Retrovolution - Yves Gorat Stommel - E-Book

Retrovolution E-Book

Yves Gorat Stommel

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Beschreibung

Die kleine Kolonie Ararat stellt das Zuhause der letzten Menschen auf Erden. Fünf Menschheitsprägungen leben hier zusammen; fünf Prägungen, die sich über die Jahrhunderte voneinander fortentwickelt haben, um mittels unterschiedlichen Ansätzen und Technologien ihre geistigen und körperlichen Eigenschaften zu optimieren. Die Unsterblichkeit des Individuums scheint in greifbare Nähe gerückt. <br><br>Umso schockierter reagiert die Menschheit, als eine Welle von vermuteten Suiziden die begabtesten Kinder der Kolonie heimsucht. Die Jugendlichen setzen dabei nicht nur ihrem eigenen Leben, sondern auch dem der ihnen am nächsten stehenden Menschen ein Ende. <br><br>An der Schwelle zum nächsten evolutionären Entwicklungsschritt begeben sich Mensch und Maschine in virtuellen und realen Welten auf die Suche nach Antworten. <br><br>Doch vielleicht sind gerade diese Antworten das Problem? <br><br>Ein in sich abgeschlossener Technikphilosophie-<b>Roman</b> (High-Tech Science-Fiction / Wissenschaftskrimi) für LeserInnen mit Freude an <b>menschlicher und künstlicher Intelligenz, Mensch-Maschine-Verschmelzung, Thrillern, den Seins-Fragen</b> – und der ein oder anderen <b>evolutionären Überraschung</b>.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Retrovolution

Yves Gorat Stommel

Danksagung

an die inspirierenden Texte der unterschiedlichsten Philosophen, Zukunftsforscher, Science-Fiction-Autoren und Wissenschaftler, die mich immer wieder dem Alltag entreißen

Impressum

Retrovolution

© Yves Gorat Stommel

Erste Auflage 2022

ISBN-13: 979-8835180837

Lektorat:

Anja Koda

Coverabbildung:

vectoradics

Web:

www.yvesgoratstommel.com

Facebook: www.facebook.com/yvesgoratstommelautor

Email:

[email protected]

Postanschrift:

Kibbelstraße 14, 45127, Essen

Hauptcharaktere

Menschheitsprägung Denas

Rim: Genetikerin mit Forschungsschwerpunkt Psyphas; 50 Jahre alt.

Hans: Singularitätsforscher; 37 Jahre alt.

Menschheitsprägung Omega

Lennon: Konstabler; verheiratet mit Maya, 34 Jahre alt.

Maya: Emotions-Coach; verheiratet mit Lennon; 44 Jahre alt.

Menschheitsprägung Psyphas

Bo: Schülerin; 14 Jahre alt.

Zoe: Schülerin; 16 Jahre alt.

Menschheitsprägung Retro

Edward: Dorfältester von Communia; 73 Jahre alt.

Victoria: Lehrerin und Schuldirektorin; 49 Jahre alt.

Menschheitsprägung Trans

Melinda: Emulationsforscherin; Schwester von Dell; 55 Jahre alt.

Dell: VR-Zeitdehnungs-Forscher; Bruder von Melinda; 35 Jahre alt.

Ein Glossar zu den Menschheitsprägungen, Orten, historischen Ereignissen und technischen sowie wissenschaftlichen Begrifflichkeiten befindet sich am Ende des Buches.

Prolog, Tag -7336

Alle zwanzig bis dreißig Jahre ereignet sich ein Vorfall, der eine ganze Generation prägt. Ein einschneidendes Ereignis, das fortan ihr Verhalten, ihre Überzeugungen, ihre Ängste und ihre Hoffnungen beeinflusst. Der Zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg, die Mondlandung, der Mauerfall, der elfte September, der Cyberkrieg, die ökonomische Befreiung, die erste individualistische Revolution, das Ablegen der Archen mit dem Ziel der Besiedlung des Planeten Nova, die zweite individualistische Revolution, die Auslöschung und die Rückkehr der Arche I – sie alle änderten den Kurs der Menschheit.

Für Lennon und seine Generation war dieses Ereignis eines auf Raten. Die Ursachen waren nicht klar, die Auswirkungen anfangs nicht absehbar. Aber der initiale Vorfall warf einen längeren Schatten, als sich auch nur ein einziger der etwa 1.100 verbliebenen Menschen zu diesem Zeitpunkt vorstellen konnte.

Und der vierzehnjährige Lennon hatte das Pech, Zeuge zu sein.

Lennon sah mit einer Mixtur aus Schock und Neugierde auf die Pistole in Leys Hand. Es war das erste Mal, dass er eine zu Gesicht bekam: Die archaischen Schusswaffen waren heute, im zweiundzwanzigsten Jahrhundert, eigentlich ausschließlich im Museum auffindbar. Seit die Arche I – und damit die Menschheit – vor etwa vierzig Jahren zur Erde zurückgekehrt war, gab es keine Notwendigkeit mehr für Verteidigungs- oder Angriffswaffen. Die Bevölkerung lebte, wenn auch nicht harmonisch, immerhin friedlich zusammen.

Nur mühsam löste sich Lennons Blick von der Pistole und wechselte auf das angespannte Gesicht der Sechzehnjährigen.

Ley.

Ley, die er seit Jahren heimlich verehrte, der er nie seine Gefühle gestanden hatte.

Ley, deren jüngerer Bruder Joe mit ihm in die Klasse ging, und den er bevorzugt zu Hause besuchte, da er dort, mit etwas Glück, dessen Schwester über den Weg laufen würde.

Im Nachhinein betrachtet, hätte er dagegen heute liebend gerne auf die Begegnung verzichtet. In Sekundenbruchteilen hatten Verwirrung und Angst die initiale Freude beim Anblick der verehrten Psyphas abgelöst.

»Du bist ein Omega, richtig?«, fragte sie, auf seine Prägung anspielend. Sie selbst gehörte den Psyphas an. In den letzten Jahren hatten sich die fünf Prägungen der Menschheit – Denas, Retro, Psyphas, Omega und Trans – zunehmend auseinandergelebt. Doch über die Schule gab es nach wie vor forcierten Kontakt, und Joe und Lennon waren seit nunmehr zwei Jahren befreundet.

Trotz der angespannten Situation spürte Lennon keimende Verärgerung. Was sagte ihre Frage über ihr Interesse an ihm aus, wenn sie nach all den Besuchen nicht wusste, welcher Prägung er angehörte?

Er nickte knapp.

In ihrem Gesicht zeigte sich Mitleid. »Ihr Omega habt vielleicht noch ein paar Jahre. Jahre der glückseligen Unwissenheit. Genießt sie. Für uns Psyphas läuft der Countdown leider längst.«

»Was meinst …«, begann Lennon, als Ley ihn unterbrach.

»Geh nach Hause und komm nicht wieder.«

»Warum hast …«

Sie hob die Waffe und richtete sie auf seinen Kopf. »Sofort.«

Verängstigt wich er zurück und lief den Flur entlang zur Tür, die automatisch zur Seite in die Wand hineinglitt.

Ley wandte sich bereits zum Gehen, hielt dann kurz inne und sah ihn an. »Ich mache das nur, weil ich sie liebe. Ich erspare ihnen allen bloß unermessliches Leid.«

Sie hatte sich bereits wieder von ihm abgewendet, als sich die Tür vor ihm schloss.

Hastig ging Lennon den kurzen Gartenpfad entlang, mit den Augen die Umgebung nach Hilfe absuchend. Dieser Stadtbezirk von Ararat, der einzigen menschlichen Siedlung auf der Erde, war mittlerweile ausschließlich von Psyphas bewohnt. Alles wirkte ruhig, unbeschwert und friedlich.

Bloß in dem weißen Wohnkubus hinter ihm war die Welt aus den Fugen geraten.

Ein Schuss erklang, unerwartet laut und scharf. Ein lauter Aufschrei mehrerer Stimmen war die Antwort.

Drei weitere Schüsse folgten. Erschrocken ging Lennon in die Hocke und nahm den Kopf zwischen die Arme.

Einen Moment lang kehrte die Stille zurück.

Dann folgte ein letzter Schuss.

Bo, Prägung Psyphas, Tag 0

Das Aufwachen war für Bo in den letzten Wochen zum wahren Befreiungsschlag geworden.

Auch heute war dies nicht anders: Schweißgebadet schreckte sie hoch. Ihr Puls raste. Panisch sah sie um sich. Erst als sie erkannte, dass sie den gefürchteten Schlaf hinter sich gebracht hatte, atmete sie auf.

Sie nahm die nasse Decke und drapierte sie über Stuhl und Schreibtisch – den einzigen beiden anderen Gegenstände in ihrem spartanisch eingerichteten Zimmer, in dem nicht ein einziger Farbtupfer die weiße Eintönigkeit durchbrach. Die Wohnungen der Psyphas waren notorisch karg, da die durchgängige Medikation für eine äußerst ausbalancierte Stimmung sorgte.

Daher war es eher untypisch, dass Bo sich seit Tagen unausgeglichen fühlte.

Sie trat in den Flur und rief nach ihrer Mutter, erhielt aber keine Antwort. Dafür wurde sie über die in ihren Ohren eingeklebten Lautsprecher informiert, dass ihre Mutter bereits vor einer Stunde aufgebrochen war.

Bo ignorierte die auf ihren elektronischen Kontaktlinsen aufleuchtende Warnung sowie das in ihren Ohren tönende Piepen. Beide Alarme drängten sie, ihre tägliche Mixtur aus Psychopharmaka und Nahrungsergänzungsmitteln einzunehmen. Sie lief entschlossen an der Küche vorbei und lächelte säuerlich. Denn es war immer noch sie selbst, die entschied, was sie wann tat – und nicht etwa die auf der Kücheninsel stehende Spender-Unit, die sie auf den Nährstoffmangel in ihrem Blut und die chemische Imbalance in ihrem Gehirn hinwies. Sie fragte sich, ob diese trotzige Einstellung eine Randerscheinung der Pubertät war, oder einfach nur ein Charakterzug.

Trotz der sich selbst vorgegaukelten Stärke war Bo zu intelligent, um nicht zu wissen, dass sie wie die meisten Psyphas süchtig war. Abhängig. In ihrem Fall kam allerdings eine gefährliche Tendenz hinzu: Kaum drei Tage war es her, dass sie zum letzten Mal die Konzentration des Epsilon-Blockers angepasst hatte. Manuell. Nach oben. Obwohl die Spender-Unit ihre tatsächlichen Bedürfnisse kannte und keinen Eingriff erforderte. Dementsprechend wollte sie heute Stärke demonstrieren, nicht intervenieren und die Einstellung ihres Pharmazeutika-Cocktails den Entscheidungsalgorithmen überlassen.

Der 3D-Drucker der Spender-Unit war die neueste Version und spuckte – wie seine identischen Zwillinge in den anderen Psyphas-Haushalten in ganz Ararat – jeden Morgen eine einzelne Tablette für ihre Besitzer aus. Die kleinen, wissenschaftlichen Kunstwerke setzten sich aus hundertfünfzig bis dreihundert unterschiedlichen Nahrungszusätzen und Pharmazeutika zusammen, abgestimmt auf die psychische und physische Verfassung der oder des jeweiligen Psyphas.

Während die Rezeptur der Tabletten sich von Person zu Person unterschied, vereinte die Prägung der Psyphas die Grundeinstellung, dass ein ausgewogenes und glückliches Leben in erster Linie durch die Einnahme bewusstseinsverändernder Mittel erreicht werden konnte. Der Name Psyphas war vor mehreren Jahrzehnten zuerst als Kurzform des Begriffs Psychopharmaka aufgegriffen worden, bevor er zur Bezeichnung einer sich neu herausbildenden Prägung geworden war. Einer sich zunehmend von den anderen Klassen der Menschheit fortentwickelnden Gruppe.

Dabei hatten die Psyphas – wie die Retro und die Omega – äußerlich noch viel gemeinsam mit den Menschen der letzten Jahrtausende. Dagegen waren die Trans aufgrund ihrer technischen Erweiterungen von Körper und Geist relativ einfach als eigene Prägung erkennbar. Und die genetischen Anpassungen der Denas hatten sich ebenfalls längst auf deren Erscheinungsbild ausgewirkt.

Die Zähne zusammenbeißend und absichtlich keinen Blick in die Küche mit der Spender-Unit werfend, begab Bo sich in die Dusche. Sie musste sich beeilen, wollte sie nicht zu spät zum Unterricht kommen.

Kurz darauf wartete Bo ungeduldig und mit noch nassen Haaren vor ihrem Drucker. Kaum zehn Sekunden brauchte der Apparat, dann gab er die kleine Tablette frei. Aufgrund der 3D-Struktur und der ausgeklügelten Verkapselung wurden die Wirkstoffe und Nahrungsergänzungsstoffe optimal über den Tag freigegeben. Bos elektronische Kontaktlinsen zeigten die heutigen Level der unterschiedlichen Pharmazeutika an. Zu ihrer Überraschung war das Niveau der Epsilon-Blocker gegenüber gestern nicht etwa abgesenkt, sondern um zehn Prozent höher angesetzt worden. Sie hatte eine Reduzierung erwartet, um einer drohenden Abhängigkeit vorzubeugen.

Erleichtert und gleichzeitig besorgt überprüfte sie die Informationen – und schüttelte dann verwundert den Kopf. So viele Emotionen wie in den letzten Tagen hatte sie in ihren restlichen vierzehn Lebensjahren nicht durchlebt! Einerseits verspürte sie Sorge angesichts der immer stärker werdenden Sucht. Andererseits war sie erleichtert, dass die erhöhte Dosis ihre destruktiven Gedanken in Schach halten würde.

Die Gedanken, die sich bereits wieder an sie heranpirschten.

Bo merkte, wie sie zunehmend unruhig wurde und sich vor ihrem geistigen Auge eine Schwärze auszubreiten begann. Eine fast schon greifbare Mischung aus Panik und Abscheu, die immer mehr ihres mentalen Blickfeldes ausfüllte.

Bo entnahm die Tablette und schluckte sie hinunter.

Die Erleichterung kam augenblicklich. Aufatmend ließ sie sich auf einen Stuhl nieder – und genoss das Gefühl, emotional in Watte eingebettet zu sein.

Die Epsilon-Blocker limitierten ihre geistige Klarheit. Ihrem Denken wurde Schranken gesetzt. Anstelle einer unendlich ausgedehnten mentalen Spielwiese wurden rechts und links Mauern hochgezogen, die einen Wohlfühlbereich absteckten.

Sie fühlte sich wieder auf sicherem Grund und Boden.

Sie atmete auf und wollte aufstehen.

Ihr Körper gehorchte nicht.

In ihren Kontaktlinsen tauchte eine Warnung auf, doch sie kam nicht mehr dazu, diese zu lesen.

Vor Bos Augen begann die Welt zu verschwimmen und sie verlor das Bewusstsein.

Edward, Prägung Retro, Tag -2

Vereinzelt drangen gedämpft die Stimmen von Passanten durch die Holzwände der Scheune. Im Frühling und Sommer dehnten sich die Balken und Bretter aus und schlossen damit die sich im Winter auftuenden Spalte fast vollständig. Das auf mehreren Ebenen abgelagerte Heu schluckte zusätzlichen Schall.

»Gott, es tut mir so leid«, murmelte Edward in seinen Bart, während er den Kopf des um sich schlagenden Jungen unter Wasser drückte.

Dabei glaubte Edward längst nicht mehr an Gott – egal, an welchen. Mit seinen nunmehr dreiundsiebzig Jahren hatte er alle Lebensabschnitte und die damit verbundenen, spirituellen Phasen eines typischen Retro durchlaufen. Der Religion hatte er schon recht früh abgeschworen.

Das Aufbäumen des Zwölfjährigen wurde schwächer. Bald würde die Tortur ein Ende haben. Sowohl für den Jungen als auch für Edward. Er verabscheute die Tat. Er hasste die Notwendigkeit. Die Pflicht, die ihn immer wieder dazu trieb, zu töten. Und die Trauer … Er hielt die hilflose, gefühlt grenzenlose Trauer der betroffenen Eltern kaum aus. Nicht nur hatten sie eines ihrer Kinder verloren; sie würden darüber hinaus nie erfahren, warum.

Der Junge wehrte sich nicht mehr. Bloß vereinzelte Luftblasen stiegen noch auf. Schlaff lag der schmächtige Körper unter dem mit zunehmendem Alter immer stabiler werdenden Edward. Der Mann wartete eine weitere Minute, bevor er sich langsam erhob. Schweiß lief ihm von der Stirn und sein Herz raste. Schuldgefühle durchfluteten ihn und am liebsten würde er in Tränen ausbrechen. Nach seinen Tötungen kam es sogar vor – früher öfter als heute –, dass es ihn drängte, sich sofort im Anschluss selbst zu richten.

Einmal tief ein- und ausgeatmet. Ein Blick über die Schulter zu dem von Innen verrammelten Scheunentor. Der Versuch, einen klaren Kopf zu bekommen. Abstand zu gewinnen.

Edward bückte sich schwerfällig, mit sichtbarem Widerwillen, und zog den Jungen weg von dem Trog, hin zur gegenüberliegenden Wand. Dort platzierte er die Leiche in einer sitzenden Position zwischen die Heuballen. Sich von dem blassen Gesicht abwendend, zog Edward ein paar Streichhölzer hervor, zündete eines an, zögerte nur einen Augenblick – und legte es dann behutsam auf dem Heuballen direkt hinter dem Jungen ab.

Nach wenigen Sekunden loderten erste Flammen empor.

Ein letzter, entschuldigender Blick auf sein Opfer, das in einer annähernd natürlichen Position im Heu saß. Dann begab Edward sich nach draußen.

Der fahle Mond rief zwischen den einzelnen Bauten und Bäumen unheimliche Schatten hervor. Es drang kaum Licht aus den Gebäuden, Laternen gab es nicht. Bis auf ein einzelnes Telefon, im Besitz von Edward, gab es kaum Elektrogeräte. Das Fehlen von Radios, Fernsehern oder Haushaltsgeräten prägte die Geräuschkulisse der Kommune nachhaltig. Die hier wohnhaften Retro lebten absichtlich wie vor etwa dreihundert Jahren – ohne fortschrittliche Technik, genetische Eingriffe und Psychopharmaka. Äcker und Viehbestand versorgten die Kommune mit Nahrung. Dabei wurden die Retro für das gelegentliche Essen von Tierprodukten durch andere Prägungen als rückständig und sogar barbarisch angesehen.

Es war ein ursprünglicheres Leben. Und in der Regel auch ein kürzeres.

Durch die tiefen Schatten dieser und zweier weiterer Scheunen ging Edward in Richtung des Dorfplatzes von Communia. Lachen und Gitarrenspiel drangen an seine Ohren.

Die Gemeinschaft der Retro bestand aus einer Vielzahl an Scheunen, etwa neunzig Bauernhöfen, einer Dorfkirche und natürlich dem dazugehörigen Marktplatz. Hier traf sich an warmen Sommerabenden wie dem heutigen das ganze Dorf. Musiker fanden sich spontan zusammen, Ehepaare tanzten, Kinder jagten hinter Hühnern her.

Eine auf den ersten Blick idyllische Gemeinschaft.

Aber auch nur auf den ersten Blick …

»Edward!«, rief der bereits angetrunkene Thomas, kam auf den Dorfältesten zu und umarmte ihn.

Edward lächelte und zog den taumelnden Landwirt in Richtung der aufgestellten Tische und der Musikantengruppe. Dabei widerstand er der Versuchung, einen Blick über die Schulter zu werfen. Noch wären dort ohnehin bloß die Schatten der Scheunen und Bauernhöfe zu sehen. Der rote Schein der Flammen würde erst mit dem Teileinsturz des Daches sichtbar werden. Vielleicht würde der Rauch schon vorher bemerkt werden, auch wenn die Dunkelheit dessen Entdeckung zumindest verzögern dürfte.

Edward grüßte Alice zu seiner Linken und Emma zu seiner Rechten. Als Leiter der Gemeinschaft, als sogenannter Dorfältester, genoss er einen gewissen Respekt. Dieses Ansehen ging jedoch mit Verpflichtungen einher: Er war derjenige, an den man sich im Falle der Not wendete. Und ein solcher Moment näherte sich schnellen Fußes.

»Feuer!«

Michael rannte in die noch entspannte Menschenmenge hinein, sah wild um sich, bis sein Blick an Edward hängenblieb.

»Edward! Feuer! In der Scheune der Meyers!«

»Ist sie noch zu retten?«, fragte der Dorfälteste, während die Musik erstarb und alle sich ihnen zuwendeten.

Michael hob unsicher die Schultern und schüttelte dann den Kopf.

»Ist jemand drin?«

»Ich glaube nicht.«

»Die Scheune steht isoliert – das Feuer kann sich nicht ausbreiten. Wir sollten trotzdem versuchen, die Türen und das Tor zu öffnen. Es könnten noch Tiere eingesperrt sein.«

Michael nickte und rannte los, gefolgt von ein paar weiteren Männern. Die Kinder hetzten aufgeregt hinterher, bevor sich auch Edward und die restlichen Bewohner von Communia aufmachten.

Als Edward bei der Scheune ankam, mühten sich bereits einige Männer an dem schweren Tor ab. Erst eine Axt brachte den gewünschten Erfolg. Mit dem Aufschwingen der Türflügel bot sich das Bild eines Höllenschlundes. Flammen schlugen ihnen entgegen.

Die Männer wichen ein paar Schritte zurück. Es blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis das Feuer sich ausgebrannt hatte.

Und zu dem Zeitpunkt wäre von dem dort drinnen brennenden Jungen höchstens noch das Skelett übrig.

Edward richtete den Blick gen Himmel. In solchen Momenten zweifelte er nicht. Er kannte die Wahrheit. Er besaß die absolute Gewissheit.

Es konnte keinen Gott geben.

Denn ein rechtschaffener Gott hätte es nie so weit kommen lassen.

Lennon, Prägung Omega, Tag 1

»Schon wieder?«, fragte Maya amüsiert, als Lennon neben ihr genervt den Kopf schüttelte.

»Immer noch«, erwiderte Lennon. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto frustrierter werde ich.«

»Dann denke nicht darüber nach.«

»Hm«, grunzte er, sich für den Moment auf sein Training konzentrierend. Heute lag der Fokus auf dem Unterkörper. Seit einer guten halben Stunde tangierte er absichtlich die Grenze zur Muskelerschöpfung. Das Trainingsrad ließ sich dabei nicht betrügen und stellte sich fortlaufend auf seine aktuelle Belastungsgrenze ein. Leichte Vibrationen auf den Pedalen stimulierten seine Muskeln und Elektrofelder unterstützten den Trainingseffekt, während sie gleichzeitig seine Vitalkennwerte auslasen.

Sie setzte wieder an: »Wenn es dich so belastet, dann kümmere dich einfach nicht länger …«

»Dadurch löst sich das Problem aber nicht«, fiel er ihr ins Wort.

»Nein«, stimmte sie versöhnend zu. »Nur wäre es dann nicht mehr dein Problem. Dein Job belastet dich offensichtlich. Und niemand verpflichtet dich, dieser – oder irgendeiner – Arbeit nachzugehen.«

Sie hatte natürlich recht. Vor etwa fünfzig Jahren hatte die Menschheit mithilfe künstlicher Intelligenz zum zweiten Mal die ökonomische Befreiung realisiert: den Punkt in der technologischen und sozialen Entwicklung, an dem es nicht länger notwendig war, dass jeder Mensch arbeitete. Eine dynamische, teils chaotische Zeit, während der die Menschheit nach ihrer Rückkehr auf die Erde erneut auf ein bedingungsloses Einkommen (BE) umgestellt hatte. Das BE stellte einen hohen Lebensstandard aller sicher und machte nicht nur die Privatwirtschaft, sondern auch den gesamten Staatsapparat mit seinen Ämtern, Beamten und Dokumentenbergen vom einen auf den anderen Tag überflüssig. Allerdings hatte sich schnell gezeigt, dass menschliche Zufriedenheit eine produktive Beschäftigung voraussetzte. Schon bald ging so gut wie jede Person wieder einer Arbeit nach oder widmete sich einem Hobby. Unentgeltlich.

»Jeder Mensch braucht eine Aufgabe«, murmelte er.

»Zumindest die Omega und die Trans«, schränkte Maya ein. »Vermutlich auch die Retro.« Sie überlegte. »Und die Denas.«

»Also bis auf die Psyphas alle«, lachte Lennon. »Und auch die Psyphas arbeiten zu großen Teilen. Trotz der ganzen Stimmungsaufheller, die sie nehmen. Glücklichsein bedeutet am Ende, eine Erfüllung zu haben. Eine Aufgabe. Einen Nutzen.«

»Das ist deine Definition«, erwiderte sie und lächelte ihn kurz an.

Lennons Ehefrau saß auf einem baugleichen Trainingsgerät und sah wie er durch die Glasfront ihres Apartments auf einen üppigen Garten, der die angrenzenden Häuser ihrer Sicht entzog.

Lennon griff nach seiner Flasche. Der Inhalt war auf sein jetziges Trainingselement abgestimmt: Etwa alle sechzig Sekunden musste er einen Schluck nehmen. Ein striktes Regiment. Passend zum Lebensstil der Omega: körperliches und geistiges Training, Ernährung und Schlaf – alles war aufeinander abgestimmt und die Kombination verlangte besondere Disziplin.

»Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich eine Aufgabe habe«, versuchte er das Thema zu einem positiven Abschluss zu bringen. »Es gibt meiner Existenz einen Sinn. Darüber hinaus leiste ich einen Beitrag – und das über die Prägungen hinweg.«

Nach ein paar Sekunden nickte Maya zustimmend. Ihre Miene verriet hingegen, dass sein Kommentar sie weiter beschäftigte. Gleichwohl ging sie nicht erneut auf das Thema ein, sondern konzentrierte sich auf die letzte Phase ihres Trainings.

Er konnte ihr Zögern gut nachvollziehen. Immerhin war die Bevölkerung von Ararat gespalten wie nie zuvor. Die menschliche Geschichte schien sich – wie schon so oft – zu wiederholen. Trotz bester Absichten: Bei der zweiten ökonomischen Befreiung war es das unmissverständliche Ziel gewesen, nicht die gleichen Fehler wie bei der ersten Einführung zu begehen. Doch erneut hatte das, was einst als ausgleichende Maßnahme gedacht war, dazu geführt, dass die Menschen sich zuerst mental und dann auch physisch voneinander abgesondert hatten. Dabei hatte die Trennung bei der ersten ökonomischen Befreiung vor etwa hundert Jahren noch zwischen der arbeitenden Elite und dem nicht arbeitenden Rest stattgefunden. Die Trennlinie der zweiten Zäsur zog sich dagegen entlang der Prägungen, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich herausgebildet hatten. Denas, Psyphas, Trans, Omega und Retro suchten ihr Heil jeweils in unterschiedlichen Mitteln. Und sie fanden sie eher bei der Weiterentwicklung ihrer eigenen Gruppierungen und nicht an den Schnittstellen zwischen den Prägungen.

Maya beendete ihr Training, dehnte sich und sah ihn aus ihren grünen Augen nachdenklich an. Noch ging ihr Atem schwer und ihr androgyner Körper war vollständig mit einer Schweißschicht überzogen. Aufgrund des täglichen physischen und mentalen Trainings, der Einstellung des Mikrobioms, der Nahrungsergänzungsmittel und der hormonalen Feinjustierung sah sie mit ihren vierundvierzig Lebensjahren kaum anders aus als vor fünfzehn Jahren, als Lennon sie kennengelernt hatte. Damals hatte sie noch mit ihren drei Kindern aus einer vorherigen Beziehung zusammengelebt. Die Töchter waren mittlerweile flügge. So sehr sich ihre Lebenssituation geändert hatte, so gleichbleibend war ihr Äußeres. Bloß die Frisur trug sie mit den Jahren immer kürzer, sodass die heute nur noch wenige Millimeter langen, dunklen Haare Mayas Schädel wie ein dichtes Fell bedeckten.

»Hast du schon neue Hinweise?«, fragte sie.

»Worauf?«, fragte er, lenkte aber sofort ein, als sie irritiert die Augenbraue hob.

»Moment. Die letzten paar Sekunden laufen …«

Er wusste natürlich, dass sie nach dem ihn so stark beschäftigenden Fall fragte: die Untersuchung zu den immer öfter auftretenden – oder vermuteten – Suiziden junger Psyphas.

Das Gerät schaltete in die Abkühlphase und Lennons Herzfrequenz fiel innerhalb kürzester Zeit auf einen Wert nahe dem Ruhepuls.

Er stieg vom Fahrrad und folgte Maya in die Dusche.

»Die Tendenz ist auf jeden Fall da«, sagte er, während er sich auszog. Wie Maya sah man ihm sein Alter nicht an – auch wenn er ein Jahrzehnt jünger als seine Ehefrau war. »Eine belastbare Statistik fällt aufgrund der geringen Bevölkerung schwer, ein Anstieg der Selbstmorde ist trotzdem definitiv sichtbar.«

»Bei den Psyphas«, stellte Maya klar, neben ihn in die Dusche steigend.

»Für die anderen Prägungen habe ich keine Daten angefragt.«

Ihr Blick hatte etwas Vorwurfsvolles. »Wenn du ein ausgewogenes Bild …«

»Ich weiß«, unterbrach er sie etwas zu forsch.

Seine Fixierung auf die Psyphas war ein wunder Punkt – und sie wusste dies. Der vor zwanzig Jahren stattgefundene Sippenmord von der Psyphas Ley an ihrer Familie lauerte immer im Hintergrund seiner Gedanken. Natürlich hatte ihn der damalige Tag nachhaltig beeinflusst. Und natürlich versuchte er bis heute zu verstehen, wie es dazu kommen konnte. Dennoch ging er seiner Arbeit möglichst unvoreingenommen nach.

»Ich habe nicht auf damals anspielen wollen«, sagte sie.

Die Dusche schaltete sich automatisch an und besprühte sie von allen Seiten, bloß die Gesichter ließ sie aus.

»Ich weiß«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Aber die Psyphas scheinen besonders gefährdet zu sein. Seit gestern ist erneut eine Psyphas verschollen.«

Sie sog scharf die Luft ein. »Schon wieder? Das ist bereits die dritte in den letzten zwölf Monaten!«

»Leider«, antwortete er. »Und sollte sie – Gott behüte – tot aufgefunden werden, so bleiben vermutlich wieder Fragen offen. Viele Psyphas bezweifeln, dass es sich in allen bisherigen Fällen um Selbsttötungen gehandelt hat. Sie schauen mit Argusaugen auf die anderen Prägungen. Zusätzliche Unruhe belastet das bereits gestörte Zusammenleben.«

Die Dusche stellte auf ein feines Peeling um, diesmal auch ihre Gesichter mit einbeziehend.

Gezwungenermaßen schwiegen sie.

Die Pause kam ihnen beiden recht.

Rim, Prägung Denas, Tag 1

»Ich freue mich auf gleich, Zoe!«

Rims elektronischer persönlicher Assistent – kurz EPA – erkannte das Ende des Telefonats und legte auf.

Nachdenklich hob Rim den Blick. Von ihrem Büro im ersten Stock des Forschungsgebäudes Q aus sah sie auf die unberührte Berglandschaft, die sich an die Wildnis hinter der Stadtgrenze Ararats anschloss.

Die letzte verbliebene menschliche Siedlung auf dem Planeten Erde befand sich in einem verfallenen Vorort der ehemaligen Großtraummetropole Atlanta. Bloß hier hatten die Menschen nach der Rückkehr der Arche I ein Stückchen Zivilisation von der Natur zurückerobert.

Von der schier unaufhaltsamen Natur, die bis heute den Rest des einstigen Vorortes überwucherte.

Zwischen den Bäumen ließen sich hier und da noch die künstlichen Formen eines teils eingestürzten Baus oder die ungewöhnlich dünne und hohe Gestalt einer verrosteten Straßenlaterne ausmachen. Weiter entfernt zeigten sich die Gerippe einstiger Wolkenkratzer, deren Stufen zuerst in Richtung Himmel strebten, um sich anschließend wieder unter dem Blätterdach zu verlieren. Terra incognita. Dort, wo die Menschheit einst von der Natur abgeschirmt gewesen war, hatten sich heute Bären, Pumas und Schlangen verfallene Gebäude zum neuen Zuhause gemacht.

In Gedanken blieb Rim noch kurz bei Zoe. Die Sechzehnjährige war ein wahres Wunderkind: hochintelligent, mit scharfem analytischen Verstand und fast schon erschreckend pointierten, philosophischen Gedanken.

Und sie war nicht allein.

In den letzten Jahren häuften sich solche Ausnahmetalente. Oft waren es Mädchen, die in ihrer Teenagerzeit plötzlich ihre Mitschüler hinter sich ließen und in andere mentale Sphären aufstiegen.

Statistik?

Zufall?

Rim glaubte nicht an Zufall. So, wie eigentlich kein Mensch der Prägung Denas an Zufall glaubte. Oder auch nur glauben konnte. Denn ihre Prägung war quasi die Verkörperung des Gedankens, dass die Menschheit Herr ihres eigenen Schicksals ist. Der Treiber seiner Evolution. Der Schlüssel zur Evolution und damit der zukünftigen Menschheit lag in der DNS, in der Genetik. Und diese zu verstehen, weiterzuentwickeln und zu optimieren, war der Lebensinhalt der Denas.

Wie die meisten Menschen ihrer Prägung war auch Rim Genetikerin. Ihre Spezialisierung waren die Psyphas. Konkret untersuchte sie die Veränderungen im Genom der Prägung. Nicht etwa, weil die Psyphas ihre Gene aktiv optimierten. Vielmehr ließ sich an ihnen eine andere, indirektere Art der Genmanipulation feststellen: Die seit mehreren Generationen praktizierte Nutzung von Psychopharmaka hinterließ ihre Spuren in der DNS der Psyphas. Rim versuchte nachzuvollziehen, wie dieser Prozess vonstatten ging – und was die Auswirkungen waren. Rims These zufolge, führten die genetischen Änderungen in einigen Fällen zu extremen Begabungen.

So wie bei Zoe.

Für ihre Untersuchungen brauchte Rim Zugang zu sowohl der Erbgutinformation als auch zu den mentalen Prozessen der Psyphas. Doch während die Genome aller Menschen mit Ausnahme der Retro zentral abrufbar waren, gab es keine derartige Datenbasis für die Verhaltensweisen, die Denkmuster, die Intelligenz und den Charakter der dazugehörigen Menschen. Hier musste Rim auf herkömmliche Methoden zurückgreifen: direkte Interaktion.

Rim ertappte sich dabei, wie sie immer noch aus dem Fenster starrte. Sie änderte den Fokus ihrer Augen und sah nun nicht länger den Wald, sondern sich selbst in der Spiegelung des Glases.

Ihr Blick erfasste sofort die unverwechselbaren Merkmale einer Denas: die exotisch gefärbten Augen (in ihrem Fall Lila), die überproportional langen Beine, die schmale Taille, die eher breiten Schultern und der große Kopf: Die Stirn war im Vergleich zu denen der anderen Prägungen deutlich höher. Zwar entzog eine Perücke – Denas besaßen keine Körperbehaarung – den Großteil des Schädels dem Blick anderer. Trotzdem konnte jeder sie augenblicklich ihrer Prägung zuordnen.

»Gut«, murmelte sie. »Gut.« Sie war stolz darauf, eine Denas zu sein. Ihre Prägung war die Krönung der Evolution. Sie waren die ersten Lebewesen, welche die natürliche Entwicklung ihres Genoms durch eine zielgerichtete abgelöst hatten. Damit steuerten sie die körperliche und geistige Weiterentwicklung der Prägung Denas.

Den langen Beinen, den außergewöhnlichen Augenfarben, dem spezifischen Muskeltonus, der auch ohne Training erhalten blieb, und dem Verzicht auf Haare und innere und äußere Geschlechtsmerkmale waren allesamt gezielte Änderungen am Genom vorausgegangen. Der Name war Programm: DNS. DeNaS. Wie die anderen Prägungen hatten auch die Denas ihren Namen über den sie definierenden Lebensansatz abgeleitet.

In ihrem Sichtfeld tauchte ein rotes Leuchten auf. Statt den visuellen Input über die elektronischen Kontaktlinsen abzurufen, drehte Rim sich um und ließ eine Projektion auf die Wand links ihres Schreibtisches werfen. Bis auf ihren Arbeitsplatz, drei Sessel und ein großformatiges, abstraktes Kunstwerk – eine wilde Zusammenstellung von Punkten und Linien – befanden sich keine weiteren Gegenstände in dem etwa fünf bei fünf Meter großen Raum.

Die Projektion zeigte eine Zelle, in der sich ein kleiner Tisch, eine Toilette, ein Waschbecken und ein Bett befanden. In Letzterem schlief ein vierzehnjähriges Mädchen.

Bo.

Die erst gestern von ihr entführte Bo.

Rim rief die Hirnaktivität ihrer Patientin auf.

»Faszinierend«, murmelte sie. Nicht zum ersten Mal heute beobachtete sie begeistert die hochkomplexen Muster. Sie waren von einer bisher unbekannten Dynamik – und Ausdruck dessen, was die Nutzung von Psychopharmaka im Genom der Psyphas bewirkt hatte. Denn die jetzigen Gehirnaktivitäten gingen nicht auf momentan vorhandene Wirkstoffe zurück – Rim hatte das Mädchen auf Entzug gesetzt.

Trotz der Faszination angesichts der ungewöhnlichen Hirnaktivitätsmuster, machte sich langsam Ernüchterung breit. Bisher hatte Rim nicht herausfinden können, welche mentalen Vorgänge mit den Hirnmustern einhergingen. Einerseits ließen sich im wachen Zustand keine ähnlich komplexen Hirnaktivitäten beobachten. Das Mädchen schien ausschließlich im schlafenden Zustand über gewisse mentale Grenzen hinauszugehen, die sie bei Bewusstsein nicht überquerte. Andererseits war ihre Patientin zwischen den induzierten Ruhephasen nicht in der Lage, die geistigen Prozesse während des vorhergegangenen Schlafs wiederzugeben. Sie konnte sich an nichts erinnern.

Aber vielleicht war Rim hier zu ungeduldig: Die Patientin war bisher gerade mal einen Tag in ihrer Obhut.

Darüber hinaus hatte die Denas sich bereits einen vielversprechenden Lösungsansatz für das Problem überlegt: die Erhöhung der Luzidität der Patientin im Schlafzustand. Mit ein wenig Übung war es fast allen Menschen möglich, sich seiner während des Träumens bewusst zu werden. Man realisierte, dass man träumte. Und dies führte wiederum zu der deutlich gesteigerten Fähigkeit, die Erinnerung an das im Traum Erlebte bis in den Wachzustand zu retten. Damit würde das Mädchen in die Lage versetzt, von ihren Schlaferfahrungen zu berichten.

Da das Mädchen allerdings nicht aus freiem Willen in Rims Labor schlief, kam lediglich eine Ferndiagnose und -behandlung infrage. Glücklicherweise würde dies bei der infrage kommenden Therapeutin keinen Verdacht hervorrufen, da die meisten Menschen davor zurückschreckten, einer fremden Person von ihren Träumen zu berichten. Bei einer solchen Behandlung war Anonymität eher die Regel als die Ausnahme.

Dennoch war der Ansatz nicht ohne Risiko. Rim musste sicherstellen, dass ihre Gefangene sich bei der geplanten Therapie nicht verplapperte oder etwa um Hilfe rief. Doch sie war zuversichtlich, dass sie die Psyphas ausreichend auf Linie bringen konnte.

Rim erteilte den Auftrag für eine Sitzung mit einer Omega, die sich auf Luzidität spezialisiert hatte, während sie mit leichten Gewissensbissen auf das schlafende Mädchen sah. Ihre eigenen Kinder waren längst aus dem Haus, aber sie konnte sich vorstellen, welche Hölle die Familie des Kindes gerade durchmachte.

Ob sie das Richtige tat?

Eigentlich durfte sie daran nicht zweifeln. Wäre sie nämlich der falschen Fährte gefolgt, so hätte AKI längst eine Befreiungsaktion für Bo eingeleitet. Das Akronym AKI stand dabei für Allgemeine Künstliche Intelligenz und bezeichnete die Ararat steuernde Einheit. AKI verfügte über eine ähnliche Breite des Denkvermögens wie der Mensch und bildete Judikative, Legislative und Exekutive in einem. Eine nicht-biologische Intelligenz, eine alternative Intelligenz, welche die langfristige Maximierung des menschlichen Glücks zum Ziel hatte.

Ein erneuter, nachdenklicher Blick auf das Mädchen.

Die langfristige Maximierung des menschlichen Glücks, wiederholte Rim die Zielfunktion von AKI im Geiste. Nicht die Maximierung des Glücks des einzelnen Individuums – wie AKI im Falle des eingesperrten Mädchens bewiesen hatte.

Denn AKI hatte es ihr nicht nur erlaubt, die Spender-Unit des Mädchens anzusteuern. Vielmehr hatte AKI es ihr regelrecht vorgeschlagen. Erst durch die starke Sedierung war die anschließende Entführung überhaupt möglich gewesen.

Daraus konnte Rim nur schließen, dass ihre Experimente mit dem Mädchen einem größeren Wohl dienten.

Sie war einem wissenschaftlichen Durchbruch auf der Spur!

Dell, Prägung Trans, Tag -10

»Go for Dell!«

Der Trans war allein in seiner Wohnung, als der Anruf kam. Auch wenn sein Kumpel Tence mittlerweile mehr oder weniger bei Dell zu leben schien, hatte er heute Morgen einen seiner Ausflüge vor die Tür angetreten. Somit nahm Dell in trauter Einsamkeit sein Mittagessen zu sich. Die Reste einer Pizza lagen auf einem Teller auf der durchgesessenen Couch, dort, wo sonst Tence saß. Da Trans den Luxus besaßen, bei eventueller Schädigung ihres Körpers künstlichen Ersatz beschaffen zu können, achteten sie weniger auf Ernährung als die anderen Prägungen.

Neben den Überbleibseln des gestrigen Abendessens bot sich das Bild einer leicht vermüllten Wohnung mit zwei Gamer-Sesseln der neuesten Modellreihe im Zentrum.

Dell hatte sich nach der notwendigen Nahrungsaufnahme eben aufmachen wollen, in die virtuelle Welt Virtuum zurückzukehren, als ihm der Anruf dazwischenkam.

»Machst du einen auf solitär?«, fragte Pod, dessen Gesicht auf der Wand gegenüber von Dell auftauchte.

Wie die meisten Trans legte auch Pod nur begrenzt Wert auf sein Äußeres: Halblange Haare, ein Dreitagesbart und einen offensichtlich übersehenen Pickel am Kinn zeugten von der begrenzten Eitelkeit des Trans.

Zu seiner Verteidigung musste gesagt werden, dass ihn normalerweise kaum jemand zu Gesicht bekam. Zumindest den physischen Pod. Wie Dell interagierte er in der realen Welt so gut wie gar nicht mit Arbeitskollegen, Freunden oder Verwandten. Stattdessen hatte sich sein Austausch fast komplett auf Virtuum verlagert, wo er den Großteil seiner Zeit verbrachte.

Virtuum war eine virtuelle Lebensumgebung. Ein Metaversum. Menschen betraten die Simulation als Avatare, um dort sowohl mit anderen Menschen als auch mit simulierten Lebewesen zu interagieren. Es war eine unendlich reichere Welt als die Erde selbst. Mit mehr Möglichkeiten, weniger Konsequenzen und unbegrenzter Ablenkung.

»Ich musste nur schnell was essen«, erklärte Dell, den Teller auf dem Beistelltisch abstellend. »Ich komme gleich wieder rein.«

»Sollte ich auch öfter tun«, realisierte Pod. »Nahrungsaufnahme, meine ich. Wollen wir heute Abend zusammen was essen? Tut uns beiden bestimmt ganz gut, mal rauszukommen. Frische Luft und so … Echte Leute …«

Die Stimme von Pod erschallte direkt in Dells Kopf, dorthin übertragen durch sein Brain Computer Interface. BCIs wurden mittels eines minimal-invasiven Prozesses eingesetzt und vernetzten sich über feine Elektroden mit dem menschlichen Gehirn. Das seinige befand sich seit Dells frühester Kindheit direkt unter seiner Schädeldecke und war das Schaltzentrum für alle kognitiven und physischen Erweiterungen, die er sich seitdem angeschafft hatte. Im Prinzip handelte es sich beim BCI um den Universaladapter für jede andere Erweiterung.

Und derer gab es viele.

Die Prägung Trans war gleichzeitig der stärkste Entwickler und der stärkste Nutznießer technologischer Gimmicks wie Exoskelette, Roboterarme und elektronische Kontaktlinsen.

»Du hörst dich wie meine Schwester an«, beklagte sich Dell.

Pod lachte laut auf. »Au, das tut weh! Wie geht es ihr? Ich weiß gar nicht, wann ich sie das letzte Mal in der Öffentlichkeit gesehen habe.«

»Das liegt vermutlich eher daran, dass du selbst nicht draußen warst«, hielt Dell dagegen.

»Guter Punkt«, stimmte Pod zu. »Dennoch: Im Gegensatz zu ihr, bin ich dauernd mit anderen Menschen unterwegs.«

»Kontakt zwischen Avataren im Virtuum zählt für sie nicht. Ihrer Meinung nach verbringe ich mein Leben in völliger Einsamkeit. Allein.«

Wenn er ehrlich war, glaubte Dell nicht, dass seine Schwester wirklich diese Ansicht vertrat. Denn die ursprüngliche Definition des Wortes allein im Sinne einer körperlichen Isolation war zu kurz gesprungen. Es stimmte, dass Dell seine Wohnung kaum noch verließ. Hin und wieder wurde die Haustür eine ganze Woche lang nicht geöffnet. Und falls doch, war es oft bloß, um gelieferte Lebensmittel entgegenzunehmen. Das hieß aber nicht, dass Dell einsam war: Im Virtuum war er fast durchgängig im direkten Austausch mit anderen.

»Sagen wir in drei Stunden?«, kam Pod auf sein Anliegen zurück. »Bis dahin bin ich privat, um eine neue Erweiterung zu testen.«

Pod spielte damit auf den privaten, nicht öffentlichen Raum von Virtuum an.

»Welche?«, fragte Dell noch, allerdings hatte sein Freund schon aufgelegt. Und er konnte ihn nicht zur Rede stellen, da Pod wie angekündigt nun privat im Virtuum unterwegs war und somit in nur ihm zugänglichen Simulationen.

Dennoch würde auch Dell gleich nach Virtuum reisen. Nicht nur Pod hatte ein neues Spielzeug: Auch Dell hatte sich etwas gegönnt.

Er wischte sich die Hände mit einem Feuchttuch ab, bevor er vorsichtig die vor Kurzem gelieferte Schachtel vom Boden aufhob und mit einem leichten Druck auf die Seite öffnete. Zwei durchsichtige Folien lagen darin, jeweils acht Millimeter im Durchmesser und nur wenige Mikrometer dick. Gleichwohl bestanden sie aus einem feinen Geflecht von Elektroden, die ihre Energie drahtlos von seinem BCI beziehen würden.

Dell rief über das BCI ein Video zum Einsetzen der Folien auf, das anstelle auf seiner VR-Brille auf der Wand vor ihm lief – dort, wo eben noch Pods Gesicht zu sehen gewesen war. Die Brille würde in diesem Fall nur stören, da er Zugriff auf seine Augen brauchte.

Wie vorgeschrieben legte Dell die Folien auf seine beiden Augen. Anfangs spürte er sie kaum, so dünn waren sie. Der zweite Schritt bestand aus der Aktivierung, die er nun anwies. Eine Millisekunde lang erhitzten sich die in die Plastikfolie eingelassenen feinen Metalldrähte und verklebten sich mit der Oberfläche seiner Augen. Ein leicht unangenehmes Gefühl, das nach wenigen Sekunden wieder abgeklungen war.

In seinem Kopf informierte ihn eine freundliche Frauenstimme, dass seine neueste Erweiterung, vermarktet unter dem Namen Digitale Lichtfeld, nun einsatzbereit war.

»Dann wollen wir mal«, sagte er voller Vorfreude, bevor er den Blick auf die Wand vor sich richtete.

»Entferne die Wände«, befahl er.

Tatsächlich schien sich die Wand vor ihm schlagartig in Luft aufzulösen. Den Kopf nach rechts und links schwenkend, konnte er auch hier direkt auf den sein Haus umgebenden Rasen schauen.

»Gute Qualität, keine Verwacklungen, keine Latenz«, murmelte er beeindruckt. Die gleiche Funktionalität – die Überlagerung seines wirklichen Sichtfeldes mit durch externe Kameras aufgenommenen Bildern – bot seine VR-Brille. Doch es gab zwei wesentliche und ausschlaggebende Unterschiede zwischen der Brille und den Kontaktlinsen: Erstens war die VR-Brille auf Dauer unbequem: Die Belüftung war unzureichend, und es blieben immer irgendwelche Druckspuren. Wichtiger war hingegen der zweite Punkt: Die Kontaktlinsen funktionierten auch dann noch, wenn er die Augen schloss. Die VR-Brille funktionierte dagegen logischerweise nur dann, wenn er die eingebauten Bildschirme betrachtete.

Das Digitale Lichtfeld funktionierte komplett anders als die üblichen elektronischen Kontaktlinsen. Die dünnen Folien projizierten nicht etwa Bilder, wie dies bei den herkömmlichen Linsen der Fall war. Stattdessen wurde das biometrische Signal seines Sehnervs mittels elektromagnetischer Strahlung moduliert. Die tatsächlichen Bildinformationen im Nerv wurden damit mit einer alternativen Bildwelt überlagert oder sogar ersetzt. Für den visuellen Cortex seines Gehirns, dem Empfänger der Bildinformationen, war das modulierte Signal ununterscheidbar von einem unveränderten Signal des Sehnervs. Es brauchte dazu allerdings eine feste Verbindung mit dem Auge, was bei den herkömmlichen elektronischen Linsen nicht gegeben war.

Dell legte sich in seinen Gamer-Sessel. Auch wenn dieser eher einer Bahre glich, war der Liegekomfort hoch. Der Schaumstoff nahm sein Gewicht auf, die dünne Folie, die über ihn gelegt wurde, zog sich straff und übte einen gleichmäßigen Druck auf ihn aus. Die nächsten Stunden würde er nahezu bewegungsfrei verbringen. Da er jedoch wie die meisten Trans feine Elektroden im Muskelgewebe trug, die durch elektrische Stimulation seinen Fitness-Zustand erhielten, musste er sich um seine Gesundheit keine Gedanken machen.

»Enter Virtuum.«

Augenblicklich spürte Dell den zunehmenden Druck auf seine Füße. Nun lag er nicht mehr, sondern stand. Beziehungsweise fühlte es sich so an, da der Gamer-Sessel über Druck und elektrische Reize die verschiedensten körperlichen Aktionen und Haltungen simulierte.

Seine vertraute Startumgebung erschien: Vor ihm erwartete ihn eine Projektion seiner persönlichen Spiel- und Arbeitsleistungen. Dazu gab es Abbildungen einiger Lieblingssimulationen auf den anderen drei Wänden. Türen oder Fenster waren nicht zugegen. Er sah an sich herunter. Alles schien wie immer – er trug bloß keine Brille mehr.

»Nicht schlecht«, murmelte er. Die Investition hatte sich definitiv gelohnt!

»Wo ist Pod?«, fragte er.

»Pod ist nicht im öffentlichen Virtuum, sondern in einer Privatumgebung«, war die freundliche Antwort.

Dell hatte für AKI im Virtuum eine andere Stimme als in der echten Welt gewählt. Hier handelte es sich um eine neutrale Tonhöhe – weder männlich noch weiblich. In der realen Welt hörte sich AKI für ihn dagegen wie ein umsorgender Freund an.

»Tence?«

»Tence ist nicht im Virtuum.”

«Bai oder Goo?«

»Bai und Goo sind zusammen in S516C. Möchtest du zu ihnen?«

»Wo sollten sie auch sonst sein …«, murmelte Dell, den Kopf schüttelnd. S516C fiel in die Kategorie der Simulationen, die sich auf die körperlichen Freuden konzentrierten.

»Männer!«, pflichtete AKI ihm bei.

»Sind die beiden privat?«

Auch in öffentlichen Simulationen konnten Avatare privat unterwegs sein. Dies bedeutete, dass sie für andere Avatare nicht sichtbar waren.

»Nein. Soll ich dich zu ihnen bringen?«

Dell bat darum.

Die vier Wände des Raums klappten zur Seite und gaben damit den Blick auf einen großen Garten frei. Die Sonne schien, Vogelgezwitscher und das Kabbeln eines kleinen Baches drangen an seine Ohren und zwischen den Blumen und Sträuchern entdeckte er zwei einzelne Sessel, in denen Bai und Goo eher lagen als saßen.

Um sie herum tummelte sich eine größere Anzahl an simulierten Frauen und Männern. Die Männer präsentierten sich fast alle oben ohne, die Frauen in der Regel in dünnen, nicht sichtdichten Kleidern. Die Darbietung war allerdings nicht anstößig, sondern erinnerte eher an eine Pool-Party.

»Dell!«, rief Bai, der ihn als Erster entdeckte. »Kommst du mit zum Konzert von Trelav?«

»Klar«, erwiderte Dell, sich auf einen dritten Sessel setzend, der von einer dunkelhaarigen Schönheit in ihren frühen Zwanzigern gebracht worden war. Virtuum kannte seinen Typ Frau. So wie Virtuum, beziehungsweise AKI, auch den Typ Mann und Frau für Goo und Bai kannte. Während Goo strikt heterosexuell war, wollte Bai sich nicht festlegen. Wie Pod und Dell waren sie Anfang dreißig. Und wie bei den meisten Trans entsprach ihr Avatar im Wesentlichen ihrem realen Erscheinungsbild. Mit ein paar wenigen Ausnahmen. So wurden im Virtuum kleine Imperfektionen wie Mitesser, Narben, Augenringe oder vereinzelte Schulterhaare gerne unterschlagen. Außerdem waren in Sex-Simulationen wie S516C die Geschlechtsteile nicht sichtbar. Zumindest nicht für die anderen menschlichen Besucher. Für Dell zeigte sich bei seinen Freunden trotz ihrer Nacktheit nichts zwischen den Beinen.

»Das Konzert fängt in einer Minute an«, sagte Dell, die Information abrufend.

»Mehr als genug Zeit«, erwiderte Bai, sich umschauend und eine der jungen Frauen ins Auge fassend.

Hier hätte sich wunderbar ein Scherz einwerfen lassen, doch Dell hatte von realer Zeit gesprochen, während die Zeitwahrnehmung im Virtuum anderen Regeln folgte. Nicht eingeschränkt durch auf den Körper einwirkende physikalische Gesetze, konnten Menschen sowohl im Traum als auch im Virtuum Aktionen mit der Geschwindigkeit der Gedanken durchleben. Die gefühlte Zeitdehnung lag – je nach Individuum – zwischen den Faktoren vier und sechs. Somit stand den drei Männern tatsächlich das zeitliche Äquivalent von etwa fünf Minuten in der realen Welt zur Verfügung.

Die von Bai herbei gewunkene Schönheit war androgyn, seinem Geschmack entsprechend. Die Simulation kam zu seinem Sessel und lächelte ihn an. Als sie sich vorbeugte, verschwanden sowohl sie als auch Bai. Sie waren nun weder sicht- noch hörbar für Dell und Goo.

Glücklicherweise.

Während Goo dem Beispiel von Bai folgte und sich jemanden herbeiwinkte, widerstand Dell noch einen Moment lang der Versuchung. Dann sah auch er sich um – und wurde sofort fündig. Eine Frau trat an ihn heran. Vor seinen Augen gewann sie an Größe. Die Simulation griff nach seinen Händen und zog ihn auf die Füße. Sie bzw. AKI, wusste genau, was ihm gefiel.

Kurz darauf wechselten die drei Freunde, nun in Shorts und T-Shirt, in die Konzertsimulation. Damit tauschten sie den Tag für die Nacht, und den Garten für eine weitläufige Pool- und Deck-Landschaft ein. Die organisch geformten Schwimmbecken waren hüfttief und gleichmäßig hellblau ausgeleuchtet. Die dazwischen befindlichen Decks waren aus Holz und mit Fackeln bestückt. Inmitten des Bereichs stand leicht erhöht die Bühne, auf der sich in wenigen Sekunden Trelav einfinden würde. Der Künstler war ein Avatar, keine Simulation, spielte seine Musik aber ausschließlich im Virtuum. Er war damit wie die meisten Trans in einem kreativen Beruf unterwegs. Musik war allerdings ein Nischenbereich, der mittlerweile fast ausschließlich durch AKI direkt bedient wurde. Stattdessen spielten die Trans ihre Kreativität in der Regel eher bei der Erschaffung neuer Erlebnisse im Virtuum oder zusätzlicher körperlicher und geistiger Erweiterungen aus.

Das Publikum zählte etwa hundertzwanzig Personen – ein hohes Aufkommen, angesichts der bloß um die tausendvierhundert verbliebenen Menschen. Die Trans stellten die größte Gruppe der Konzertgänger. Von Teenagern bis Hundertjährigen waren alle Altersgruppen vertreten. Auch einige Omega und Denas standen in Grüppchen um die Bühne herum.

Bai, Goo und Dell unterhielten sich, während sie regelmäßig Bekannte und Freunde begrüßten und schließlich in einem der Pools Platz nahmen. Da die Simulation aufgrund ihres Gesprächs die Umgebungsgeräusche größtenteils unterdrückte, verpassten sie die Anfänge des Konzerts. Erst durch einige tanzende Personen realisierten sie, dass Trelav längst seine Hits zum Besten gab. Sie wandten sich der Bühne zu und die Lautstärke der Musik wurde in ihren Köpfen hochgefahren. Dell war ein großer Fan von Bässen, die er ein wenig nachjustierte, um dann den Song wieder fast komplett auszublenden, als Goo ihm eine Frage zu seinen neuen Kontaktlinsen stellte.

Während er dem Trans zuhörte, schweifte Dells Blick über die tanzenden Avatare, die sich zu dem, momentan von Dell nicht wahrgenommenen, Takt verrenkten. Im Virtuum waren alle Altersgruppen gleich fit – egal, wie sie aussahen. Nur wenige Menschen wählten noch einen Avatar, dessen Aussehen sich stark von ihrem menschlichen Abbild unterschied. Ein Überbleibsel aus dem Beginn der Metaversen. Seit einigen Jahrzehnten blieben die meisten Personen ihrem realen Aussehen auch im Virtuum treu. Anonymität war angesichts der geringen Zahl an Menschen sowieso kaum möglich.

Nachdem Dell Goo von den Vorteilen des Digitalen Lichtfelds berichtet hatte, wandte er sich wieder der Musik zu. Er blendete die Stimme des Sängers aus und ließ sich durch die Melodien mitreißen. Erst bei einem der beliebteren Songs fügte er die Gesänge wieder hinzu, um zusammen mit Bai und Goo lauthals einzustimmen. Die Arme um die Schultern des jeweils anderen gelegt, wiegten sie sich gut gelaunt im Takt. Etwas mehr als hundert weitere Avatare taten es ihnen gleich.

So viel zum Thema Einsamkeit, dachte Dell. Ein derart reiches soziales Umfeld wie im Virtuum war in der Realität kaum abbildbar. Seine Schwester wusste wirklich nicht, wovon sie redete!

Gegen Ende des Konzerts stieß Tence zu ihnen. Im Gegensatz zu Goo, Bai und Dell war Tence ein Psyphas, was sein Aussehen jedoch auf den ersten Blick nicht verriet. Weder die Psyphas noch die meisten Trans zeigten im Virtuum äußerlich Spuren ihrer Prägung. Die Psychopharmaka hatten bisher keine Änderung des Erscheinungsbildes der Psyphas zur Folge gehabt. Und die meisten Erweiterungen der Trans waren äußerlich nicht sichtbar – wie zum Beispiel des implantierte BCI oder das Digitale Lichtfeld. Sichtbarere Erweiterungen – wie ein Exoskelett – wurden durch die Avatare im Virtuum nicht benötigt.

Doch die eher spärlichen äußeren Unterscheidungsmerkmale erzählten nicht die ganze Geschichte. An den Interessen und der allgemeinen Gemütslage ließ sich ein Psyphas in der Regel sehr wohl von einem Trans unterscheiden. Wobei Tence kein typischer Vertreter seiner Prägung war: Die meisten Psyphas hatten kaum ein Interesse am Virtuum. Die genutzten Psychopharmaka erlaubten einen mental ausgeglichenen Geisteszustand, der auch ohne visuelle, auditorische oder andere sensorische Stimulation als glücklich bezeichnet werden konnte.

Dennoch war Dell Tence vor wenigen Wochen im Virtuum begegnet. Sie waren sich zuvor immer mal wieder über den Weg gelaufen, doch der Altersunterschied – Tence war neun Jahre jünger als Dell – hatte bisher eine Vermischung ihrer Freundesgruppen verhindert. Bei einem ersten zufälligen Austausch hatten sie sich dann auf Anhieb gut verstanden. Die Sympathie ging sogar so weit, dass sie seit einigen Wochen in einer unausgesprochenen Wohngemeinschaft zusammenlebten. Tence hatte schon kurz darauf einen zweiten Gamer-Sessel bei Dell aufstellen lassen.

Melinda wäre stolz auf Dell, wüsste sie von seinem plötzlichen Umgang mit Menschen in der realen Welt!

Nach dem Konzert trennten sich die Freunde auf.

Dell wollte noch ein wenig arbeiten und suchte seine dafür generierte Umgebung auf: ein einzelnes Display und ansonsten nichts als Schwärze. Es gab nicht einmal einen Boden – Dell schwebte in der Dunkelheit. Hier gab es keine Ablenkung. Für gute fünf Virtuum-Stunden wandte er sich nun einem seiner Arbeitsthemen zu: der Hyper-Geschwindigkeit.

Auch wenn die Zeit im Virtuum bereits deutlich langsamer als in der realen Welt verging, ähnlich wie bei der Zeitdehnung beim Träumen, vermutete Dell hier zusätzliches Potenzial. Mit einer Gruppe von Gleichgesinnten verfolgte er das Ziel, die Zeitdehnung weiter in die Länge zu ziehen. Dies käme faktisch einer Verlängerung des Lebens gleich.

Zumindest solange man sich im Virtuum aufhielt.

Doch es hatte einen Grund, warum die typische Zeitdehnung im Virtuum oder im Traum bei etwa dem Faktor fünf lag: Sie wurde durch die kognitiven Leistungen des Gehirns beschränkt. Der Mensch konnte im Virtuum nur so schnell denken und erleben, wie es sein Gehirn erlaubte. Für eine weitere Zeitdehnung brauchte es somit vor allem erweiterte kognitive Fähigkeiten. Dazu gehörten unter anderem ein leistungsfähigeres Kurzzeitgedächtnis und eine schnellere Signalverarbeitung.

Ein mittlerweile hochaktives Forschungsgebiet, welches die Entwickler der BCI unbeabsichtigt aus der Taufe gehoben hatten. Anfangs wurde das BCI bloß als Verbindung vom Gehirn zur Außenwelt genutzt. Erste Anwendungen zielten auf die gedankliche Steuerung zum Beispiel von Computern und die externe Beeinflussung von Stimmungen oder Emotionen ab. Kurz darauf war die Funktion eines ausgelagerten Langzeitgedächtnisses hinzugekommen. Und mittlerweile erlaubte die zunehmende Integration von Elektronik und Gehirn auch die Verlagerung von kognitiven Leistungen wie das Denken auf das BCI beziehungsweise auf die damit verbundene Elektronik.

Die Herausforderung im Hinblick auf die Nutzung des BCI für die anvisierte Erhöhung der Zeitdehnung lag vor allem bei dem erhöhten Energieverbrauch und den Latenzzeiten. Letztere beschrieben die benötigte Zeit für die Übermittlung von Signalen. Sowohl zwischen den Neuronen des Gehirns als auch zwischen Gehirn und BCI. Erst das Wechselspiel von Signalen resultierte im eigentlichen Erleben, Wahrnehmen und Denken.

Einer von Dells Schwerpunkten lag somit auf der Optimierung der BCI-Architektur und den darauf laufenden Algorithmen. Er nahm gedanklich Anpassungen an seinen Designs vor, die direkt visuell umgesetzt wurden. Nichts lenkte ihn hier ab; sein Status war auf privat gestellt, sodass er bloß in Notfällen gestört wurde. Sein Körper war vollkommen entspannt und jegliche geistige Energie stand seinen Überlegungen zur Verfügung.

Gute Fortschritte machend, fiel es ihm heute nicht leicht, in die reale Welt zurückzukehren. Doch sein BCI hatte ihn schon mehrere Male darauf hingewiesen, dass er in der realen Welt nicht länger allein war und Tence nach ihm fragte.

Mit einem gewissen Widerwillen stellte Dell seine Arbeit ein.

»Leave Virtuum.«

Die Projektion verschwand. Dell öffnete die Augen und spürte, wie der Druck seines Gamer-Sessels sich verringerte und die Folie sich zurückzog.

»Gut erholt, Dornröschen?«, fragte Tence, ihn vom Sofa aus begrüßend. Es war ein Ritual, das Dell immer mit einem Lächeln beantwortete.

Tence verbrachte deutlich weniger Zeit im Virtuum als Dell und dafür mehr in der realen Welt. Hier zeigte sich dann doch der Unterschied der Prägungen.

»Seit wann bist du wieder zu Hause?«, fragte Dell, sich auf die Couch neben seinen Freund setzend.

»Etwa eine Stunde«, erwiderte der Psyphas. Tatsächlich waren seit Dells Eintritt ins Virtuum kaum siebzig Minuten vergangen − in der Hyper-Geschwindigkeit von Virtuum dagegen etwa sechs Stunden. Dabei bot die virtuelle Welt nicht nur den Vorteil einer längeren Erfahrungszeit. Zusätzlich waren die generierten Erinnerungen deutlich schärfer, genauer und in allen Farben, Tönen und Emotionen abrufbar. Die Speicherung der Erlebnisse im BCI oder in externen Speichern hatte den Vorteil, dass es keinen graduellen Qualitätsverlust der Erinnerungen mehr gab.

»Hast du eigentlich noch mal über meine Frage nachgedacht?«, wollte Tence wissen.

In den letzten paar Tagen waren sie immer wieder in eine Diskussion zu den Gefahren der Verlagerung des Lebens von der realen in die virtuelle Welt abgetaucht. Tence hatte ihn gestern gefragt, ob es passieren konnte, dass man den Weg aus Virtuum nicht mehr herausfand.

»Nicht wirklich«, gab Dell zu. »Ich glaube nach wie vor nicht, dass eine realistische Gefahr besteht, sich kognitiv im Virtuum zu verrennen. Es handelt sich eindeutig um eine Simulation.«

»Hm«, erwiderte Tence. Sein Tonfall machte deutlich, dass er das anders sah. »Ich meine …« Er pausierte und legte sich die Worte zurecht. »Wenn die Trans sich immer weiter mit Technologie und vor allem synthetischen kognitiven Bausteinen anreichern, erhöht das nicht das Risiko, dass sich euer Gehirn eines Tages wie ein Computer aufhängt?«

Dell sah auf.

»Das ist eine andere Geschichte«, meinte er. »Darüber haben wir bisher noch nicht gesprochen. Aber auch hier sehe ich nur begrenzt Gefahr. Obwohl es eine gewisse logische Nähe zu epileptischen Anfällen gibt.«

Er wartete, bis Tence, der den Begriff offensichtlich nicht kannte, die Beschreibung zu epileptischen Anfällen über sein EPA abgefragt hatte. Wie die meisten Psyphas nutzte Tence keine implantierte Schnittstelle, sondern bloß einen am Handgelenk getragenen EPA, der die Informationen wiederum an in seine Ohren eingesetzte Lautsprecher weitergab.

»Bei einem epileptischen Anfall gibt es durch die unbeherrschten Bewegungen das Risiko körperlicher Verletzungen«, meinte Dell. »Wenn der Mensch im Virtuum unterwegs ist, liegt er aber in einem Gaming-Sessel. Ihm kann dort nichts passieren.«

Tence grinste, was typischerweise bedeutete, dass er Dell gedanklich einen Schritt voraus war.

»Außer, er hängt sich kognitiv derart lange auf, dass er nicht in die reale Welt zurückfindet und zum Beispiel verdurstet. Oder vergisst zu atmen.«

»AKI«, entkräftete Dell das Argument. »AKI würde sicherstellen, dass er oder sie rechtzeitig aus Virtuum geworfen wird.«

»Auch AKI kann ausfallen.«

»Und wann ist das zum letzten Mal passiert?«

Eine erneute kurze Pause, während Tence seinen EPA konsultierte. »Vor etwa zwanzig Jahren.«

Dell klopfte seinem Kumpel aufmunternd auf die Schultern. »Siehst du? Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«

»Ich mache mir keine Sorgen um mich«, lachte Tence. »Ich begebe mich nicht immer weiter auf dünnes Eis, mit den erweiterten Speichern und Prozessorleistungen.« Er zeigte auf Dells Kopf. »Ich versuche eher dich von gefährlichen Experimenten abzuhalten.«

»Brauchst du nicht. Ich bin überzeugt davon, dass mentale Vorgänge weiter beschleunigt werden können. Außerdem …« Er zeigte auf die beiden Gaming-Sessel. »Du bist doch jetzt hier und kannst mich zurückholen, sollte ich mich tatsächlich mental aufhängen.«

Tence schien nicht überzeugt und verzog den Mund. »Ihr Trans seid wirklich ein wenig verrückt.«

»Verrückt oder genial?«, hakte Dell nach.

»Verrückt«, bestätigte Tence in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

Maya, Prägung Omega, Tag 2

 

Maya hatte Schwierigkeiten, sich auf ihre Patientin zu konzentrieren.

»Die Stimme kam nicht von einer Person, sondern aus der Traumlandschaft selbst«, sagte Laura eben.

Die blonde Frau korrigierte sich, schüttelte den Kopf. »Nein, falsch. Irgendwie spürte ich, dass die Stimme von hinter der Traumlandschaft stammte. Als ob alles um mich herum bloß eine Leinwand war, eine Illusion, die zwischen mir und … mehr … stand.«

Maya nickte leicht, sah ihre Patientin aber nicht direkt an. In Gedanken befand sie sich um einige Stunden in die Vergangenheit versetzt. Zwei Zimmer weiter hatten sie und Lennon ihr Frühstück zu sich genommen. Wie jeden Tag. Doch heute hatte er nicht wie sonst entspannt der Tantra-Musik mit den monotonen und deshalb mental entschlackenden Wiederholungen gelauscht. Stattdessen hatte er nach wenigen Minuten auf schnelle, laute Tonabfolgen gewechselt – quasi ein auditives Saunaprogramm. In seiner Haltung am Tisch hatte sie eine innere Anspannung erkennen können. Außerdem war er außergewöhnlich einsilbig gewesen.

Maya ignorierte zum zweiten Mal das leichte Vibrieren am Handgelenk und die in ihren Kontaktlinsen aufleuchtenden Warnsignale. Ihr EPA versuchte sie erneut daran zu erinnern, dass sie einen Job zu erledigen hatte.

»… keine eigenen Gedanken. Die körperlose Stimme schien sehr überlegt und komplett losgelöst von mir zu sein«, drangen die Worte von Laura kurz zu Maya vor, bevor sie in Gedanken wieder an heute Morgen anknüpfte.

Sie kannte ihren Mann lange genug, um die Symptome richtig zu deuten: Lennon war auf eine neue Spur gestoßen. Wie sie mittlerweile wusste, hatte er trotz autogenen Trainings die Angewohnheit beibehalten, sich gedanklich in Themen zu verlieren. Er nutzte dann jede freie Sekunde, um die Spur, das Thema oder die Frage von jeglichem Blickwinkel aus zu betrachten und zu durchleuchten. Umso länger er nicht fündig wurde, desto stärker verbiss er sich an der selbstgestellten Aufgabe. In der Regel endete dies mit einem über Tage anhaltenden Frust, den sie dann mit auszubaden hatte.

»Maya?«

»Hm?« Maya hob den Blick von dem Karomuster des Teppichs und sah Laura an. Dann räusperte sie sich und nickte. »Diese körperlose Stimme im luziden Traum ist dir deswegen so suspekt, weil sie Gedanken und Ideen äußert, von denen du nicht glaubst, dass du sie selbst gedacht hast«, erklärte sie. »Es scheint sich um eine selbstständig denkende Entität zu handeln, die gefühlt nicht zu dir gehört. Im Endeffekt handelt es sich bei dieser Stimme aber um dich selbst. Genauer gesagt, um dein Unterbewusstsein.«

Laura nickte selbstverständlich, hatte Maya ihr diese Zusammenhänge doch bereits ein halbes Dutzend Male erklärt.

»Das Unterbewusstsein zeigt sich in der Regel nur indirekt. Und es residiert tatsächlich auch nicht im Traum selbst. Es ist eher hinter dem Traum verortet. Es schaut hin und wieder vorbei oder setzt durch Traumelemente bestimmte Akzente. Der Traum ist somit bloß der neutrale Grund, auf dem sich das Bewusstsein und das Unterbewusstsein treffen.«

Ein erneutes, kurzes Nicken der Patientin.

»Du machst gute Fortschritte und bist nun voll und ganz in der fünften Stufe des luziden Träumens angekommen«, lobte Maya, in einem Versuch, von ihrer vorherigen Unkonzentriertheit abzulenken. Auch wenn sie für ihre Arbeit nicht bezahlt wurde, so war ihr wichtig, dass ihre Patienten die Therapiesitzung mit dem Gefühl verließen, der Zeitaufwand habe sich gelohnt.

»Überlege dir eine geeignete Frage oder eine bestimmte Erkenntnis, die du beim nächsten Mal vorbringen kannst.« Sie verzog den Mund. »Entschuldige, das muss ich zurücknehmen: Eine Frage, nicht eine Erkenntnis. Wenn du um eine Erkenntnis bittest, besteht die Gefahr, dass du dem Ergebnis nicht gewachsen bist. Noch nicht.«

Laura nickte – auch dies hatten sie zuvor diskutiert. Die schmale Omega, ein paar Jahre jünger als Maya und eine ihrer momentan sechzehn Patienten, suchte seit mittlerweile sechs Jahren wöchentlich bei der Emotions- und Traum-Therapeutin Unterstützung. Wie viele andere Omega legte sie neben der körperlichen Gesundheit einen großen Wert auf geistige Vitalität. Dazu gehörte Achtsamkeit, Meditation und das Erforschen der inneren Gedankenwelt.

»Ich war leider so aufgeregt, dass ich den Traum nicht halten konnte und aufgewacht bin«, sagte Laura. »Ich wollte die Stimme eigentlich fragen, was ich tun kann, um glücklicher zu sein.«

»Wenn du darauf eine Antwort bekommst, gib mir gerne Bescheid!«, lachte Maya, um sich direkt darauf zu räuspern. »Entschuldige, das war unprofessionell. Ganz abgesehen davon, dass die Antwort auf die Frage zwar für dich Gültigkeit hätte, mir unter Umständen hingegen kaum weiterhelfen würde. Glück ist subjektiv und wird je nach Individuum unterschiedlich definiert. Ich bin trotzdem sehr gespannt darauf, was dein Unterbewusstsein dir mitzuteilen hat.«

Dies schien ein guter Schlusspunkt zu sein und Maya setzte sich auf.

Laura schien den Hinweis zu verstehen und erhob sich. Der weiße Sessel zeigte noch einen Moment lang den Abdruck ihres schmalen Hinterteils. Sie strich ihr enganliegendes Kleid glatt, ging auf ihre Therapeutin zu und streckte die Hand aus.

Als Maya um den schmalen, zwischen ihnen stehenden Beistelltisch herumgegangen und ihrer Patientin nun deutlich näher war, fiel ihr etwas Merkwürdiges auf: Das Blau von Lauras Augen schien strukturiert und von geschwungenen Linien durchzogen.

»Ist das ein Design auf deinen Kontaktlinsen?«

Anscheinend erfreut darüber, dass Maya dies aufgefallen war, strich Laura eine blonde Haarsträhne hinter ihr rechtes Ohr. »Ja, das Muster ist dem Abdruck meines rechten Zeigefingers nachempfunden. Witzig, wie eine so subtile Textur nun schon der dritten Person heute auffällt.«

Witzig war nicht das Wort, das Maya gewählt hätte.

Selbstdarstellerisch?

Eitel?

Zumindest suchte Laura offensichtlich nach Aufmerksamkeit. Sie wollte auffallen.

Maya verspürte plötzlich eine gewisse Abneigung gegenüber ihrer Patientin.

 

Nachdem Laura gegangen war, kehrte Maya in ihr lediglich mit zwei Sesseln und einem kleinen Couchtisch ausgestattetes Therapiezimmer zurück. Gedämpftes Licht drang durch die elektronisch dämmbaren Scheiben der Glasdecke und der die gesamte Rückwand einnehmenden Fenster.

Sie griff nach dem Wasserglas, aus dem Laura getrunken hatte. Eine Spur Lippenstift fiel ihr ins Auge. Neben den Kontaktlinsen ein weiteres Indiz dafür, dass Laura versuchte, sich abzuheben. Anders zu sein. Und aus dem Anspruch, anders zu sein, konnte schnell Abgrenzung werden. Aus Abgrenzung bildete sich historisch gesehen oft eine gefühlte Überlegenheit, die wiederum nicht selten in Missverständnissen, Ablehnung und schließlich Hass mündete.

Maya atmete tief durch. Zugegebenermaßen waren ihre Gedankengänge heute eher fatalistisch. Und vielleicht ein Tick zu negativ.

Eventuell sollte sie eine kurze Meditation einlegen? Ihr nächster Termin begann erst in fünf Minuten und fand – wie die meisten ihrer Sitzungen – über Fernschalte statt. Der Großteil ihrer Patienten bevorzugte die anonyme Behandlung. Träume legten oft die tiefsten und teilweise leider auch dunkelsten Bereiche der menschlichen Psyche offen. Maya konnte gut nachvollziehen, dass ihren Mitmenschen dies mitunter unangenehm war.

Sie setzte sich in ihren Sessel, schloss die Augen und entschleunigte ihren Atem. Binnen weniger Sekunden stellte sich eine gewisse innere Ruhe ein. Doch sie fühlte sich trügerisch, fast schon gefährlich an. Die bei Laura beobachteten Verhaltensweisen beschäftigten sie.

Maya brach die Meditation ab.

Es waren weniger der Lippenstift oder die Kontaktlinsen an sich, die sie beunruhigten – welche Rolle spielten diese kleinen Eitelkeiten schon? Doch bei ihrem letzten Besuch hatte Laura noch keinen Hang zur Abgrenzung, zur Individualität gezeigt. Es war somit vielmehr die Richtung der Entwicklung, die Maya innehalten ließ.

Außerdem realisierte sie, dass ihre Beunruhigung sich nicht ausschließlich auf Laura bezog. Weitere Patienten schienen ähnlich motiviert zu sein und hatten begonnen, nach persönlicher Abhebung von anderen zu suchen. Auf den ersten Blick schien das harmlos zu sein. Auf den zweiten war die Entwicklung dagegen alarmierend, da die gesuchte Individualität zu einem Risiko für das Kollektiv werden konnte.

Es wäre nicht das erste Mal …