffnete sie sich auf einen zweiten und gleichzeitig zentralen Platz des Parks. Dieser war von einer relativ hohen Mauer umgeben, auf der die Gleise der Eisenbahn entlangführten. Die Fahrgäste konnten somit in aller Ruhe das Prunkstück des Freizeitparks bestaunen: das sich zentral auf dem Platz erhebende Märchenschloss.
Von seinem Fenster aus konnte Jean bloß einige der zwölf Länder des Freizeitparks ausmachen. Es war nicht ganz leicht, die Grenzen zwischen den Ländern zu identifizieren, da diese nur teilweise durch Mauern markiert waren, vor allem aber, weil der Park erstaunlich groß zu sein schien. Trotz seiner erhöhten Position verlor sich der Blick zum hinteren Teil des Parks an Bäumen, Gebäuden und Attraktionen. Er glaubte, eine Achterbahn ausmachen zu können, ein Riesenrad sowie die Maya-Pyramide, die er bereits auf dem Plakat am Eingang zum Park gesehen hatte. Der Großteil der sichtbaren Strukturen bestand jedoch aus geschlossenen Gebäuden, deren Fassaden zwar attraktiv dekoriert sein mochten, von oben ausgesehen aber kaum Interesse weckten.
Gerade versuchte Jean mit halb zugekniffenen Augen Details an einem der Gebäude tiefer im Park auszumachen, als es klingelte.
Tane öffnete die Tür und sah nach rechts und links bevor er einen fahrbaren Tisch hereinschob. Der schweigsame Begleiter platzierte den Tisch neben dem Bett und zog den Schreibtischstuhl heran. Anschließend setzte er sich in den abseits stehenden Sessel und nickte Jean freundlich zu.
»Mein Mittagessen?«, fragte Jean, auf den weiß gedeckten Tisch zugehend. »Danke!«
Urplötzlich meldete sich der Hunger, der sich bisher der Anspannung und der Neugierde untergeordnet hatte. Die Hühnerbrust, den Reis und das Mischgemüse verschlang Jean wie ein seit Wochen hungernder Schiffbrüchiger. Ihm war es sogar egal, dass sich ein paar Tropfen Fett am Kinn sammelten. Erst als sein Teller leergeräumt war, lehnte er sich zurück und nutzte die Serviette zur Grobreinigung seines Gesichts. Als er die amüsierte Miene des Maori bemerkte, waren ihm seine schlechten Tischmanieren nun doch etwas peinlich.
»Sorry, hatte ziemlichen Hunger. Im Flugzeug konnte ich heute Morgen irgendwie nicht essen – Nervosität, vermutlich.«
Keine Antwort.
Nachdenklich sah Jean den Mann an. War er so etwas wie sein persönlicher Diener? Falls dies der Fall sein sollte, dann war die Auswahl schlecht erfolgt, denn der Maori schien kein Wort von dem zu verstehen, was Jean von sich gab. Oder durfte er bloß nicht mit ihm sprechen?
»Verstehst du mich überhaupt? Do you understand me? Begrijp je mij? Me entiendes? Comprends tu? Ting de dong ma?« Damit war Jeans Sprachschatz erschöpft. Leider reagierte Tane bei keiner der Fragen, sondern sah ihn bloß geduldig an.
»Tja«, zuckte Jean die Achseln. »Ohne die Sprache sind wir doch alle wie die Tiere.« Er erschrak über seine eigenen Worte. »Also, so war das nicht gemeint.« Er drehte den Stuhl in Richtung Tane, stützte sich mit den Unterarmen auf die Beine und drehte die Handflächen nach oben. »Was ich sagen wollte, ist, dass wir ohne das Werkzeug der Sprache ineffizient sind. Wie unser Austausch gerade jetzt. Stell dir vor, ich müsste dir komplexe Zusammenhänge mit Gebärden erläutern. Kaum möglich! Worte und Sprache sind essenziell. Symbole. Viele Evolutionsforscher sehen die Abstraktion, die Nutzung von Symbolen sogar als wesentlichen Schritt hin zur Entwicklung des Menschen. Hin und wieder ertappe ich mich sogar dabei, dass ich rein in Worten denke, nicht in Bildern und Gefühlen. Geschriebene Worte vermitteln Bilder, Information, Gefühle. Wie zum Beispiel diese Anzeige, die ich gestern in der Zeitung las.«
Er bremste sich, atmete tief durch. Schon immer litt er unter der Eigenheit, bei wissenschaftlichen und philosophischen Themen seinen Gedanken und Worten keinen Einhalt bieten zu können. Seit er vor gut einem Jahr im Laden auf die Zeitschrift Philosophie für alle gestoßen war, nutzte er fast seine gesamte Freizeit für das Nachvollziehen philosophischer Ansätze.
Stille legte sich über den Raum. Bloß die Klimaanlage rauschte leise. Ob er wohl Nachbarn hatte?
»Diese Anzeige …«, kam er auf seinen eben angesprochenen Punkt zurück. Schweigend sah Tane ihn an. »Ich meine: Die war derart spezifisch, dass sie doch eigentlich für mich geschrieben sein musste, oder? Zufall ausgeschlossen?«
Keine Antwort. Aber der Maori wandte sich auch nicht ab, sondern blickte Jean geduldig, fast freundlich an.
»Wobei wir damit bei einem meiner Lieblingsthemen sind: dem Zufall.« Jean schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe immer schon meine Schwierigkeiten gehabt, an das Konzept des Zufalls zu glauben.« Kurz hielt er inne, entschied sich dann, dass es angesichts der vermuteten Sprachbarriere eigentlich keinen Grund zur Zurückhaltung gab. Blamieren konnte er sich kaum. »Warum, möchtest du wissen? Eine gute Frage! Du bist ein dankbarer Gesprächspartner …« Er lächelte, war sich dabei allerdings nicht sicher, ob angesichts seines Scherzes, oder um seine Unsicherheit zu überspielen. »Also, es ist ganz einfach. Ich brauche nur bei dem größten Zufall von allen anzufangen: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass genau ich ein Bewusstsein in diesem Körper hier entwickelt habe? Wie wahrscheinlich ist es, dass jede einzelne der Tausenden Generationen vor mir ihre Gene derart weitergegeben hat, dass es genau mich heute gibt? Was wäre gewesen, hätten meine Eltern in der Nacht meiner Zeugung den Akt auch nur eine Sekunde länger hinausgezögert? Ein anderes Spermium wäre zum Zuge gekommen, und ich wäre nicht ich gewesen. Jedes historische Ereignis seit dem Big Bang muss genau so stattgefunden haben, damit ich heute hier stehe.«
Tane blieb bei seinem teilnahmslosen, aber freundlichen Blick. Ein Blick, den man mit gutem Gewissen auch als Aufforderung zum Weiterreden auffassen konnte.
»Für jedes einzelne, historische Ereignis vor meiner Zeugung – und war es noch so furchtbar – muss ich im Grunde dankbar sein. Für alle Kriege, sogar für den zweiten Weltkrieg. Hätten die Nazis damals nicht Millionen Menschen ermordet, so wären meine Großeltern sich nicht begegnet. Sie hätten meine Eltern nicht gezeugt und diese damit auch nicht mich. Die zwingende Logik wäre dann: Ja, ich bin aus purem Egoismus dankbar für den zweiten Weltkrieg!« Nachdenklich fügte er hinzu. »Zumindest, solange ich der Meinung bin, dass ein einziges Leben zu leben besser ist, als nie existiert zu haben.«
Einen Moment lang wurde es still im Zimmer. Seine Aussagen waren provokant, wenn auch im Kern auf seine eigene Person bezogen richtig. Er zog sein mobiles Telefon hervor. Ein kurzer Blick auf das Display zeigte ihm, dass es weiterhin keinen Empfang gab. Er schaltete das Gerät aus, um die Batterie zu schonen. Dann zog er die Beine auf den Stuhl und massierte sich die Unterschenkel.
»Auf der anderen Seite …«, fuhr er fort, »… kann man es auch so sehen: Wäre nicht dieses eine Bewusstsein da, das ich als Ich bezeichne, dann halt ein anderes an meiner statt. Ich würde zwar nicht existieren, wüsste aber auch nichts von dieser verpassten Chance. Somit gibt es Milliarden mal mehr Existenzen, die niemals existierten, darüber aber auch nicht traurig oder frustriert sein können, da es sie ja nie gegeben hat. Eine Art Abwandlung des anthropischen Prinzips.« Er suchte die richtigen Worte: »Ein immer wieder kontrovers diskutiertes Prinzip, das alle paar Monate in den einschlägigen Zeitschriften erneut aufgegriffen wird. Es besagt – in aller Kürze –, dass ich mir nur Gedanken über meine Existenz machen kann, weil es mich gibt. Gäbe es mich nicht, so könnte ich mich darüber auch nicht wundern. So ist das Leben.«
Zufrieden mit der formulierten Logik wandte Jean sich seinem Nachtisch zu und schlang das Stück Kuchen in drei großen Bissen hinunter.
Es klingelte an der Tür.
Tane hatte die Klinke bereits in der Hand, bevor Jean auch nur aufgestanden war. Der Maori sah rechts und links den Gang hinunter und hob dann die kleine Schachtel auf, die vor der Tür abgestellt worden war. Er reichte sie Jean, aber nicht ohne vorher die Tür wieder geschlossen zu haben.
»Du bist also eher mein Bodyguard«, scherzte Jean, während er die kleine, weiße Papierdose öffnete. Eine einzelne Pille lag darin. Er hielt sie gegen das Licht: Durchsichtige Gelatine umhüllte ein weißes Pulver. Lächelnd hielt er sie dem Maori hin: »Zimmerdiener, Bodyguard und Vorkoster?«
Tane verneinte mit einem kurzen Kopfschütteln.
»Alles klar«, verstand Jean. »Einige Risiken muss man wohl selbst eingehen, richtig? Probieren geht über Studieren. Das Leben ist eine Reise ins Ungewisse. So oder so ähnlich hatte Sergiy das doch formuliert? So ist das Leben?«
Tane griff nach dem Wasserglas auf dem Essenstisch und zeigte dann auf den Sessel. Gehorsam setzte Jean sich, die Pille nach wie vor in der Hand. Er nahm das Glas entgegen.
»Vertrauen«, murmelte er, während er die Pille ansah und erneut an Sergiy denken musste. Er drehte die Kapsel zwischen den Fingern. Unnützerweise, wie er nur zu gut wusste: Am Aussehen allein würde er kaum ablesen können, was sich darin befand. Auf der anderen Seite wäre es nicht die erste geheimnisvolle Pille, die er heute zu sich genommen hatte. »Schließen wir basierend auf dem bisherigen Verlauf des Aufenthalts darauf, dass mir hier nichts angetan werden soll. Und falls doch: So ist das Leben. Vollständig berechenbar ist es nie. Und das macht wohl zumindest einen Teil des Reizes aus.«
Damit nahm er die Pille in den Mund, schluckte sie hinunter und spülte mit einem Schluck Wasser nach.
Nachdenklich hatte Tane das letzte Selbstgespräch verfolgt. Zu Jeans großer Überraschung griff er einen einzelnen Satz aus seinem Monolog auf. In gebrochenem Deutsch, gerade, bevor es Jean plötzlich dunkel vor Augen wurde und er das Bewusstsein verlor, sagte der Maori:
»So ist das Leben …«
Er wachte auf. Nein, das traf es nicht ganz. Vielmehr versuchte er aufzuwachen. Zwar begann er seine Umgebung wahrzunehmen, doch gleichzeitig schien er dies nicht bewusst zu realisieren. Er handelte automatisch, reagierte unbewusst auf äußere Reize, wie von einem vorprogrammierten Mechanismus gesteuert.
Um ihn herum war alles weich; seine unkoordinierten Bewegungen trafen nirgends auf eine harte Begrenzung. Und doch war er ohne Zweifel eingesperrt: Die weiche Masse um ihn herum gab zwar nach, ließ sich aber nicht zur Seite drängen oder durchstoßen.
Merkwürdigerweise löste diese Situation keine Angstgefühle bei ihm aus. Insgesamt schien er nicht zu klar definierbaren Gefühlen in der Lage zu sein. Er trieb in einem Strudel aus Empfindungen, die ihn aber allesamt nicht direkt tangierten. Sie waren Teil von ihm, doch er war sich ihrer nicht bewusst. War er teilnahmsloser Beobachter? Oder fremdgesteuerter Erlebender? Ohne den Gedanken tatsächlich verfolgen zu können, schienen beide Varianten gleichermaßen unattraktiv.
Wer oder wo er war, blieb vorerst ein Rätsel – ein Rätsel, an dessen Lösung er nicht aktiv arbeiten konnte. Neben seinem fehlenden Sinn für sein körperliches oder geistiges Ich mangelte es ihm ebenso an einer gefühlten Kontinuität. Die Einordnung in einen zeitlichen Ablauf war ihm nicht möglich, ein Vergangenheitsgedächtnis nicht existent. Er lebte ausschließlich im Hier und Jetzt. Fortlaufend verlor er sich in neuen Reizen. Für Schlussfolgerungen basierend auf vergangenen Erlebnissen und derer Extrapolation in die Zukunft fehlten ihm anscheinend die kognitiven Werkzeuge.
Und trotz seiner geistigen Verneblung registrierte er auf einer niedrigen Ebene seines sich immer wieder formenden, aber flüchtigen Ichs den Moment, als plötzlich alles anders wurde.
Zuerst wurden die Wände um ihn herum noch weicher. Er sank tiefer ein, konnte sich zunehmend schlechter ausrichten. Außerdem bedrängte ihn nun auch von oben eine immer schwerer wiegende Masse. Dann wurde der Untergrund hart. Wärme machte der Kälte Platz. Schwerelosigkeit der Schwerkraft. Geborgenheit der Klaustrophobie.
Und plötzlich fehlte ihm die Luft zum Atmen.
Die eintretende Atemnot bildete den Auslöser einer Kettenreaktion. Aus einem Funken wurde ein Flächenbrand. Panik ergriff ihn.
Die neue Stresssituation versetzte ihm einen Bewusstseinsschub. Erste Erinnerungen an die zurückliegenden Sekunden ergaben aneinander gereiht eine Geschichte. Und er war der Mittelpunkt dieser Geschichte. Der Beobachter und gleichzeitig der Akteur.
Die flexible Masse lag immer schwerer auf ihm, Sauerstoffmangel begann ihn zu beeinträchtigen. Gezielte, einzelne Gedanken waren nicht in der Lage, sich aus dem elektrischen Signalsturm seines Gehirns freizukämpfen.
Es wurde dunkel.
Als seine Wahrnehmung zurückkehrte, tat sie dies mit einer ihm die Luft aus den Lungen treibenden Wucht. Er befand sich im Freien! Eine andere Entität hatte ihn erlöst, hielt ihn in den Armen, schenkte Wärme, Geborgenheit. Hier war er sicher, hier wollte er bleiben. Er wusste nicht, wer ihm da Sicherheit und Geborgenheit schenkte, aber er wusste, dass es die richtige Person war. Sie war für ihn da, sie war sein Verteidigungswall gegen alles, was dort draußen auf ihn lauern mochte.
Undeutliche Laute ohne Bedeutung drangen zu ihm vor. Dann lösten sich die wärmenden Arme von ihm – und stießen ihn von sich.
Die Zeit schien sich zu verlangsamen, als er spürte, wie sein Körper nach hinten fiel, den Halt verlor. Dabei merkte er zum ersten Mal, dass sein geistiges Ich und der Körper, der dort gerade fiel, zusammengehörten.
Als er schließlich zur Ruhe kam, war sein Geist es noch lange nicht. Er stellte sich zum ersten Mal eine halbwegs bewusste Frage: Warum? Was geschah mit ihm?
Er versuchte den Kopf zu heben, doch sein Ich und sein Körper schienen noch nicht aufeinander abgestimmt zu sein. Erst nach einigen Anläufen schaffte er es, sich halbwegs aufzurichten.
Eine verschwommene Gestalt schien ihm direkt gegenüber zu lauern. Er konnte keine Gesichtszüge ausmachen, bloß ein Schemen auf Augenhöhe. Er wollte eine Frage stellen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht. Angst ergriff erneut Besitz von ihm, bis er bemerkte, dass mit jeder Sekunde seine Gedanken ein Stück klarer wurden, er nach und nach von sich selbst Besitz nahm.
Aus dem Schemen wurde nun langsam ein Mensch. Ein weiterer Versuch, Kontakt zu seinem Gegenüber aufzunehmen, scheiterte. Ebenso der Versuch, sich weiter aufzurichten.
Mehrere Sekunden vergingen und die Person vor ihm wurde immer deutlicher. Aber sie verharrte wie er am Boden, half ihm nicht. Schlimmer noch: Sie schien ihn nachzuäffen. Als er die Hand hob, hob auch sein Gegenüber die Hand. Als er sich hinsetzte, folgte die andere Person seinem Beispiel.
Vorsichtig rappelte er sich auf und machte die ersten Schritte. Nach wie vor nahm er die Welt und seine eigenen Gedankengänge nur wie durch einen Nebel wahr. Doch immerhin wusste er jetzt um seine Existenz. Er befand sich hier, jetzt, in diesem Körper. Nicht irgendwo anders auf der Welt, nicht diffus verteilt, sondern vollständig lokalisiert in dieser menschlichen Hülle. Wo auch immer diese Hülle sich gerade aufhielt.
Überall um ihn herum entdeckte er nun Personen, die mal auf ihn zukamen, mal von ihm fortstrebten. Keiner schien ihm helfen zu wollen, niemand richtete auch nur ein einzelnes Wort an ihn. Dabei konnte er Hilfe gut gebrauchen.
Zusammen mit der Formierung seines Bewusstseins und seines Gedächtnisses, holte ihn gleichzeitig etwas anderes ein. Noch bevor er realisierte, dass die vielen Personen um ihn herum in Wirklichkeit seine Spiegelbilder waren, bemerkte er den fast schon unmenschlichen Drang nach … etwas. Er konnte das Objekt seiner Begierde nicht benennen, doch er spürte, dass er es unbedingt brauchte. Ein sich schnell aufbauendes Bedürfnis, das zunehmend in den Vordergrund trat. Nichts zählte plötzlich, außer der herbeigesehnten Erlösung. Wie das sich Kratzen bei einem kaum widerstehbaren Juckreiz; wie der Atemzug eines Erstickenden.
Wild stolperte Jean – denn so hieß er, das war ihm wieder bewusst geworden – durch das Labyrinth aus Spiegeln. Immer wieder krachte er gegen Scheiben, fiel zu Boden, rappelte sich auf, suchte weiter. Sein Bauch verkrampfte sich, seine Gliedmaßen schienen langsam den Dienst zu verweigern und sein Kopf verlor die gerade erst gewonnene partielle Klarheit, als ein inneres Feuer ihn zu verzehren schien.
»Ich brauche es …«, stöhnte er, nach dem Durchgang tastend. Obwohl ihn die Panik erneut zu übermannen drohte, realisierte er, dass er offensichtlich wieder der Sprache mächtig war.
Und er erkannte Symbole und Buchstaben!
Der Spiegel vor ihm zeigte knapp über dem Boden einen blass-grünen Pfeil mit weißen Buchstaben. Exit stand dort zu lesen.
Unter zunehmend größeren Schmerzen quälte Jean sich weiter. Durch das Labyrinth, von Pfeil zu Pfeil. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen und fast wäre er zu Boden gegangen. Angst breitete sich in ihm aus, als er begriff, dass das eben noch vorhandene Bewusstsein so einfach und schlagartig ausgelöscht werden konnte. Er befand sich auf dem schmalen Grat zwischen Bewusstsein und geistigem Nichtsein. Er spürte, dass er der Bewusstlosigkeit nur entgehen konnte, indem er seinen Heißhunger stillte, seiner Begierde nach … etwas. Doch wenn er nicht wusste, was er brauchte, um zu überleben, wie konnte er es dann finden?
Weitere Pfeile, weitere Spiegelbilder – oder doch nicht? Ein einziges Spiegelbild schien anders, bewegte sich nicht. Eine Person, mit dem Rücken zum Innenhof.
Der Innenhof!
Der Ausgang!
Innerhalb weniger Sekunden war Jean bei der rettenden Person, riss ihr das kleine Behältnis aus der Hand, entnahm ihm mit zitternden Fingern die kleine Pille und schluckte sie hinunter.
Endlich!
Dann sank er zu Boden.
Wie benommen stolperte Jean durch ein großes Tor ins Freie und ließ sich verwirrt auf dem Pflaster nieder. Die Sonne stand schräg am Himmel. Es musste nachmittags sein; der Boden war warm, obwohl er mittlerweile im Schatten lag.
Noch schien Jean nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Er ließ sich einfach nur im Strudel aus Empfindungen treiben. Bilder von dem Durchlebten schwammen immer wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins.
Die schockierende Enge am Anfang.
Das Herausfinden aus dem Nichts.
Die sich bildende Erkenntnis.
Die Geborgenheit und deren Verlust.
Er hob den Kopf, schüttelte ihn, wie um die Gedanken zu verscheuchen und öffnete die Augen. Bewusst schaute er auf den vor ihm liegenden Platz. Er musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, um die Kontrolle über sich wiederzuerlangen.
Phasenland.
Er war im Phasenland.
Aber nicht mehr in seinem Zimmer …
Offensichtlich befand Jean sich auf dem zentralen Platz des Freizeitparks. Vor ihm wuchs das wuchtige Schloss in die Höhe. Aus dem beschädigten, hellen Beton ragten Armierungseisen hervor. Auch ein paar Gerüste ließen sich entdecken. Stahlträger zeichneten sich unter den durch Wind und Wetter abgetragenen Turmdächern ab. Schwarze Löcher markierten die Fenster.
Zwischen ihm und dem Schloss befand sich nicht bloß der weitläufige Platz, sondern auch eine Barriere aus Gestrüpp. Einst hatten dort vermutlich Blumenbeete und mit Bedacht angepflanzte und in Form gebrachte Bäume einen märchenhaften Anblick geboten. Heute, nach Jahren der Vernachlässigung, schien kaum ein Durchkommen durch den dichten, schulterhohen Bewuchs möglich.