Philharmonische Begegnungen - Clemens Hellsberg - E-Book

Philharmonische Begegnungen E-Book

Clemens Hellsberg

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Beschreibung

Sie zählen zu den weltweit führenden Orchestern, ihr Neujahrskonzert lockt Jahr für Jahr ein Millionenpublikum vor die Bildschirme: die Wiener ­Philharmoniker. Voraussetzung für den Ruhm ist harte Arbeit des einzelnen Mitglieds wie des Kollektivs. Clemens Hellsberg, von 1997 bis 2014 Vorstand des Orchesters, gewährt in diesem Buch ungewöhnliche Einblicke und ­Ansichten: Das Resultat ist ein Mosaik, das einen Bogen über die Gründung im Jahre 1842 durch Otto Nicolai bis zur Tätig­keit des Ensembles in der Welt von heute spannt.

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Seitenzahl: 612

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Clemens Hellsberg

PhilharmonischeBegegnungen I

Die Welt der Wiener Philharmoniker als Mosaik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

2. überarbeitete und aktualisierte Auflage 2018

© 2015 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Lektorat: Dr. Maria Seifert

Umschlagfoto: © Richard Schuster | fotoschuster.com

ISBN 978-3-99100-161-4eISBN 978-3-99100-162-1

Für Sissy, Dominik, Eva, Maria,Benedikt, Lisa, Augustin, Klara und Paulina

Inhalt

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

„WIR MUSIKER MÜSSEN VORBILD SEIN“: DAS VERMÄCHTNIS BRUNO WALTERS

VERZAUBERUNG UND RISIKO IM ORCHESTERGRABEN

LIEBE AUF DEN ZWEITEN BLICK: PIERRE BOULEZ

BEGEGNUNG MIT EINER GÖTTIN: BIRGIT NILSSON

HOMMAGE FÜR OTTO NICOLAI

DER „GOLDENE WIENER PHILHARMONIKER“

DER FACKELTRÄGER: NIKOLAUS HARNONCOURT

MIT MOZART UND BARENBOIM IM GAZASTREIFEN

KITTSEES GRÖSSTER SOHN: JOSEPH JOACHIM

DER „AHNHERR“ DER WIENER PHILHARMONIKER: IGNAZ SCHUPPANZIGH

SYMBIOSE I: DIE OPER

„MEDIA VITA IN MORTE SUMUS“

ANTON BRUCKNER UND DIE „STREIF“ IN KITZBÜHEL

BEGEGNUNG MIT POLYDEUKES: DIETER FLURY

MIT BEETHOVEN IN BERLIN

HEIMKEHR ZUR MUSIK DER EWIGKEIT: HORST HASCHEK

SYMBIOSE II: DIE GESELLSCHAFT DER MUSIKFREUNDE IN WIEN

DER GRALSHÜTER: OTTO BIBA

„ORCHESTRA PLAYED WONDERFUL“: SEIJI OZAWA

„MUSIKER VON GOTTES GNADEN“: DIE DYNASTIE STRAUSS UND LANNER

SCHOCK IN MADRID

PER ASPERA AD ASTRA: BEETHOVENS „NEUNTE“ IN MAUTHAUSEN

DIE „MARIETTA UND FRIEDRICH TORBERG-MEDAILLE“

„MEINE SPRACHE VERSTEHET MAN DURCH DIE GANZE WELT“: ZUBIN MEHTA

ZU HAUSE IM „HAUS DER MUSIK“

„ER IST DER BESTE VON UNS ALLEN!“: MARISS JANSONS

BEGEGNUNG MIT EINER GALIONSFIGUR: ELENA OSTLEITNER

SYMBIOSE III: SALZBURG UND DIE WIENER PHILHARMONIKER

LAUDATIO FÜR EIN KIND DES LICHTS: PETER RUZICKA

EIN „ERZIEHER UND BILDNER“: RICCARDO MUTI

BEGEGNUNG MIT EINEM MYTHOS

TRAUM IM SCHLOSSPARK

TREUE BIS IN DEN TOD: LORIN MAAZEL

KUNST ALS HUMANISIERENDER EINFLUSS: FRITZ KREISLER

KRIEG UND FRIEDEN

DER ATEM DER GESCHICHTE

BRIEF AN DEN TEAMCHEF

BEGEGNUNG MIT SISSY

BEGEGNUNG MIT DEM „HEILAND DER MUSIK“

QUELLENVERZEICHNIS

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Es gibt eine Kategorie menschlichen Verhaltens, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann und die von Cicero sogar als „Mutter aller anderen Tugenden“ bezeichnet wurde: die Dankbarkeit.

Die Begebenheit liegt mittlerweile viele Jahrzehnte zurück, aber sie ist mir in so deutlicher Erinnerung, dass ich den Punkt am (nicht mehr existierenden) Gehsteig bezeichnen könnte, an dem sie sich zutrug: Ich ging mit meinem Vater an einem sonnigen Sonntagvormittag am Musikvereinsgebäude vorbei. Aus manchen der geparkten Autos tönte klassische Musik. Es waren Chauffeure, deren Chefs das soeben stattfindende Abonnementkonzert der Wiener Philharmoniker besuchten und die im Autoradio die Liveübertragung hörten. Und ich habe noch heute die Worte meines Vaters im Ohr: „Das sind die berühmtesten Konzerte der Welt.“

Rund zehn Jahre später war ich Mitglied dieses Orchesters. Mittlerweile habe ich mehr als 500 Abonnementkonzerte (Samstage, Sonntage und Soiréen zusammengezählt) auf dem Podium des Goldenen Saales gespielt, und der Zauber jenes Moments vor dem Musikverein stellte sich jedes Mal aufs Neue ein, allerdings noch überhöht durch die Dankbarkeit, diesem Orchester angehören zu dürfen, das ich nach jenem „Initiationserlebnis“ unzählige Male auf dem Stehplatz in der Staatsoper und im Konzert gehört habe und von dessen Klang und Musizierweise ich nach wie vor fasziniert bin.

Es gibt auf privater wie beruflicher Ebene vieles in meinem Leben, wofür ich zutiefst dankbar bin, darunter auch die Entstehungsgeschichte dieses Buches. An dessen Anfang steht eine rührende Begebenheit. Nach länger zurückliegenden, ebenso höflichen wie vagen Vorgesprächen erhielt ich im April 2010 Besuch von Bernhard Borovansky, dem Geschäftsführer des Braumüller Verlags. Er wollte mich als Autor gewinnen, aber ich musste ihn zu meinem Leidwesen enttäuschen, da ich neben der Tätigkeit als Vorstand keine Zeit fand, ein Buch zu schreiben. Wir einigten uns darauf, das Gespräch fortzusetzen, wenn ich nicht mehr in dieser Funktion sei. 2011 wurde ich allerdings wiederum gewählt, was bedeutete, dass Herr Borovansky das Projekt um weitere drei Jahre verschieben musste.

Er wartete geduldig – und als am 1. September 2014 meine Amtszeit nach mehr als 17 Jahren endete, sorgte er dafür, dass es bereits zwei Tage später einen Termin mit ihm und Dr. Maria Seifert gab, meiner Lektorin aus der Zeit der Entstehung des 1992 erschienenen Buches „Demokratie der Könige“, die mich damals in einer Weise begleitete, für die ich nur das Wort „ideal“ finde, und die sich nun, obwohl mittlerweile Leiterin ihres Seifert Verlags, bereit erklärte, auch bei diesem Projekt mit mir zu arbeiten. Gemeinsam griffen wir eine 2010 ansatzweise entwickelte Idee auf: Das neue Buch sollte eine Auswahl aus den Artikeln, Vorträgen und Reden beinhalten, die ich in den letzten Jahrzehnten verfasst bzw. gehalten hatte, ergänzt durch einige eigens dafür geschriebene Kapitel.

Bestehende Artikel und Vorträge? Eine „Handgelenksübung“, so der spontane, leicht saloppe Gedanke – der allerdings bereits beim ersten Versuch einer Auswahl so rasch verflog, wie er gekommen war: Das (unvollständige) Verzeichnis meiner Arbeiten umfasst rund 1300 Titel. Natürlich eignet sich nicht jeder für eine Veröffentlichung in diesem Rahmen, aber selbst die in Frage kommenden Möglichkeiten stellten mich vor die Qual der Wahl: In meinem Leben mit den Wiener Philharmonikern, das am 1. Februar 2016 mit der Pensionierung in der Staatsoper endete, war ich mit einer Vielzahl an bleibenden Eindrücken konfrontiert. Wiederum stieß ich auf größtes Verständnis seitens des Verlags: Bernhard Borovansky wäre mit 280 Seiten zufrieden gewesen, akzeptierte aber widerspruchslos das nunmehrige Volumen.

Das vorliegende Buch ist ein Mosaik, dessen einzelne „Steine“ in direkter oder zumindest indirekter Beziehung zu den Wiener Philharmonikern stehen. Diese sind es auch, die den inneren Zusammenhang einer nur ansatzweise strukturierten Kapitelfolge bilden: Die Vorgeschichte unseres Orchesters ist ebenso angedeutet wie die Gründung, es scheinen einige der (Künstler-)Persönlichkeiten aus Gegenwart und Vergangenheit auf, die von markanter Bedeutung für uns sind, sowie mehrere der wichtigsten Ereignisse, die ich erlebte, wobei Höhen und Tiefen, Triumph und Tragik berücksichtigt wurden.

Freilich genügte auch die zugestandene Erweiterung des Umfangs bei Weitem nicht, um mehr zu vermitteln als eine bloße Andeutung des Reichtums der philharmonischen Geschichte sowie an Erlebnissen, die 39 Jahre Mitgliedschaft bei unserem Orchester bedeuten: Persönliche Begegnungen mit „Giganten“ wie etwa Herbert von Karajan, Leonard Bernstein oder Claudio Abbado bzw. mit Rudolf Buchbinder (Joachim Kaiser: „Das größte pianistische Naturtalent, dem ich je in meinem Leben begegnet bin“), mit Yefim Bronfman, Lang Lang, Leonidas Kavakos etc. blieben ebenso unberücksichtigt wie all die großen Künstler aus den eigenen Reihen, die ich bewunderte und bewundere, weil dies jeden Rahmen sprengen würde.

Es gibt – neben immer wiederkehrenden Zitaten – einige Topoi, die in diesem Buch öfter begegnen: Neben der Dankbarkeit sind es vor allem die Begriffe „Zufall“ und „Traum“. „Glauben Sie mir, Marinelli: das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall – am wenigsten das, wovon die Absicht so klar in die Augen leuchtet“, sagt die Gräfin Orsina in Gotthold Ephraim Lessings bürgerlichem Trauerspiel „Emilia Galotti“. Selbstverständlich steht es frei, den Zufall als Erkenntnisdefizit zu definieren; Lessings Sicht drängt sich allerdings auf, wenn man sich der Geschichte der Wiener Philharmoniker auf faktengestützter, aber gleichzeitig emotionaler Ebene nähert (und auch in meinem Leben gibt es einige erstaunliche „Zufälle“: Ich bin am 28. März 1952 geboren, dem 110. „Geburtstag“ der Wiener Philharmoniker, und schrieb meine Dissertation über Ignaz Schuppanzigh, den „Ahnherrn“ der Wiener Philharmoniker).

„Doch an den Fensterscheiben, / Wer malte die Blätter da? / Ihr lacht wohl über den Träumer, / Der Blumen im Winter sah?“, heißt es in der „Winterreise“ von Wilhelm Müller und Franz Schubert. Die Tätigkeit als Vorstand brachte nicht nur Sonnentage, aber es gab stets „Fixsterne“, an denen ich mich orientierte und aufrichtete: Neben der Musik der großen Komponisten waren dies die Freundschaft führender Künstlerinnen und Künstler, das (auch in sechs aufeinanderfolgenden Wahlen ausgesprochene) Vertrauen der Mitglieder der Wiener Philharmoniker und meine Träume, die manchmal belächelt wurden – und bei deren Realisierung ich letztlich dennoch immer großartige Unterstützung fand. Was wären wir ohne Träume, wie Prospero in William Shakespeares „Der Sturm“ sagt? „We are such stuff / As dreams are made on, / And our little life / Is rounded with a sleep“: Projekte wie das „Sommernachtskonzert Schönbrunn“ oder das Gedenkkonzert in Sarajevo müssen erträumt werden, um sie realisieren zu können.

„Und als die Hähne krähten, / Da ward mein Auge wach; / Da war es kalt und finster, / Es schrien die Raben vom Dach“, endet der „Frühlingstraum“, die Nummer 11 der „Winterreise“. Nein, für mich war es weder kalt noch finster, und es schrien keine Raben (nur einer krächzt gelegentlich) nach der (freiwilligen) Beendigung des „Vorstandtraumes“: Sein Ende wurde durch eine schwere Ellbogenverletzung, die mich zu einer monatelangen Pause zwang, aber glücklicherweise nicht mehr beim Geigenspiel behindert, wohl beschleunigt; entscheidend war aber die Erkenntnis, dass jede Verwirklichung eines Traumes nicht „Endstation Sehnsucht“ bedeutet, sondern neue, noch intensivere, noch phantastischere Träume nach sich zieht. Irgendwann findet man dann nicht mehr die für ihre Verwirklichung notwendigen Bedingungen vor – und irgendwann genügt man auch den eigenen Ansprüchen nicht mehr …

Kehren wir zurück zur Dankbarkeit. Ich darf sie gegenüber Herrn Bernhard Borovansky, der dieses Buch angeregt hat, und Frau Dr. Maria Seifert für ihre inspirierende Begleitung ausdrücken sowie Herrn Martin Zechner, dem ich mit der Finalisierung etliche Probleme bereitete. Zu danken habe ich ferner Staatsoperndirektor Dominique Meyer, der mir einige Karenzmonate gewährte, den Herren Karl Tautscher und Martin Fürst von der Orchesterinspektion der Wiener Staatsoper, die mich ebenso unterstützten wie Herr Universitätsprofessor Josef Hell, der für die Einteilung der Primgruppe verantwortlich ist, und Frau Dr. Silvia Kargl vom Historischen Archiv der Wiener Philharmoniker, die mir stets umgehend Auskünfte auf diverse Fragen gab.

Das vorliegende Buch ist als solches Ausdruck des Dankes für die künstlerischen Erlebnisse, die ich (die Zeit als Substitut hinzugerechnet) während mehr als 41 Jahren in den Reihen der Wiener Philharmoniker hatte, und für den herrlichen Berufsweg, der mir beschieden war. Ich bin zuversichtlich, dass diese Vereinigung weiterhin der Zielsetzung unseres Gründers Otto Nicolai, „mit den besten Kräften, das Beste auf die beste Weise zur Aufführung zu bringen“, folgen und auch in Zukunft bewusst die eigentliche Botschaft der Kunst, der Musik zu den Menschen bringen wird – die Humanität. Nur sie kann die Gefahren abwenden, die in den Abgründen der menschlichen Seele lauern und die Welt bedrohen.

Und ich werde bei allem, was ich tue, und bis zum letzten Atemzug den großen schöpferischen Genies, den Komponisten, Dichtern, Bildhauern und Malern, dafür dankbar sein, dass sie für uns Wege gegangen sind, die wir ohne sie nicht gefunden hätten, in ihren Werken die Freuden, Leiden, Ängste und Sehnsüchte aller Menschen sublimieren und uns damit eine Ahnung von Vollendung und Ewigkeit schenken.

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Seit der Präsentation der ersten Auflage dieses Buches am 26. November 2015 in der Wiener Staatsoper hat sich viel ereignet: Der Abschied von Pierre Boulez und Nikolaus Harnoncourt bedeutete eine Zäsur für die Musikwelt – und für mich persönlich, weil ich beiden Künstlern, die mein Leben veränderten, nahestand. Am 1. Februar 2016 trat ich in den dauernden Ruhestand (in dem sich seit 1. September 2017 auch „mein“ langjähriger philharmonischer Geschäftsführer Dieter Flury befindet), und obwohl mittlerweile das Buch „Philharmonische Begegnungen II“ erschien, entschloss sich der Verlag zu einer zweiten, aktualisierten Auflage des ersten Bandes. Ich bin Herrn Bernhard Borovansky dafür ebenso dankbar wie Frau Anita Luttenberger, die sich mit liebevoller Akribie der doch zahlreichen Änderungen und Korrekturen annahm – und die mich beide ermutigten, die „Begegnungen“ mit einem dritten Band abzuschließen, der (hoffentlich) 2019 erscheinen wird.

„WIR MUSIKER MÜSSEN VORBILD SEIN“: DAS VERMÄCHTNIS BRUNO WALTERS

Auch wenn die Geschichte eine unablässige Folge von Krieg, Grausamkeit und Terror zu sein scheint: Es gab und gibt zu allen Zeiten Boten der Humanität, die den Glauben an Menschlichkeit aufrechterhalten. Die meisten von ihnen bleiben einer breiten Öffentlichkeit unbekannt; aber für sie stehen Symbolfiguren, ob sie nun Mahatma Gandhi, Albert Schweitzer, Mutter Teresa, Nelson Mandela oder Papst Johannes Paul II. heißen – Leuchttürme der Humanität und Träger der Hoffnung, dass wir uns doch auf dem Weg zum wahrhaft humanen Menschen befinden.

Die Geschichte der Wiener Philharmoniker ist von der Qualität der aktiven Mitglieder ebenso bestimmt wie von den überragenden Künstlerpersönlichkeiten, die das Ensemble präg(t)en. Ein Dirigent nimmt in dieser illustren Reihe einen besonderen Platz ein – Bruno Walter, geboren am 15. September 1876 in Berlin, verstorben am 17. Februar 1962 in Beverly Hills, hinterließ dem Orchester ein einzigartiges moralisches Vermächtnis, das gleichzeitig eine für immer fortbestehende Verpflichtung darstellt.

Allein die Jahreszahlen dieser Verbindung sind unerhört beeindruckend: Sein erstes Philharmonisches Konzert dirigierte Walter 1907, das letzte 1960; rechnet man sein Debüt in der Hofoper dazu, das 1901 erfolgte, dann beträgt der Zeitraum der künstlerischen Zusammenarbeit 59 Jahre; und bedenkt man schließlich, dass er das Ensemble 1897 erstmals hörte und dieser Eindruck für ihn „absolut lebensentscheidend“ war, während andererseits der letzte (schriftliche) Kontakt aus dem Jahr 1961 datiert, dann sprechen wir von einer 64-jährigen Verbindung.

Die Zahl wird noch beeindruckender durch die Zeit, in welche diese 64 Jahre fielen: Sie beinhaltet den Untergang der Habsburgermonarchie, den Ersten Weltkrieg und die Ausrufung der Ersten Republik, den Ständestaat, die nationalsozialistische Diktatur und den Zweiten Weltkrieg ebenso wie die Gründung der Zweiten Republik und der Vereinten Nationen. Ereignisse also, welche aus historischer Sicht wie in einem Zeitraffer die gesamte Bandbreite von Gut und Böse widerspiegeln – Barbarei und Menschenverachtung einerseits, Größe und Großartigkeit in Idee und Anspruch wie etwa die Deklaration der Menschenrechte andererseits.

Im Mai 1960 schilderte Walter in einem Radiointerview die Eindrücke seines ersten Wienbesuchs im Jahre 1897: „Da hatte ich ein Engagement an dem kleinen Stadttheater Preßburg […]. Aber als ich in Wien war, hörte ich nun die Philharmoniker zum ersten Mal. […] Da habe ich das Gefühl [gehabt], so soll ein Orchester klingen, so soll es spielen […]. Die Schönheit, diese Ruhe des Klangs, diese Art von Glissando, die Art von Vibrato, der Streicherklang, die Mischung von Holz mit Streichern, mit Blech, das Maß im Blech, das sich einfügte mit dem Schlagzeug zusammen in den Gesamtklang des Orchesters. Für mich war dieser Eindruck 1897 absolut lebensentscheidend. Und […] dieser Klang von 1897 ist heute der gleiche. […] Anfang der Fünfziger [tatsächlich: 1947], nach der fürchterlichen Zeit, ich war in Amerika, ich traf mich mit den Wiener Philharmonikern in Edinburgh, […] es war ein rührendes Wiedersehen mit ihnen nach langer Trennung. Und als sie anfingen zu spielen, es war derselbe Klang, und jetzt, als ich mit ihnen musizierte und anfing, Schubert zu probieren, derselbe Klang, den ich 1897 mit solchem Entzücken in mich aufgenommen hatte. Was das ist, das dürfte man Tradition nennen. Hier ist eine lebendige Stadt, die ihre Musikalität in diesen Menschen ausdrückt, die da zum Orchester versammelt sind. Die musikalische Kultur hat sich gerade in Wien in einer ganz bestimmten lokalen Form ausgedrückt. So klingt Wien.“

An der Begeisterung, die noch 63 Jahre nach dieser ersten Begegnung in ihm nachwirkte, lässt sich ermessen, welch ein Traum sich für Bruno Walter erfüllte, als ihn der damalige Hofoperndirektor Gustav Mahler 1901 nach Wien berief, wo er mit Verdis „Aida“ debütierte. Am 27. Jänner 1907 stand er erstmals am Pult der Wiener Philharmoniker; aber weil diese damals das „Abonnementdirigentensystem“ praktizierten (das Plenum wählte einen Künstler, der alle Abonnement- sowie einen Großteil der Sonderkonzerte leitete) und Walter von 1913 bis 1922 als Operndirektor am Münchner Nationaltheater tätig war (wo er u. a. Hans Pfitzners „Palestrina“ oder Walter Braunfels’ Oper „Die Vögel“ uraufführte), blieb die Zahl der gemeinsamen Konzerte zunächst gering. Dafür gab es aber ein Ereignis von musikhistorischer Relevanz: Im Rahmen einer „Wiener Musikfestwoche“ brachte er mit den Philharmonikern am 26. Juni 1912, also 13 Monate nach Mahlers Tod, dessen Neunte Symphonie zur Uraufführung.

Aufgrund wachsender Spannungen des Orchesters mit Felix von Weingartner, der von 1908 bis 1927 als Abonnementdirigent fungierte, gab es eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit Walter, und 1927 wollte man neue Wege gehen und die Konzerte zwischen ihm, Wilhelm Furtwängler und Franz Schalk aufteilen. Überglücklich sagte Walter zu, aber noch während sein Brief aus London unterwegs war, hatte sich der angesehene und ansonsten besonnen agierende Vorstand Alexander Wunderer der Forderung Furtwänglers gebeugt, „den größeren Teil der philharmonischen Konzerte ab Herbst dieses Jahres“ zu leiten, was auch prompt in der Zeitung zu lesen war.1 Walter zeigte sich zu Recht schockiert: „Am unbegreiflichsten aber ist mir, daß Sie, nachdem Sie mir offiziell drei bis vier Ihrer ordentlichen Konzerte angeboten hatten, Herrn Furtwängler’s Bedingung fünf bis sechs Konzerte zu dirigieren akzeptierten, wodurch Sie gezwungen waren, die einmal an mich ergangene Einladung nachträglich zu reduzieren. Sie werden verstehen, daß ich das, als mit meinem Prestige nicht vereinbar, nicht annehmen kann. Mit den besten Empfehlungen bin ich Ihr hochachtungsvoll ergebener Bruno Walter.“2

Als Furtwängler drei Jahre später seinen Vertrag nicht mehr verlängerte, reagierte man von philharmonischer Seite erneut wenig einfühlsam: „Wie Sie mir mitteilen“, hielt nämlich Bruno Walter fest, „haben Sie an alle bedeutenden Dirigenten, die in Betracht kommen, zu informativen Zwecken geschrieben. Dass somit mein Name sozusagen in einer Wahlurne mit denen einer Anzahl von Kollegen liegt, ergiebt [!] eine Situation für mich, die ich weder mit unseren Beziehungen, die Sie so freundlich erwähnen, noch mit der Stellung, die ich mir in der Welt errungen habe in Einklang bringen kann. Auch mahnt mich die Erinnerung an die Vorgänge bei Ihrer letzten Dirigentenwahl, soweit sie mich betrafen, ähnlichen Möglichkeiten vorzubeugen. Hätten Sie mir, wie es angesichts der erwähnten beiden Fakten nur natürlich erscheint, spontan die Stellung Ihres Dirigenten angetragen, so hätte ich für nächste Saison zwar nur einen kleinen, dann aber einen wesentlichen Teil Ihrer Konzerte übernehmen können. So aber müssen Sie mir erlauben, mich der Beantwortung Ihrer Fragen zu enthalten, wobei ich bitte, mir zu glauben, dass ich zu viel Achtung vor dem Recht des Anderen auf seine Meinung habe, um Ihnen die aus Ihrer Meinung entspringende Behandlung der Sache zu verübeln, so wie ich andererseits auch von Ihnen Verständnis für meine Einstellung erwarte.“3

Damit verblieb als einzige Alternative die Etablierung des damaligen Operndirektors Clemens Krauss als Abonnementdirigent, wobei Wunderer allerdings einen bedeutenden Trumpf in Händen hatte: die Zusage von Richard Strauss, „den Philharmonikern doch noch einmal ein Opfer zu bringen“ und in der Saison 1930/31 vier Abonnementkonzerte zu dirigieren „für den Fall, daß […] Krauss die andere Hälfte übernim[m]t. Ich stelle nur zur Bedingung, daß ich keine Novität einstudieren muß u. keine Sinfonien von Brahms u. Bruckner zu dirigieren brauche, sondern 4 Program[m]e mit Klassikern, Wagner, Liszt u. Berlioz aufstellen darf.“4 Als dann die Wahl von Krauss zum „ständigen Dirigenten“5 der Philharmoniker feststand, trat Strauss sofort eine Veranstaltung ab, weil er merkte, dass der Operndirektor die Mehrheit der Konzerte wünschte. „Ich habe keinen Ehrgeiz mehr, freue mich, wenn ich mich noch irgendwie nützlich machen, einer guten Sache dienen kann, freue mich im[m]er, wenn ich die lieben Philharmoniker dirigieren darf, höre aber auch ebenso gerne zu, wenn der vortreffliche Krauss Sie dirigiert.“6

Drei Jahre später endete die Ära von Krauss unter turbulenten Umständen, und gleichzeitig gaben die Philharmoniker die seit 1860 gepflegten Usancen auf und führten das Gastdirigentensystem ein. Am 3./4. März 1934 debütierte Bruno Walter in den Abonnementkonzerten, wo er bis 1938 neun Produktionen leitete. Das Konzert vom 20. Februar 1938 sollte das vorletzte vor dem Untergang Österreichs sein. Auf dem Programm standen Felix Mendelssohn Bartholdys Ouvertüre zu „Ein Sommernachtstraum“ und Anton Bruckners Vierte Symphonie sowie die Uraufführung von Egon Wellesz’ Symphonischer Suite „Prosperos Beschwörungen“. „Indessen, an jenem Sonntag war die geistige Atmosphäre Wiens mit Spannungen wesentlich anderer Art geladen. […] Waren die Zuhörer im Parterre und auf den Galerien überhaupt noch in der Lage zuzuhören und die phantastischen Figuren wahrzunehmen und zu unterscheiden, die Prospero-Wellesz in seiner Symphonischen Suite heraufbeschwört? Nach der Pause […] hatte die geistige Lähmung weitere, erhebliche Fortschritte gemacht und der Große Musikvereinssaal zeigte ein sozusagen klinisches Bild. Nach jedem Satz sah man in immer dichteren Gruppen die Konzertbesucher aufstehen und behutsam davonschleichen […]. Was sie aus dem Konzertsaal rief, war die Stimme Adolf Hitlers, die nun im Lautsprecher hörbar werden sollte und von der man wußte, daß sie Entscheidendes, Schicksalschweres über die Zukunft unseres Landes sagen wird. Ein lähmender, unheimlicher Druck lag über dem Auditorium. Jedermann im Saale spürte den Flügelschlag der tragischen Stunde.“7

Unmittelbar nach Kriegsende wandte sich der nunmehrige Vorstand, der Primgeiger und spätere Konzertmeister Fritz Sedlak an Bruno Walter, der im Oktober 1945 antwortete: „Lassen Sie mich zuerst sagen, dass [Ihr Brief] in einem Ton geschrieben ist, der mich sehr ergriffen hat. Was mir Wien gewesen ist und was mir das Musizieren mit den Wiener Philharmonikern in meinem Leben bedeutet hat, darueber will ich nicht schreiben. Sie scheinen es zu ahnen, wie ich zwischen den Zeilen Ihres Briefes zu lesen glaube. Hier handelt es sich aber nicht darum, was war und was ist, sondern um die Frage, ob diese Beziehungen noch einmal in der Zukunft einen musikalischen Ausdruck finden koennen. – Es ist mir unmoeglich, Ihnen heute eine bestimmte Antwort zu geben. Ich muss abwarten, wie sich die Verhaeltnisse entwickeln werden und ob sie – innerlich und auesserlich – mir einen nochmaligen Besuch in Wien erwuenscht erscheinen lassen. Dass in mir eine wahre Neigung lebt, noch einmal an dem altgewohnten Platz, am Dirigentenpult der Wiener Philharmoniker, zu stehen, moechte ich in aller Offenheit bekennen. Andererseits bitte ich Sie, es zu verstehen, dass ich hier in der Ferne nicht genuegend ueber den Stand der Dinge in Oesterreich weiss, um die Entschluesse fassen zu koennen, die Ihre Anfrage notwendig macht. Ich schlage Ihnen vor, sich noch eine Weile zu gedulden. Ich werde Ihnen, sobald ich mir ueber die aeusseren Bedingungen und meine eigenen Gefuehle klar geworden bin, neuerlich schreiben.“8

Als Mitglied der Wiener Philharmoniker kann man diesen Brief nur mit äußerster Bewegung lesen: Über politische Verirrungen (und teilweise Verfehlungen) einer beträchtlichen Anzahl von Orchesterangehörigen hinweg ist er von tiefer Liebe ebenso beseelt wie von jener Humanitas, die sein Leben bestimmte. In der Folge war sich der Künstler über seine Gefühle rasch im Klaren: „Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre schönen Briefe, die mich sehr erfreut haben. Meine Bereitschaft, in die da[r]gebotene Hand einzuschlagen, ist Ihnen ja schon aus meiner Zusage, […] Konzerte in Edinburgh mit Ihnen zu dirigieren, bekannt geworden. In der Tat, der Gedanke an ein Zusammentreffen mit Ihnen hat entscheidendes Gewicht bei meiner Annahme der Einladung nach Edinburgh gehabt.“

Gleichzeitig kam er auch der Bitte zur Leitung von Konzerten in Wien nach, wobei er nicht nur ein überaus großzügiges Angebot machte, sondern das Ensemble auch seiner Unterstützung bei Behebung der moralischen Schäden versicherte: „Wollen Sie mir bitte eine Art Vertrag für zwei Philharmonische Konzerte in Wien senden. Setzen Sie als Honorar eine Summe ein, die Ihnen gemäss erscheint. Ich mache auf gar kein Honorar Anspruch, aber ein Vertrag ohne eine finanzielle Bestimmung wird nicht als solcher gerechnet, und ich brauche einen regulären Vertrag, um ein Visum nach Österreich vom hiesigen Passamt zu erhalten. Ersparen Sie mir, auf die Ausführungen Ihrer Briefe im einzelnen einzugehen. All das lässt sich besser besprechen. Jetzt handelt es sich darum, dass ich vor aller Öffentlichkeit einen Beweis meiner Gesinnung gebe.“9

Die erste Begegnung nach dem Krieg erfolgte im Rahmen des bereits erwähnten sensationellen Gastspiels: Im September 1947 gab man sechs Konzerte in Edinburgh. Das Ereignis ist bestens dokumentiert. „Am 5. September fand das denkwürdige erste Zusammentreffen der Vorstände des Orchesters mit Prof. Bruno Walter im Hotel statt. Es war ein unvergeßlicher Augenblick, als uns der Mensch und große Künstler selbst die Türe öffnete und in wortloser Ergriffenheit gegenüberstand. Es wurden nicht viele Worte gesprochen. Prof. Walter äußerte, endlich seine langgehegte Hoffnung erfüllt zu sehen, mit den Wiener Philharmonikern wieder zusammen zu sein.“10

Bei der Begrüßung anlässlich der ersten Probe bzw. am Ende des Gastspiels offenbarte er sich dem gesamten Orchester in einzigartiger Weise: „Es ist mir vollkommen unmöglich, meine Gefühle auszudrücken. 1901 habe ich zum ersten Mal dieses Orchester dirigiert, dann sind wir 37 Jahre verbunden gewesen. Eine große Anzahl von Jahren war es nur eine gelegentliche Zusammenarbeit, aber niemals ist unsere Verbindung abgerissen. Es war nicht nur eine äußere Verbindung, es war viel mehr als das. Es rührt mich sehr, dass ich in meinem hohen Alter noch Gelegenheit habe, diese Verbundenheit zu erneuern. Ich begrüße Sie und möchte Ihnen sagen, dass mein Herz erfüllt ist von den innigsten Wünschen für Ihre Zukunft.“11 Und er fügte hinzu: „Wir Musiker müssen uns entscheiden. Entweder wir wollen guten Willens sein, oder wir wollen es nicht. Und wir müssen Vorbild sein.“12

Walter betonte aber auch die Wichtigkeit des Gastspiels für Österreich: „Wissen Sie, was in diesen Wochen geschehen ist? Was Sie gemacht haben? Ein Stück Weltgeschichte! […] Sie haben gehört und in den Zeitungen gelesen, wie man über Ihre Konzerte hier urteilt und was man von Wien denkt. Daß man mit tiefem Mitgefühl an einer Stadt und einer Bevölkerung, der es schlecht geht, Anteil nimmt. Wie man von Wien als Kunst- und Musikstadt mit größter Bewunderung spricht und Sie diesen Ruf so vortrefflich gerechtfertigt haben.“13

Die Reise hatte neben dem künstlerischen auch ihren politischen Zweck, die Verbesserung von Österreichs Ansehen, erreicht, wozu neben der Orchesterleistung die demonstrative Haltung Bruno Walters entscheidend beitrug, der am 20. September 1947 aus Lugano Bundespräsident Dr. Karl Renner berichtete: „Ich bin überzeugt, dass Oesterreichs Weltgeltung auf dem Gebiete der Musik mit diesem tiefen und durch Weltpresse und Radio weithin verbreiteten Eindruck aufs neue wiederhergestellt ist. Und dass die Philharmoniker durch alles furchtbare Geschehen des letzten Jahrzehntes, durch Gefahren, Leiden und Entbehrungen in Krieg- und Nachkriegszeit sich musikalisch auf voller Höhe halten konnten, ist eine ebenso bewunderungswürdige künstlerische wie moralische Leistung, die in England mit wahrer Begeisterung anerkannt worden ist.“14

Der Bundespräsident antwortete sechs Tage später aus Mürzsteg: „Ihre die künstlerischen Leistungen der Wiener Philharmoniker so ehrenden Worte haben mir eine große Freude bereitet. Ganz Österreich war stolz darauf, daß unser weltberühmtes Orchester, von Ihrer Meisterhand geleitet, in England so große Erfolge erzielen konnte. Ich danke Ihnen dafür, daß Sie sich diesmal wieder zu gemeinsamer Arbeit mit den Wiener Philharmonikern entschlossen haben und ich hoffe zuversichtlich, daß wir Sie bald auch in Wien werden begrüßen können. Die Bevölkerung unserer Musikstadt hat Ihr hervorragendes künstlerisches Wirken in bester Erinnerung und ein Wiedersehen mit Ihnen würde allseits größte Freude auslösen.“15

Der große Dirigent warf sich für die Philharmoniker aber auch in anderer Hinsicht in die Bresche, indem er etwa zu ihrer Reisetätigkeit Stellung bezog, die seit jeher ein natürliches Spannungselement zur Verpflichtung als Staatsopernorchester darstellt: „Ich verstehe vollkommen die Schwierigkeiten, die den Wiener künstlerischen Instituten aus der Abwesenheit der Philharmoniker erwachsen müssen, der außerordentliche künstlerische wie moralische Vorteil aber, den der Glanz Ihrer Leistungen für das Ansehen Österreichs bedeutet, wiegt meiner Ansicht nach die erwähnten Nachteile auf. Der strahlende Erfolg, den die Wiener Philharmoniker in Edinburgh errungen haben, hat sich bestimmt in einem, weit über die künstlerische Bedeutung des Ereignisses hinausgehenden Maße ausgewirkt und ich glaube, Österreich hat nichts Wertvolleres zu exportieren als sein ruhmreiches Orchester. Ich selbst lebe seit langem im Auslande und kann bestätigen, daß ein großes Kapital von Begeisterung für Österreich als Musikland unverbraucht noch in der Welt vorhanden ist und reiche Zinsen für die Zukunft verspricht, wenn von neuem der Kulturwelt das Orchester, das ein im natürlichen Wachstum entstandener Organismus ist, sich in seinen Höchstleistungen präsentieren kann.“16

Die Intensität der Beziehung zwischen Walter und dem Ensemble geht auch aus einer Bitte hervor, die der Künstler am 16. Dezember 1959 aus Beverly Hills an den damaligen Vorstand Otto Strasser richtete: „Sie haben vielleicht gehoert, dass mir der Wiener Gemeinderat – auf Grund eines einstimmigen Beschlusses des Kuratoriums der Dr. Karl Renner-Stiftung – einen Preis aus dieser Stiftung fuer das Jahr 1959 zuerkannt hat. Die Verteilung der Preise wird im Januar 1960 stattfinden und mir wurde von Herrn Stadtrat Hans Mandl nahegelegt, falls ich nicht selbst anwesend sein koennte, den Preis durch einen Vertreter in Empfang zu nehmen. Da lag mir nichts naeher als an die aeltesten Freunde die ich in Wien habe, die Wiener Philharmoniker, zu denken und Sie zu bitten in deren Namen den Preis fuer mich in Empfang zu nehmen.“17

Zwischen 1947 und 1960 dirigierte Bruno Walter 29 Konzerte der Wiener Philharmoniker. Dies erscheint auf den ersten Blick nicht übermäßig viel; zieht man allerdings sein Alter in Betracht und den erheblich geringeren Reisekomfort vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit, dann ist die Zahl durchaus beachtlich. Das letzte Konzert am 29. Mai 1960 berührt ganz besonders: Anlässlich des 100. Geburtstags des ehemaligen Hofoperndirektors Gustav Mahler kam sein ehemaliger Hofopernkapellmeister im Alter von 83 Jahren ein letztes Mal zu beider ehemaligem Orchester und dirigierte neben Schuberts „Unvollendeter“ Orchesterlieder von Mahler sowie dessen Vierte Symphonie (mit Elisabeth Schwarzkopf als Solistin).

Die Verbundenheit blieb bis zu Bruno Walters Tod in unvermindertem Maße aufrecht. Er dokumentierte bei zahlreichen Gelegenheiten seine Zuneigung und erwiderte die von allen Mitgliedern unterschriebene Glückwunschadresse zu seinem 85. Geburtstag mit einem letzten Brief vom 22. September 1961: „Lieber Herr Strasser: Bitte sagen Sie doch Ihren Herren Kollegen, dass mir an meinem 85. Geburtstag nichts so grosse Freude bereiten konnte als dieser Gruss mit allen Namen des Orchesters, mit dem mich eine Fuelle bedeutendster gemeinsamer musikalischer Erlebnisse verbindet. Und mehr als das! Wir haben es wohl alle bei unserem letzten gemeinsamen Konzert im Mai 1960 gefuehlt, wie nahe wir uns künstlerisch und menschlich stehen. Diese Beziehung zu Ihnen ist mir gegenwaertig als ein unverlierbarer seelischer Besitz und sie waermt das Klima des hohen Alters, das ich erreicht habe.“18

Das moralische Vermächtnis des Bruno Walter hängt – wie so vieles im Leben – mit Wissen zusammen, mit Sich-Bewusstmachen. Wenn man weiß, dass schon der junge Bruno Walter in Wien einen, wie er schrieb, „wenigstens auf dem Papier, ungeheuer[en]“19 Antisemitismus ortete und dennoch unserer Stadt trotz aller folgenden Katastrophen zeitlebens in Liebe verbunden blieb; und wenn man weiß, dass er 1927 mit der zurückgenommenen Dirigentenwahl schwer enttäuscht wurde und sich an seiner Zuneigung zu unserem Orchester dennoch nichts änderte, dann erahnt man, wozu der Mensch im Großen fähig ist – wenn er will! In diesem Sinne hat Bruno Walter die Wiener Philharmoniker verpflichtet: „Wir Musiker müssen uns entscheiden. Entweder wir wollen guten Willens sein, oder wir wollen es nicht. Und wir müssen Vorbild sein.“20 Er sah dies als klaren Auftrag an; wenn wir ihn als „philharmonisches Leitmotiv“ betrachten, ähnlich dem Motto, das Beethoven seiner „Missa solemnis“ voranstellte: „Von Herzen – möge es wieder zu Herzen gehen“, dann haben wir eine adäquate Möglichkeit gefunden, ihm den Dank zu erstatten, den wir ihm schulden.

Das Bemühen um Ausdruck unseres Dankes veranlasste uns auch, am 18. Februar 2012 im Rahmen einer „Philharmonischen Feierstunde“ im Brahmssaal des Musikvereinsgebäudes der 50. Wiederkehr des Todestages von Bruno Walter zu gedenken. Zur Eröffnung erinnerten Rainer Honeck, Alexander Steinberger, Tobias Lea und Raphael Flieder mit dem dritten Satz des Streichquartetts in D-Dur KV 155 an die Bedeutung des Mozart-Interpreten Walter. Zwischen zwei Würdigungen (Clemens Hellsberg: „Dank an Bruno Walter“; Lorin Maazel: „Erinnerungen an Bruno Walter“) spielten Rainer Honeck und Maximilian Flieder (Klavier) „Alter Refrain“, ein Wiener Volkslied von Johann Brandl in der Bearbeitung von Fritz Kreisler.

Die Hommage wurde mit dem zweiten Satz („Langsam und innig“) aus Bruno Walters Streichquartett beschlossen. Die Noten verdankten wir der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien: Der Nachlass Walters gelangte 1963 als Schenkung seiner Tochter Lotte Walter-Lindt in den Besitz der damaligen Musikakademie. Ein kleines, aber berührendes Detail am Rande: Die Uraufführung des Streichquartetts von Bruno Walter war durch vier Philharmoniker erfolgt, nämlich durch die Mitglieder des Rosé-Quartetts. Sie fand im Brahmssaal statt, und das Notenmaterial, aus dem Rainer Honeck, Alexander Steinberger, Tobias Lea und Raphael Flieder am 18. Februar 2012 spielten, war eine Kopie des Originals, aus dem das Rosé-Quartett das Werk zur Uraufführung gebracht hatte. –

Ein weiterer Ausdruck des Dankes ist auch das Bemühen, die Erinnerung an ihn im öffentlichen Gedächtnis unserer Stadt aufrechtzuerhalten. „Am 29. Jänner 1962 starb Fritz Kreisler in New York. Nur neunzehn Tage später, am 17. Februar 1962, starb – ebenfalls in den Vereinigten Staaten, die ebenfalls nach seiner Vertreibung durch ein Mörderregime zu seiner Heimat wurden – der große Dirigent und Humanist Bruno Walter. Beide Künstler haben einen essentiellen Beitrag zum Ruf Wiens als ‚Welthauptstadt der Musik‘ geleistet, beide verliehen bis zuletzt ihrer Liebe zu dieser Stadt bewegenden Ausdruck. Es entspricht nicht dem ‚Wien der Träume‘, dass in der Realität keine Straße, kein Platz an sie erinnert – obwohl nicht zuletzt ein umstrittener Teil der Ringstraße sich dafür anböte.“21

Die Diskussion ist zwar zuletzt ein wenig verstummt; aber wenn einmal ein Teil des Ringes tatsächlich umbenannt werden sollte, warum nicht statt eines unpersönlichen „Parlamentsrings“ ein „Bruno-Walter-Ring“? Bruno Walter, an den nichts in dieser Stadt erinnert – und dem sie so viel zu verdanken hat! Dazu sei angemerkt: Seit 1964 gibt es in Englschalking, einem zum Bezirk Bogenhausen gehörenden Stadtteil Münchens, einen „Bruno-Walter-Ring“: Obwohl der große Künstler „nur“ neun Jahre als Operndirektor in der bayerischen Landeshauptstadt wirkte, würdigte man ihn dort bereits zwei Jahre nach seinem Tod …

Es wäre aber nicht im Sinne Bruno Walters, eine Hommage an ihn mit einem Vorwurf zu beschließen, möge er auch noch so berechtigt sein. Im Vertrauen darauf, dass jene Liebe, die er Wien und den Wiener Philharmonikern entgegenbrachte, letztlich auch die angeregte Ehrung selbstverständlich machen wird, sei hier aus einem Radiointerview zitiert, das der Bayerische Rundfunk am 14. September 1961 anlässlich Walters 85. Geburtstags in Beverly Hills aufzeichnete. Er hatte zwar kurz zuvor abgesagt, noch einmal nach Wien zu kommen, und dies mit den Worten begründet: „Ich bin alt, und mit dem lieben Gott kann man keinen Vertrag abschließen“22; aber er überantwortete sich bis zuletzt dem Zauber der „Stadt der Musik“, sprach er doch noch in diesem Interview von den für ihn „lebensentscheidenden“ Eindrücken des Jahres 1897: „Ich hörte zum ersten Mal die Wiener Philharmoniker, ich saß zum ersten Mal in der Wiener Oper und ging zum ersten Mal in den Straßen von Wien spazieren, und für mich war dieses nicht eine Art Neueindruck, es war ein Wiedereindruck, es war wie eine Art Wiedererkennen. Ich fühlte mich so, als ob ich hier schon längst gewesen wäre. Der Ton der Philharmoniker, das Musizieren in Wien war mir etwas derart Wohlvertrautes, obgleich ich es ja nie in meinem Leben gehört hatte, daß mir zumute war, als hätte ich eine Seelenheimat gefunden. Das wollte ich gern den Wienern an meinem 85. Geburtstag einmal mitteilen.“23

VERZAUBERUNG UND RISIKO IM ORCHESTERGRABEN

Im Jahre 2012 wurde ich von Universitätsprofessor DDr. Michael Fischer, dem leider am 1. Juni 2014 im 70. Lebensjahr verstorbenen Spiritus Rector der „Salzburger Festspiel-Dialoge“, eingeladen, für den Verein „Freunde der Salzburger Festspiele“ einen Vortrag mit dem Titel „Verzauberung und Risiko im Orchestergraben“ zu halten. Ich war augenblicklich vom Thema begeistert, bot es mir doch Gelegenheit, vor einem Forum versierter und interessierter Liebhaber der Salzburger Festspiele über die zentralen emotionalen Herausforderungen meines Berufes, den ich immer als Berufung empfand, zu sprechen und damit auch die Dankbarkeit für meinen Lebensweg zum Ausdruck zu bringen.

Der Vortrag fand am 28. August 2012 im Schüttkasten in Salzburg statt und wurde in einem bemerkenswerten Rahmen wiederholt – am 30. Mai 2015 in Deutschlandsberg anlässlich des 70. Geburtstags von Oberstleutnant a. D. Peter Schuster, der mein Zugskommandant war, als ich 1971 den 9. Jagdkommando-Grundkurs des Österreichischen Bundesheeres absolvierte. Er hatte den Vortrag in Salzburg gehört und wünschte sich ihn als Geschenk für die Feier seines „runden“ Geburtstags. Die Tatsache, dass der ehemalige Kommandant einer militärischen Eliteeinheit in diesem Maße dem Zauber der Musik erlag, ist durchaus keine alltägliche „Begegnung“

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ab einem gewissen Alter kommt man zunehmend in die komfortable Lage, sich manche Dinge aussuchen zu können. Noch ist es bei mir nicht „flächendeckend“ so weit, aber neben den (aus Zeitmangel leider wenigen) solistischen und kammermusikalischen Auftritten bin ich hinsichtlich der Themen von Vorträgen zunehmend in dieser glücklichen Situation.

Nun, das heutige Thema habe ich zwar nicht selbst gewählt, aber ich hätte mir kein besseres wünschen können. Am 1. September 2012 beginne ich mein 37. Dienstjahr in der Staatsoper, und da ich davor, also ab 1974, zwei Jahre substituierte, habe ich gestern meine 38. Teilnahme an den Salzburger Festspielen abgeschlossen. Es sind dies beileibe keine Rekordzahlen, aber es handelt sich doch um einen beträchtlichen Zeitraum, der vor allem lang genug ist, um einen Überblick über diverse Entwicklungen zu haben und eine Zwischenbilanz ziehen zu können, die in die Nähe eines Resümees kommt.

In einer Hinsicht ist diese Zwischenbilanz bereits ein Resümee: Der Zauber der Musik ist weit, weit stärker als die Belastungen, welche die Ausübung dieses Berufes mit sich bringt – zumindest wenn man das Glück hat, in unserem Orchester tätig zu sein, weil dies ja bedeutet, dass man in der Wiener Staatsoper und bei den Wiener Philharmonikern spielt, dass man also mit der Welt des Musiktheaters ebenso vertraut ist wie mit dem Konzertpodium; es bedeutet ferner, dass man den Unterschied zwischen Arbeitnehmer- und selbstständigem Unternehmertum permanent erlebt; und es bedeutet schließlich, dass man um künstlerische, finanzielle und administrative Unabhängigkeit, um Eigenverantwortung und demokratische Selbstverwaltung weiß.

Natürlich sind wir aufgrund dieser Struktur im internationalen „Musikbetrieb“ ein Sonderfall; und es ist klar, dass meine Ausführungen sich auf die Erlebnisse in diesen beiden Klangkörpern (Staatsopernorchester und Wiener Philharmoniker sind ja juristisch völlig getrennte Kollektive!) beziehen: Ich war nie in einem anderen Ensemble engagiert und bin zudem auf dem Stehplatz der Staatsoper ebenso wie auf jenem von Musikverein bzw. Konzerthaus mit diesem Orchester gewissermaßen aufgewachsen.

Da das heutige Thema „Verzauberung und Risiko im Orchestergraben“ lautet, möchte ich mich verstärkt auf die Oper konzentrieren. Die wesentlichen Unterschiede zum Konzert liegen nicht etwa darin, dass man dort im Graben und hier auf dem Podium sitzt, sondern darin, dass Opernspiel für die Orchestermitglieder die permanente Konfrontation mit dem natürlichsten aller Instrumente, der menschlichen Stimme, darstellt. Damit sind wir schon bei einem ganz wesentlichen Zauber: Es erschließt Instrumentalisten eine neue Dimension, große Sängerpersönlichkeiten aus nächster Nähe mitzuerleben, von den Stimmen getragen zu werden und mitzuhelfen, sie zu tragen. Das Faszinierendste ist das Erlebnis des gemeinsamen Atmens, der gemeinsamen Phrasierung: Auch wenn man selbst nicht Gesang studiert hat, übt diese Nähe zur Vox Humana einen nachhaltigen Eindruck auf die eigene Tongebung und Phrasierung aus.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Musizierens im dämmrigen Orchestergraben ist die Einbettung in einen wesentlich größeren Apparat – schon durch die äußeren Dimensionen, welche die Verbindung Bühne–Orchestergraben mit sich bringt, erschließt sich das Phänomen Gesamtkunstwerk besonders intensiv: Man ist, prozentuell gesehen, ein noch kleinerer Teil des kollektiven Geschehens als im Konzert; aber das Aufgehen in diesem großen Verband bedeutet keineswegs eine Selbstaufgabe oder Auflösung des Individuums – im Gegenteil, man erlebt bewusst und hautnah, was es bedeutet, Teil eines Kosmos zu sein und durch die Einordnung in ein größeres Ganzes die eigenen Grenzen zu erweitern.

Ein anderes Phänomen, das zauberhafte Wirkung ausübt, ist das Wort-Ton-Verhältnis. Es ist immer wieder aufs Neue faszinierend, wie die großen Komponisten den Sinn für Dramatik mit jenem für die psychologische Ausleuchtung des Textes verbinden. Wenn ich jetzt mit Beispielen beginnen würde, säßen wir zu Beginn der nächsten Salzburger Festspiele noch immer hier. Lassen Sie mich daher nur ein einziges anführen. In der ersten Szene des dritten Aufzugs von Richard Wagners „Tristan und Isolde“ heißt es:

„Ich war,

wo ich von je gewesen,

wohin auf je ich geh’

im weiten Reich

der Weltennacht.

Nur ein Wissen

dort uns eigen:

göttlich ew’ges

Urvergessen!“

Abgesehen davon, dass die Textstelle: „Ich war, wo ich von je gewesen“ den Charakter eines kurzen, aber unerhört subtilen Trauermarsches von unerbittlichem, in die Unendlichkeit weisenden Ernst hat, erfolgt beim Wort „Urvergessen“ eine der erstaunlichsten Modulationen der Operngeschichte: Der Gang durch mehrere Tonarten mündet in D-Dur, also in einer scheinbar „einfachen“ Tonart; die unglaubliche Wirkung liegt allerdings darin, dass es sich tatsächlich um Eses-Dur handelt, eine Tonart also, die es auf dem Papier nicht gibt, weil die Noten aufgrund der vielen doppelten Vorzeichen unleserlich wären und daher enharmonisch verwechselt geschrieben werden. Diese Modulation – die übrigens ganz kurz nach dem Wort „göttlich“ erfolgt, das in der gesamten Partitur nur an dieser einzigen Stelle vorkommt! – ist eine jedes Mal aufs Neue überwältigende musikalische Darstellung der Vereinigung von Liebe und Tod, jenem romantischen Ideal, das diesem Musikdrama zugrunde liegt. Natürlich steht der Eindruck sämtlichen Menschen offen, die das Werk hören; aber wenn man weiß, wenn man vor allem fühlt, dass man jetzt eben kein „d“ spielt, sondern „eses“, und dies gemeinsam mit dem Sänger, für den es extrem schwierig ist, genau die Farbe zu treffen, die jener Ton verlangt, dann fühlt man mit allen Fasern, was Verzauberung ist.

Begeben wir uns von der Welt des Theaters in die reale Welt, und diese hat auch in unserem Beruf manch desillusionierenden Aspekt. Obwohl wir in der glücklichen Lage sind, zum bei Weitem überwiegenden Teil mit den größten Meisterwerken konfrontiert zu sein, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass wir nicht nur „Don Giovanni“, „Götterdämmerung“, „Falstaff“, „Tosca“ oder „Elektra“ spielen, sondern auch Werke, die musikalisch weniger Substanz haben. „Menschen sin’ ma halt“, heißt es im „Rosenkavalier“, und Orchestermenschen greifen gelegentlich unbewusst zu einer Art von Selbstschutz: Wenn die Welt der Oper durch Unterforderung oder unzureichende Mitwirkende, sei es am Dirigentenpult oder auf der Bühne, in ihrem Zauber Einbußen erleidet, dann kann es zu Reaktionen kommen, denen manchmal ein infantiler Zug nicht abzusprechen ist und die zu Recht verurteilt werden, die aber durchaus den Ausdruck künstlerischer Verzweiflung darstellen.

Leider gab es (in der Vergangenheit natürlich!) manchmal auch groben Unfug. Im Jahre 1863 etwa, als die Pulte noch mit Öllampen beleuchtet waren, machten es sich offenkundig einige Orchestermitglieder zur Gewohnheit, ihren Kollegen „Scherzes halber“ während einer Opernvorstellung die Pultlampen zu löschen, „wodurch mehrere bedeutende Störungen in der musikalischen Exekutirung [!] verursacht wurden“1. So heiter das heute klingt – derartige Lausbübereien dienten nicht gerade der Förderung des Ansehens des Ensembles, und vor allem: Sie störten die Verzauberung des Publikums, und diese ist selbstredend eine unabdingbare Voraussetzung für jede erfolgreiche Aufführung.

Oper ist Theater, und manchmal kann es sogar zu einem „Theater“ kommen, das weder im Libretto noch in der Partitur vorgesehen ist. Als im Jahre 1870 der Dirigent und Operndirektor Johann Ritter von Herbeck dem Orchester eine Gehaltserhöhung zugestand, handelte er sich Schwierigkeiten mit dem Chor ein, der sich übergangen fühlte und in seinem „Selbstgefühle dadurch gekränkt wurde, daß Herbeck die Aeußerung that, das Orchester sei der erste und wichtigste Körper einer Oper.“2 Die Antwort waren Kampfmaßnahmen: Bei der nächsten Aufführung des „Tannhäuser“ sangen die Herren nicht, sondern „summten und brummten [mit] fest geschlossenen Lippen […] ihren Part herunter.“3 Damit nicht genug: Nach dem ersten Akt dieser Vorstellung gab der Sänger des Landgrafen wegen plötzlicher Indisposition auf, worauf ein (ebenfalls maroder) Ersatz herbeigeholt wurde, der „im Interesse der Kunst und des Spielhonorars“ die Partie übernahm. „Damit aber der Kelch bis zur Neige geleert werde und neben Chor und Soli auch das Orchester zur Verherrlichung des so beispiellos glücklichen Abends das Seinige beitrage, sprang im letzten Acte, während der Erzählung Tannhäusers, ein Violinspieler plötzlich, wie von der Tarantel gestochen, von seinem Sitze und spielte auf seiner Geige einige Figuren, die eine eingetretene Geistesstörung des Virtuosen vermuthen und dessen rasche Entfernung gerathen erscheinen ließen.“4

Kommen wir zum zweiten Teil des Themas, zum Aspekt des Risikos. „Sicherheit geht immer auf Kosten der Schönheit!“ So drastisch drückt sich Nikolaus Harnoncourt aus, und der pointenreiche Meister der Formulierung hat im Prinzip recht, wenngleich nicht in dieser Ausschließlichkeit. Es geht immer um das Abwägen: Man muss riskieren, man kann sich immer wieder auch überfordern, aber man darf nicht blindlings von einem Fehler in den nächsten taumeln. Musikausübung auf höchstem Niveau ist eine Kombination von glühendem Herz und klarem Verstand, ist totales Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und jene der Mitspielenden, aber auch Wissen um die technischen Schwierigkeiten.

Das aus Zeitgründen einzige Beispiel, das ich anführen will, bezieht sich zwar auf das Orchesterpodium, aber das Phänomen „Risiko“ ist dasselbe wie im Orchestergraben. Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen bei unserem heurigen ersten Konzert in Salzburg anwesend waren. Im zweiten Teil dirigierte Valery Gergiev Sergej Prokofieffs Fünfte Symphonie, die er phänomenal beherrscht und überragend einstudierte. Das Werk hat am Ende eine äußerst überraschende Passage – die scheinbar unaufhaltsame Schlusssteigerung wird unterbrochen und das Riesenorchester wenige Sekunden auf die Streichersolisten und das Klavier reduziert, ehe dann für die allerletzten Takte wieder das ganze Orchester einsetzt. Dieser Wechsel in der Dynamik entspricht ungefähr dem Phänomen, das Skirennfahrer erleben, wenn sie vom Sonnenschein in den Schatten rasen: Wie das Auge braucht auch das Ohr einige Sekundenbruchteile, um sich auf die neue Situation einzustellen. In der Generalprobe glückte das nicht zufriedenstellend. Gergiev zuckte mit keiner Wimper, dachte nicht im Traum daran, die Stelle zu wiederholen und verabschiedete sich mit der größten Selbstverständlichkeit. Im Konzert war er an dieser Stelle äußerst konzentriert – und machte dann etwas, was er in keiner Probe gemacht hatte: Er steigerte in den letzten Takten noch das Tempo! Mit anderen Worten: Er erhöhte das ohnehin schon komponierte Risiko um ein Vielfaches, aber dieses Vertrauen in die eigene Schlagtechnik wie in die Fähigkeiten des Orchesters ermöglichte eine Schlusswirkung, die das Publikum förmlich von den Sitzen riss.

Lassen Sie mich zur Verzauberung zurückkehren und mit einem ganz persönlichen Wort schließen. Ich nähere mich mit immer größeren Schritten dem Ende meiner Laufbahn als Orchestermusiker – und erliege nach wie vor dem Zauber der Musik, der sich mir keineswegs in einer durch den „Alltag“ mehr und mehr abgeschwächten Form, sondern immer noch berückender offenbart. Dafür bin ich zutiefst dankbar: Ich weiß nach vier Jahrzehnten intensiver Einbindung in das Musikleben, dass der Zauber der Musik unverbrüchlich ist. Und ich weiß mittlerweile auch, dass es in der Musikausübung nur ein wirkliches Risiko gibt: das Versinken in Routine, dem größten Feind der Verzauberung … Aber das kann niemals geschehen, solange man bereit ist, sich dem Zauber der Musik mit Leib und Seele hinzugeben!

LIEBE AUF DEN ZWEITEN BLICK: PIERRE BOULEZ

Meine erste Begegnung mit einem führenden Dirigenten fällt in die „vor-philharmonische“ Zeit meines Lebens. Nach der Matura fuhr ich im Sommer 1970 nach Bayreuth, um im Rahmen des dortigen Jugendfestspieltreffens einen Kammermusikkurs zu belegen und Aufführungen zu besuchen, darunter „Parsifal“ in der legendären Inszenierung von Wieland Wagner. Dirigent war Pierre Boulez, der auch ein Konzert des Jugendfestspielorchesters leitete. Ich hatte mich dafür nicht angemeldet, hörte aber aufgrund der Berichte begeisterter Kommilitonen einer Probe zu, erlebte die Arbeitsweise von Boulez – und bereute, mich auf den Kammermusikkurs beschränkt zu haben.

Zweiundzwanzig Jahre später konnte ich das Versäumte nachholen: Bei den Salzburger Festspielen 1992 dirigierte Pierre Boulez erstmals ein Konzert der Wiener Philharmoniker, und die seinerzeitige Faszination stellte sich augenblicklich wieder ein. Dieses Debüt war allerdings nicht „lupenrein“ – Boulez hatte bereits 1962 unser Orchester dirigiert, jedoch nicht in einem Konzert, sondern bei einer Ballettproduktion der Salzburger Festspiele. Die Begegnung war ohne Folgen geblieben, da das kurz vor einem tiefgreifenden Generationenwechsel stehende Orchester und der damals 37-jährige Dirigent einander offenkundig nicht überzeugt hatten.

Die darauffolgende „Generalpause“ war somit von noch längerer Dauer als die Zeitspanne, die bis zu meiner Wiederbegegnung mit dem Künstler verging. Aber in beiden Fällen unterschied sich der Neubeginn grundlegend vom ersten Zusammentreffen: Die „Ära Boulez“ zählt zu den prägenden Phasen der jüngeren Geschichte unseres Orchesters, und ich durfte Pierre Boulez nicht nur zur Verleihung von Ehrenmitgliedschaft und Ehrenring der Wiener Philharmoniker gratulieren, sondern hatte ebenso wie Dieter Flury das Privileg, ihm persönlich nahezustehen.

Im Jahre 2001 fragte ich Pierre Boulez, ob er nicht den 26. März 2005, also seinen 80. Geburtstag, mit uns verbringen möchte. Er antwortete: „Das würde ich sehr gerne machen, aber ich habe soeben Chicago zugesagt.“ Daraufhin lud ich ihn augenblicklich zum 85. Geburtstag ein. Er lachte, machte sich jedoch eine entsprechende Notiz – und feierte neun Jahre später tatsächlich seinen „85er“ in unserem Kreis. Das wohl am weitesten vorausgeplante Konzert unserer Geschichte war Teil einer sechs Auftritte in Wien und Linz umfassenden Serie, der die alljährliche „Wiener PhilharmonikerWoche in New York“ voranging und die durch eine Philharmonische Feierstunde am 27. März 2010 im Brahmssaal ergänzt wurde, bei der Franz Welser-Möst die Laudatio hielt. Deren musikalische Gestaltung übernahm der renommierte Komponist René Staar, der seit 1988 Mitglied unserer Sekundgeigergruppe ist. Unter seiner Leitung brachten Konzertmeisterin Albena Danailova, Wilfried Hedenborg, Christoph Koncz, Robert Bauerstatter, Daniela Ivanova, Stephan Koncz1, Dieter Flury, Daniel Ottensamer, Wolfgang Vladar, David Kammerzelt2, Thomas Lechner und Johannes Marian (Klavier) „Dérive pour six instruments“ und „Mémoriale (… explosante-fixe … originel)“ von Pierre Boulez zur Aufführung. René Staar begleitete überdies Albena Danailova bei zwei „Alt-Wiener Tänzen“ von Fritz Kreisler („Liebesleid“ und „Schön’ Rosmarin“) am Klavier.

Selbstverständlich war der Geburtstag auch Anlass für einen ausführlichen Artikel in den „Musikblättern der Wiener Philharmoniker“3 bzw. für eine Ansprache im Rahmen der Feierstunde. Beides wird nachstehend wiedergegeben, wobei der statistische Teil des „Geburtstagsartikels“ adaptiert wurde und nun sämtliche aufgeführten Werke enthält.

ZUM 85. GEBURTSTAG VON PIERRE BOULEZ

Wie bei jeder über einen längeren Zeitraum bestehenden Institution ist auch die Geschichte der Wiener Philharmoniker in verschiedene Abschnitte gegliedert. Zäsuren erfolgten durch politische Ereignisse, in stärkerem Maße jedoch durch herausragende Künstler, welche das Orchester seit 1842 begleiteten. Diese Betrachtungsweise muss allerdings zwei Systeme berücksichtigen. Nach der nur fünfjährigen Ära Otto Nicolais und einer darauffolgenden Periode der Instabilität wurden 1860 die „Philharmonischen Abonnementkonzerte“ eingeführt und zunächst das „Abonnementdirigentensystem“ praktiziert: Ein alljährlich gewählter Dirigent leitete alle Konzerte einer Saison und fungierte lange auch als Vorsitzender der Hauptversammlung und des Verwaltungsausschusses. 1933 wurde diese Form durch das Gastdirigentensystem abgelöst, mit dessen Hilfe die Wiener Philharmoniker beinahe alle führenden Künstler an sich binden.

Es liegt nahe, die Zeit vor 1933 durch das Wirken der „Abonnementdirigenten“ zu gliedern: Dreizehn Jahre nach Nicolai etwa folgte die 15-jährige „Ära Otto Dessoff“, auf diese die „Ära Hans Richter“ – der wohl bedeutendste Dirigent des 19. Jahrhunderts leitete das Ensemble durch 22 Saisonen. Nach 1933 ist die Einteilung schwieriger: Wenn etwa Toscanini und Furtwängler, Knappertsbusch und Böhm, Karajan und Bernstein zur selben Zeit dem Orchester verbunden waren und es in zwar verschiedener, aber ähnlich charakteristischer Weise prägten, dann fordert dies ein Abgehen von der zeitlich linearen Gliederung. Aber auch das Gastdirigentensystem kennt den Begriff „Ära“. Er wird nun durch Vielfalt definiert, wobei die Begegnung mit so unterschiedlichen Künstlerpersönlichkeiten beweist, dass zu jedem Kunstwerk viele Wege führen, solange sie jener Maxime unterliegen, welche bereits anlässlich des sechsten Philharmonischen Konzerts zum Imperativ erhoben wurde: „Denn was ist das Höchste in der Kunst? Das was auch in der Manifestation des Lebens das Höchste ist: die selbstbewußte Freiheit des Geistes. Nicht nur Musikstücke also, in der Fülle jenes Selbstbewußtseins componirt, sondern auch der bloße Vortrag kann als das künstlerisch Höchste betrachtet werden, wenn uns daraus jener Unendlichkeithauch anweht, der unmittelbar bekundet, daß der Executant mit dem Tondichter auf derselben freien Geistesstufe steht und er ebenfalls ein Freier ist.“4

In diesem Sinne stellt der 30. August 1992 ein wichtiges Datum in der Geschichte unseres Orchesters dar. Für das Abschlusskonzert der Salzburger Festspiele waren nicht weniger als sechs Proben angesetzt, auf dem Programm standen Igor Strawinskys „Le Chant du Rossignol“, Claude Debussys „Trois Nocturnes“, „Livre pour cordes“ von Pierre Boulez und Béla Bartóks Ballett „Der wunderbare Mandarin“: Ein (nach gängigem Vorurteil) nicht typisch „philharmonisches“ Programm, das noch dazu von Pierre Boulez geleitet wurde, einem Künstler, der (nach gängigem Vorurteil) scheinbar außerhalb des Kreises der „philharmonischen“ Dirigenten stand. Der gewissermaßen programmierte, vielleicht von mancher Seite sogar erwartete Konflikt blieb aus, im Gegenteil: Das überaus erfolgreiche, am 10. September 1992 in London wiederholte Konzert bildete den Beginn einer neuen Ära in der damals 150-jährigen Geschichte unseres Orchesters.

Es war allerdings Teil eines „Debüts auf Raten“: Tatsächlich hatte Pierre Boulez bereits bei den Salzburger Festspielen 1962 dirigiert, als er eine Ballettproduktion mit Werken von Igor Strawinsky („Les Noces“, „Le Sacre du Printemps“) leitete. Diese Begegnung blieb fast eine Generation lang ohne Nachhall, eben bis zu jenem 30. August 1992, der eine „Liebe auf den zweiten Blick“ einleitete: Bis zu Boulez’ Tod am 5. Jänner 2016 gab es 81 weitere Konzerte, wobei das letzte am 28. Jänner 2012 im Rahmen der Mozartwoche und somit wiederum in Salzburg stattfand. Allein sieben Mal trat er im Rahmen der „Philharmonischen Soiréen“ auf, wobei der erste Abend am 18. Oktober 1999 ein markantes Ereignis darstellt, wurden doch damals zum zweiten Mal die Abonnementkonzerte unseres Orchesters erweitert. 1917 war das als „Öffentliche Generalprobe“ deklarierte Samstagnachmittag-Konzert installiert worden, welches umgehend eine dauerhafte Ergänzung zur Sonntag-Matinée bildete. (Die Bezeichnung „Generalprobe“ wurde übrigens erst 1996 in „Konzert“ geändert). Die überaus erfreuliche Kartennachfrage – zuletzt hatte die Wartezeit auf ein Abonnement rund 20 Jahre betragen! – führte zum Beschluss des Plenums, eine dritte Serie, eben die „Philharmonischen Soiréen“, aufzulegen, deren erste von Pierre Boulez geleitet wurde.

Die Programme der Konzerte enthalten 66 Werke von 19 Komponisten in 236 Wiedergaben: Béla Bartók (6 Kompositionen in 31 Wiedergaben), Alban Berg (4/11), Pierre Boulez (2/9), Anton Bruckner (3/18), Friedrich Cerha (1/2), Claude Debussy (4/19), Joseph Haydn (1/6), Leoš Janáček (1/2), Gustav Mahler (11/33), Wolfgang Amadeus Mozart (7/9), Olga Neuwirth (1/2 – Uraufführung), Maurice Ravel (3/6), Arnold Schönberg (5/28), Alexander Skrjabin (1/4), Igor Strawinsky (7/17), Karol Szymanowski (2/7), Richard Wagner (3/10), Anton Webern (3/21) und Jörg Widmann (1/1 – Uraufführung). Zu den Konzerten kommt eine Sonderveranstaltung, die zuvor kaum jemand mit Pierre Boulez in einen Zusammenhang gebracht hätte: Am 23. Jänner 2003 eröffnete er den 62. Ball der Wiener Philharmoniker, wobei er den zweiten Satz („Un bal“) der „Sinfonie fantastique“ von Hector Berlioz dirigierte.

Die Zusammenarbeit wurde von 1992 bis 2012 nie für mehr als eine Saison unterbrochen, blieb aber von Boulez’ Seite aus stets wohldosiert, bestand sie doch aus maximal elf Konzerten in einer Spielzeit. Selbst dieses äußerliche Detail verdeutlicht die klare Disposition des Künstlers, die naturgemäß auch in den von ihm gewählten Programmen zum Ausdruck kam und ihn befähigte, Orchestermitgliedern eine überlegene Sicht der inneren Zusammenhänge einer Komposition zu geben, sie zu Entdeckungsreisen hinsichtlich Repertoire und Interpretation zu inspirieren und somit ihren Horizont zu erweitern. Die Qualität seiner Beziehung zu den Philharmonikern manifestierte sich aber auch in der Beeinflussung in umgekehrter Richtung: Auf Anregung der damaligen philharmonischen Leitung5 studierte Boulez 1996 erstmals eine Symphonie Anton Bruckners – und die beiden Aufführungen der „Achten“ in St. Florian waren für ihn ein derart überzeugendes Erlebnis, dass er sich auch die Siebente und Neunte Symphonie des oberösterreichischen Meisters aneignete und die genannten drei Werke 18-mal mit uns aufführte.

Professionalität der künstlerischen Arbeit, Kompromisslosigkeit hinsichtlich der Partiturtreue, intellektuelle Brillanz – all diese Qualitäten werden mit Pierre Boulez gewissermaßen reflexartig verbunden. Seine Beziehung zu unserem Orchester war jedoch auch durch eine berührende menschliche Dimension geprägt. So unterbrach er im Februar 2007 das Studium von Leoš Janáčeks Oper „Aus einem Totenhaus“, sprang innerhalb von eineinhalb Tagen für Daniel Barenboim ein, der aus persönlichen Gründen nach Berlin fahren musste, und rettete damit nicht nur vier Konzerte in Wien, sondern eine daran anschließende Tournee mit Barenboim nach Budapest, Oslo, Moskau, Valencia, Madrid und New York, welche ohne die von Pierre Boulez geleiteten Proben und Aufführungen gefährdet gewesen wäre.

Der Ehrenring, mit dem wir ihm für diesen Beweis tiefer Verbundenheit dankten, stellte bereits die zweite Auszeichnung durch unsere Gemeinschaft dar: Am 29. Mai 2005 war ihm anlässlich seines 80. Geburtstages im Rahmen eines sonntäglichen Abonnementkonzerts die Ehrenmitgliedschaft verliehen worden. In seiner Dankesrede im Goldenen Saal öffnete er damals in einzigartiger Weise sein Herz:

„Liebe Kollegen, Sie erweisen mir die Ehre, mich zum Ehrenmitglied der Wiener Philharmoniker zu ernennen. Ich bin mir des Prestiges, das sich mit dieser Auszeichnung verbindet, bewusst, und glauben Sie mir, ich schätze es ausserordentlich, dass Sie mich ihrer für würdig halten. Aber mehr noch als das Prestige und die Ehre schätze ich, dass Sie mich in Ihre Gemeinschaft aufnehmen […].

Sowohl als Komponist als auch als Dirigent zieht man es vor, den Zuspruch der Zuhörerschaft zu erhalten. Und es ist unendlich viel angenehmer, einen enthusiastischen Beifall zu bekommen als höflich oder kalt vom Publikum empfangen zu werden oder gar feindlichen Reaktionen ausgesetzt zu sein – obwohl man die Letzteren allenfalls auch als Zeichen der Aufmerksamkeit betrachten kann!

Das heisst, wenn man ein perfektes, oder – übertreiben wir nicht! – ein nahezu perfektes Verständnis mit den Musikern, seinen Kollegen, erreicht hat, dann erlebt man, glaube ich, eine noch intensivere, noch direktere, noch tiefergehende Befriedigung. Denn diese Art von Einstimmigkeit ist durch die Arbeit, manchmal durch Mühe und Anstrengung geschmiedet worden, um zu einer Transformation, zur Verwandlung dieses Handwerks in eine künstlerische Vollendung zu führen.

Ich erinnere mich an eine wahrscheinlich apokryphe Anekdote, die ich vor sehr langer Zeit über das Kind Mozart gelesen habe. Anscheinend hat er sich, wenn er in Anwesenheit einiger Auserwählter ein Stück gespielt oder improvisiert hatte, gleich danach auf die Zuhörer gestürzt, um sie besorgt zu fragen: ‚Lieben Sie mich?‘ Ich glaube, dass ich mich selber oft noch in diesem Stadium der Kindheit und Naivität befinde, und dass die Frage, die ich nicht mehr zu stellen wage – in meinem Alter wäre das exzessiv! – dieses berühmte ‚Lieben Sie mich?‘ ist. Sie haben mir jedoch, ohne dass ich Ihnen die Frage gestellt hätte, eine ehrenvolle Antwort gegeben. Ich danke Ihnen dafür aufrichtig.“

Aus der Verbindung durch das „Band der Kunst, welches ja alle Berufenen ohne Ansehen der Person oder der Richtung vereinigt“6, wie dies Gustav Mahler 1906 in einem berührenden Brief an unser Orchester formulierte, wurde längst die Idealform einer Künstlerfreundschaft, die auf musikalischen wie menschlichen Beziehungen und wechselseitigem Respekt beruht. In diesem Sinne, verehrter, lieber Herr Boulez, gratulieren die Wiener Philharmoniker auf das herzlichste zu Ihrem 85. Geburtstag. Wir verbinden unsere Wünsche mit dem Dank, dass Sie stets mit so offenkundiger Freude zu uns kommen und nun auch diesen Ehrentag in unserem Kreis verbringen, in einer Musikervereinigung, die Anton Bruckner anlässlich der Uraufführung seiner Achten Symphonie als den „höchsten Kunstverein in der Musik“7 bezeichnete und die es sich zur Ehre anrechnet, Sie ihr Ehrenmitglied nennen zu dürfen.

Der Wiedergabe meiner Ansprache bei der „Philharmonischen Feierstunde“ am 27. März 2010 sei ein unvergessliches Erlebnis vorangestellt. Im September 2005 brachten wir unter Boulez’ Leitung innerhalb von acht Tagen Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ und die Siebente Symphonie von Anton Bruckner in acht Konzerten in Linz, Wien, Turin, Pisa, Verona und Baden-Baden zur Aufführung. Das Konzert in Baden-Baden stand für ihn unter einem besonderen emotionalen Aspekt, stellte es doch unser erstes (und einziges) gemeinsames Auftreten in jener Stadt dar, in der er durch Jahrzehnte seinen Hauptwohnsitz hatte. Wie am Ende jeder Tournee üblich, bedankte ich mich bei der Akustikprobe für die glänzende Zusammenarbeit. Während seiner Erwiderung stand ich neben ihm, als ihm plötzlich die Stimme versagte. Im ersten Reflex dachte ich an eine physische Ursache, aber dann sah ich die Fassungslosigkeit in den Gesichtern der Orchestermitglieder – Pierre Boulez kämpfte mit den Tränen! Der Moment gehört zu den kostbarsten meines gesamten Lebens in unserer Gemeinschaft: Einer der souveränsten Künstler und brillantesten Köpfe unserer Zeit wurde von den Emotionen überwältigt, die ihn mit den Wiener Philharmonikern verbanden!

Sehr geehrte Festgäste!

Wenn man die Ehre hat, Pierre Boulez, die zentrale Erscheinung der zeitgenössischen Musik, feiern zu dürfen, wenn man als Laudator einen so scharfsinnigen Musiker wie Franz Welser-Möst gewinnen kann, dann darf man sich nicht der Gefahr aussetzen, beiden Größen auf Augenhöhe entgegentreten zu wollen. Lassen Sie mich daher die Wünsche der Wiener Philharmoniker mit einigen Worten über jenen Pierre Boulez verbinden, der unserem Orchester menschlich so nahesteht, wie dies wohl kaum dem Bild entspricht, welches sich ein Großteil der Musikwelt von ihm und von seiner Beziehung zu uns macht.

Es war aber nicht nur die Sorge, beiden Herren nicht gerecht zu werden, die mich veranlasste, mich auf den Menschen Pierre Boulez zu konzentrieren; Ausgangspunkt war vielmehr die wohl verständliche Frage: Was schenkt man Pierre Boulez zum Geburtstag? Dieter Flury und ich richteten sie letztes Jahr an Marion Thiem, seine Assistentin. Wir erwarteten nicht wirklich eine konkrete Antwort – und erhielten die prompte Auskunft: die Programmhefte aller bisher von ihm dirigierten Philharmonischen Konzerte! Auch wenn eine solche Sammlung lediglich für Ahnungslose eine andere Form der Statistik ist, für uns jedoch den Weg symbolisiert, welchen wir unter der Leitung von Pierre Boulez eingeschlagen haben, waren wir doch überrascht.