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Alles fing ein paar Tage vor meinem sechzehnten Geburtstag an«
, begann Levi seine Geschichte. »
Ich war damals fast vierundsechzig Jahre auf der Welt.«
Gefallene Engel brachten einst ihre mächtige Sprache mit auf die Erde – so steht es in einer der vielen Apokryphen geschrieben. Glauben schenkt Levi dieser häretischen Geschichte nicht. Doch dann muss er am eigenen Leib erfahren, dass die biblische Sprache nicht nur existiert, sondern anderen sogar die Gewaltausübung über ihn erlaubt. Als Levi daraufhin im Selbstschutz einen Angreifer tötet, wird die Welt der Benandanti und der Unreinen – welche im Laufe der Menschheitsgeschichte als Dämonen, Hexen oder auch gefallene Engel Bekanntheit erlangten – auf ihren verloren geglaubten Sohn aufmerksam. So erfährt Levi von der jahrhundertealten Auseinandersetzung zwischen den Lagern, sowie von einer neuen, potenziell verheerenden Bedrohung, die das fragile Gleichgewicht endgültig zu zerstören droht. Doch auf welcher Seite soll der Vierjährling kämpfen?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Vierjährling
Yves Gorat Stommel
an Melanie, Noelle, Barbara und Klaus, dafür, dass sie bei den ersten Versionen dieses Buches tatsächlich bis zum Ende durchgehalten haben.
Vierjährling
© Yves Gorat Stommel
2016
Dritte Auflage 2021
ISBN-13: 978-1511538930
Web:
www.yvesgoratstommel.com
Facebook:
www.facebook.com/yvesgoratstommelautor
Email:
Postanschrift:
1055 New Saint Francis Street
36604, Mobile, AL, USA
Vor Aufregung zitternd schaute Quadro ein weiteres Mal über seine Schulter. Bedrohend ragte hinter ihm der mächtige Fels Dunamase in den stockfinsteren Himmel. Im Schein des dort oben lodernden Lagerfeuers schienen die Mauern und Türme der Befestigungsanlage ein Eigenleben zu bekommen. Dabei war es nicht die Ruine des im zwölften Jahrhundert gebauten Trutzwerks, die ihn ängstigte. Vielmehr war es die Gruppe von Gestalten, welche sich vor dem Feuer abzeichnete. Sie jagte ihm den einen eiskalten Schauer nach den anderen über den Rücken.
Quadro fasste sich an den Hals. Aus einem vier Zentimeter langen Schnitt quoll Blut hervor. Ungläubig betrachtete er seine feuchten Finger. Für das Empfinden von Schmerzen hatte er momentan keine Zeit, aber die an seinem Hals klaffende, sich riesig anfühlende Wunde, verursachte ihm Übelkeit.
Erst jetzt, Minuten nach der Flucht von dem zerklüfteten Fels, drang das unbekümmerte Summen von Dee an Quadros Ohren. Perplex schaute Quadro auf das vor ihm gehende sechsjährige Mädchen mit seinen langen, schwarzen Haaren. Das Kind schien merkwürdig unberührt von der Tatsache, dass es um halb zwei nachts über ein feuchtes Feld in der irischen Grafschaft Kilkenny lief. Auch das Messer, welches das Mädchen immer noch in der Hand hielt, tat seiner Laune keinen Abbruch. Ob sie ihn wirklich damit umgebracht hätte? Quadro entschied sich dagegen, weiter über diese Frage nachzudenken. Bei dem bloßen Gedanken an das eben Erlebte wurde ihm bereits wieder schlecht.
Sein rechter Fuß blieb an einer Erhebung im Ackerboden hängen. Auf sein leises Fluchen reagierend, drehte die vorneweg gehende Lenat sich zu ihm und ihrer Schwester um.
„Augen nach vorne!“, meinte sie. „Sie werden uns nicht folgen.“
Die junge Frau ähnelte ihrer kleinen Schwester so gut wie überhaupt nicht: Ihre Haare waren nicht schwarz, glatt und lang, sondern blond, gelockt und kurz geschnitten. Allein die unergründlichen grünen Augen hatten die beiden gemeinsam.
„Wohin gehen wir eigentlich?“, fragte Quadro leise, erneut einen Blick über die Schulter werfend. Nach wie vor wartete er auf den Moment, an dem die Gruppe oben auf der Burg plötzlich und unerwartet herunter stürmen würde, um ihm und vielleicht auch den beiden Schwestern doch noch den Kampf zu erklären.
„Du schläfst heute bei uns“, klärte Lenat ihn auf, ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen.
„Im Wohnwagen!“, fügte Dee hinzu. Sie grinste ihn an, stellte dafür sogar kurzzeitig ihr unbeschwertes Summen ein.
Alle hatten ihren Schritt verlangsamt und Quadros Unruhe wuchs angesichts des nun nur zögerlich wachsenden Abstands zu der Bedrohung. „Hauptsache weg von hier“, murmelte er.
„Weit weg von hier“, stimmte Lenat ihm zu. „Und da die Reise einige Zeit in Anspruch nehmen wird, schlage ich vor, dass du uns endlich ausführlich über deine Vergangenheit aufklärst! Darauf haben wir – denke ich – nun wohl ein Recht.“
Bevor er reagieren konnte, fügte sie hinzu: „Immerhin muss es ja einen Grund dafür geben, dass die da oben sich so für dich interessieren.“
„Mein zuvorkommendes Wesen?“ Der Scherz kam nur halbherzig über seine Lippen.
Lenat produzierte einen undefinierbaren Laut, der mit gutem Willen als Lachen durchgehen konnte. „Fang‘ einfach von vorne an … Vor ein paar Wochen, im Februar, richtig?“
Zu seiner Beruhigung beschleunige Lenat wieder und strebte weiter in Richtung eines kleinen, pferdegezogenen Wohnwagens, aus dessen Inneres ein heller Schein drang.
Ein letztes Mal wandte Quadro sich dem dunklen Umriss hinter sich zu, dann atmete er tief ein. Warum eigentlich nicht? Das Erzählen würde ihn ablenken.
„Alles fing ein paar Tage vor meinem 18. Geburtstag an“, begann er seine Geschichte. „Ich war damals fast 72 Jahre auf der Welt.“
Einen halben Meter hoch bedeckte Schnee die Häuserdächer, die Felder und die Wälder um das Dörfchen Nichlo. Einzig die Straßen waren frei geräumt worden – Gott sei Dank, denn Quadro war in zehn Minuten mit Thomas verabredet.
Während er hastig seinen Schal umlegte und die Jacke überstreifte, tauchte seine Großmutter im Flur auf. Sie hatte ihn die Treppe herunterkommen hören; in dem alten Bauernhaus ließ sich nicht die kleinste Bewegung verheimlichen.
„Wohin des Weges?“, fragte Margarete, ihren Enkel mit hochgezogener Augenbraue betrachtend.
Quadro grinste, als er sich zu seiner Oma umdrehte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Ihre fast 88 Lebensjahre waren der alten Dame anzusehen: Tiefe Falten durchzogen ihr Gesicht, welches von halblangen, glatten, grauen Haaren umrahmt wurde. Der von der Zeit gezeichnete Körper stand dabei im starken Kontrast zu der unbändigen Energie, mit der Margarete jeden ihrer Tage anging.
„Einfach nur raus. Ich brauche frische Luft. Du weißt doch, Jugendliche brauchen viel davon.“ Er suchte nach der richtigen Formulierung. „Für die gesunde Entwicklung und so …“
„Hrmpf!“, erwiderte seine Großmutter. „Witzbold … Ein Jugendlicher bist du nun wirklich nicht mehr.“
„Meinem Aussehen nach schon“, widersprach Quadro. Mit seinem bisher noch sehr spärlichen Bartwuchs und dem kurzen braunen Haar sah er trotz seines eigentlichen Alters aus wie jeder andere Teenager. „Ich gehe zu Thomas. Bis nachher!“
Er war bereits die drei Steinstufen vor der Haustür hinuntergestiegen, als seine Großmutter ihn zurückhielt. „Moment!“
Schlitternd kam Quadro zum Halt. Vorsichtig lief er die paar Meter über die vereisten Steinplatten zurück, bis er der in der Tür wartenden Margarete direkt gegenüberstand. Die tief im Gesicht liegenden und glasklaren Augen schauten ihn kritisch an. Ihre ausgeprägten Wangenknochen und die niedrige Stirn verliehen ihr einen Augenblick lang Ähnlichkeit mit einer Katze. Dann wurde der Blick weich, und sie legte ihm eine liebevolle Hand auf die Wange.
„Sei vorsichtig. Denk daran: Du bist etwas Besonderes …“
Quadro suchte nach einer passenden Antwort – und fand keine. Auf so eine Aussage konnte man nicht angemessen reagieren. Egal wie oft man sie hörte. Also nickte er einfach kurz, winkte, und machte sich auf den Weg. Den Hof rechts hinter sich lassend, folgte er dem Schotterweg in Richtung des Dorfes. Nach etwa hundert Meter mündete die Zufahrt in der Hauptverkehrsader von Nichlo – und bis dorthin würde er sich durch den Schnee kämpfen müssen. Denn Seiten- und Privatstraßen wurden durch die Gemeinde nicht geräumt.
Die Hände tief in den Taschen vergraben und die Schultern fast bis an die Ohren hochgezogen, hinterließ er tiefe Spuren im frischen Schnee. Seine Gedanken waren beim Hof, bei seiner Oma. Was war bloß mit Margarete los? In letzter Zeit war sie unnatürlich emotional – das sah ihr gar nicht ähnlich. Sie schien sich Sorgen zu machen. Um ihn. Und was sollte dieser Satz?
‚Denk daran: Du bist etwas Besonderes.‘
Jeden Tag wurde er neuerdings mit der Nase auf diese Tatsache gestoßen. Liebend gerne würde er ausnahmsweise mal nicht daran denken.
Quadro bog auf die Hauptstraße ein, welche einen langgezogenen Bogen nach Südwesten vollführte. Auf der von Schnee befreiten Straße kam er nun schneller voran. Mit dem Ortschild im Rücken – der Hof befand sich am äußersten nordöstlichen Rand von Nichlo – wechselte er die Straßenseite und bog in die nach Westen führende Lilienstraße ein, noch bevor er dem eigentlichen Kern des Dorfes nahe kam.
Das Problem mit dem ‚besonders sein‘ war doch, dass die meisten Menschen genau das zu sein glaubten. Auf ihre eigene Art und Weise. Und in einem begrenzten Rahmen stimmte das sogar. Aber der Großteil der Menschen war nun mal nur ein wenig besonders, nur ein wenig anders. Lediglich einige Wenige gab es, die sich wirklich in ihrer gesamten Ausprägung von allen anderen abhoben. Quadro wusste, dass er zu dieser kleinen Gruppe von Menschen gehörte. Wenn auch unverdient und ungewollt.
Erschrocken hielt er inne. Ein hallendes, unangenehmes Geräusch drang an seine Ohren. Ein in seinen fast 88 Jahren noch nie gehörter Laut. Und doch … Der Hauch einer alten Erinnerung, ein Echo in seinem Kopf. Er schaute um sich: Er war allein. Reine Einbildung, überzeugte er sich. Mit einem Kopfschütteln setzte er seinen Weg fort.
Auf sein Klingeln an dem Neubauhaus in der Lilienstraße 5 hin entwickelte sich ein lautes Rumoren hinter der Holztür. Dann gab es einen lauten Knall, und die Tür erzitterte.
Quadro wunderte sich nicht; er hatte diese Zeremonie schon öfter erlebt. Freundlich begrüßte er die zwei jüngsten Kinder der Wittkopfs, die beide den Gast unbedingt als erstes empfangen wollten.
„Hi …!“, krächzte Tim, während er versuchte, Quadro die Hand entgegen zu strecken. Dies gelang ihm nur teilweise, da sein ein Jahr älterer Bruder Tino ihn von hinten mit aller Macht umklammert hielt.
„Hallo, ihr beiden!“ Lächelnd trat Quadro an den Jungs vorbei in das helle und geräumige Haus.
„Gehen wir spielen?“, fragte Tino aufgeregt. Er rieb sich die schmerzende Hand, in der noch die Zahnabdrucke seines siebenjährigen Bruders zu sehen waren. Dieser rannte längst fröhlich und ziellos durch den Flur.
„Nein, er besucht euren Bruder!“, stellte der herbeigekommene Herr Wittkopf klar. Groß und untersetzt war er eine beeindruckende Gestalt. Mit gutmütigen Augen und gewinnendem Lächeln wandte er sich entschuldigend an den Besuch. „Ich habe die Klingel nicht gehört, aber dafür das Stampfen der beiden Zwerge. Thomas ist oben.“
„Nein …“, gesellte sich eine weitere Stimme dazu. „Thomas ist schon fast unten!“
Groß gewachsen und mit breiten Schultern kam der blonde Teenager die Treppe herunter. Thomas‘ Figur, zusammen mit den kurzen, blonden Haaren und den hellblauen Augen, gaben ihm das stereotype äußere Erscheinungsbild eines Nordländers. Auch seine beiden jüngeren Brüder besaßen diese Veranlagungen. Im Hinblick auf ihre Statur reichten sie jedoch mit ihren sieben und acht Jahren noch nicht an den 19 Jahre alten Thomas heran. Dieser überragte seinen Besucher um einen ganzen Kopf.
„Hi, mein Freund!“, begrüßte Thomas Quadro, während Tim und Tino ihre Aufmerksamkeit nun auf ihren Bruder richteten.
„Können wir was spielen?“, versuchte Tim sein Glück. Er zupfte an Thomas’ Hemd.
Herr Wittkopf lächelte und zog sich in die Ruhe des Wohnzimmers zurück.
„Muss ja nicht lange sein!“, unterstützte Tino seinen jüngsten Bruder, und griff sich den linken Arm des Ältesten. „Nur eine Stunde, oder so.“
Thomas reagierte nicht. Die Anwesenheit der beiden ignorierend, klärte er Quadro über seine Hausaufgaben auf: „Heute ist wieder Mathe dran. Und ein wenig Geschichte, aber das hat noch Zeit.“
„Bitte, bitte, bitte …“, bettelte Tim, kräftiger am Hemd ziehend.
„Danach können wir uns ja noch einen Film ansehen.“
„Bitte, bitte, bitte …“, fiel Tino in den Singsang mit ein.
„Vielleicht kommt Ellie nachher noch vorbei und schaut mit.“
„Bitte, bitte, bitte …“
„Aber wenn du … Nein!“, herrschte Thomas seine Brüder an. „Geht mir nicht auf die Nerven!“
Kurzentschlossen griff er nach seiner Jacke und seinen Schuhen. „Quadro, drehen wir erstmal eine Runde, um den Kopf frei zu kriegen!“ Er schüttelte den Kopf. „Hauptsache weg von den Zwergen!“
„Sind doch ganz okay, die beiden“, grinste Quadro, und fuhr Tino und Tim mit der Hand durch die Haare. Er mochte dieses Familienchaos. Seine eigenen Eltern hatte er nie kennen gelernt, Brüder und Schwestern hatte er nicht. Bei ihm auf dem Hof gab es nur ihn und Oma Margarete. Und das schon seit vielen Jahrzehnten.
„Tag für Tag für Tag für Tag …“, murmelte Thomas beim Zubinden seiner Schuhe. Dann holte er sich einen Apfel aus der Küche und nickte Quadro zu. „Gut, schnell raus hier …“
Er kam nur drei Schritte weit, bevor er innehielt und verdutzt seine beiden Brüder anschaute. Tim und Tino saßen auf dem Boden und zogen nun ihrerseits hektisch ihre Schuhe an. Zwei Mützen, zwei Schals und zwei Jacken lagen um die beiden Jungen auf dem Boden verstreut.
Thomas atmete, nach Beherrschung suchend, laut aus. Ungläubig schüttelte er dann den Kopf. „Was ist eigentlich euer Problem?“
Tino schaute nicht mal auf, aber Tim hob den Blick. „Problem? Wir haben kein Problem … Wir wollen nur raus. Wieso? Willst du uns das verbieten? Das kannst du nicht!“
„Stimmt“, erwiderte Thomas und öffnete die Haustür. „Aber ich muss auch nicht auf euch warten!“
Schnellen Schrittes eilten die beiden Freunde die Lilienstraße entlang. Thomas immer noch mit genervtem Gesichtsausdruck, Quadro amüsiert.
„Grins mal nicht so!“, sagte Thomas. „Du musst das nicht jeden Tag erleben!“
„Schade eigentlich …“
„Wir können gerne tauschen! Ich ziehe zu Oma Margarete und du zu uns. Mal sehen, wie lange dir das Ganze dann noch gefällt!“
Hin und wieder hätte Quadro alles für einen solchen Tausch gegeben. Zwei Geschwister und beide Eltern! Was konnte man sich mehr wünschen?
„Übrigens, wo wir schon bei meinen Brüdern sind …“, sagte Thomas, plötzlich leise werdend. „Tino hat wieder nach deinem Alter gefragt.“ Thomas bedachte seinen Freund mit einem schnellen Seitenblick, bevor er fortfuhr: „Er wird ja langsam älter. Und nun ist ihm aufgefallen, dass du dich fast gar nicht änderst. Er hat im Fotoalbum ein Foto von dir und ihm gefunden. Da war er drei … Ich musste zugeben, dass du auf dem fünf Jahre alten Foto fast wie heute aussiehst. Wie siebzehn oder achtzehn.“
„Ist doch ganz einfach …“, begann Quadro, doch Thomas winkte bereits ab.
„Das mit deiner Krankheit, ich weiß. Aber nicht mal ich kann behalten, wie sie heißt … Du solltest ihm das vielleicht selbst erklären.“
Quadro nickte. Im Erzählen dieser speziellen Lüge hatte er Übung.
Die Lilienstraße verlief in einem 90 Grad Winkel und mündete an beiden Enden in die Hauptstraße, welche gleichzeitig die Durchgangsstraße von Nichlo darstellte. Mit dem Überqueren der Straße nach Süden erreichten sie die Kirche und damit das Zentrum des Zehntausend-Einwohner-Dorfes. Um den kleinen Sakralbau herum befand sich eine Grünfläche und im Rücken des Gotteshauses schloss sich die kurze Einkaufsstraße an. Eine Fußgängerzone, die Dorfbewohner jeglichen Alters anlockte. Fast alle, die Zeit totzuschlagen hatten, trafen sich am Nachmittag auf der einzigen Straße im Dorf, die zumindest eine kleine Auswahl an Geschäften aufzuweisen hatte.
„Das Problem ist …“, überlegte Quadro. „… dass sie die medizinischen Hintergründe der Krankheit nicht verstehen würden. Sie spielt für die beiden wohl auch keine Rolle. Eigentlich lässt sich der Sachverhalt für Kinder relativ einfach darstellen: Ich bin mittlerweile fast 72 Jahre alt und sehe trotzdem aus, wie ein Siebzehn- oder Achtzehnjähriger. Damit entspricht mein Äußeres in etwa der Anzahl an Schaltjahren. Einen 29. Februar gibt es nur alle vier Jahre. Somit hatte ich bisher auch nur siebzehn richtige Geburtstage.“ Er sah Thomas lächelnd an. „Einleuchtend, oder?“
„Hey, das ist eine gute Erklärung“, meinte Thomas anerkennend.
„Zumindest für Kinder“, gab Quadro zu. „Erwachsene stolpern über die Sache mit den Schaltjahren. “
„So oder so hast du Glück, denn du hast mehr von der Jugend!“
„Glück …“ Quadro schnaubte. „Wenn man es denn Glück nennen kann, dass ich ein Leben lang der Außenseiter bin!“
Thomas grüßte einen Bekannten aus der Schule. Erstaunt stellte Quadro fest, dass er sich ohne weiteres nicht daran erinnern konnte, wann er das letzte Mal einen Klassenkameraden gehabt hatte. Das musste so um die 40 Jahre her sein.
„Du immer mit deinem Außenseiter!“, beschwerte sich Thomas. „Du hast doch mich!“
„Sicher … Aber ich hatte schon viele Freunde. Sie wurden älter, und schließlich wuchsen wir auseinander.“
Thomas schüttelte überzeugt den Kopf, was ihn trotz seiner Größe wie ein kleines Kind aussehen ließ. „Bei uns wird das nicht so sein.“
„Thomas, ich habe vor deinem Vater Abitur gemacht!“
Eigentlich hatte Quadro schon fast mit jedem aus dem Dorf mal zu tun gehabt. Früher oder später holten sie ihn alle ein, während er ein Kind blieb und nur ganz langsam zum Erwachsenen reifte. Zwar waren alle freundlich zu ihm – alle akzeptierten ihn –, aber echte Freundschaften? Damit tat er sich schwierig.
„Eine Runde Billard?“, unterbrach Thomas Quadros Gedankengang. Er nickte in Richtung einer der zwei Dorfkneipen. Diese befand sich direkt neben einer kleinen Kirche aus Holz und Backsteinen; abgesehen von dem zweihundert Jahre alten Rathaus und der Hauptkirche im Zentrum gab es kein höheres Gebäude im Dorf.
„Gleich“, erwiderte Quadro. „Ich will vorher schnell bei Marius vorbei, um ein paar Bücher abzuholen.“
Thomas stöhnte und verlangsamte sein Tempo. „Bitte nicht! Nicht Marius Wellkannte! Das kann ich mir jetzt echt nicht antun …“
Quadro klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Du als großer und starker Mann hast Angst vor dem gebrechlichen alten Marius?“ Er drängte Thomas weiter. „Sei nicht so eine Mimose. Er hat nichts gegen dich!“
Zweifelnd blickte Thomas von Quadro zum Buchladen, direkt neben der Kneipe. Auf dem großen, aus Holz gefertigten Aushängeschild stand in zierlichen Lettern geschrieben:
Antiquariat Wellkannte
Kompetente Literaturbeschaffung
„Er hält mich nur für das Dümmste, was hier im Dorf auf zwei Beinen geht.“
„Nur in deiner Altersgruppe!“, fügte Quadro grinsend hinzu. „Außerdem hat er dich nicht dumm genannt, sondern ungebildet.“
„Noch schlimmer“, murmelte Thomas. „Für Dummheit kann man nichts, für fehlende Bildung dagegen sehr wohl.“
„Deswegen helfe ich dir mit deinen Schulaufgaben“, erwiderte Quadro. „Das war doch ein guter Vorschlag des alten Marius.“
„Siehst du! Da hast du einen Vorteil!“ Thomas blieb erneut stehen. Er schien froh, sein Schicksal noch einen Moment länger herauszögern zu können. „Dadurch, dass du langsamer alt wirst, hast du nie Probleme in der Schule gehabt. Und sportlich hast du auch unendlich viel drauf!“
Quadro wusste, dass Thomas ihn wegen seines Wissens und sportlichen Könnens beneidete. Dem stand jedoch gegenüber, dass Quadro ab und zu lieber wie Thomas wäre: beliebt, witzig und immer gut gelaunt. Zumindest so lange seine Brüder nicht in der Nähe waren.
„Meine Oma lässt mir ja auch keine Minute Ruhe“, klagte Quadro. „Wenn ich mir überlege, was ich in den letzten Jahrzehnten nicht alles lernen musste! Lexika, Regale voller Mathematik, Geschichte, Kunst, Medizin und Geografie. Von meinen täglichen Kraft- und Judo-Übungen mal ganz abgesehen. Zusätzlich noch …“
Mit einem erschrockenem Gesichtsausdruck hielt Quadro inne und schaute suchend um sich.
„Komisch …“, murmelte er. „Hast du das auch gehört? Dieses merkwürdige Geräusch … Ein Wort … Ich bin mir nicht sicher.“
„Ein Geräusch?“ Thomas schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Es war fast, als ob es in mir war …“, überlegte Quadro laut. „Wie ein Echo.“ Ein Echo, das nur in seinem Kopf und Körper existierte. „Zamran Hami“, murmelte er. Was konnte das bedeuten? Und wie war es in seinen Kopf gelangt?
„Alles in Ordnung?“
„Ja, sicher“, riss Quadro sich zusammen. Ein letzter Blick, ein abschließender Gedanke, dann verdrängte er seine Beunruhigung. „War wohl Einbildung …“
Eine Glocke klingelte hell, als Quadro die schwere Eichentür aufdrückte. Durch einen engen Flur erreichten sie die nächste Tür – nicht weniger massiv als die erste –, die in den eigentlichen Laden führte. Auch wenn dieser nur schwer als ein solcher zu identifizieren war, denn er bildete gleichzeitig das Wohnzimmer von dem Ehepaar Marius und Maria Wellkannte.
Einzig der Herr des Hauses hielt sich in dem nur spärlich von einem einzigen breiten Fenster beleuchteten Raum auf, als Quadro, dicht gefolgt von Thomas, den Laden betrat. An allen vier Wänden befanden sich dunkelbraune Holzregale, die vom Boden bis unter die Decke reichten. Dazu waren einige freistehenden Regalreihen im hinteren Teil des Raums positioniert. Insgesamt kamen mehrere hundert Meter Stellfläche zusammen. Und trotzdem stapelten sich überall die Bücher: auf dem Boden, auf der Couch und auf dem Schreibtisch, hinter dem Marius Wellkannte saß.
„Guten Tag, Quadro. Hast du es doch noch geschafft.“ Marius Wellkanntes Stimme zeugte von seinem Alter, war jedoch fest, schnörkellos und gebieterisch. Fast schon asketisch, wie auch sein dünner, mit der Zeit aber etwas gekrümmter Körper. Das immer gleiche braune Jackett hing ihm von den schmalen Schultern. Vermutlich besaß er einen ganzen Schrank voller identischer Kleidungsstücke.
„Hi, Marius! Wollte nur schnell die bestellten Bücher abholen … Hast du sie bekommen?“
Nur für einen kleinen Moment – als Quadro hineingekommen war – hatte Marius den Blick von dem vor ihm geöffneten Buch gehoben. Längst flogen die alterstrüben Augen wieder über die dichtgedrängten Zeilen, was den alten Mann nicht davon abhielt, auf Quadros Frage zu antworten:
„Wann habe ich denn bisher versagt, ein Buch zu beschaffen?“
Die Antwort auf diese Frage war schlicht und einfach: nie. Eine rhetorische Frage und Quadro machte sich somit nicht die Mühe, sie zu beantworten.
Marius’ linke Hand hob sich vom Schreibtisch und ein leicht bebender Finger zeigte auf die Couch. Neugierig lief Quadro in die angedeutete Richtung, um seine neuen Bücher zu begutachten. Hier, direkt vor dem Fenster, von dem allerdings aufgrund der dahinter ausgestellten Bücher nur ein Teil des Lichtes hinein drang, war es am hellsten.
Interessiert sah Quadro die Titel durch und blätterte hier und da in einem der Bücher, bis ein Geräusch ihn innehalten ließ.
Thomas hatte sich bisher im Hintergrund gehalten, war ihm in Marius‘ Gegenwart doch offensichtlich unwohl. Umso ärgerlicher war es, dass er aus Unachtsamkeit gegen einen Stapel Bücher gelaufen war, der nun laut zu Boden fiel.
Ohne aufzusehen, kommentierte Marius diesen Vorfall in gewohnt schneidender Art von seinem Schreibtisch aus: „Haben Sie sogar Probleme mit dem Laufen, Herr Wittkopf? Sie sollten sich mehr Mühe geben, um mein nicht besonders positives Bild von Ihnen nicht weiter zu festigen.“
Ungelenk bückte Thomas sich, um die Bücher wieder aufzuschichten. Sein rechter Ellenbogen stieß dabei einen zweiten Stapel um. Sein grober Körper schien zwischen den delikaten Büchern merkwürdig fehl am Platz. Leise fluchend brachte er das von ihm verursachte Durcheinander in Ordnung.
„Mach dir nichts draus, das kommt vor“, meinte Quadro, als er seinem Freund eines des herunter gefallenen Bücher reichte.
„Aber bei den einen öfter, als bei den anderen“, murmelte Wellkannte leise, und dennoch für alle hörbar.
Kurz sah es so aus, als ob Thomas auf diese Provokation reagieren wollte, doch er hielt sich mit sichtbarer Kraftanstrengung zurück. Leise sagte er zu Quadro: „Ich gehe vor. Kannst ja nachkommen, sobald du hier fertig bist.“
Quadro nickte schweigend.
Nicht so Marius Wellkannte, der ihn mit einem weiteren bissigen Kommentar verabschiedete: „Seien Sie bitte vorsichtig beim Rausgehen. Ihr Aktionsradius ist beunruhigend groß.“
Ohne ein weiteres Wort verließ Thomas den Laden.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, landeten Quadros Bücher schwungvoll auf Wellkanntes Schreibtisch.
„Warum musst du ihn eigentlich immer so triezen?“ Trotz eines Alters jenseits der 80, legte Marius eine kindliche Streitlust an den Tag, die Quadro einfach nicht nachvollziehen konnte.
Fragend hob der Antiquar seinen Blick. Der dünne, zerbrechlich wirkende Körper vermochte nicht über die in seinen Augen sichtbare innere Stärke hinweg zu täuschen. „Das kann er ab.“
Damit senkte er wieder seinen Blick.
Quadro seufzte. „Das bezweifle ich auch gar nicht. Aber er versucht wirklich, zu lernen. Wissen aufzubauen. Du solltest ihm bei Gelegenheit ein oder zwei Bücher geben. Er würde sie bestimmt lesen.“
Wellkanntes Augen rasten bereits wieder über die Buchseiten. „Du weißt, dass ich keine normalen Bücher, keine Belletristik besorge. Nur alte und ohne meine Hilfe unauffindbare Bücher sind mein Metier. Wenn er ein Stundenbuch aus dem sechzehnten Jahrhundert, oder eine handschriftliche Abhandlung zu den von da Vinci gezeichneten Körperteilen haben will, dann kann er sich gerne melden.“
Noch wollte Quadro sich nicht geschlagen geben. „Mir besorgst du doch auch normale Bücher!“
Der alte Stuhl beklagte sich mit einem lauten Ächzen, als Marius Wellkannte sich darin zurücklehnte und dem Jungen nun zum ersten Mal seine ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen ließ. „Quadro, du bist eine Ausnahme. Du als Person bist eine Ausnahme. Wenn die Zeit reif ist, wirst du nicht mehr die üblichen, relativ einfach zugänglichen Bücher von mir verlangen. Deine Ansprüche und Wünsche werden wachsen, und ich werde da sein, sie dir zu erfüllen. Ich bin eine Art Buchdetektiv. Ein Archäologe, sozusagen. Aber kein Lehrer, der unbegabten Schülern wie Thomas triviale Romane in die Hand drückt.“
Gerade wollte Quadro zu einer Erwiderung ansetzen, als er wie von einer Kugel getroffen zusammensackte. Schmerzen zogen durch seinen Körper. Mit einem Aufschrei knickten ihm die Beine weg; sein Kopf rauschte mit nur wenigen Zentimetern Entfernung an der harten Tischplatte vorbei.
Zwei Wörter hallten durch seinen Schädel, als er auf dem Boden aufschlug: ‚Quasb Monons‘! Sie durchdrangen ihn wie eine alles vernichtende Druckwelle und verursachten Übelkeit. Mitleid. Und Abscheu. Tiefe Abscheu, vor demjenigen, der diese Worte ausgesprochen hatte.
Es vergingen nur wenige Sekunden, bis die Schmerzen so plötzlich verschwanden, wie sie gekommen waren.
Marius umrundete seinen Schreibtisch, während durch eine aufgerissene Tür Maria Wellkannte den Raum betrat.
„Alles in Ordnung, Quadro?“ Tiefe Besorgnis schwang in der Stimme des Antiquars mit.
„Kind, was machst du nur für Sachen!“, rief Maria. Sie war das genaue Gegenteil ihres dünnen Mannes: Einer dicken Ente gleich watschelte sie auf den Jungen zu.
„Ja … Nichts … Geht schon wieder“, erwiderte Quadro benommen. Langsam richtete er sich auf. „Mir war nur plötzlich schwarz vor Augen. Ich hörte … irgendetwas. In meinem Kopf.“
Er bemerkte, wie das Ehepaar einen besorgten Blick wechselte.
„Was hast du denn gehört?“, erkundigte sich Marius.
Quasb Monons, schoss es Quadro durch den Kopf. Einem unbestimmten Gefühl folgend, enthielt er ihnen diese Information jedoch vor. „Ich weiß es nicht.“
„Am besten gehst du nach Hause, und erzählst deiner Oma von der Sache“, schlug Marius mit unsicherer Stimme vor. Immer wieder tauschte der alte Mann Blicke mit seiner Frau. Als er sah, dass Quadro dies bemerkt hatte, lächelte er schuldbewusst.
Quasb Monons
„Los, mein Junge …“ Marius knetete Quadros rechte Schulter – erstaunlich kraftvoll für seine knochigen Hände. „Deine Oma hilft dir. Sie weiß Bescheid. Sie kennt sich aus mit solchen Vorkommnissen.“
„Solchen Vorkommnissen?“ Quadro wurde hellhörig. „Was für Vorkommnisse?“
Maria übernahm die Antwort: „Marius meint, dass deine Oma Margarete eine Ärztin ist. Zu wem sonst solltest du in diesem Ort wohl gehen?“ Sie beantwortete sich die Frage selbst, bevor einer der beiden Männer dazu kam: „Na gut, außer vielleicht zu dem Herrn Doktor Doelder.“ Sie lächelte verhalten. „Aber deine Oma ist besser.“
Ihr Gesicht war ermunternd, doch in ihren Augen glaubte Quadro Unruhe – und Angst? – zu erkennen. Warum? Quasb Monons. Hatte es damit zu tun?
Die rundliche Frau eilte aus dem Zimmer und kehrte nur Sekunden später mit einem Glas Wasser zurück. Sie reichte es dem mittlerweile auf dem Sofa sitzenden Quadro. Um sie zu beruhigen nahm er ein paar Schlucke, und stand dann auf.
„Ich sollte gehen. Thomas wartet auf mich. Und mir geht es schon wieder ganz gut.“
„Sicher …“ Frau Wellkannte fuhr dem jungen Mann durch die Haare. Ihr von grauen Locken umrahmtes Gesicht strahlte Sorge und Wärme gleichermaßen aus. Aufgrund ihres Übergewichts war ihre Haut für ihre knapp 70 Lebensjahre noch erstaunlich glatt. „Aber erzähle deiner Oma davon, okay? Nicht vergessen!“
„Klar. Und danke für das Wasser.“
Quadro nahm sich die Bücher – eines davon hatte er mit zu Boden gerissen – und verabschiedete sich von dem Ehepaar.
Quasb Monons. Hatten diese Worte eine Bedeutung, oder hatte er sie sich nur eingebildet? Und woher waren diese Schmerzen gekommen? Vielleicht sollte er wirklich sofort nach Hause gehen, um seiner Oma von dem Vorfall zu berichten. Vielleicht war er krank? Er verwarf diese Möglichkeit. Ohne erklären zu können, warum, wusste er, dass ihm keine gesundheitliche Gefahr drohte. Darüber hinaus wollte er Thomas nicht enttäuschen.
Quadro schloss die Tür zum Haus der Wellkanntes, tat die ersten Schritte auf die Hauptstraße – und blieb stehen.
Mehrere Personen hatten sich vor dem Café auf der anderen Straßenseite versammelt. Quadro konnte nicht erkennen, was der genaue Grund für die Zusammenkunft war, aber offensichtlich standen sie um einen Gegenstand – oder einen Menschen? –, der sich in ihrer Mitte befand. Zaghaft kam Quadro näher, als von hinten jemand an ihm vorbeieilte.
„Entschuldigung, Leute! Lasst mich durch!“
Es war Dr. Doelder. Ein drahtiger Mann, kurz vor der Pensionierung, für den sich der Kreis träge öffnete. Einen Augenblick lang konnte Quadro eine liegende Person in der Mitte der Menschenmenge ausmachen, bevor sich die Gruppe hinter dem Arzt wieder schloss.
Quadro kämpfte gegen seine Neugierde, und ging langsam weiter, die aufgebracht diskutierenden Menschen beobachtend. Zwar hätte er gerne gewusst, was dort vor sich ging, aber es widerstrebte ihm, sich in die Ränge der Schaulustigen einzureihen.
Der Blick des Jungen schweifte über die Menge. Das Dorfleben war erstaunlich: Fast jeden Einzelnen kannte er. Nur hier und dort entdeckte er ein unbekanntes Gesicht. Quadros Augen blieben für einen Moment an einem hochgewachsenen Mann hängen. Ende zwanzig, mit einem weiten, schwarzen Mantel und düsterem Blick. Der Mann strahlte … etwas aus. Automatisch, ohne darüber nachzudenken, verlangsamte Quadro seinen Schritt. Seine Beine schienen sich gegen ein höheres Tempo zu wehren; es war, als ob sie plötzlich durch Wasser wateten. Wie hypnotisiert starrte er den Mann an, den er bisher noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Alle Geräusche um ihn herum schienen leiser zu werden, nur diese eine Person war noch wichtig. Diese Person und zwei Worte. Quadro hatte den Begriff heute bereits gehört, und bevor er sich dessen Bewusst wurde, hatte er ihn bereits ausgesprochen. Aus seinem Inneren suchten sich die Worte ihren Weg zu seiner Zunge:
„Zamran Hami!“
Erschrocken riss Quadro die Augen auf. Die Luft vor ihm schien plötzlich aus etwas Greifbarem zu bestehen. Von seinem Mund aus eilten die Worte als sichtbare Verzerrungen der Luft von ihm fort und reflektierten das Licht. Der Anblick erinnerte Quadro an die Lichtbrechung in der heißen, flimmernden Luft oberhalb einer Flamme, doch es handelte sich um ebenmäßige Wellen, die in Richtung Menschenansammlung strebten. Wie ein Fächer wuchs die Schwingung rasant in die Breite, um Sekundenbruchteile später in einer weitläufigen Front auf die Schaulustigen zu treffen.
Quadro verharrte. Erstaunt schaute er auf dieses erschreckende und dennoch faszinierende Schauspiel, welches vor seinen Augen wie in Zeitlupe ablief. Die Wellen durchliefen die Menschengruppe; gleichzeitig begann jede einzelne Person zu leuchten. Ein schwaches Leuchten, doch deutlich sichtbar. In der Kopfmitte war bei allen ein Lichtpunkt zu erkennen, der den ganzen Körper in diffuses Licht tauchte.
Bei fast allen.
Der Mann im langen Mantel war eine Ausnahme. Er leuchtete nicht auf; er blieb vollständig schwarz. Als ob er sich in einem hell beleuchteten Raum im einzig vorhandenen Schatten aufhielt. Fast kam es Quadro so vor, als ob alles Licht in der Umgebung dieses Menschen von ihm geschluckt wurde. Er war wie ein Abfluss, in den das Licht wie Wasser floss – und verschwand.
Trotz der verlangsamten Wahrnehmung war der Spuk vorbei, ehe Quadro in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Welle war durch die Gruppe hindurch gewandert, das Leuchten war verschwunden, und alles schien wie vorher. Vermutlich hatte der Vorgang weniger als eine Sekunde in Anspruch genommen.
Immer noch starrte Quadro auf den dunkel bekleideten Mann. Dieser blickte weiter in die Mitte des Kreises; genauso wie alle anderen. Niemand schien sich für Quadro zu interessieren. Keiner hatte etwas bemerkt.
Langsam ging Quadro weiter, verwirrt über das, was er gerade gesehen und gehört hatte.
Zamran Hami. Es waren dieselben Worte gewesen, die er vorhin vernommen hatten, noch bevor er Marius‘ Laden betreten hatte. Warum konnte er diese Schallwellen sehen? Waren es überhaupt Schallwellen?
Tief in Gedanken versunken erreichte er die Lilienstraße. Das Geräusch von plötzlich aufheulenden Sirenen ließ ihn umdrehen.
Der herbeigerufene Krankenwagen hielt neben dem liegenden Menschen an, gerade deckte Doktor Doelder ihn mit einem Tuch ab.
Ein kalter Schauer durchlief Quadro.
Eine Person war gestorben. Und alle starten die Form unter dem Tuch an.
Fast alle.
Von einer inneren Macht gezwungen, verlagerte Quadro seinen Blick auf den Rand der Menschenansammlung. Eine einzige Person hatte sich von der Leiche abgewandt: Der Mann im schwarzen Mantel. Unverwandt schaute er Quadro an.
Bestimmt alles nur Einbildung!
Quadro gab sich alle Mühe, seinem Gehirn die Schuld zu geben. Die Kopfschmerzen? Die Worte und die Schallwellen? Der schwarz gekleidete Mann? Alles Hirngespinste!
Was sonst?
Dennoch überzeugte er sich ständig davon, dass niemand ihm folgte.
Erst auf halbem Wege zum Hof realisierte er, dass er eigentlich Thomas treffen sollte. Die Hausaufgaben warteten auf sie.
Anstatt umzukehren, rief Quadro seinen Freund an, entschuldigte sich und verabredete sich auf später. Das Haus der Wittkopfs war ihm gerade zu chaotisch. Er wollte allein mit seinen Gedanken sein – auch wenn er das laute Durcheinander von Thomas‘ Familie normalerweise genoss. Nie herrschte dort Ruhe, immer geschah irgendetwas. Mit diesem an sich fröhlichen Gedanken erfasste Quadro gleichzeitig ein wenig Wehmut. Die einzige Familie, die ihm geblieben war, bestand aus seiner Oma. Seine Eltern hatte er nie kennengelernt – und konnte ihnen nur an einem Ort nahe sein. Einem Ort, der ruhig und besonnen war und den er nun aufsuchte.
Zwischen den Bäumen konnte Quadro bereits das Schimmern des Libellensees erkennen. Jeden Tag kam er über den Waldweg an das östlich von Nichlo gelegene, ruhige Gewässer. Oma Margarete war vor über 71 Jahren – Quadro war damals fast ein Jahr alt gewesen – dem letzten Wunsch seiner Eltern nachgekommen, und hatte nach deren tödlichen Autounfall die Asche der beiden in den See gestreut. Seitdem hatten Großmutter und Enkel Winzler in mehreren Dörfern und Kleinstädten gelebt, immer wieder auch in Nichlo. Erst vor zehn Jahren waren sie endgültig in Quadros Geburtsort zurückgekehrt. Eine Zurückkehr an den See mit der Asche seiner Eltern.
Es gab somit keinen Grabstein, den Quadro besuchen konnte. Lediglich den fußballfeldgroßen See, der fast immer verlassen dalag. Den meisten Dorfbewohnern war die zwei Kilometer lange Wanderung über einen überwucherten Pfad zu beschwerlich, beziehungsweise das Ziel nicht interessant genug. Nur ein paar Frösche (und im Sommer unzählige Insekten) leisteten Quadro hier Gesellschaft. Nach all den Jahren war der See zu seinem privaten Zufluchtsort geworden. Der Platz, an dem er in Ruhe nachdenken und seinen Eltern nahe sein konnte.
Quadro fegte den Schnee von der einsamen und stark verwitternden Parkbank und setzte sich auf die kalten Bretter.
Er kam nicht einmal dazu, aufzuspringen, als erneut eine Welle des Schmerzes ihn überraschte.
„Quasb Monons!“
Er verlor das Bewusstsein.
Ihm war kalt. Wirklich kalt. Und jemand oder etwas bewegte seinen Kopf.
Langsam öffnete Quadro die Augen. Die Sonne war fast untergegangen; er konnte es an dem in rötliches Licht getauchten Schnee erkennen. Die Sonne selbst sah er nicht, sein Blickfeld wurde von einem weißen Gegenstand eingeschränkt. Und es handelte sich dabei eindeutig nicht um Schnee.
Langsam bewegte Quadro seinen Kopf nach hinten, weg von dem Sichthindernis. Erleichtert, aber auch überrascht, stellte er fest, dass es sich um ein Kaninchen handelte. Es war fast komplett weiß, nur die beiden schwarzen Streifen im Fell und die dunklen Augen hoben das Tier vom Schnee ab. Interessiert und erstaunlich zutraulich beobachtete das Tier den jungen Mann.
Quadro stand auf und setzte sich mit steifen, schmerzenden Gliedern auf die Bank. Sie waren allein.
Das Kaninchen hoppelte näher und schaute zu ihm hoch.
„Danke …“, murmelte Quadro, kurz von einem Zittern erfasst. Ohne die ihn weckende Berührung des Tieres hätte er hier vielleicht noch Stunden gelegen – und wäre unter Umständen erfroren.
Ihm fehlte anscheinend nichts, nur die Kälte machte ihm zu schaffen. Mit steifen und geröteten Händen schlug er sich den Schnee von Jacke und Hose. Das Kaninchen saß weiterhin abwartend zu seinen Füßen. Die dunklen Augen auf ihn gerichtet, die Ohren schlapp herabhängend.
Vorsichtig berührte Quadro das weiche Rückenfell. Sofort legte sich das Kaninchen flach in den Schnee.
Quadro entfuhr ein Lachen. „Ein Genießer!“
Das Tier bewegte sich nicht, nur ein leises Zähneknirschen war zu hören. Quadro wertete dies als positives Zeichen und ging in die Hocke, um hinter den Schlappohren zu kraulen. In dieser Position verharrend – und die damit verbundenen Schmerzen ignorierend –, versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Die ihn am stärksten beschäftigende Frage war die nach der Bedeutung der Worte Quasb Monons. Sie schienen aus keiner ihm bekannten Sprache zu stammen.
Er richtete sich auf, stöhnte angesichts der Schmerzen in Knien und Rücken. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig fühlte er sich mitgenommen. Er sehnte sich nach einem warmen Zuhause. Außerdem wurde es langsam dunkel.
„Ich muss los“, teilte er dem Tier mit. „Danke. Vielleicht … Vielleicht bis zum nächsten Mal.“
Glücklicherweise sah niemand, dass er mit einem Kaninchen sprach. Dass die Dorfbewohner ihn als psychisch krank ansahen, fehlte ihm gerade noch.
Nachdenklich ging Quadro den Pfad zwischen den blattlosen Sträuchern entlang. Noch bevor der Wald die Sicht auf den See versperrte, drehte er sich ein letztes Mal um. Erstaunt stellte er fest, dass das Kaninchen ihm folgte. Die Achseln zuckend, ging er weiter. Spätestens an der Haustür würde das Tier seine Verfolgung aufgeben.
„Was bringst du denn da mit?“, rief Oma Margarete ihm von weitem zu, als Quadro mit dem Kaninchen im Schlepptau auf den Hof einbog. „Unser Abendessen?“
Hinter ihr brannte Licht in dem alten Gemäuer. Der Himmel hatte längst eine dunkelblaue Farbe angenommen, die sich nur noch schwer von Schwarz unterscheiden ließ.
Quadro grinste. „Vielleicht sorgt dieser Vorschlag dafür, dass es seine Verfolgung aufgibt.“
Kurz schien es, dass Margarete zögerte, dann lief sie auf ihren Enkel zu – und an ihm vorbei.
„Dachte ich‘s mir doch!“, murmelte sie, während sie dem Tier in die Augen sah. „Die Dinge beschleunigen sich.“
Verwundert schaute Quadro auf seine in die Hocke gehende Oma. Der Saum ihres dicken Kleides lag im Schnee, ihre grauen, halblangen Haare wehten im Wind, flatterten um ihr Gesicht. Für einen Moment glich sie der Inkarnation einer wilden nordischen Gottheit und Quadro verspürte das unangenehme Gefühl, sie überhaupt nicht zu kennen.
„Oma …?“
Fast augenblicklich stand Margarete auf und räusperte sich. „Ich wollte nur kurz sicher gehen …“
„Sicher gehen?“
Seine Oma hatte bereits wieder ihre alltägliche, undurchdringbare Miene aufgesetzt. Die Hände im Schoss gefaltet, bedachte sie ihren Enkel mit einem kurzen Blick, und ging dann zurück ins Haus. „Ich glaube, dass ich dieses Tier schon mal gesehen habe. Früher.“
Quadro schaute verwundert auf das Kaninchen, welches immer noch im Schnee saß und ihn geduldig anschaute. „Dann ist es uns mal entwischt? Ich tue es am besten zu den anderen in die Scheune.“
„Nein!“ Margarete hatte sich mit Schwung umgedreht. In beherrschten Tonfall fuhr sie fort. „Nein … Wir haben noch einen tragbaren Käfig in der Scheune. Hole ihn und stelle ihn in deinem Zimmer auf. Es ist übrigens ein Weibchen. Und sie ist sehr alt.“
Damit ging sie ins Haus, und ließ Quadro verwirrt zurück.
Mit dem alten Plastikkäfig, etwas Stroh und Kaninchenfutter aus der Scheune beladen, betrat Quadro sein Zimmer im ersten Stock des alten Bauernhofes. Neben dem Bett und einem Schreibtisch gab es nur zwei größere Gegenstände in dem Raum: Den Bücher- und den Kleiderschrank.
Und nun den Käfig.
Mit einem Lappen rieb Quadro die Tierbehausung sauber und nahm Stroh aus dem Jutesack.
„Komisches Tier!“, murmelte er. „Folgst mir einfach, sogar die Treppe hinauf. Ob dich jemand vermisst? Du bist offensichtlich zahm.“
Quadro verteilte die erste Handvoll Stroh im Käfig, als plötzlich der Kopf des Kaninchens über dem Rand der Plastikschale erschien. Es ließ ein paar Strohhalme fallen, anscheinend aus dem Jutesack hervorgezerrt.
Perplex schaute Quadro auf das Kaninchen, welches seinen Blick kurz erwiderte, und dann mit zwei Hopsern zurück zum Jutesack eilte, wo es neues Stroh einsammelte.
„Okay …“ Quadro strich sich durch die Haare. Er ging einen Schritt zur Seite und sah seinem neuen Haustier zu, wie es langsam, aber sicher den Käfig mit Stroh füllte. Dann – er wollte gerade eingreifen, da der Käfig ausreichend belegt war – hielt das Kaninchen inne, und schaute ihn abwartend an.
„Danke“, sagte er mit gerunzelter Stirn. Langsam ging er in die Knie, und blickte dem Tier in die tiefbraunen Augen. „Bist du wirklich so schlau, oder bilde ich mir das nur ein?“
Das Kaninchen erwiderte seinen Blick, dann hob es die rechte Pfote, und riss – ohne die Augen von Quadro zu nehmen – mit einer Klaue die neben sich stehende Futtertüte auf. Nach einer kurzen dramatischen Pause drehte es sich um und fing an zu fressen.
Verdutzt setzte Quadro sich auf das Bett und schaute dem Tier zu. Drehte er langsam durch? Oder träumte er vielleicht noch? War dieser ganze Tag nur ein böser Traum? Das würde einiges erklären!
Kurzentschlossen schlug er mit dem Handrücken auf den Holzpfosten seines Bettes.
„Au!“, fluchte er leise. Die Schmerzen waren echt. Eindeutig kein Traum!
Er schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte er auch einen zu geringen Blutdruck und er halluzinierte. Das würde auch erklären, warum er heute gleich zwei Mal in Ohnmacht gefallen war.
Quadro stand auf, setzte den Gitterkäfig auf die Plastikschale – damit war die entriegelte Gittertür die einzig verbleibende Öffnung – und setzte sich neben das Kaninchen auf den Boden.
Es hörte zu fressen auf und schaute ihn abwartend an.
Ihn beschlich das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Als ob das Tier Unterhaltung erwarte.
„Wie sollen wir dich denn nennen?“
Die Frage war gestellt, ohne eine Antwort zu erwarten. Und doch … Hatte das Tier nicht gerade mit den Schultern gezuckt? Quadro konnte schwören, dass dies der Fall gewesen war.
„Nennen wir dich Blanche …“, schlug er vor. „Nach dem französischen Wort für ‚weiß‘.“
Dieses Mal war sich Quadro sicher: Das Tier hatte genickt. Dann sprang es in den Käfig, streckte den Kopf wieder heraus und zog die Gittertür mit der Schnauze zu.
„Da hat dich aber jemand super abgerichtet!“, staunte Quadro. Dann lachte er. „Reden kannst du wohl auch noch?“
Blanche zögerte keinen Moment. Kurzentschlossen drückte sie die Gittertür wieder auf, hoppelte zum Schreibtisch und über den Stuhl auf ihn hinauf. Dort knabberte sie an einem Bleistift, bis sie ihn im Maul hatte, und führte ihn dann über einen Briefumschlag. Als sie sich wieder zu Quadro umdrehte, hatte sie das Stück Papier im Maul. Darauf stand in ungleichmäßigen, aber lesbaren Buchstaben geschrieben:
Meine Physiognomie und Mundmuskulatur
lassen sprechen nicht zu.
Erstaunt schaute Quadro von dem Kaninchen zum Papier und zurück. „Was ist denn Physiognomie?“
Das Kaninchen legte den Kopf schräg, einen kritischen Ausdruck im Gesicht.
Quadro schüttelte den Kopf. Was spielte es schon für eine Rolle, was genau sie geschrieben hatte? Denn Blanche konnte schreiben, konnte denken!
Unmöglich.
Es war bestimmt nur Einbildung, er hatte ganz sicher Halluzinationen. Quadro schloss die Augen, atmete tief ein und aus.
Wie er die Augen öffnete, hatte Blanche einen Radiergummi in der Schnauze und versuchte fleißig, die geschriebenen Worte wieder auszuradieren. Angestrengt hielt sie den Briefumschlag mit der linken Pfote fixiert, ihr Kopf war konzentriert angewinkelt.
Mit einem Stöhnen legte Quadro sich ohne einen einzigen klaren Gedanken im Kopf auf sein Bett. „Ich werde wirklich verrückt!“, murmelte er beunruhigt.
Eine Minute verging, in der er sich keinen Millimeter bewegte. Vielleicht würde er gleich die Augen öffnen, und alles wäre wieder normal.
Die Treppe quietschte. Dann vernahm Quadro lauter werdende Schritte auf dem alten Dielenfußboden des Ganges und ein Klopfen an der Tür. Margarete trat ein.
Sich auf die Ellenbogen lehnend, sah Quadro seine Oma an, dann suchten seine Augen Blanche. Sie befand sich im Käfig. Wie ein normales Kaninchen lag sie mit halb geschlossenen Augen und ruhig atmend im Stroh.
Margarete ging auf ihren Enkel zu, Bestürzung und Sorge zeigten sich in ihrem Gesicht. „Frau Wellkannte war gerade hier. Zwei Leute sind heute in unserem Dorf gestorben.“
Ruckartig setzte Quadro sich auf. „Wer? Ich meine: Von einem weiß ich. In der Hauptstraße.“
„Das war Herr Brauer. Aber auch Frau Finzling ist heute verstorben. Keine Stunde später bei einem Waldspaziergang.“ Margarete fasste Quadro bei der Hand. „Kanntest du sie?“
Er überlegte. Komischerweise gehörten beide zu den wenigen Menschen, mit denen er nie viel zu tun gehabt hatte. Er war ihnen hin und wieder begegnet, kennen tat er sie jedoch nicht näher. Er schüttelte den Kopf.
„Und hat dich heute jemand Unbekanntes angesprochen?“
Als Quadro einen Moment lang zögerte, verstärkte sie unerwartet ihren Griff auf seine Hand. Schmerzhaft stark. „Das ist wichtig, Quadro!“
Er schüttelte erneut den Kopf. „Nein.“ Er versuchte seine Hand zu befreien, doch sie ließ nicht los und starrte ihn an. „Was ist los? Warum bist du so besorgt?“
„Ich … Nichts. Pass einfach auf dich auf, mein Junge!“ Ihr Griff lockerte sich, sie stand auf, und strich ihr Kleid glatt. Wieder ganz seine beherrschte Großmutter. Dann fiel ihr Blick auf den Käfig.
„Gott sei Dank ist sie da“, murmelte sie. Dann, lauter: „Wie heißt das Tier denn?“
„Blanche.“
Margarete nickte, ihr Gesichtsausdruck unlesbar. Sie ging ohne ein weiteres Wort.
Die Nacht war unruhig gewesen. Quadro hatte sich immer wieder hin und her geworfen. Die überaus merkwürdigen Ereignisse des Tages wollten ihm nicht aus dem Kopf. Immer wieder hatte er sich aus dem weichen Kissen gehoben, um nach Blanche zu schauen. Sie war durchgehend im Käfig gewesen und hatte seelenruhig geschlafen.
Wie gerädert stand er um sechs Uhr auf. Noch war alles in tiefste Dunkelheit gehüllt.
Er stöhnte. Es war noch viel zu früh, um seinen Tag zu beginnen. Auf die Toilette musste er trotzdem. Beim Aufstehen trat er fast auf Blanche, die mitten im Zimmer saß. Zur Sicherheit schaltete er nun das Licht ein.
„Guten Morgen“, begrüßte er sein Haustier, welches ihm nun den Kopf zuwandte. Dann schaute Blanche zurück zur Wand und machte eine nickende Bewegung.
„Das ist eine Luftaufnahme von Kilkenny“, erklärte Quadro und gähnte. „Eine kleine Stadt in Irland, südwestlich von Dublin.“ Er setzte sich auf den Boden. Wie oft hatte er dieses Poster schon angeschaut, bewundert, studiert? Hundert Mal? Tausend Mal?
Mit der einen Hand kraulte er Blanche, mit der anderen zeigte er auf die blasse Abbildung. „Dort links oben ist das Schloss, daneben der Fluss Nore. Dann ein wenig tiefer gelegen das eigentliche Dorf, mit der High Street und der St. Kieran Street.“
Blanche schaute ihn an.
„Ob ich schon mal da war?“
Blanche nickte. Zumindest glaubte Quadro das. Und heute Morgen verunsicherte ihn das bereits deutlich weniger als noch gestern Abend.
„Nein. Ich war noch nie in Irland. Ohne zu wissen wieso, spukt mir dieses Städtchen schon mein ganzes Leben lang im Kopf herum. Ich kenne den Namen und das Aussehen des Dorfes seit ich denken kann. Meine erste Reise – sollte ich denn mal zum Reisen kommen – wird genau dorthin sein.“
Er stand auf und gähnte ein weiteres Mal. „Vielleicht ist es die lange Geschichte der Stadt, die mich so interessiert. Vielleicht habe ich aber auch nur als Kind mal ein Buch darüber gelesen.“ Er lachte. „Mittlerweile dürfte ich jedes je geschriebene Buch zur Stadthistorie gelesen haben.“
Mit dem Finger fuhr Quadro über die Rücken von fünf unterschiedlich dicken Büchern, welche die Geschichte Kilkennys erzählten.
„Vor allem im Mittelalter muss die Stadt faszinierend gewesen sein“, schwärmte er. „Keine Autos oder Mofas. Dafür Ritter und Hexen. Eine der bekanntesten Hexen – nun ja, soweit man daran glauben mag“, relativierte er, „… wohnte in Kilkenny. Sie hieß Alice Kyteler, und …“ Er schüttelte den Kopf. „Was rede ich hier eigentlich? Ich wollte nur kurz auf die Toilette. Stattdessen führe ich um sechs Uhr morgens Gespräche mit meinem Haustier!“
Fünf Minuten später herrschte erneut Stille. Längst war Blanche in ihrem Käfig wieder eingeschlafen – im Gegensatz zu Quadro. Unruhig wälzte er sich von der einen Seite auf die andere.
Griesgrämig zog Quadro sich seine Jacke über. Die letzten zwei Stunden hatte er – seinem von seiner Oma erstellten Lehrplan folgend – zuerst verschiedene Sportübungen gemacht und sich dann mit orientalischer Geschichte und zerebraler Medizin beschäftigt. Doch nicht eine einzige Information schien er aufgenommen zu haben! Immer wieder waren seine Gedanken gewandert, immer wieder hatte er denselben Satz erneut lesen müssen. Minutenlang hatte er seinen Kugelschreiber betrachtet oder aus dem Fenster geschaut. Selbstmotivation und Selbstdisziplin – beides ging ihm heute ab. Schon schnell hatte er ein schlechtes Gewissen bekommen, war das Lernen doch seine einzige Verpflichtung. Einer geregelten Arbeit ging er nicht nach, bloß einige Gelegenheitsjobs erlaubten einen Zugewinn.
Quadro stand gerade in der geöffneten Haustür – der tägliche Einkauf stand bevor –, als seine Großmutter in den Flur trat. Ohne ein Wort griff sie nach ihrem Mantel und streifte ihn über. Obwohl die Versorgung mit Lebensmitteln Quadros Aufgabe war, fragte er nicht nach ihren Gründen. Gemeinsam verließen sie das Haus.
Es hatte in der Nacht keinen Neuschnee gegeben, und die gestern noch ebenmäßig weißen Fußgängerwege waren heute matschig und grau. Wie am Vortag war auch heute das halbe Dorf auf den Beinen. Trotz der vielen Menschen (oder gerade deswegen?) war Quadro ein wenig mulmig zumute. Die gestrigen Erlebnisse schienen zwar unwirklich und weit entfernt, doch er wusste, dass dies Wunschdenken war. Zwei Personen waren gestorben, und das war dem Dorfleben anzumerken. Die Leute hatten ernste Gesichter, wobei sie ihre Aufregung nicht gänzlich zu verbergen wussten.
Immer wieder grüßte Quadro Bekannte; Oma Margarete begnügte sich mit einem gelegentlichen Kopfnicken.
„Alles in Ordnung, Quadro?“ Margarete schaute ihren Enkel mit nichtssagender Miene von der Seite an.
Quadro nickte. „Ja … Es ist nur …“
„Frau Doktorin!“ Eine kleine mollige Frau unterbrach Quadro und kam auf die beiden zugeeilt.
„Auch das noch!“, murmelte Quadro leise. Margarete bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. Dann seufzte auch sie, bevor sie ihr liebenswürdigstes Gesicht aufsetzte.
„Hallo, Frau Mühlheim. Wie geht es Ihnen?“
„Gut, danke! Und selbst?“ Die Frührentnerin wartete nicht auf eine Antwort. „Sagen Sie, Frau Doktor, haben Sie von den Unfällen gestern gehört?“
Anna Mühlheim war ganz aufgeregt, und Quadro vermutete, dass sie sich insgeheim sogar ein bisschen über die Todesfälle freute. Endlich passiert mal etwas im ereignislosen Nichlo, schienen ihre Augen sagen zu wollen.
Ein Kopfnicken Margaretes war die Antwort. Kurz schwiegen beide, und Frau Mühlheim erkannte, dass die Ärztin von sich aus keine Informationen Preis geben würde.
„Nun“, ergriff Frau Mühlheim wieder das Wort. „Heute Morgen habe ich gehört, dass die beiden an – wie nannte Susi das noch mal? Ach ja: zerstörte Herzen. Sie sollen an zerstörten Herzen gestorben sein!“
Margaretes Gesicht blieb neutral. „Von dieser Krankheit habe ich noch nie gehört.“
Frau Mühlheim wurde unruhig. „Ich kenne natürlich nicht den richtigen medizinischen Begriff. Aber irgendwie schien das Herz bei beiden zerstört gewesen zu sein. Zerfetzt!“
Stumm standen die beiden Frauen sich gegenüber, während um sie herum das Leben seinen gewohnten Gang ging.
„Wissen Sie denn gar nichts darüber?“, hakte Frau Mühlheim nach. „Wie so etwas passieren konnte? Wir machen uns alle Sorgen, wissen Sie? Immerhin ist es doch sehr komisch, dass an einem Tag zwei Menschen an so einer Sache sterben. Da muss man fast mit einer Epidemie rechnen! Einer Krankheit!“
Bei diesen letzten Worten bedachte sie Quadro mit einem kurzen Blick und er brauchte einen Moment, bis er ihre Anschuldigung verstanden hatte. Gerade wollte er sich verteidigen, als seine Oma ihm zuvorkam. Das Gesicht zwar beherrscht, funkelten ihre Augen gefährlich. Die Worte wurden etwas zu langsam und sehr präzise ausgesprochen.
„Frau Mühlheim! Ich kann Ihnen versichern, dass Quadros Alterungskrankheit nichts mit den gestrigen Vorfällen zu tun hat. Ich habe Ihnen anlässlich Ihrer unangemessenen Neugierde bereits mehrfach erklärt, dass er schlicht und einfach langsamer altert als die meisten Menschen. Das ist alles! Die Krankheit ist nicht ansteckend, und für andere nicht gefährlich. Es wäre schön, wenn Sie solch medizinisch unhaltbaren Theorien nicht weiterverbreiten würden. Ich wünsche einen schönen Tag!“
Damit ließ Margarete die verdatterte Frau stehen.
„Nicht schlecht!“, flüsterte Quadro beeindruckt, als er seine Großmutter eingeholt hatte.
„Diese dumme …“, begann Margarete, fing sich dann, und verwandelte sich von einer Sekunde auf die andere in die beherrschte Ärztin, die alle Einwohner des Dorfes seit Jahren kannten und schätzten. Nicht zuletzt Quadro.
„Egal …“, entschied sie. Damit war das Thema für sie beendet.
„Weißt du wirklich nicht, was das mit den zerrissenen Herzen zu bedeuten hat?“, fragte Quadro neugierig.
Margarete brauste erneut auf. „So ein Schwachsinn!“, quittierte sie ihm seine Bemerkung. Ausführlicher äußerte sie sich nicht; ihr Gesprächsbedarf war vorerst gedeckt und der Rest des Einkaufs wurde schweigend erledigt.
Quadro besorgte neben den üblichen Einkäufen eine Zaubertafel, aus einem Rahmen mit einer eingelegten Plastikfolie bestehend. Mit Hilfe des beigefügten Stiftes ließ sich auf der Folie schreiben. Anschließend konnten die Worte mit Hilfe einer Mechanik wieder gelöscht werden. Ein Geschenk für Blanche; damit würde sie kein Papier mehr benötigen, wenn sie ihm etwas mitteilen wollte.
Die ganze Zeit über wich Margarete nicht von Quadros Seite. Zwar wurde sie regelmäßig von Bekannten angesprochen, doch sogar dann hielt sie ihn in ihrer Nähe. Darüber hinaus schien sie keinen wirklichen Grund vorweisen zu können, weswegen sie Quadro begleitete. Er vermutete deshalb, dass sie ihn im Auge behalten wollte. Aber wieso?
An der Kasse im Supermarkt stehend, betrachtete Quadro gelangweilt die anderen Wartenden, als die Worte plötzlich wieder an die Oberfläche seiner Gedankengänge schwammen: Zamran Hami. Die beiden Worte, die gestern die rätselhaften Schallwellen produziert hatten. Quadro konnte sich nicht erklären, warum sie plötzlich in seinem Hirn aufgetaucht waren, aber ein starkes, fast unwiderstehliches Verlangen packte ihn.
Er wollte die Worte aussprechen!
Ein kurzer Blick zeigte ihm, dass Margarete gerade in ein Gespräch mit einem ihrer Patienten – dem alten Herrn Scheffler – eingebunden war. Quadro drehte sich zur Seite, weg von seiner Oma. Er konnte nicht anders und gab dem inneren Drang mit einem Flüstern nach:
„Zamran Hami!“
Fasziniert beobachtete Quadro die sich ausbreitenden Wellen und das Aufflammen von Lichtpunkten in den wartenden Menschen. Dann verschwand seine Begeisterung. Auch dieses Mal leuchteten nicht alle Menschen auf! Ein Pärchen – der Mann und die Frau standen zwei Kassen zu seiner Rechten in der Schlange – stellte augenblicklich sein Gespräch ein. Beide Personen schauten ihn unverwandt an.
Hätte Quadro ihren Anblick wiedergeben müssen, so wäre seine Beschreibung folgendermaßen ausgefallen: Beide leuchteten schwarz auf, als die Worte sie durchdrangen. Eine Quelle für Schwärze, wie der Mann von gestern.
Niemand anderes drehte sich ihm zu, einzig und allein die beiden Unbekannten stierten ihn an. Mit hochrotem Kopf und Beinen der Konsistenz von Wackelpudding wandte Quadro den Blick ab. Er fühlte ihre Augen auf seinem Profil, fühlte, wie sie ihn beobachteten.
Sobald Quadro die Kasse hinter sich gebracht hatte, verließ er mit seiner Oma im Schlepptau schnellstens den Supermarkt. Auch das Pärchen hatte abgerechnet, und schaute ihm hinterher.
„Was hast du gesehen?“, fragte seine Oma unvermittelt. Es war das erste Mal seit über einer halben Stunde, dass sie das Wort an ihn richtete.
„Wieso?“, erwiderte Quadro, eine Spur zu schnell.
Forschend bohrten Margaretes Augen sich in die seinigen. Er senkte den Blick.
Sie seufzte. „Schon gut …“
Sie hatten sich nach wenigen Minuten getrennt. Mit sichtlichem Widerwillen war Margarete nach Hause zurückgekehrt, nachdem Quadro darauf bestanden hatte allein zum Libellensee zu gehen.
Nicht ängstlich, aber doch angespannt, saß er nun auf der Holzbank am Ufer. Genau hier hatte er gestern zum zweiten Mal an einem Tag das Bewusstsein verloren. Allerdings glaubte er nicht daran, dass die Ohnmacht mit dem See an sich zu tun hatte. Immerhin war er hier gestern allein gewesen und während sowie nach dem Bewusstseinsverlust war ihm nichts passiert.
Er lehnte sich vor, stützte sich mit dem linken Unterarm auf den Beinen ab und starrte mit leerem Blick gerade aus. Mit dem Stock in seiner rechten Hand wischte er gedankenverloren durch den Schnee.
Was hatte das alles zu bedeuten? Warum benahmen sich alle so komisch? Was bedeuteten die merkwürdigen Wortabfolgen? Quasb Monons, beziehungsweise Zamran Hami – er hatte sie bislang nie gehört. Und doch kannte er sie …
„Benandant!“
Die raue Stimme ließ Quadro von der Bank hochschnellen. Neben ihm stand der Mann aus dem Supermarkt. In seiner weiten Jeans und der roten Winterjacke hätte Quadro ihn eigentlich kommen sehen müssen. Auch die weiße Mütze hob sich klar gegen das Braun und Schwarz des blätterlosen Geästs ab. Dennoch war der Mann wie aus dem Nichts aufgetaucht.
Tiefblaue Augen musterten ihn aus einem noch jungen Gesicht. Die Wangenknochen traten relativ stark hervor, der Dreitagebart ließ das eher kantige Gesicht kaum weicher erscheinen. Er atmete tief ein und richtete dabei seinen hochgewachsenen Körper auf. Dann zeigte er auf den Schnee vor Quadros Füßen. „Woher kennst du diese Worte?“
Quadro folgte dem Fingerzeig mit den Augen und erblickte zu seiner Überraschung zwei verschlungene Zeichen. Gedankenverloren hatte er die Formen mit dem Stock in den Schnee gezeichnet. Und obwohl er sie noch nie gesehen hatte, wusste er, was sie bedeuteten. Die Zeichen waren die schriftlichen Entsprechungen der Worte Quasb Monons.
Verwirrt murmelte er: „Keine Ahnung …“
Der Gesichtsausdruck des Mannes verhärtete sich weiter. Seine Worte sprach er langsam und betont aus: „Wir kennen uns noch nicht, daher gebe ich dir eine letzte Chance: Woher kennst du diese Zeichen?“
Quadro war in seinem Leben noch nie bedroht worden, und die wenigen Worte des Mannes verfehlten ihre Wirkung deshalb nicht. Aufkeimende Furcht verengte seine Brust. Was sollte er sagen? Er hatte nicht gelogen, als er meinte, dass er das Wissen um die Zeichen nicht zuordnen konnte.
„Ich weiß es nicht. Ich kenne die Symbole, aber ich weiß nicht woher.“
Ein dünnes Lächeln umspielte die Lippen des Mannes. „Natürlich …“
Dann verschwand das Lächeln, und langsam, fast freundschaftlich fasste der Mann Quadro an die Schulter. Nicht brutal, aber derart kraftvoll, dass Quadro ihm nicht ohne weiteres entkommen konnte. Dennoch durchzuckten ihn Schmerzen. Sie breiteten sich von der Schulter ausgehend wie ein reißender Fluss in seinem ganzen Körper aus. Als ob jemand jedes einzelne seiner Organe in die Hand nahm und langsam zerquetschte. Quadro konnte nicht denken, konnte nicht handeln, die Krämpfe hatten ihn vollkommen in der Gewalt. Er wollte sich gleichzeitig übergeben und aufschreien. Hinter dem Schleier aus Schmerz merkte er, wie ihm langsam das Bewusstsein entglitt.
Und dann wich der Schmerz.
Von der einen Sekunde auf die andere war alles vorbei. Quadro saß auf den Knien im matschigen Schnee, ein Zittern durchlief ihn. Die Hand seines Peinigers lag immer noch auf seiner Schulter. Wie sein Richter stand der Mann über ihm.
„Erinnerst du dich nun?“ Eine kalte Miene. Er zog die Hand zurück.
Quadro wischte sich ein paar Tränen von den Wangen. Die Schmerzen waren fort, aber die Angst hatte ihn weiterhin im Griff. Und niemand konnte ihm helfen, der Libellensee war – wie fast immer – verlassen.
„Nein … Ich kann mich nicht erinnern!“
Der Mann hob die Schultern. „Bitte … Wiederholen wir die Prozedur. Ich habe Zeit.“
Erneut streckte er seine Hand aus, doch dieses Mal wusste Quadro, was auf ihn zukam. Blitzartig ließ er sich nach hinten fallen. Das über Jahrzehnte besuchte Kampfsport-Training zahlte sich in diesem einen Moment aus, in dem er mit einem automatisch erfolgenden Fußtritt die Hand abwehrte. Doch schon bei der Berührung seines Beines mit dem Mann durchzuckte ihn der Schmerz. Diese Ablenkung reichte bereits aus, damit der Mann ihn wieder fest an der Schulter greifen konnte.
Quadro bekam keine Luft mehr. Gigipah, schoss es ihm durch den Kopf. Panik erfasste seinen Körper, während er die Augen aufriss. Dieses Mal waren es keine Schmerzen, die ihn Furcht verspüren ließen. Vielmehr war es die Unfähigkeit sich zu bewegen, während er langsam erstickte. Seine Lunge schien in sich zusammen zu fallen, kein Hauch Luft hatte mehr in ihr Platz.
Mir! Er wusste nicht, woher das Wort kam, oder was es bedeutete. Aber er wollte es aussprechen, er wollte es dem Mann entgegen schleudern. Nur wie? Seine Muskeln – inklusive seiner Zunge – wollten ihm einfach nicht mehr gehorchen. Und trotzdem sah er, wie vor ihm ein Wellenmuster in Richtung seines Peinigers strebte. Die Schwingungen durchflossen den Mann – und Quadros Krämpfe verschwanden schlagartig.
Dann ging alles sehr schnell.
Während der Mann zu Boden ging, und Quadro wieder atmen konnte, ging er bereits zum nächsten Schritt über. Quadro verschwendete keinen Gedanken mehr daran, woher er das benötigte Wissen hatte, sondern sprang sofort auf und schleuderte den um sich schlagenden Mann ein weiteres Wort entgegen.
„Ooain!“
Das Gesicht des Mannes verzerrte sich, doch seine Lippen pressten „Paul Hoffmann!“ hervor.
„Paul Hoffmann, Oxex!“, befahl Quadro.
Pauls Körper versteifte sich wie unter Todesqualen. Schwingungen breiteten sich kreisförmig aus, dann öffnete sich Pauls Mund, und schwarzer Rauch quoll zwischen blassen Lippen hervor. Unnatürlich schnell gewann das turbulente Gebilde an Höhe, bis es durch den Wind abgefangen und fortgetragen wurde.
Reglos lag Paul am Boden.
Instinktiv wusste Quadro, dass Paul noch lebte, aber jegliche Gefahr gewichen war. Erschöpft setzte er sich auf die Bank.
Woher hatte er gewusst, was zu tun war? Offensichtlich war Ooain ein Wort, welches Paul gezwungen hatte, seinen Namen Preis zu geben. Und das Wort Oxex