Flimmernde Schatten - Yves Gorat Stommel - E-Book

Flimmernde Schatten E-Book

Yves Gorat Stommel

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Beschreibung

Erstaunt muss Damaris feststellen, dass von ihr im Traum erschaffene Wesen und Umgebungen auch nach ihrem Aufwachen fortbestehen. Voller Begeisterung stürzt sie sich in das Sammelsurium an Parallelwelten aus der Menschheitsgeschichte und trifft schon schnell auf andere Jugendliche – Menschen, die wie sie gerade schlafen. Darunter befindet sich auch Robin, samt seiner zweifelhaften Begleitung: ein sprechendes, weißes Kaninchen. Als dieses mehr zu sein scheint, als es vorgibt, findet Damaris heraus, dass um Robins Körper ein Kampf wütet. Eine Suche nach Robins Seele und dem Weg heraus aus den Traumwelten beginnt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Yves Gorat Stommel

Flimmernde Schatten

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Titelseite

Flimmernde Schatten

 

 

Yves Gorat Stommel

 

Danksagung

an Melanie, Barbara und Klaus

für ihre Geduld bei den über Jahre andauernden Überarbeitungsrunden.

 

Impressum

 

Flimmernde Schatten

© Yves Gorat Stommel

2014 (Originalausgabe)

2023 (vollständig überarbeitete Version)

ISBN-13 (Druckversion): 978-1505337150

 

Lektorat:

Anja Koda

 

Web:

www.yvesgoratstommel.com

 

Facebook:

www.facebook.com/yvesgoratstommelautor

 

Email:

[email protected]

 

Postanschrift:

Kibbelstraße 14, 45127, Essen, Deutschland

 

 

Prolog

 

Starr und unbeweglich schauten seine müden Augen auf den flackernden Bildschirm. Nicht eine einzige Bewegung verriet, dass er noch am Leben war. Das chaotische Licht des Fernsehapparates tauchte das von Leid gezeichnete, eingefallene Gesicht abwechselnd in Licht und Schatten. Die Arme hingen kraftlos herab und die dünnen Beine waren in eine Decke gewickelt. Graues Haar klebte in Strähnen an seinem Schädel.

Doch plötzlich kehrte Leben in die glasigen Augen zurück. Etwas in den über den Bildschirm flimmernden Nachrichten erregte seine Aufmerksamkeit. Konzentriert starrte er auf die Mattscheibe. Akribisch jedes Detail in seinem Gehirn speichernd. Für spätere Verwendung ablegend. Dabei beschränkte sich die Anspannung auf seine Gesichtszüge; der Rest seines verkrüppelten Körpers blieb unbeweglich.

Kaum ging dieser eine Beitrag der Regionalnachrichten vom fünften August zu Ende, griff er nach dem auf dem Tisch neben ihm liegenden Laptop. Mit wahrhafter Gier suchte er online nach weiteren Videos und Fotos des eben gesehenen Ortes.

Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich.

Mit aller Macht drang er in seine Traumwelt vor.

Er begann seine Suche nach den beiden Jungen.

 

 

Kapitel 1: Die Strafe

 

Übellaunig saß Damaris auf ihrem Schreibtischstuhl und starrte demonstrativ ihre nackten Füße an. Ihr gegenüber standen ihre Eltern, die kaum bessere Laune hatten.

Amy Fink brach das entstandene Schweigen: »Schätzchen, wir tun das nur zu deinem Besten.«

Wütend blickte Damaris auf; eine Strähne ihres dunklen, schulterlangen Haares fiel ihr vor die Augen. Wie sie diesen Spruch hasste!

Ihre Mutter hielt ihrem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, stand. Und auch ihr Vater wich keinen Millimeter zurück.

Aus Sicht von Damaris war es viel Lärm um nichts: Ein paar Jungs aus ihrer Schule hatten ein paar Tage nach Sylvester Knaller gezündet – und Damaris und ihre Freundin Tina waren dabei gewesen. Allerdings bloß als Zuschauerinnen.

Leider interessierten solcherlei Feinheiten ihre Eltern nicht. Die Folge: Hausarrest und Internetverbot. Zwar durfte sie ihr Mobiltelefon behalten, doch allein zum Telefonieren.

Damaris richtete ihren Blick auf das einzige Fenster. Die Januarsonne besaß am Nachmittag kaum noch Kraft und Damaris hatte längst die Deckenleuchte eingeschaltet. Langsam schüttelte sie den Kopf, in Gedanken die Ungerechtigkeit auskostend. Daher bekam sie zuerst nicht mit, dass ihre Mutter wieder auf sie einredete.

»… hilft dir vielleicht, dich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren. Du bist in letzter Zeit nur noch mit deinen Freunden und Freundinnen unterwegs und kaum noch hier.«

»Weil keiner in diesem Kaff, kilometerweit von der Schule entfernt, lebt«, erwiderte sie mit monotoner Stimme.

Dem konnte ihre Mutter nicht widersprechen. Jeden Morgen musste Herr Fink, ein erfolgreicher Rechtsanwalt, seine Tochter in die nächstgrößere Kleinstadt fahren. Damaris‘ Mutter fuhr auf dem Weg zu ihrem Job in die andere Richtung. Die Modeboutique, die sie zusammen mit einer Freundin besaß und betrieb, befand sich in der nächsten Großstadt, fünfzig Kilometer vom Wohnort der Finks entfernt. Und da ihr Vater oft lang arbeitete, nahm Damaris mittags den Bus nach Hause. Sie war üblicherweise die Einzige, die in dem abgelegenen Regensdorf ausstieg. Eine Ansammlung von zehn Häusern. Ohne auch nur ein einziges Geschäft. Sogar ohne einen Kiosk oder ein Versammlungshaus.

»Und was soll ich eurer Meinung nach die nächsten Tage tun? Immerhin haben wir Weihnachtsferien«, fragte Damaris mit zorniger Stimme. Sie war unverschämt, das merkte sie, aber momentan war ihr dies egal.

Damaris’ Mutter warf ihrem Mann einen hilfesuchenden Blick zu. Ehemals groß und schlank, war Ludwig Fink mittlerweile nur noch groß und ihm fehlte die selbstverständliche Eleganz seiner Frau. Seinem Äußeren angemessen – er sah Damaris’ Meinung nach ein wenig wie ein großer Teddybär aus – hielt er sich lieber aus Streitigkeiten heraus. In der Regel war er verständnisvoll, liebevoll und relativ entspannt. In der Regel. Leider nicht heute.

»Du könntest mal ein Buch lesen«, schlug er vor.

Perplex schaute Damaris ihren Vater an. Hatte er das etwa ernst gemeint?

»Eine gute Idee«, sagte ihre Mutter und tätschelte ihr wie einem niedlichen, aber dümmlichen Kätzchen den Kopf. »Mit vierzehn hast du noch nicht ausgelernt. Auch wenn du das öfters zu glauben scheint.« Damit verließ sie das Zimmer.

Nun war das Spielfeld egalisiert: ihr Vater und sie.

»Du könntest mal ein Buch lesen«, sagte Damaris leise und mit spöttischem Unterton. Sie warf sich auf ihr Bett und drehte ihrem Vater trotzig den Rücken zu. Als er sich zu ihr setzte, bog sich das Bett unter seinem Gewicht durch. Widerwillig rutschte sie ein paar Zentimeter in seine Richtung.

»Strafe muss sein«, sagte Ludwig Fink leise. »So schlimm wird es schon nicht werden.«

Damaris reagierte nicht.

Liebevoll strich er Damaris über die Haare, bevor er sich auf den Weg in das Erdgeschoss machte und die Tür hinter sich schloss.

Damaris seufzte und stand auf. Ziellos lief sie durch ihr Zimmer, auf der Suche nach Ablenkung. Ihr Kleiderschrank stand an der Wand, rechts von der Tür. Auf der gleichen Zimmerseite befanden sich der Wäschekorb und der Schreibtisch, letzterer nah am Fenster. So konnte sie ihre Hausaufgaben unter Nutzung von Tageslicht bewältigen. Die vom Eingang aus linke Zimmerhälfte wurde im Wesentlichen von ihrem Bett eingenommen. An der zweiten Außenwand, der Tür gegenüber, stand ein Regal. Ein paar Poster und einige kreuz und quer aufgehängte Fotos schmückten die Wände. Schließlich war da noch ihr Meerschweinchen Bonnie, das in einem Käfig unter dem Fenster hauste. Das gescheckte Nagetier bewegte sich nur, wenn es diesbezüglich keine Wahl hatte, und tat den ganzen Tag lang in der Regel nichts anderes als fressen und schlafen.

Damaris trat ans Fenster. Auch ein Blick nach draußen bot keine Abwechslung: Der graue, deutsche Alltag blickte sie in all seiner Eintönigkeit an. Von ihrem Fenster aus konnte sie bloß eine Straße, zwei Häuser und sich bis zum Horizont erstreckende Felder und Wälder sehen.

Unschlüssig wandte Damaris sich wieder ihrem Zimmer zu.

Was tun?

Auf ihrer Lippe kauend ging sie im Kopfe die Optionen durch: Hausaufgaben? Gab es keine. Im Internet surfen? Untersagt. Rausgehen? Verboten. Irgendwas basteln? Keine Lust. Ein Spiel? Noch weniger Lust.

Damaris’ Blick wanderte zum Bücherschrank, und sie nahm widerwillig die dort stehenden Titel genauer unter die Lupe. Eines der ersten Bücher, das ihr ins Auge fiel, trug den Namen Die Unendliche Geschichte. Vor ein paar Wochen hatte sie im Fernsehen die Verfilmung gesehen. Sie hatte ihr gefallen, auch wenn sie eher jüngere Kinder als Zielgruppe zu haben schien. Sie fragte sich, welchen Nutzen gedruckte Geschichten noch hatten, nachdem sie verfilmt worden waren.

»Na schön«, seufzte Damaris, das Buch hervorziehend. »Das Jahr 2011 fängt ja mal richtig bescheiden an!« Sie kletterte auf ihr mit einem Bettkasten versehenes Bett. Somit befand sich die eigentliche Liegefläche auf einer Höhe von rund anderthalb Metern. Das gab ihr nachts seit jeher ein Gefühl von Sicherheit.

Damaris starrte eine Weile das Bild auf dem Cover an. Ein Sammelsurium an Fantasiewesen sah ihr entgegen.

Widerwillig öffnete sie das Buch und fing an zu lesen.

Zuerst ging es nur langsam voran. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zurück zum Hausarrest. Doch mit der Entfaltung der Geschichte wuchs ihre Konzentration und ihre Lesegeschwindigkeit. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie die ersten beiden Kapitel bewältigt. Mit einem selbstzufriedenen Lächeln rutschte sie in eine liegende Stellung, stützte ihren Kopf auf den rechten Arm und blätterte um.

 

 

Kapitel 2: Unwillkommener Besuch

 

Eine Stunde und einige Kapitel später lag Damaris noch immer auf ihrem Bett. Sie kämpfte zunehmend damit, nicht einzuschlafen; schon einige Male waren ihr die Augenlider fast zugefallen. Oder sogar ganz? Kurz hatte sie eine merkwürdige Vision von einer großen mit Säulen gesäumte Halle gehabt. Noch bevor sie sich damit auseinandersetzen konnte, war sie allerdings aufgeschreckt.

Dabei war das Buch nicht unspannend. Sie musste sich sogar eingestehen, dass es ihr Spaß machte, darin zu schmökern. Aber so langsam strengte sie die ungewohnte Konzentration dann doch an und ihre Augen begannen zu tränen.

Gerade wollte sie zu einem Gähnen ansetzen, als eine Bewegung in ihrem Augenwinkel sie aufschrecken ließ.

Damaris war sofort hellwach.

Es war zwischen dem Bücherregal und dem Wäschekorb gewesen.

In dem Wäschekorb?

Nein: Alles lag still und regungslos vor ihr. Langsam beruhigte sich Damaris’ Herzschlag wieder. Alles nur Einbildung, redete sie sich ein.

Damaris legte das Buch zur Seite und vertrat sich ein wenig die Beine. Nach einer kurzen ziellosen Wanderung durch ihr Zimmer blieb sie zum zweiten Mal an diesem Tage vor ihrem Bücherregal stehen. Die meisten der darin befindlichen Bücher stammten noch aus der Zeit, als man sie ihr vorgelesen hatte. Neuere Bücher konnte sie als ungeliebte Geburtstagsgeschenke von – allein schon deshalb – unsympathischen Verwandten identifizieren. Sie war am dreißigsten Oktober vierzehn geworden und hatte wie jedes Jahr einige neue Staubfänger ins Regal einsortieren müssen. Kein einziges der vor ihr aufgereihten Bücher hatte sie bisher gelesen, die meisten nicht mal angefasst. Außer natürlich, um sie neben den anderen auf den Regalbrettern zu verstauen.

Ein Scharren drang an ihr Ohr.

Erschrocken drehte Damaris sich um. Irgendetwas machte kratzende Geräusche!

Rechts neben dem Schreibtisch befand sich ihr Wäschekorb und genau dorthin lenkte sie jetzt ihren Blick.

Damaris hatte zwar keine Angst vor Mäusen oder ähnlichem Getier, einen direkten Körperkontakt wollte sie trotzdem tunlichst vermeiden. Sie zog sich auf ihr Bett zurück: eine gute Beobachtungsposition.

Der Wäschehaufen lag unbewegt vor ihr.

Sie musste über ihre eigene Panik lachen.

Da! Schon wieder! Das Scharren wurde dieses Mal von einem leichten Stöhnen und Schnauben begleitet. Der Wäschehaufen bewegte sich!

»Dumme Idee!«, tönte es unter der Kleiderschicht. »Griff ins Klo.«

Keine Maus, schlussfolgerte Damaris. Erschrocken wich sie an das Kopfende ihres Bettes zurück. Den Blick nahm sie dabei nicht von dem Wäschekorb. Was passte da rein und konnte reden?

In der linken Ecke des Wäschehaufens tauchte nun ein Kopf auf. Ein relativ kleiner, zugegebenermaßen, aber definitiv ein Kopf. Er war zur Hälfte von einem ihrer gestreiften T-Shirts verdeckt. Eine kleine Hand erschien, und zog es herunter.

»Wer zieht denn so was freiwillig an?«, fragte der Kopf vollkommen verdutzt und warf das Shirt hinter sich. Es klatschte gegen die Wand und fiel zu Boden.

Das Wesen – Damaris wusste nicht, als was sie es sonst bezeichnen sollte – entstieg nun komplett dem Wäschekorb. Dies nahm nur einen kurzen Zeitraum in Anspruch, da es erstaunlich kleinwüchsig war; höchstens einen Meter groß. Nachdem es auf den Boden gesprungen war, richtete es sich auf, dehnte sich genüsslich, ließ die Fingerknöchel deftig knacken und schaute sich interessiert um. Nicht lange, da entdeckte es den Bettkasten und machte sich, ohne zu zögern, auf den Weg dorthin. Kurzzeitig verschwand das Wesen aufgrund des erhöhten Bettes aus Damaris’ Blickfeld, aber nur einen Moment später tauchte eine Hand an dem Fußende auf. Kaum war das Wesen hinaufgeklettert, da strich es sich zufrieden den grünen Pulli glatt und lief in Richtung Kopfkissen.

In Richtung von Damaris!

Das Mädchen saß mittlerweile in der rechten oberen Ecke des Bettes, so weit wie möglich von dem Wesen entfernt. Dieses schien an Damaris nicht das geringste Interesse zu haben. Es sah sie nur kurz an und grüßte:

»‘tag!«

Damaris nickte. Sie war zu verdutzt, um zu antworten.

Inzwischen erreichte das Wesen das Kopfkissen, direkt neben dem Teenager. Dort ließ es sich auf sein Hinterteil fallen, klopfte das Kissen in eine ergonomische Form und lehnte sich dagegen. Zuletzt verschränkte es noch die Arme hinter dem Kopf und ließ zufrieden den Blick wandern.

Damaris beobachtete das Schauspiel mit schnell klopfendem Herzen. So langsam hatte sie den ersten Schock überwunden – und ihre Neugierde meldete sich. Schweigend betrachtete sie jedes Detail des Wesens.

Es hatte einen Schottenrock und einen grünen Kapuzenpulli an. Letzterer war einige Nummern zu groß. Dazu besaß es unverhältnismäßig große Füße, die in Badelatschen steckten. Interessant waren die Hände: Anscheinend hatte das Wesen nur jeweils drei Finger, dafür zwei Daumen an jeder Hand. Einer da, wo er hingehörte, und daneben ein zweiter. Erst dann folgten die drei Finger. Die rechte Hand verwendete es gerade, um die Frisur zurecht zu zupfen. Dabei besaß das Wesen keine Kopfhaare, sondern eine geleeartige Masse, die wohl nach Belieben in Form gebracht werden konnte. Die Frisur erinnerte momentan an einen Igel, wenn auch die Farbe nicht passte: Die ‚Haare‘ waren giftgrün. Das Gesicht ähnelte dem eines etwa zwölfjährigen Mädchens. Ohren, Augen und Mund sahen normal aus, obwohl alle in ihren Proportionen etwas größer als gewohnt ausfielen.

Ihrer Neugierde genüge tuend, beugte Damaris sich vorsichtig vor, um einen noch besseren Blick auf das Wesen zu bekommen. Dieses betrachtete gerade mit großer Aufmerksamkeit die Bilder an der gegenüberliegenden Wand und empfand Damaris’ Kopf, der sich in sein Blickfeld schob, offensichtlich als ziemlich störend. Da Damaris nun begann, die Hände einer genaueren Untersuchung zu unterziehen, wurde das dem Wesen langsam zu unheimlich.

»Uhm … ist was?«

Damaris wich perplex zurück. Was sollte sie darauf antworten? Ein Wesen kam in ihr Schlafzimmer, machte sich auf ihrem Bett breit, bearbeitete ihr Kissen, und war auch noch frech genug, zu fragen, ob was sei!

»Wer bist du?«, brachte sie schließlich hervor.

»Na, ich bin Nika«, antwortete das Wesen, sich über diese ihrem Gesichtsausdruck nach überflüssige Frage wundernd.

»Und weiter?«

»Nichts weiter«, gab Nika zurück und sah Damaris abwartend an.

Diese setzte sich dem Wesen im Schneidersitz gegenüber.

»Wie … Woher bist du vorhin gekommen?«

»Das müsstest doch gerade du wissen«, gab Nika verwundert zur Antwort.

Es kam Damaris so vor, als ob Nika versuchte, allen ihren Fragen auszuweichen. Leicht verärgert sagte sie: »Ich weiß nur, dass du ein ziemlich komisches Ding bist, das sich irgendwie und ungefragt in meinen Wäschekorb verirrt hat!«

»Das Kompliment mit dem komischen Ding kann ich nur zurückgeben. Immerhin bist du sozusagen meine Mutter.«

Verdutzt schaute Damaris auf das Wesen. Ihre Mutter? Nika war nicht nur beschränkt, sondern offensichtlich sogar geistig verwirrt!

»Ich glaube, um Mutter zu werden, müsste ich noch einige Vorarbeit leisten.«

Nika schüttelte energisch den kleinen Kopf. »Nun sei mal nicht so pedantisch. Ich meine natürlich nicht eine Mutter im eigentlichen Sinne. Jemanden wie mich kannst du innerhalb des Bruchteils einer Sekunde erschaffen. In einem Augenzwinkern. Du brauchst nur an mich zu denken.«

Es folgte ein beidseitiges Schweigen. Damaris versuchte, die eben gehörten Informationen einzuordnen, während Nika sie gelangweilt anschaute.

Das machte alles keinen Sinn! Und wann machen Dinge keinen Sinn? Im Traum … Also träumte sie! Das musste es sein!

»Ich habe dich mir ausgedacht?«, fragte Damaris.

»Yep! Danke übrigens, auch wenn mir das Schuhwerk nicht wirklich gefällt«, antwortete Nika, während sie ihre Badelatschen kritisch hin und her drehte. »In puncto Mode hast du eine Menge nachzuholen.« Sie deutete mit ihrem Kopf in Richtung des Wäschekorbes. »Ich bin bei der Untersuchung deiner Dreckwäsche so einigen geschmacklosen Kleidungsstücken begegnet.« Sie überlegte. »Ich korrigiere mich: vielen geschmacksfreien Teilen.« Sie zuckte die Schultern. »Na gut, eigentlich ausschließlich.«

»Was wolltest du überhaupt darin?«

Mit leerem Blick sah Nika sie an.

Damaris verzichtete auf ein Nachhaken, denn sie beschäftigte längst etwas anderes: Ihr kam der Traum viel zu real vor. Alles in ihrem Zimmer schien echt zu sein. So, wie es sich gehörte. Nur dieses komische und unverfrorene Wesen auf ihrem Bett passte nicht in das gewohnte Bild.

Während Damaris sich nachdenklich umschaute, rutschte Nika ein wenig tiefer, kuschelte sich in das Kissen hinein und schloss die Augen.

Sie musste träumen, daran hatte Damaris keinen Zweifel. Bestimmt war sie nur deswegen so verunsichert, weil sie dies in ihren Träumen normalerweise nicht realisierte. Daraus ergaben sich natürlich ganz neue Möglichkeiten …

Langsam breitete sich ein verschmitztes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

»Du bist ein Teil meiner Fantasie?«, sprach sie Nika selbstsicher an.

»Hm«, gab Nika, die Augen geschlossen, zurück.

»Das heißt, ich habe dich gemacht, dein Aussehen, dein Verhalten?«

»Richtig«, Nika schien es blendend zu gehen; sie schmiegte sich genießerisch in das Kissen.

»Dann …«

Damaris legte eine kurze wirksame Pause ein, worauf Nika ein Auge öffnete und sie fragend ansah.

»… dann musst du mir gehorchen«, stellte Damaris sachlich fest.

Nika setzte sich auf und schaute nachdenklich an Damaris vorbei in die Ferne. Diese folgte Nikas Blick, konnte aber nicht erkennen, was ihrem Interesse galt. Daraufhin richtete Damaris ihre Aufmerksamkeit wieder auf Nika. Das Wesen war in Gedanken versunken: Damaris’ Aussage schien es sehr zu beschäftigen. Endlich kam es zu einem Entschluss:

»Nein, lieber nicht!«, sagte Nika, und schaute Damaris mit einem unschuldigen Blick geradeheraus ins Gesicht. Anschließend legte sie ihren Kopf ins Kissen und bereitete ein weiteres Mal ihre vollkommene Entspannung vor.

Eins war klar: Der Traum entwickelte sich nicht nach Damaris’ Vorstellungen.

Das Mädchen lehnte sich neben Nika an die Wand und sah das in das Kissen gekuschelte Wesen skeptisch an. Nach nur kurzer Zeit musste sie ein immer lauter werdendes Fiepen wahrnehmen – Nika war in aller Seelenruhe eingeschlafen.

Eines verstand Damaris nicht: Wenn sie schon wusste, dass sie träumte, warum konnte sie die Geschehnisse nicht beeinflussen? Es war doch ihre Fantasie!

»Nika?« Sie schüttelte das Wesen an der Schulter. »Warum kann ich meinen Traum nicht steuern?«

Verschlafen schaute Nika auf. Sie schien etwas orientierungslos. Nach einem kurzen Moment der Überlegung ließ sie sich mit einem Seufzen vom Bett gleiten und lief in Richtung des Bücherregals.

»Wo willst du denn jetzt auf einmal hin?«, fragte Damaris.

»Du bist mir zu laut! Ich suche mir einen anderen Ort zum Schlafen. Ist ganz schön anstrengend, wenn man gerade erst entstanden ist, weißt du? Ein wenig mehr Rücksichtnahme würde dir gut stehen.« Nika schleifte, noch halb schlafend, das Kopfkissen hinter sich her. Überrascht schaute Damaris zu, wie sowohl das Kissen als auch Nika zunehmend kleiner wurden, bis das Wesen schließlich – nur noch halb so groß wie ein Buch – vor dem Bücherregal anhielt.

»Wenn ich ausgeschlafen habe, komme ich vielleicht wieder«, verabschiedete sich Nika. Dann griff sie an den Rand eines Buches, öffnete den Buchrücken, hüpfte in den Einband, und verschwand.

Samt Damaris’ einzigem Kopfkissen.

 

Kapitel 3: Der Eintrittsraum

 

»Das hier ist ihr Schreibtisch.«

Nika führte mit gewichtiger Miene ein ihr ähnliches Wesen durch Damaris’ Zimmer.

»Nicht, dass sie ihn wirklich bräuchte – die ist bestimmt zu faul zum Schreiben oder Hausaufgaben machen. Er sieht allerdings so schön wichtig aus. Nur zum Angeben ist er da. Da vorne ist das Bett. Die Decke stammt aus Arathien und wurde aus einer ganzen Herde Katzenbabies hergestellt.«

»Arathien? Wo soll …«, wollte ihre Begleitung wissen, aber Nika unterbrach sie:

»Das solltest du mal ausprobieren. Extrem entspannend! «

Hier und da hielten sie an, und Nika erzählte ihrer Begleitung alles Wissenswerte zu dem jeweiligen Ort. Oder zumindest all das, was sie über das Zimmer zu erzählen wusste. Und das war noch nicht besonders viel. Daher schmückte sie ihre Erläuterungen einfach ein wenig aus. Der Unterhaltungswert ihrer Führung war ihr offensichtlich wichtiger als die Fakten.

Sie erreichten das Bett, auf das sie unverzüglich hinaufkletterten. Oben angekommen, entdeckten sie Damaris, die nach ihrem unerwarteten Abschied von Nika ohne ihr weiches Kissen hatte einschlafen müssen.

»Paru, das hier ist meine Schöpferin«, sagte Nika. »Ein wenig eigensinnig, aber ich muss halt damit vorliebnehmen. Man kann sich leider nicht aussuchen, wer die Eltern sind.«

Das zweite Wesen schien äußerst interessiert und schaute sich Damaris ganz genau an.

»Ich bin einem Menschen lange nicht mehr so nahe gewesen!«, sagte sie begeistert. »Du weißt ja, mit meinem Schöpfer war ich schon ewig nicht mehr unterwegs.«

Nika schaute ihre Freundin verständnislos an. »Ich weiß gar nicht, warum du dich darüber beklagst! Die absolute Freiheit … Ein Traum! Sie hier wollte mich sogar zwingen, Sachen für sie zu tun.«

»Was denn?«

»Uhm … Keine Ahnung … So weit sind wir nicht gekommen, da ich mich geweigert habe.«

»Und dann?«

»Dann bin ich gegangen!«

»Ach Nika …«, seufzte Paru, »… glaube mir, die Zeit mit deinem Schöpfer beziehungsweise deiner Schöpferin ist kostbar.«

»Nicht, wenn sie mich rumscheucht!«

»Das war bestimmt nicht so gemeint …«

»O doch!«

Paru schüttelte den Kopf. »Wie dem auch sei. Wenn du es jetzt bereits verpasst, mit ihr zusammen zu sein, führt das gegebenenfalls noch schneller dazu, dass sie das Interesse an dir verliert. Und du kannst dich, wie ich, nur noch mit anderen Thinks treffen. Nicht, dass das nicht auch schön wäre! Aber Menschen sind schon eine Klasse für sich.«

»Eine nervige Klasse für sich!«, verbesserte Nika.

Paru winkte lächelnd ab. »Wann wird sie wach?«, wollte sie wissen.

Nika gesellte sich zu Paru, die direkt neben Damaris’ Kopf stand.

»Na, jetzt!«

Bevor Paru sie aufhalten konnte, hatte Nika die Hand ausgestreckt und Damaris unsanft in die Wange gepikst.

 

Langsam öffnete Damaris die Augen. Was sie sah, waren die neugierigen Gesichter zweier kleinwüchsiger Märchengestalten. Mit einem Schrei fuhr sie auf.

»Spinnt ihr!«, rief sie nach Luft schnappend. »Was soll das? Und wer bist denn du?«

»Darf ich vorstellen?«, sagte Nika, »Das ist Paru, eine Freundin und Zwelfe wie ich.«

Ihr Puls auf hundertachtzig und viel zu geschockt, um angemessen böse zu reagieren, sah Damaris Paru wortlos an. Sie wirkte irgendwie fertiger als Nika. Fertiger im Sinne von entwickelter. Gäbe es einen Gott, so hatte er (oder sie?) Paru mit Sorgfalt geschaffen, nachdem an Nika stümperhaft geübt worden war.

Paru hatte in etwa dieselbe Größe wie Nika, einen niedlichen kleinen Kopf mit überdimensionierten Kulleraugen und nicht so übertrieben große Füße. Dafür trug sie – ihrer zierlichen Figur Lügen strafend – ein gut ausgebildetes Bäuchlein mit sich herum. Ihre schwarzen Haare waren wirkliche Haare, keine gummiartige Masse wie bei Nika. Der Kurzhaarschnitt verlieh Paru ein gewitztes Aussehen. Ihre Kleider waren sorgfältig gewählt: ein paar schicke Lederschuhe, eine karierte Hose und ein Hemd, das inklusive Krawatte über ihre Hose hing.

»Schön, dich kennenzulernen. Ich hoffe, wir werden gute Freunde«, sagte Paru und reichte Damaris ihre kleine Hand.

Wie das Mädchen feststellte, besaß Paru die normale Anzahl an Fingern und Daumen.

Mit einem Grinsen und einem Kopfnicken in Richtung Nika fügte Paru hinzu: »Viel Übung hast du mit dem Schöpfen wohl noch nicht.«

Nika beantwortete diese Frage an Damaris’ Stelle mit einem schmerzhaften Knuff in Parus Seite.

»Wie?«, fragte Damaris. »Schöpfen?«

»Ausdenken. Überlegen. Fantasieren. Erschaffen. Gestalten. Kreieren«, antwortete Paru.

Damaris wedelte die Erklärung beiseite.

»Mich würde viel mehr interessieren, was ihr in meinem Zimmer macht. Eingeladen habe ich euch wohl kaum. Und was ist überhaupt eine Zwelfe?«

»Wir sind Zwelfen«, antwortete Nika.

»Danke, das habe ich begriffen«, erwiderte Damaris säuerlich. »Aber was seid ihr?«

Paru zeigte auf Nika. »Also, sie ist vermutlich ansatzweise diesem komischen Typen aus dem Buch, das du gerade liest, nachempfunden. Diesem Nachtalb, dieser hässlichen Kreatur, die ziemlich am Anfang von Die Unendliche Geschichte auftaucht. Der mit der Fledermaus.«

Dann zeigte Paru auf sich selbst. »Mein Schöpfer hat zum Zeitpunkt meiner Entstehung Der kleine Hobbit gelesen. Daher sehe ich ein wenig wie einer aus. Im Moment bekommen wir viele Hauselfen, wie in diesen Büchern von dem Zauberlehrling. Früher hatten wir mehr Feen, Elfen und Zwerge. Daher nennen wir uns immer noch Zwelfen.«

»Okay …«, erwiderte Damaris skeptisch. »Auf jeden Fall könnt ihr nicht einfach so hier reinspazieren. Das ist mein Zimmer!« Sie sah ihre Kreation drohend an. »Und Nika, wo ist mein Kissen?«

»Ach Mist!«, meinte diese. »Das habe ich im Eintrittsraum liegen lassen.«

Paru entfuhr ein: »Tz, tz!«, und sie wackelte anschuldigend mit dem Köpfchen.

»Was ist denn nun schon wieder ein Eintrittsraum?«, fragte Damaris.

Paru kam Nika zuvor: »Ihr wart noch nicht mal im Eintrittsraum? Du nimmst deinen Job nicht sehr ernst, Nika!«

Schuldbewusst scharrte die Zwelfe mit ihrem Fuß über die Bettdecke.

»Ich bin halt noch nicht dazu gekommen …«

»Dann wird es höchste Zeit!«

In Damaris’ Richtung fügte Paru hinzu: »Der wird dir bestimmt gefallen!«

»Was wird mir gefallen?«, fragte das Mädchen barsch. »Und was für einen Job nimmt Nika nicht sehr ernst?«

»Der Eintrittsraum, der wird dir gefallen«, erklärte Paru geduldig. »Und mit dem Job meinte ich, dass Nika dich ruhig ein wenig hätte rumführen können, anstatt sich schlafen zu legen.«

Paru und Nika hüpften vom Bett und liefen in Richtung des Bücherschranks. Da Damaris keine Anstalten machte, ihnen zu folgen, blieben die beiden Zwelfen nach wenigen Schritten stehen und sahen sie abwartend an.

»Ich soll euch folgen?«, fragte Damaris ungläubig. »Ich dachte, ich würde jetzt wieder meine wohlverdiente Ruhe bekommen!«

»Und ich dachte, du wolltest was von unserer Welt sehen. Aber ich reiße mich nicht um deine Gesellschaft!«, gab Nika schnippisch zurück.

Mit einem übertriebenen Seufzen rutsche Damaris schwerfällig vom Bett herunter. Während sie zu dem Bücherschrank lief, veränderte sich das Zimmer um sie herum. Erstaunt stellte sie fest, dass es immer größer wurde. Oder vielleicht war es genau andersherum? Immerhin war auch Nika geschrumpft, kurz bevor sie in dem Buch verschwunden war.

Die Zwelfen störte der Vorgang nicht weiter. Sie unterhielten sich angeregt zu irgendwelchen Damaris unbekannten Personen und Geschehnissen und waren inzwischen vor dem Regal angekommen. Sie maßen nun nur noch etwa fünfzehn Zentimeter. Fasziniert schaute Damaris hinter sich: Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um an ihrem Bett hinaufzusehen.

Die Zwelfen machten sich inzwischen am Rücken des ältesten in Damaris’ Besitz befindlichen Buches zu schaffen: ihr Babybuch. Amy Fink hatte im ersten Lebensjahr ihrer Tochter jede noch so triviale Aktion ihres Nachwuchses mit Fotos festgehalten und in diesem Buch archiviert. An Damaris zwölften Geburtstag hatte sie das Buch von ihrer Mutter bekommen. Seitdem verstaubte es in ihrem Regal.

»Ui! Der ist schon fast angewachsen!«, sagte Paru.

»Es klemmt nur ein wenig …«, antwortete Nika und ging Paru zur Hand. Fast sofort fand sie die richtige Stelle: Sie schob ihre Finger zwischen das Buchcover und den Bücherrücken und letzterer schwang mit einem knarrenden Geräusch auf.

Paru klopfte sich den Staub von den Kleidern, während Damaris neugierig in die Öffnung des Buches schaute. Es war aufgrund der Dunkelheit kaum etwas auszumachen, aber sie erkannte genug, um festzustellen, dass sich dort ein Hohlraum befand.

Nika und Paru hatten inzwischen ihre Unterhaltung wieder aufgenommen:

»Und ich sage noch zu Katja, dass sie das nicht machen soll!«, ereiferte sich Nika.

»Vergiss dabei bitte nicht, dass sie mit nur mittelmäßiger Intelligenz geschaffen wurde!«, erwiderte Paru. »Da kann man nicht erwarten …«

Der Ton riss ab, als die beiden in den Bücherrücken hineinliefen – und verschwanden.

Mit ein paar Schritten erreichte Damaris die Öffnung. Sogar von hier aus konnte sie kaum einen Meter weit hineinschauen.

Was nun? Sollte sie den beiden Zwelfen folgen? Der Durchgang war breit genug für sie, die Höhe reichte sowieso. Doch sie wusste überhaupt nicht, was sie dort erwartete. Auf der anderen Seite träumte sie nur, also konnte ihr nichts Ernstes passieren. Oder?

Eine Hand mit zwei Daumen erschien aus dem Dunkel und zog das Mädchen mit einem Ruck in das Buch hinein.

 

Damaris befand sich innerhalb eines runden Steinringes. Vor ihr öffnete sich ein riesiger Raum. Als sie, Paru und Nika folgend, aus dem Tor hinaustrat und die etwa zwanzig Stufen auf der sich anschließenden Steintreppe hinunterschritt, fand sie sich in einer Kathedrale wieder. Nach vorne, von ihr weg, breitete sich das Mittelschiff des Gotteshauses aus – das gesamte Gebäude bestand ausschließlich aus einem langen Raum. Das Querschiff und der Chor fehlten. Es sah so aus, als ob den Erbauern das Geld ausgegangen war, bevor sie ihr Werk vollenden konnten.

Verwundert stellte Damaris fest, dass der Boden nicht wie eine ebene Fläche geformt war, sondern einem flachen Gewölbe glich. Mit den Strebebögen aus Stein und den durch eine dicke Lage Staub verdeckten Gemälden sah der Boden wie eine typische Dachkonstruktion einer mittelalterlichen Kathedrale aus.

»Komisch«, murmelte Damaris, während sie mit dem Schuh den Bruchteil eines farbigen Kunstwerks vom Staub befreite. Eine meisterlich gezeichnete geöffnete Hand hob sich blassrosa gegen den grauen Staub ab.

Ein Blick zur Seite zeigte Damaris, dass der Boden in diese Richtung ein wenig anstieg, um schließlich die Basis für die Seitenmauer zu bilden. Nach ein paar Metern wurde diese durch eine Art Balustrade aus Säulen unterbrochen; darüber befanden sich weitere Pfeiler. Die Kathedrale schien entgegen ihrer Erwartungshaltung nach oben hin immer massiver zu werden. Erst als Damaris’ Blick ganz nach oben strebte, erkannte sie, warum.

Erschrocken wich sie zurück.

Dort, wo das Dach hätte sein sollen, schloss sich eine zweite Kathedrale an. Erst geschätzte achtzig Meter über ihr befand sich das abschließende Gewölbe.

Ein Spiegel, schoss es Damaris durch den Kopf.

Aber in dem vermuteten Spiegelbild fehlte eine wichtige Sache: sie selbst. Somit konnte es sich bei dem Gebilde über ihr, entgegen jeder Vernunft, nur um eine weitere Kathedrale handeln.

Ihr fröstelte es. Einerseits wegen der typisch feucht-kalten Kirchenluft, andererseits wegen der gespenstigen Atmosphäre des Ortes. Überall hingen Spinnweben. Jegliche Details waren unter einer dicken Lage Staub versteckt. Darüber hinaus konnte Damaris keine Lichtquelle ausmachen. Dort, wo sonst die eindrucksvollen, in Blei gefassten Fenster die Gläubigen begeisterten, waren bloß große, im Schatten liegende Flächen zu sehen. Trotz des Fehlens von Fenstern, Lampen oder Kerzen war die Kathedrale in ein Dämmerlicht getaucht.

»Sind das zwei Kathedralen?«, fragte Damaris die beiden Zwelfen, die schweigend neben ihr standen und sie beobachteten.

Nika verneinte. »Eigentlich sind es vier. Allen fehlt der Boden und sie bilden eine Art langgezogenes Kreuz. Du stehst gerade im Dach von einer.«

So was hatte Damaris noch nie gesehen – oder doch? Irgendwie kam ihr der Ort bekannt vor.

»Komm!«, sagte Nika, weiter in das Gebäude vorstoßend.

Langsam folgte das Mädchen den beiden Zwelfen, vorsichtig die Füße hebend, um nicht über die kreuz und quer verlaufenden Strebebögen zu stolpern.

Nika und Paru erreichten inzwischen die Seitenwand der Kathedrale. Doch anstelle dort auf Damaris zu warten, setzten sie ihren Weg unbeeindruckt fort. Sie liefen senkrecht an der Mauer hinauf! Wie selbstverständlich fanden ihre Füße Halt.

Geschockt blieb Damaris stehen.

»Bei meinem ersten Besuch war ich auch ziemlich überrascht«, sagte Nika, den Kopf in den Nacken legend, um Damaris anzuschauen.

»Nicht ungewöhnlich in unserer Welt, aber dennoch beeindruckend«, pflichtete Paru ihr bei.

Die beiden Zwelfen setzten ihren Weg fort. Dabei trotzten ihre Körper weiter der Schwerkraft und ihre Füße hinterließen Flecken im Staub.

Damaris wunderte sich noch kurz darüber, warum auf einer senkrechten Wand überhaupt Staub lag. Dann besann sie sich darauf, dass sie in ihrem Traum wohl nicht nach Logik fragen sollte.

Sie schnaubte leise, um direkt darauf den Kopf zu schütteln. Faszinierend, dass sie sich über ihr eigenes Fantasiegebilde erstaunt zeigte!

»Nicht schlecht!«, befand sie laut.

»Falls du gerade auf deine grenzenlose Fantasie stolz bist, muss ich dir den Zahn direkt ziehen!«, tönte Nika. »Das alles hier hast du als Baby und kleines Kind geschaffen.«

»Du warst früher bestimmt viel in der Kirche, oder?«, fragte Paru.

Den nachhallenden Worten lauschend, nickte Damaris. Ihre Eltern waren einst fleißige Kirchengänger gewesen und hatten sie jeden Sonntag mitgeschleppt.

»Deshalb das alles hier …« Paru machte eine umfassende Armbewegung. »Nicht alle Eintrittsräume sehen so aus. Je nachdem, was den Gestalter zum Zeitpunkt der Schaffung beschäftigt hat. Der eine Raum gleicht mehr einem Schiff, der andere mehr einem Hochhaus.«

»Viele sind schöner als deiner!«, warf Nika ein. »Und übrigens: Du warst in den letzten paar Jahren so gut wie gar nicht mehr hier. Heute würdest du so was wohl kaum noch mal auf die Reihe kriegen!«

Ein wenig unsicher lief das Mädchen auf die Seitenwand zu, bis ihre Nase fast die kalten Steine berührte. Nichts geschah. Sie berührte die Wand mit der linken Hand. Immer noch nichts. Dann hörte sie weit über sich ein schallendes Lachen.

Damaris schaute hoch und lief vor Ärger rot an. Nika und Paru standen mittlerweile auf den die Balustrade stützenden Pfeilern – und machten sich vor Vergnügen fast in die Hosen.

»Ha, ha, sehr witzig. Sagt mit lieber, wie das funktioniert«, beklagte sich Damaris.

»Jeder hat bei seinen ersten bewussten Traum-Erfahrungen seine Anlaufschwierigkeiten«, rief Nika. »Du schaffst das schon!« Ihre Stimme klang in Damaris’ Ohren eher gehässig als anspornend.

Verzweifelt berührte das Mädchen erneut den harten Stein. Da sich immer noch nichts tat, trat sie frustriert mit dem Fuß gegen die Wand.

Schlagartig schien sich ihre Welt um fünfundvierzig Grad zu drehen.

Sofort ging Damaris in die Knie und spreizte die Arme. Sie stand nun mit einem Fuß auf dem Gewölbe und mit dem anderen auf der Seitenwand. Die Schwerkraft lag genau dazwischen – zumindest ihrem Gefühl nach. Vorsichtig nahm sie den Fuß von dem Gewölbe und die Wand schien ruckartig zum neuen Boden zu werden. Als ob die gesamte Kathedrale gedreht wurde.

»Geht doch!«, rief Paru anerkennend.

Den Triumph genießend, aber immer noch unsicher auf den Beinen, ging Damaris die Wand entlang, den beiden Zwelfen entgegen. Noch hatte sie das Gefühl, wie auf rohen Eiern zu wandeln.

Etwas Komisches fiel Damaris auf – mal abgesehen davon, dass sich in der Kathedrale die Schwerkraft einfach entschloss, die Richtung zu wechseln: Statt mit Fenstern war das Gotteshaus mit vielen kleinen, mittleren und großen Türen ausgestattet. Das waren die dunklen Flecke, die sie bereits bemerkt hatte.

Mit langsam sicher werdenden Schritten ging sie weiter, bis sie zu der Balustrade kam, die sie nur mittels der Säulen überqueren konnte. Mutig setzte sie ihren Fuß auf eine Säule. Zu ihrer rechten und linken Seite blickte sie in einen großen, offenen Raum. Zu der eigentlichen Außenwand der Kathedrale ging es geschätzte fünf Meter senkrecht hinunter.

Die Arme ausgestreckt und angespannt die Balance haltend, erreichte sie erleichtert die rettende Wand hinter den Pfeilern und schloss zu den wartenden Zwelfen auf.

»Alles klar?«, fragte Nika.

Damaris nickte. »Was sind das für komische Türen?«

»Wirst du gleich sehen«, antwortete Nika und legte dann die zwei Meter bis zu der zweiten Reihe an Säulen zurück. Die steinernen Stützen waren noch mächtiger und höher als die vorherigen.

Die Zwelfe winkte Damaris herbei, kippte nach vorne – und verschwand zwischen den Säulen. In das fünf Meter tiefe Loch schauend, das sich dort vor ihr auftat, war Damaris zwar nicht ganz wohl, aber was Nika und Paru konnten, würde sie wohl auch hinbekommen! Mit einer Todesverachtung, die aus der Gewissheit stammte, dass sie träumte, ging sie ein bisschen in die Knie, setzte auf dem linken Bein balancierend den rechten Fuß auf die vor ihr senkrecht abfallende Wand und lehnte sich nach vorne.

Sie war außerordentlich erleichtert, als die Schwerkraft sich umorientierte. Nun befand sie sich in dem Gewölbe des Seitenschiffes.

Hastig lief sie hinter den Zwelfen her, vollführte einen weiteren Richtungswechsel und fand sich schließlich auf der Innenseite der Außenwand wieder. Ein Blick nach oben zeigte ihr, dass sich die dicken Säulen nun über ihr befanden. Dahinter lag das Hauptschiff der Kathedrale.

Damaris folgte erneut ihren beiden Begleiterinnen. Alle paar Meter musste sie Haken schlagen, um den hier sehr zahlreichen eingelassenen Türen auszuweichen.

Nika und Paru störten die geschlossenen Durchgänge nicht, sie trampelten einfach darüber hinweg.

Ihr Tempo drosselnd, schaute Nika sich um und fragte gedankenverloren: »Womit? Womit fangen wir an?«

Dann schien sie die Antwort gefunden zu haben und lief auf eine kleine, unscheinbare Tür zu.

»Eine gute Wahl!«, sagte Paru. »Auch ich habe damals meinen Schöpfer mit einer ähnlichen, brachliegenden Teilwelt wieder in seine Träume eingeführt!«

An Damaris gewandt fügte sie hinzu: »Die einzelnen Fantasiegebilde nennen wir Teilwelten. Diese hier hast du vermutlich mit einer bestimmten Idee im Hinterkopf kreiert, bist aber nicht mehr dazu gekommen, sie mit Leben zu erfüllen. Seitdem sammelt sie hier Staub.«

Nika öffnete den Durchgang, indem sie einmal darauf klopfte: Wie von Geisterhand schwang die Tür nach innen. Anders als zuvor bei ihrem Fotobuch, konnte Damaris das Innere erkennen. Kaum ein Meter hinter der Tür gebot eine gewölbte Mauer ihrem Blick Einhalt. Sie trat einen Schritt näher und sah, dass sich ein Tunnel anschloss. Ein Tunnel, der senkrecht nach unten in die Dunkelheit führte.

Paru brauchte keine Aufforderung; sie hüpfte hinein und verschwand.

Dieses Mal wartete Nika auf Damaris. Mit ausgestreckter Hand. »Bereit?«, fragte sie.

Damaris nickte, auch wenn sie überhaupt nicht das Gefühl hatte, für den Sprung in das schwarze Loch bereit zu sein.

Zusammen ließen sie den Eintrittsraum hinter sich.

Kapitel 4: Erste Gehversuche

 

Unsanft landete Damaris auf ihrem Hinterteil. Leise fluchend richtete sie sich auf und ließ den Blick wandern. Was sie sah, war … nichts. Überhaupt nichts. Nicht, dass es dunkel war – es war hell. Aber außer dem hellgrauen Boden und dem weißen Himmel war kein einziger Gegenstand oder etwa eine Person auszumachen. Mal abgesehen von einer Luke im Boden hinter ihr und den beiden Zwelfen, die sich direkt neben ihr befanden und sie mit großen Augen ansahen.

»Was denn?«, fragte Damaris.

»Fällt dir nichts auf?«, stellte Nika eine Gegenfrage.

Das Mädchen blickte nochmals um sich. »Hier kann einem gar nichts auffallen, hier ist nichts!«

»Richtig! Schlaues Mädchen.«

Damaris’ böser Blick traf Nika. Er prallte an der Zwelfe ab, wie ein Flummi von einer Steinmauer.

»Du musst dir etwas vorstellen! Etwas kreieren!«

»Und was soll das bringen?«

»Wenn du deine Fantasie benutzt, kannst du in deinen Gedanken etwas aus dem Nichts erschaffen«, erläuterte Paru. »Wir befinden uns in deiner Fantasiewelt. Du hast hier das sagen. Na ja, meistens.«

»Und bisher können uns deine geistigen Ergüsse nicht wirklich begeistern«, fügte Nika überheblich hinzu.

Damaris ignorierte den bissigen Kommentar und fragte: »Egal was?«

»Was du möchtest«, antwortete Paru.

Das Mädchen drehte sich langsam um die eigene Achse, ihre Umgebung in Augenschein nehmend. Dann schloss sie die Augen – nur um nach nur wenigen Sekunden krampfhaften Denkens aufzugeben. »Mir will nichts einfallen«, berichtete sie.

»Was für ‘ne Pfeife«, murmelte Nika und verdrehte die Augen.

»Na schön, wir helfen dir ein wenig … Denk doch mal an ein Haus«, schlug Paru vor.

Damaris schloss erneut die Augen und konzentrierte sich. Im Geiste visualisierte sie ein Haus und spürte, wie um sie herum etwas geschah. Als sie die Augen öffnete, zeigte sie mit einem fröhlichen Aufschrei hinter Nika und Paru. Triumphierend wanderte ihr Blick von dem einstöckigen Gebäude zu den Zwelfen, die entgegen ihrer Erwartung nicht besonders beeindruckt zu sein schienen. Schlimmer noch: Sie schüttelten enttäuscht die Köpfe.

»Na gut, es ist vielleicht kein Ausbund an Kreativität«, gab Damaris zu. »Trotzdem: Genauso würde ich ein Haus zeichnen. Vier Striche für die Außenwände und zwei für das Dach. Dazu eine Tür und zwei Fenster.«

»Wie wäre es, wenn du dir mal ein realeres Haus vorstellen würdest?«, fragte Paru.

»Wie: real?«, meinte Damaris. »Wollt ihr ein komplett eingerichtetes Haus? Ich bin zwar kein Innenausstatter, aber ein paar Stühle oder so kriege …«

»Das Haus war ja nur ein Vorschlag«, fiel ihr Paru ins Wort. »Vielleicht versuchst du es einfach noch mal? Etwas Größeres, vielleicht? Etwas real Wirkendes?«

»Na schön«, sagte Damaris, leicht genervt, und schloss erneut die Augen.

»Siehst du was?«, flüsterte Nika bereits nach wenigen Sekunden Paru zu.

»Noch nicht.«

»Zu nichts zu gebrauchen!«

Die Welt hinter Damaris breitete sich eintönig in alle Richtungen aus. Und doch grinste sie die beiden Zwelfen an, als sie die Augen öffnete. Paru antwortete mit einem unsicheren Lächeln, während Nika ihren Mund kritisch verzog und Paru abwertend wegen ihres Grinsens anschaute.

»Was ist denn so witzig?«, fragte sie Paru. Die Zwelfe hörte auf zu lächeln – sie wusste selbst nicht, warum Damaris sie so fröhlich ansah.

Um ihren Unwillen zu betonen, zog Nika nach einem kurzen Moment die Hände aus den Taschen ihres Schottenrockes und fing langsam an zu klatschen. »Bravo! Du hast bewiesen, dass du toll bist. Ganz toll darin, unsere Zeit zu verschwenden.«

»Können wir dann jetzt bitte gehen?«, fügte sie hinzu und drehte sich um, bereit für den Abmarsch.

Kaum hatte sie einen Schritt getan, blieb sie schlagartig stehen. Wo vorher noch das Haus gestanden hatte, wurde ihrem Blick nun Einhalt geboten. Etwas Wuchtiges und Graues versperrte ihr den Weg. Ihre Augen wanderten nach oben, und sie erkannte, was sie vor sich hatte: einen gigantischen Wolkenkratzer.

Einen real wirkenden Wolkenkratzer.

Paru trat neben Nika. Erstaunt schauten die Zwelfen sich an. Dann folgten sie schnellen Schrittes Damaris, die sich inzwischen an der Ecke des vor ihnen befindlichen Hochhauses befand und sie herbeiwinkte.

»Kommt mal hierher!«

Eine ganze Stadt lag vor ihnen. Hochhäuser waren aus dem Boden gewachsen; runde, eckige und ovale. Hier und da ragten Turmspitzen in die Wolken des plötzlich hellblauen Himmels. Schwebende Straßen verbanden die Wolkenkratzer – der Boden zwischen ihnen war der Natur überlassen. Hier wechselten sich Bäume und Sträucher mit großen, grünen Grasflächen ab.

Damaris lief aufgekratzt durch die Hochhausschluchten, während die beiden Zwelfen den erstaunlichen Fortschritt von Damaris’ Vorstellungsvermögen verarbeiteten.

»Na ja …«, sagte Paru zu Nika, »Man kann zwar nicht behaupten, dass die Stadt wirklich real aussieht, es fehlen noch zu viele Details. Aber der Unterschied zu dem ersten Haus ist riesengroß. Wenn sie weiter solche Sprünge macht …«

»Und du hast an ihr gezweifelt!«, warf Nika ihr vor. »Du hättest an sie glauben sollen. So, wie ich es immer getan habe!«

Bevor die perplexe Paru antworten konnte, war Nika schon ihrer Schöpferin hinterhergerannt und zupfte an ihrem Pulli.

»Ich habe immer an dich geglaubt! Du hast immerhin die Meisterleistung fertiggebracht, mich zu erschaffen.«

Damaris warf ihr einen spöttischen Blick zu.

Keine Sekunde später trat Nika in einen recht unappetitlichen, braunen Haufen.

»Mist!«, fluchte die Zwelfe und putzte sich ungelenk am Rasen den Fuß ab.

»Könnte hinkommen«, lachte Paru.

Nikas Begeisterung für Damaris’ Gebilde ließ spontan und merkbar nach: »Bescheuerte Teilwelt. So ein Hinriss. Wer hat der denn bitte in den Kopf gesch…«

»Woher kommt der Fladen eigentlich?«, unterbrach Paru ihre Freundin hastig. »Ich sehe keine Tiere.«

Damaris überlegte eine Sekunde, dann zeigte sie an Paru vorbei.

»Kühe«, grinste Paru. »Wenn auch noch recht simpel kreiert. Trotzdem: Meine Glückwünsche!«

Damaris musste Parus Kritik gelten lassen. Das grasende Tier hatte zwar das bekannte Muster an schwarzen und weißen Flecken, doch die Beine waren etwas zu kurz geraten und der Kopf schien zu rund. So richtig zufrieden konnte sie mit ihrer neuesten Schöpfung nicht sein.

»Ich weiß … sieht nicht echt aus«, bemängelte sie selbstkritisch das Produkt ihrer Fantasie.

Paru schüttelte energisch den kleinen Kopf. »Nein, nein, das ist ein sehr guter Anfang! Lebewesen sind nun mal nicht einfach. Gib dir ein wenig Zeit. Du bist bereits deutlich besser geworden, seit du Nika geschaffen hast.«

»Bitte was?«, fragte Nika bissig. Sie schleifte nach wie vor ihren übelriechenden Fuß hinter sich her durch das Gras. »Welcher Hirnamputierter hält sich eigentlich Kühe in einer Stadt?«

»Ach, ja richtig«, meinte Damaris. »Ich war ja noch gar nicht fertig.«

Ein lautes Rumpeln arbeitete sich von tief unter ihnen an die Erdoberfläche. Alles begann zu zittern und zu wackeln, und wie auf ein geheimes Zeichen hin versanken mit einem Mal die Wolkenkratzer um sie herum in der Erde. Der Boden unter den Gebäuden gab einfach nach. Bloß die Grünflächen blieben unverändert an Ort und Stelle.

Paru verfolgte das Ganze mit ruhigem Interesse.

Nicht so Nika, die panisch um sich schaute. »Was? Was soll denn das?«, rief sie panisch und rannte zu Damaris, an deren Hüfte sie sich klammerte. Jegliche Überheblichkeit hatte sie abgelegt.

Damaris schaute grinsend an sich herunter und tätschelte Nika beruhigend den Kopf. »Es ist gleich vorbei!«, rief sie der Zwelfe über das Tosen hinweg zu.

Sie sollte recht behalten. Nach nur wenigen Sekunden beruhigte sich der Boden, das Rumpeln verklang kurze Zeit später.

Nika schaute unsicher auf und löste ihre Umklammerung, um sich vor Damaris aufzubauen. Misstrauisch sah sie ihr ins Gesicht. »Das hätte doch bestimmt auch ohne das ganze Getöse und Gewackel gehen können, oder nicht?«

»Mag sein, aber dann hätte es nicht so realistisch gewirkt«, antwortete Damaris mit einem hämischen Grinsen.

»Aha … nächstes Mal gibst du mir netterweise vorher Bescheid, ja?« Nika lief trotzig ein paar Meter von Damaris fort. Ihre grüne Frisur wackelte im Takt ihrer Schritte.

Von der Stadt war nun nichts mehr zu sehen. Hier und da klafften im Boden riesige Löcher – dort, wo die Häuser und Straßen verschwunden waren. Da diese die Sicht nun nicht mehr behinderten, fielen plötzlich die zahlreichen Kühe auf, die überall herumstanden. Anscheinend hatte sie der Tumult nicht aufgeschreckt: Sie fraßen in aller Ruhe ihr Gras. Direkt vor den drei Besuchern bewegte sich eine Kuh auf den nächstliegenden Rand zu, knabberte noch schnell an einem Grashalm und hüpfte anschließend, ohne sichtbar gezögert zu haben, in das vor ihr liegende Loch. Ihr Schwanz war das Letzte, das verschwand.

Nika und Paru schauten Damaris mit großen Augen an. Das Mädchen hob entschuldigend die Schultern.

»Ich habe keine Ahnung, was da los ist.«

»Schauen wir mal nach!« Paru lief bis kurz vor das Loch und legte sich auf den Bauch. Vorsichtig tastete sie sich an den Rand vor. »Die Stadt ist noch da!«, verkündete sie. »Sie liegt nun ein paar Hundert Meter tiefer!«

Auch die Köpfe von Damaris und Nika schoben sich nun über den Abgrund. Die unter ihnen liegende Stadt war bläulich beleuchtet, die Straßen hoben sich hell von den dunklen Hochhäusern ab.

Damaris zeigte auf kleine Rasenstücke, die an den Wänden des riesigen Schachtes hinauf und hinunter fuhren. »Aufzüge! Das war somit gerade keine suizidgefährdete Kuh.«

Jeweils zwei bis drei Wiederkäuer befanden sich auf den Plattformen.

Nika drehte sich Damaris zu. »Die Kühe sind die Bewohner?«, fragte sie ungläubig.

Damaris verzog ihr Gesicht zu einem peinlich berührten Grinsen. Ihre Fantasie hatte sich wohl etwas verselbstständigt!

Noch eine Weile beobachteten die drei Besucherinnen das bunte Treiben unter ihnen, bevor sie sich von dem Anblick lösten und sich von dem Abgrund vor ihnen zurückzogen.

Paru wandte sich an Damaris: »Beeindruckend, wie schnell du Fortschritte machst. Das hätte ich nach Nikas Beschreibungen von dir nicht erwartet. Wollen wir eine kurze Pause einlegen?«

Damaris nickte stolz. Sie hatte mehr zustande gebracht, als sogar sie selbst erwartet hatte. Allerdings war sie tatsächlich etwas erschöpft und ein wenig Ruhe täte gut. Sie lächelte. Denn Ruhe und Erholung bedeutete in diesem Fall vermutlich, dass sie nicht mehr träumen, sondern aufwachen sollte. Eine verkehrte Welt!

»Dann gehen wir jetzt«, schlug Paru vor, wandte sich um – und sah sich einer grasenden Kuh gegenüber. Genüsslich zupfte das Tier an dem Gras und wedelte gemächlich mit dem Schwanz.

»Sind sie eigentlich gefährlich, Damaris?«, wollte Nika wissen.

»Soweit ich weiß, nicht.«

»Sicher hörst du dich nicht an«, beklagte sich die Zwelfe.

Langsam, Schritt für Schritt, umrundeten sie die Kuh. Diese kümmerte sich währenddessen nicht im Geringsten um die drei Fremden. Das sich vor ihr befindliche Gras nahm ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch.

»Da …«, flüsterte Damaris warnend und zeigte mit dem Finger auf einen klein geratenen, schwarzen Stier, der fröhlich angetrabt kam. Hin und wieder machte er einen Luftsprung, scherte mal nach rechts, mal nach links aus. Er schien bester Laune zu sein – bis er die Besucherinnen entdeckte und schlagartig innehielt.

Der Stier sah die drei Besucherinnen an.

Die drei sahen den Stier an.

Als Damaris und die Zwelfen regungslos verharrten und des Stiers kritischen Blick standhielten, folgerte er daraus, dass sie ungefährlich seien. Schon hüpfte er weiter in Richtung der hinter ihnen grasenden Kuh. »‘morgen Franzi! Alles in Butter?«, fragte er heiter.

Damaris konnte es nicht glauben: Er konnte sprechen!

»Hi! Na klar, erste Sahne.«

Nika und Paru verdrehten die Augen. Damaris hob die Schultern: Es war ja nicht so, dass sie den Kühen die Worte in den Mund legen würde.

Franzi hob die Hufe zur Begrüßung, während der Stier fröhlich um sie herum hopste.

Nika verkniff sich ein Lachen. Gleichzeitig begannen Damaris und Paru leise zu kichern, was die beiden Tiere nun doch etwas mehr Aufmerksamkeit auf die Besucher richten ließ.

»Und ihr seid …?«, fragte Franzi.

»Oh, Entschuldigung!«, sagte Damaris, sich zusammenreißend. »Wir sind auf der Durchreise, wir wollten euch nicht stören. Wir waren nur interessiert, wie ihr geraten seid.«

Franzi schien für eine Kuh recht intelligent, denn sie kombinierte richtig und fragte mit erwachtem Interesse: »Ach! Du bist unsere Schöpferin?«

»Tja, irgendwie schon …«, gab Damaris demütig zurück. »Offensichtlich noch in der Lernphase.«

»Ach, ich kann mich nicht beklagen. Andere haben’s da viel schwerer«, antwortete Franzi, und nickte bei diesen Worten unauffällig in Richtung des kleingeratenen Stiers.

Dieser bekam die Anspielung nicht mit, er war viel zu beschäftigt damit, ungeduldig trappelnd den Kopf mal zu Franzi, mal zu Damaris zu wenden. Er schien sich unbedingt bemerkbar machen zu wollen.

Damaris sah ihn forschend an, während er sie mit den Augen nur so anflehte, etwas sagen zu dürfen.

»Ja?«, fragte Damaris schließlich, ihn erlösend.

»Darf ich? Kann ich das Wort an Eure Erlaucht richten? Klasse! Ich wollte nur schnell fragen – ohne die wunderbare Schaffung Eurer Hoheit kritisieren zu wollen, es ist großartig, könnte nicht besser sein, super! – Aber: Warum bin ich so klein?« Die Worte waren nur so aus dem Stier herausgesprudelt.

Damaris taxierte den Stier. Er ging ihr kaum bis zur Brust.

»Keine Ahnung. Ich habe dich nicht bewusst so geschaffen.«

»Besser so als gar nicht, oder?«, fügte sie ausweichend hinzu. »Ich bin halt ein wenig ausgelaugt. Wir wollten gerade gehen.« Sie sah sich nach Paru um. »Wo lang eigentlich?«

»Entweder zurück zu dem vorhin benutzten Durchgang. Alternativ könntest du einfach direkt hier einen neuen kreieren. Sinnvoller wäre allerdings, du würdest mit einem weniger offensichtlichen Schlüssel arbeiten.«

»Einen Schlüssel?« Zum wiederholten Mal an diesem Tag zeigte sich Verwirrung auf Damaris’ Gesicht. »Was für ein Schlüssel?«

»Nun, aus einem Traum kannst du nicht einfach so aussteigen«, erklärte Paru. »Es gibt bestimmte Regeln, die beachtet werden müssen. Eine davon lautet, dass es einen Ausgang benötigt, um aus einer Teilwelt wieder herauszukommen. Wenn diese zu einfach auffindbar sind – so wie die vorhin benutzte Luke – könnte jedes Wesen der jeweiligen Teilwelt, zum Beispiel Franzi hier, einfach durch die von dir benutzte Tür spazieren. Schon würde sie sich in deinem Eintrittsraum befinden. Du kannst dir zwar jedes Mal eine neue Pforte zu dem Eintrittsraum oder sonst wohin machen, aber um nicht dauernd Besuch zu bekommen, müsstest du sie anschließend wieder zerstören. So gesehen ist es besser, die Zugänge zu deinen Teilwelten weniger offensichtlich zu Gestalten. In der Regel nutzen die etwas geübteren Menschen unauffällige Symbole oder Gegenstände, die erst bei Berührung den Durchgang offenbaren. Wir nennen diese Symbole oder Gegenstände Schlüssel.«

Eigentlich interessierte Damaris zu diesem Zeitpunkt nur eines: »Muss das unbedingt heute sein? Das kann ich doch später üben.«

Paru, als Empfängerin des ungeduldigen Blickes, gab nach.

»Na schön, heute wollen wir es dabei belassen … Aber nur, damit du das Prinzip verstehst: Du könntest zum Beispiel dein Kissen, das Nika vorhin gestohlen hat, zum Schlüssel machen. Ein Kissen fällt anderen kaum auf und ist somit für viele nicht als Pforte identifizierbar.«

Damaris nickte. »Von mir aus.«

»Gut!«, sagte Paru und lachte. »Sehr symbolträchtig heute … Das Kopfkissen kommt aus deinem Schlafzimmer, und es wird dich – über den Eintrittsraum – dorthin zurückbringen. Jetzt musst du es bloß noch kreieren.«

Kurz schloss Damaris die Augen und konzentrierte sich. »Dort vorne«, sagte sie und zeigte auf einen nahen Baum. Tatsächlich lehnte ein Kissen an dem Stamm. »Nun … tschüss …«, fügte sie in Richtung von Franzi und dem Stier hinzu und setzte sich in Bewegung.

Dem Stier schien die gemeinsam verbrachte Zeit noch nicht auszureichen. Er trabte hinter den Dreien her, während diese auf dem Weg zum Kissen über die Grasfläche liefen.

»Wo wollt ihr hin? Was habt ihr vor?«, fragte er. »Wollt ihr euch nicht ein wenig umsehen? Die Umgebung ist wunderschön! Mein Onkel Ferdinand hat immer gesagt, dass man sich mindestens das Sahnjoghu Gebäude angucken muss. Es ist das Höchste hier. Wobei, wenn ich’s mir recht überlege, nicht unbedingt das Schönste …« Er überlegte. »Das wäre dann wohl … nee …, oder doch? Nein, es muss das Käsino sein! Wusstet ihr eigentlich, dass …«

»Könntest du bitte mal still sein?«, bat Damaris ihn unfreundlicher als beabsichtigt. »Wir versuchen einen sicheren Weg um die Löcher herum zu finden. Da müssen wir uns konzentrieren!« Eine Ausrede, aber sie konnte das Geschwafel einfach nicht länger ertragen.

»Ach so«, antwortete der Stier und blieb verdattert stehen. Allerdings nur kurz. Nur einen Moment später trabte er bereits wieder hinter ihnen her, dann neben ihnen, kurze Zeit später sogar vor ihnen. Er kannte sich hier gut aus, und so gab er den Weg durch das Labyrinth der Löcher vor.

Der Stier erreichte das Kissen vor allen anderen. In seiner Freude darüber, dass er nützlich gewesen war, stürzte er herbei, drückte seinen Kopf ungestüm in das Kissen und ließ eine Lobeshymne vom Stapel:

»So ein schönes Kissen! Ist klar, dass es einer Schöpferin gehören muss. Sie braucht eine weiche Kopfunterlage, damit sie schöne, neue Sachen fantasieren kann. Solche Dinge wie Bäume, Vögel, Häuser, Gras, Wasserkocher, Zahnbürsten, Kleiderhänger, Taschenrechner, Bücher, Augentropfen, Radiergummis, Aufkleber, Fußabtreter, Tassen, Lineale, Eierwecker, Blumentöpfe, Fahrradlenk…«

»Wie kann man bloß so was Nerviges in die Welt setzen?«, unterbrach Nika kopfschüttelnd den Redeschwall. »War ich denn so ein Glücksgriff?«

Amüsiert sahen Damaris und Paru sich an.

Der Stier wich zwei Schritte zurück und schien dem Heulen näher als dem Lachen. »Ich wollte nur helfen«, sagte er entschuldigend.

»Dafür bedanken wir uns, aber du könntest auch schweigend helfen«, antwortete Damaris. »Und kein Gehüpfe mehr. Einfach etwas normaler agieren; mehr wie ein normaler Stier.«

Er nickte mit zusammengekniffenen Lippen, und Damaris richtete ihren Blick auf das Kissen. Gerade als sie sich danach bücken wollte, ging der Stier dazwischen. Damaris‘ freundliche Verhalten hatte ihm Mut gemacht.

»Lass mich doch! Ich mache das gerne für dich. Ich hebe das für dich auf. Komm, du brauchst dich nicht zu bücken …«

Damaris warf ihm einen gebieterischen Blick zu.

»Uhm …«, meinte der Stier unsicher. »Muh …«, sagte er leise und zupfte schuldbewusst an einem Grashalm.

Nika und Paru lachten laut auf und auch Damaris konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Dann bückte sie sich und hob das Kissen auf. Zwischen dem Boden und dem Kissen öffnete sich an dem Baum ein Durchgang in den bereits bekannten senkrechten Tunnel.

»Vielleicht sehen wir uns noch mal wieder«, verabschiedete Damaris sich von dem Stier und winkte Paru und Nika herbei.

»Ja, tschüss …«, meinte Nika, und bemerkte dabei, dass sie den Namen des Stieres noch gar nicht kannte. Sie hielt inne.

»Wie heißt du eigentlich?«

Denkfalten bildeten sich auf seiner Stirn, als er über diese Frage nachdachte. »Weiß ich nicht?«, fragte er testend.

»Das kann doch nicht sein!«, sagte Paru. »Bist du sicher?«

Erneut legte der Stier die Stirn in Falten.

Um dem Stier weitere anstrengende Denkarbeit, und ihnen selbst Zeit zu sparen, wandte sich Paru nun an Damaris. »Er braucht einen Namen!«

Damaris überlegte kurz. Wie sollte ein Stier schon heißen? »Wie wäre es denn mit Bullie?«, schlug sie vor.

Nika und Paru sahen sich enttäuscht an.

»Sehr kreativ. Wir haben noch einiges vor uns«, klagte Nika, mit den anderen den Ausgang ansteuernd.

 

Kapitel 5: Der Junge

 

Während Damaris in ihrem Zimmer erfreuliche Träume durchlebte, ging in einem anderen Raum Unheimliches vor sich.

Ein Junge, dem Aussehen nach ein oder zwei Jahre älter als Damaris, lag in seinem Bett. Das Zimmer war so gut wie leer, steril und eintönig weiß. Bloß einige Karten auf einem kleinen Beistelltisch brachten ein wenig Farbe in den kahlen Raum. Es waren Geburtstagskarten; erst vor Kurzem war er ein Jahr älter geworden.

Neben dem Bett leuchtete eine Lampe, doch der Junge hatte die Augen geschlossen und schien tief und fest zu schlafen. Ein Monitor zeichnete seine gleichmäßigen Lebenszeichen auf.

Plötzlich zuckte der Arm des Jungen. Dann folgte das Bein, kurz darauf der Kopf. Schließlich wälzte sich der ganze Körper unruhig hin und her, das Bettgestellt quietschte.

Alarmiert stürmte eine Frau in einem weißen Kittel in den Raum. Sorge zeigte sich in ihrem Gesicht. Dem Jungen näherkommend, sah sie durch die nicht vollständig geschlossenen Lider das Weiß der Augäpfel.

Beunruhigt ging sie Hilfe holen.

Kapitel 6: Traum oder Wirklichkeit

 

Sanft streichelte Damaris’ Vater ihren Kopf. »Mittagsschlaf?«

Desorientiert schaute Damaris ihren Vater an und zwang sich zu einem Lächeln. Sich halb aufsetzend, sah sie sich um. Irgendetwas war komisch. Irgendetwas beunruhigte sie. Aber was?

Herr Fink erhob sich vom Bett.

»Ich wollte dich zum Abendessen holen.«

Sein Blick fiel auf das vom Bett gefallene Buch. Während Damaris immer noch angestrengt nachdachte und geistesabwesend auf ihr Bücherregal starrte, blätterte Herr Fink durch die Seiten, bis er zu der mit einem Lesezeichen markierten Stelle gelangte. »Gar nicht mal schlecht«, sagte er. »Bereits zweihundert Seiten gelesen!«

»Und?«, fragte er.

»Und was?«, erwiderte Damaris verwirrt.

»Das Buch, Phantásien, die Fantasiewelt … Hat es dir gefallen?«

Damaris schoss hoch, während ihr Gesicht schlagartig an Farbe verlor. Natürlich! Das war es! Die Zwelfen! Der nervige Stier! Hektisch schaute sie sich im Zimmer um – bereit, jeden Moment das launische Gesicht von Nika oder ein Zipfel von Parus Hemd hinter einer Ecke hervorschauen zu sehen.

Das letzte, an das sie sich erinnern konnte, war, dass sie sich nach der Rückkehr aus ihrem Eintrittsraum auf ihr Bett gelegt hatte. Was war dann passiert? Wie war sie zurück in die normale Welt gekommen? Warum …?

Ihr Blick war auf ihren Vater gefallen. Herr Fink stand nach wie vor neben dem Bett und sah sie mit großen Augen an. Es musste so wirken, als ob sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.

»Uhm, was war die Frage?«, frage sie mit sachlicher Stimme, in einem Versuch, die letzten Sekunden zu überspielen.

»Wie? Ach so, das Buch …«, erwiderte Herr Fink verwirrt. »Hat es dir gefallen?«

»Ja«, sagte Damaris und nickte. »Es war bis jetzt sehr spannend. Und ich möchte unbedingt weiterlesen. Wenn du bitte gehen würdest? Ich kann mich so nicht konzentrieren.«

»Ja natürlich … Ich … Ist alles okay?«

»Natürlich«, antwortete Damaris zuckersüß. Ihre großen Augen schauten unschuldig zu ihm auf.

»Dann gehe ich mal …«

»Papa?«

»Ja …«

»Die fantastische Geschichte … Das Buch, bekomme ich es wieder?«

»Ach so …« Verwirrt schaute Herr Fink auf das Buch in seiner Hand. »Du meinst Die Unendliche Geschichte.«

»Ja genau.« Damaris sprang vom Bett, nahm das Buch entgegen und bugsierte ihren Vater zur Tür. »Das habe ich doch gesagt.«

Kurz bevor er ihr Zimmer verließ, erinnerte ihr Vater sich an sein eigentliches Anliegen. »Ach so: Abendessen! Kommst du?«

»Danke, keinen Hunger«, erwiderte Damaris kurz und knapp, schenkte ihm ein hastiges Lächeln und schloss hinter ihm die Tür.

Kaum waren seine Schritte auf der Treppe verhallt, da flüsterte Damaris leise: »Nika? Paru?«

Keine Antwort.

Jede Ecke ihres Zimmers nahm Damaris nun unter die Lupe. Sie schaute unter dem Bett, im Wandschrank und im Wäschekorb nach. Aber die beiden Zwelfen waren nirgends zu finden.

Hatte sie wirklich bloß geträumt? Träumte sie immer noch?

Sie ging zum Bücherregal und zog ihr Baby-Fotobuch hervor. Und jetzt? Wie sollte sie vorgehen? Das letzte Mal, als sie sich mit dieser Lektüre beschäftigt hatte, war sie nur etwa halb so groß wie der Einband gewesen. Nun allerdings waren die Verhältnisse ganz anders. In das Buch würde sie so wohl kaum hineinpassen.

Vorsichtig suchte sie nach dem Mechanismus, mit dem sie das Buch öffnen konnte. Ihre Finger fuhren über den Einband, erforschten jede Stelle des Bücherrückens.

Etwas beruhigt kehrte sie zu ihrem Bett zurück. Es hatte sich offensichtlich um einen Traum gehandelt. Klar! Wesen wie Paru und Nika gab es nicht. Wie konnte man mit vierzehn Jahren noch an so etwas glauben? Sie schüttelte den Kopf und legte sich hin.

Aber sollte sie die beiden Zwelfen deshalb nicht mehr wiedersehen? Zugegebenermaßen hatte ihr der Traum Spaß gemacht.

Es stand jedoch außer Frage, ein weiteres Nickerchen zu machen. Einerseits waren da die vielen sich überschlagenden Gedanken. Andererseits würde bereits der vorherige Nachmittagsschlaf mit einer schlaflosen Nacht bezahlt werden müssen.

Fluchend schwang sie ihre Beine vom Bett und begab sich hinab ins Erdgeschoss, um nun doch ihren Eltern beim Abendessen Gesellschaft zu leisten.