Philosophie der Einsamkeit - Lars Fredrik Händler Svendsen - E-Book

Philosophie der Einsamkeit E-Book

Lars Fredrik Händler Svendsen

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Beschreibung

Was ist Einsamkeit? Ein Produkt der anonymen Massengesellschaft oder Teil des menschlichen Wesens? Wie und warum entsteht dieses quälende Bedürfnis nach Verbundenheit mit Anderen und worauf weist es hin? Gibt es einen Unterschied zwischen guter und schlechter Einsamkeit? Kann der Mensch vielleicht sogar die beste Zeit seines Lebens dann haben, wenn er allein ist? Mit der Suche nach Antworten auf jene drängenden Fragen unseres modernen Lebens hat sich Lars Svendsen der Erforschung eines Phänomens angenommen, das zwar jeden Mensch betrifft, jedoch nur selten wirklich hinterfragt wird. Die Schlussfolgerungen, zu denen er dabei gelangt, sind ebenso überraschend wie brisant – jenseits scheinbarer Gewissheiten muss er feststellen: »Ich habe noch nie mit einem Thema gearbeitet, bei dem die Vermutungen, mit denen ich zu Werke schritt, in diesem Maße wiederlegt wurden.«

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Lars Fr. H. Svendsen

Philosophieder Einsamkeit

Aus dem Norwegischen vonDaniela Stilzebach

Für Siri, Iben und Luna

Lars Fredrik Händler Svendsen

(geboren 1970) ist Philosoph und Professor für Philosophie an der Universität Bergen. Seine Werke wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Im Verlagshaus Römerweg ebenfalls von ihm erschienen: »Philosophie für Hunde- und Katzenfreunde – Tiere verstehen« (2019) und »Philosophie der Lüge« (2022).

Daniela Stilzebach

Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft, Psychologie und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig; Studium der nordischen Sprachen und Literatur an der Universität Bergen/Norwegen; Übersetzerin aus dem Norwegischen, Dänischen und Schwedischen sowie langjährige Berufserfahrung im Bereich Redaktion, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

Inhalt

Einleitung

Ein allen Menschen gemeinsames Phänomen

Philosophie der Einsamkeit

1 Das Wesen der Einsamkeit

»Einsam« und »Allein«

Einsamkeit und Lebenssinn

Formen der Einsamkeit

Einsamkeit und Gesundheit

2 Einsamkeit als Gefühl

Was sind Gefühle?

Auslegung der Gefühle

Funktion des Gefühls

Einsamkeit als Perspektive auf die Welt

Das Gefühlsleben formen

3 Wer sind die Einsamen?

Einsamkeit zählen

Die norwegische Einsamkeit

Einsamkeit, Lebensphasen und soziale Gruppen

Einsamkeit und Geschlecht

Einsamkeit und Persönlichkeit

4 Einsamkeit und Vertrauen

Vertrauenskulturen

Die totalitäre Einsamkeit

Vertrauen in der zwischenmenschlichen Interaktion

5 Einsamkeit, Freundschaft und Liebe

Über Freundschaft

Über Liebe

Zynismus und Skepsis

Liebe, Freundschaft und Identität

6 Individualismus und Einsamkeit

Was ist ein liberales Individuum?

Allein leben

Ein Individuum, heimgesucht von Einsamkeit?

Einsamkeit und soziale Medien

7 Die gute Einsamkeit

Einsamkeit und Erkenntnis

Rousseau und die Enttäuschung der Einsamkeit

Verfügbarkeit der Einsamkeit

Freiheit vom Blick des Anderen

Fähigkeit zur Einsamkeit

8 Einsamkeit und Verantwortung

Einsamkeit und Scham

Einsamkeit, Zugehörigkeit und Lebenssinn

Politik der Einsamkeit

Verantwortung für die eigenen Gefühle

Es ist Ihre Einsamkeit

Nachwort

Einsamkeit und die COVID-Pandemie

Dank

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Einleitung

All is loneliness here for me

Loneliness here for me …

Loneliness

(Moondog)

Nahezu alles, was ich glaubte, über Einsamkeit zu wissen, hat sich als falsch erwiesen. Ich nahm an, dass mehr Männer als Frauen einsam seien, und dass die Einsamen mehr allein seien als andere. Die starke Zunahme der Anzahl Alleinlebender würde große Auswirkungen auf die Anzahl Einsamer haben, dachte ich. Ich glaubte, soziale Medien würden mehr Einsamkeit erzeugen, indem sie die übliche Sozialität verdrängten. Obwohl es sich um ein subjektives Phänomen handelt, glaubte ich, Einsamkeit sei vielmehr aus dem sozialen Umfeld der Individuen heraus zu verstehen als ausgehend von ihren individuellen Dispositionen. Ich glaubte, die skandinavischen Länder hätten ein hohes Niveau an Einsamkeit und dieses würde ansteigen. Des Weiteren nahm ich an, ein solcher Anstieg sei dem spätmodernen Individualismus geschuldet und das Einsamkeitsniveau individualistischer Gesellschaften sei höher als jenes kollektivistischer.

Ich habe noch nie mit einem Thema gearbeitet, bei dem die Vermutungen, mit denen ich zu Werke schritt, derart widerlegt wurden. Vorstellungen dieser Art sind weit verbreitet. Sie können als Standardbild bezeichnet werden, das uns die Massenmedien vermitteln, wo zum Beispiel das Wort »Einsamkeitsepidemie« häufig verwendet wird: Eine Google-Suche nach »Loneliness + Epidemic« ergibt in schreibender Stunde beinahe 400.000 Treffer. Allerdings liefern uns diese Darstellungen ein stark irreführendes Bild vom Problem der Einsamkeit. Es ist schwer zu erkennen, dass es eine andere »Einsamkeitsepidemie« gibt, als jene die auftaucht, wenn man nach der Häufigkeit des Begriffs »Einsamkeit« in den Massenmedien sucht, wo seit Jahren ein starker Anstieg zu verzeichnen ist. Der Einsamkeit wird immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet, was aber nicht bedeutet, dass die Einsamkeit, der diese Aufmerksamkeit zuteilwird, zugenommen hat.

Die Behauptung, dass Einsamkeit für den Betroffenen ein ernsthaftes Problem sein kann, ist ungefähr das Einzige, was stimmt. Einsamkeit hat enorme Konsequenzen für die Lebensqualität vieler Menschen, für ihre physische sowie psychische Gesundheit. Allerdings ist es schwer darüber zu sprechen, weil das Thema so mit Scham belegt ist. Gleichzeitig können wir unsere besten Stunden dann haben, wenn wir allein sind. Die Einsamkeit sagt viel über uns selbst und unseren Platz in der Welt aus. Dieses Buch ist das Ergebnis meines Versuchs herauszufinden, was Einsamkeit eigentlich ist, wer von Einsamkeit betroffen ist, warum das Gefühl von Einsamkeit entsteht, andauert und verschwindet, und wie man sich als Individuum sowie als Gesellschaft gegenüber der Einsamkeit verhalten kann.

Ein allen Menschen gemeinsames Phänomen

Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wie das Gefühl von Einsamkeit erlebt wird. Sie kennen es aus Ihrer Kindheit, von einem Tag, an dem Sie vollkommen sich selbst überlassen waren und dachten, alle anderen haben jemanden zum Spielen; von einem Abend, an dem Sie mutterseelenallein waren und gern jemanden bei sich gehabt hätten; von der Feier, auf der Sie kaum jemanden kannten und allein herumstanden, während Sie von Leuten umgeben waren, die geschäftig miteinander kommunizierten; von der Nacht, in der Sie neben Ihrem Partner lagen, wohl wissend, dass die Beziehung in Wirklichkeit vorüber war, und von der leeren Wohnung, nachdem der einstige Partner diese das letzte Mal verlassen hatte.

Zu lieben hat immer einen Preis und Einsamkeit ist ein Teil dieses Preises. Jeder, der jemanden mag oder liebt, wird von Einsamkeit eingeholt, wenn derjenige, den er mag oder liebt, nicht mehr da ist, weil die geliebte Person ihn physisch oder emotional verlassen hat. Sie können stets versuchen, sich unverwundbar zu machen, indem Sie keine engen Bindungen zu anderen knüpfen, aber der Preis dafür ist eine noch größere Einsamkeit. In der Einsamkeit sind Sie auf bedeutungsvolle Weise von anderen losgerissen und dadurch sind Sie auch von sich selbst losgerissen, von wichtigen Seiten Ihres Selbst, die nur existieren und sich entwickeln können, wenn Sie Bindungen zu anderen haben. Stendhal schreibt, dass der Mensch in der Einsamkeit alles erwerben kann – abgesehen von Charakter.1 Es ist jedoch mehr als nur Charakter, was man nicht allein erwerben kann. Im Grunde genommen kann man ganz allein kein Mensch werden. Es ist die Bindung an andere und die Erfahrungen, die man mit ihnen macht, die einen überhaupt erst menschlich machen. C. S. Lewis schreibt: »So bald wir bei vollem Bewusstsein sind, entdecken wir die Einsamkeit. Wir brauchen andere physisch, gefühlsmäßig, intellektuell; wir brauchen sie, wenn wir irgendetwas begreifen wollen, uns selbst inbegriffen.«2 Aber wir brauchen nicht nur andere. Wir bedürfen auch, von anderen gebraucht zu werden.

Man kann inmitten einer Menschenmenge oder allein zu Hause einsam sein, inmitten der Natur oder in einer leeren Kirche. Es gibt unzählige Lieder über die Einsamkeit, aber keines scheint ihr Wesen so gut einzufangen wie »All is loneliness«, mit seiner repetitiven und zermürbenden Tristesse. Der Titel stammt aus der Feder des blinden und obdachlosen New Yorker Künstlers Moondog (1916–1999). Er schrieb das Lied, während er in einem Treppenaufgang in Manhattan saß, mitten in einer der am dichtesten bevölkerten Städte des Planeten. Wie Georg Simmel in seinem Essay über Großstädte und das Geistesleben betont, gibt es kaum einen Ort, an dem man sich so einsam fühlen kann wie in der Großstadt.3 Er hebt hervor, dass Einsamkeit nicht auf die Abwesenheit der Gemeinschaft hinweist, sondern vielmehr auf ein unerfülltes Ideal von Gemeinschaft.4 Wären wir keine sozialen Wesen, gäbe es keine Einsamkeit. Gerade weil wir soziale Wesen sind, ist es besonders einsam, sich in einem sozialen Raum zu befinden, in dem man niemandem angeschlossen ist. Den gleichen Aspekt spricht Tocqueville bereits in den 1830er Jahren in seinen Studien der Demokratie in Amerika an.5 In einem Brief schreibt er, dass die Einsamkeit in der Wüste weitaus weniger belastend ist, als die Einsamkeit, die man unter Menschen erleben kann.6 Das öde Bild der Großstadt wird gut in einem Cartoon illustriert, der 2004 in The New Yorker erschien. Er zeigt einen Straßenverkäufer mit einem Schild, dessen Aufschrift lautet: »Augenkontakt $ 1.00.«. In der Großstadt gibt es Einsamkeit, aber nicht nur dort. Überall dort, wo es Menschen gibt, gibt es Einsamkeit und es sieht nicht danach aus, dass es in der Großstadt mehr davon gibt als in kleineren Städten oder entlegenen Gebieten.

Vermutlich ist jeder ab und an einsam. Eine Person, die sich nie einsam fühlt, leidet vermutlich an einem Mangel an oder einem Defekt in der emotionalen Ausstattung. Der Grund ist schlicht und einfach, dass Menschen vom Zeitpunkt ihrer Geburt an ein Bedürfnis nach Bindung an andere Menschen haben, und in der Praxis wird es nicht möglich sein, dieses Bedürfnis zu jedem Zeitpunkt des Lebens zufriedenstellen zu können. Zugegebenermaßen gibt eine recht große Anzahl von Probanden in Umfragen an, »niemals« einsam zu sein. Ich deute dies so, dass sie praktisch gesprochen »niemals« einsam sind, dass sie Einsamkeit aber durchaus schon gefühlt haben und dass Einsamkeit auch in ihren Leben eine reale Möglichkeit darstellt.

Viele behaupten, dass wir heute in einem »Zeitalter der Einsamkeit«7 leben, dass es sich um eine »epidemische Einsamkeit«8 handelt. Jedoch gibt es keine Grundlage für die Behauptung, dass Einsamkeit heute verbreiteter ist als früher. Es gibt epidemiologische Studien, die eine gewisse Grundlage dafür liefern, die Entwicklung über einige Jahrzehnte hinweg zu beurteilen und diese besagen im Wesentlichen, dass Einsamkeit nicht verbreiteter ist als früher. Betrachtet man die Sache aus dem Blickwinkel der Begriffsgeschichte, wird deutlich, dass der Begriff nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt auftaucht und eine jähe, große Verbreitung erfährt, wie es bei dem Begriff der »Langeweile«9 der Fall ist. Varianten des Begriffs sind seit alttestamentarischen Schriften im Umlauf und existieren bis heute. Unter anderem in der Aufklärung und in der Romantik kam es zu einem Aufschwung in den Diskussionen über die Einsamkeit, wie es auch bezüglich der »Langeweile« der Fall war, aber diese sind nicht in gleichem Maße an diese Zeit gebunden, weil die Einsamkeit bereits vorab solide als ein allgemein menschliches Gefühl etabliert war. In den letzten Jahrzehnten ist ein Anstieg der Studien zur Einsamkeit zu verzeichnen und gesteigerte Aufmerksamkeit kann zu der Annahme führen, dass das Problem größer geworden ist, aber es gibt keine Grundlage für die Behauptung, dass dem so sei.

Wenn ich in diesem Buch zwischen Einsamen und Nicht-Einsamen unterscheide, handelt es sich dabei um Idealisierungen, die den Eindruck erzeugen können, dass die Individuen in jeder dieser Gruppen gleichgeartet sind sowie eine klare Grenze zwischen den Gruppen gezogen werden kann, während in der Realität von einem Kontinuum die Rede sein sollte. Generelle Aussagen über Einsame müssen stets mit dem Gedanken im Hinterkopf gelesen werden, dass es eine große Variation in den Ursachen für und dem Erleben von Einsamkeit gibt. Die Einsamkeit, die ein Mobbingopfer fühlt, hat offensichtlich primär äußere Ursachen, während die anhaltende Einsamkeit von jemandem, der ein Leben lang von Freunden oder einer fürsorglichen Familie umgeben war, vielmehr in den inneren, emotionalen und kognitiven Dispositionen des Betreffenden oder in deren Entwicklung gesucht werden muss. Generelle Aussagen der Art »Einsame haben eine stärkere Tendenz zu X«, wobei X eine kognitive, emotionale oder verhaltensmäßige Eigenschaft bezeichnet, verweisen auf Attribute, die in der Gruppe »Einsame« besonders vorherrschend sind, jedoch gibt es innerhalb der Gruppe eine große Variation und selbstverständlich muss nicht jedes Mitglied der Gruppe über diese Eigenschaft verfügen. Bestenfalls sollte man genauer differenzieren und folglich sagen können, dass Eigenschaft X besonders vorherrschend bei Personen des Einsamkeitstyps A ist, nicht aber bei Personen des Einsamkeitstyps B, doch es fehlt schlichtweg an ausreichender Forschung, um dies in nennenswertem Ausmaß durchführen zu können.

Menschen berichten generell, dass Zeit, die sie zusammen mit anderen verbringen, zufriedenstellender ist, als allein verbrachte Zeit10, aber es gibt große individuelle Variationen. Allein zu sein ist zunächst weder positiv noch negativ. Alles hängt davon ab, wie man allein ist. Alleine sein, all-eine, wo man allein alles ist, heißt, sich in einer Situation zu befinden, in der wir sowohl einige unserer besten als auch einige unserer schlimmsten Stunden haben. Das ist die positive Variante, die E. M. Cioran wie folgt beschreibt: »In diesem Augenblick bin ich alleine. Was mehr kann ich mir wünschen? Ein intensiveres Glück gibt es nicht. Doch, jenes, meine Einsamkeit in der Stille wachsen zu hören.«11 Das negative Extrem wird in Sartres Der Ekel wie folgt beschrieben: »Ich fühlte mich so grässlich einsam, dass ich an Selbstmord gedacht habe. Was mich zurückgehalten hat, ist die Vorstellung, dass niemand, absolut niemand über meinen Tod erschüttert wäre, dass ich im Tod noch einsamer wäre als im Leben.«12 Sartres Romanfigur ist keineswegs allein mit einer solchen Verzweiflung. Sowohl Mark Twains Huckleberry Finn, J. D. Salingers Holden Caulfield wie auch unzählige andere Romanfiguren klagen darüber, so einsam zu sein, dass sie wünschten, tot zu sein. Wieder andere erkennen den Schmerz an, der in der Erfahrung von Einsamkeit liegt, sind aber dennoch der Meinung, dass diese Erfahrung entscheidend ist, um als Mensch zu wachsen. Aus diesem Grund schreibt Rilke: »Lieben Sie Ihre Einsamkeit, und tragen Sie den Schmerz, den sie Ihnen verursacht, mit schön klingender Klage.«13

Das Leben bietet keine Garantie dafür, dass unser Bedürfnis nach Bindung an andere Menschen zufriedengestellt wird. Einige sind nur gelegentlich einsam, manche fast nie, während es andere die meiste Zeit sind. Einsamkeit kann uns im Alltag oder in einer ernsthaften Lebenskrise treffen. Wir alle fühlen Einsamkeit, aber wir fühlen sie nicht in der gleichen Weise. Lediglich eine Minderheit erlebt Einsamkeit über einen langen Zeitraum hinweg als ein bedeutendes Problem. Einige Menschen erfahren Einsamkeit in so vielen unterschiedlichen Situationen und so häufig, dass ihre Einsamkeit als chronisch bezeichnet werden kann. Periodische Einsamkeit ist zweifellos unangenehm und schmerzhaft, aber sie ist handhabbar. Chronische Einsamkeit hingegen ist ein Zustand, der das gesamte Dasein zu unterminieren droht.

Ein Beispiel einer solchen Einsamkeit aus der Welt des Films ist Travis Bickle, die Hauptfigur in Martin Scorseses Film Taxi Driver. Er sagt: »Mein ganzes Leben war ich einsam, überall. In Kneipen, im Auto, auf der Straße, in Geschäften, überall. Es gibt kein Entrinnen vor der Einsamkeit. Ich bin Gottes einsamster Mann.« Die letzte Formulierung entnahm Drehbuchautor Paul Schrader dem bekannten Essay gleichnamigen Titels von Thomas Wolfe. Beachtenswert ist auch, dass Adams Einsamkeit das Erste ist, was Gott an seiner Schöpfung nicht gefällt. »Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.«14 In biblischen Texten taucht das Thema häufig auf. Im Buch der Psalmen klagt David darüber, dass sich niemand zu ihm bekennen will.15 Im Buch Kohelet wird betont, wie viel schwerer das Leben für den Einsamen ist.16 Und kaum ein Mensch war einsamer als Hiob. Wenn, dann muss es Christus am Kreuz gewesen sein.

Wir alle tragen einen Dualismus oder Antagonismus in uns, wobei wir sowohl zu anderen hingezogen werden, weil wir ein Bedürfnis nach ihnen haben, als auch uns ihnen entziehen, weil wir ein Bedürfnis nach Abstand haben, danach, nur uns selbst überlassen zu sein. Kant fasst dies mit seinem Ausdruck »ungesellige Geselligkeit« gut in Worte.17 Beide Pole in diesem Antagonismus haben ihre Einsamkeit, wobei der eine negativ und der andere positiv erlebt wird. Dieser Dualismus geht wiederum auch in unterschiedliche Beschreibungen von Einsamkeit ein, die dazu tendieren, ein klares negatives oder ein klares positives Vorzeichen zu haben. Es kann sonderbar erscheinen, dass ein Phänomen derart widerstreitend beschrieben wird. In Byrons Childe Harolds Pilgerfahrtheißt es, dass Einsamkeit der Ort ist, »an dem wir am wenigsten allein sind«.18 Milton schreibt in Das verlorene Paradies, dass »Einsamkeit manchmal die beste Gesellschaft ist«.19 Auf der anderen Seite lautet die Definition von »alleine« in Ambrose Bierces Devil’s Dictionary: »In schlechter Gesellschaft sein«.20 Und Samuel Butler beschreibt den Melancholiker als jemanden, der in die schlechteste Gesellschaft der Welt geraten ist: seine eigene.21 Diese Autoren schreiben kaum über exakt dasselbe, obwohl sie die gleichen Ausdrücke verwenden.

Im Englischen wird zwischen loneliness und solitude unterschieden. Früher wurden diese Ausdrücke scheinbar mehr verwendet, um einander zu beschreiben, aber nach und nach hat sich ein deutlicher Werteunterschied herauskristallisiert, wobei loneliness am häufigsten einen negativen Gefühlszustand bezeichnet und solitude einen positiven. Aber es gibt Ausnahmen, wie in Duke Ellingtons traurigem Standardlied »Solitude«, in dem der Erzähler von Erinnerungen an eine verstorbene Liebe heimgesucht wird und die Verzweiflung so groß ist, dass er fürchtet, den Verstand zu verlieren. Im Norwegischen wie im Deutschen gibt es keine entsprechende Trennung zwischen loneliness und solitude, sodass wir einfach anzeigen könnten, ob wir uns auf die gute oder auf die schlechte Einsamkeit beziehen. Ich hoffe, es geht aus dem Kontext hervor, wann ich die gute beziehungsweise die schlechte Einsamkeit thematisiere. In der psychologischen wie in der soziologischen Literatur wird der schlechten Einsamkeit wesentlich mehr Platz eingeräumt als der guten, während das Bild in der philosophischen Literatur weniger eindeutig ist.

Man kann immer entfremdet sein, ohne sich dessen bewusst zu sein, aber kaum einsam, weil Einsamkeit, aufgrund eines Mangels in der Beziehung zu anderen, per Definition ein Unbehagen oder einen Schmerz in sich trägt. Sehnsucht ist ein notwendiger Bestandteil von Einsamkeit. Die Sehnsucht beherbergt einen Wunsch, den physischen oder mentalen Abstand zu jemandem, den man gern hat, zu beseitigen. Es ist das Bedürfnis nach der Nähe zu jemandem, nach einem verstorbenen Familienmitglied oder Freund, nach einem Kind, das von zu Hause ausgezogen ist, einem verreisten Elternteil, einem Partner, der Schluss gemacht hat. Es kann auch die Sehnsucht nach einer stärkeren Nähe zu jemandem sein, der faktisch anwesend ist, wie in einer Ehe, in der man einander fremd geworden ist. Die Sehnsucht kann auch unspezifisch sein, in Form eines Bedürfnisses, jemandem nahe zu sein, ohne dass man eine klare Auffassung davon hat, wer genau das sein soll. Ohne eine solche Sehnsucht, die schmerzhaft ist, kann man allein sein, aber nicht einsam. Einzelne können mit »sozialer Anhedonie« diagnostiziert werden. Diese Personen wollen generell keinen sozialen Kontakt und unterscheiden sich daher von Personen mit sozialer Angst, die im sozialen Feld weitaus mehr Ambivalenz aufweisen, indem sie sozialen Kontakt sowohl wünschen als auch fürchten. Eine Person mit sozialer Anhedonie fühlt wenig oder keinen Bedarf nach sozialem Kontakt und ist demzufolge auch wenig geneigt, Einsamkeit zu empfinden.

Einsamkeit ist, wie bereits erwähnt, eine gefühlsmäßige Reaktion darauf, dass das Bedürfnis einer Person nach Bindung zu anderen nicht befriedigt ist. Es ist wichtig festzuhalten, dass Einsamkeit ein Gefühl ist, da Einsamkeit oft mit anderen Phänomenen vermischt wird, besonders mit dem Alleinsein. Allein zu sein und einsam zu sein sind hingegen zwei distinkte Phänomene. Sie sind sowohl logisch als auch empirisch voneinander unabhängig. Wir können Einsamkeit als eine soziale Abstinenz beschreiben: ein Gefühl von Unbehagen, das uns klar macht, dass unser Bedürfnis nach Beziehungen zu anderen nicht befriedigt ist. Man kann es vielleicht auch eine Art soziales Hungergefühl nennen. Oder einen sozialen Schmerz. Dieses soziale Schmerzempfinden ist mit physischem Schmerz verwandt und scheint auch den gleichen neuronalen Bahnen zu folgen.22 Ebenso wie physischer Schmerz motiviert der soziale Schmerz einen Rückzug von dem, was den Schmerz verursacht, nämlich dem Sozialen. Es finden sich auch eine Reihe von Charakterzügen, die stark mit Einsamkeit korrelieren, und diese Charakterzüge erschweren eine Bindung an andere Menschen. Die Einsamkeit kann daher dazu tendieren, selbstverstärkend zu wirken.

Philosophie der Einsamkeit

Einsamkeit ist ein Thema, zu dem es viele Meinungen gibt, weil dazu jeder über Erfahrungen aus erster Hand verfügt. Aber diese Erfahrungen sind nicht besonders zuverlässig, wenn man zum Beispiel die Ursachen der Einsamkeit verstehen will. In sich selbst erkennt man keineswegs immer andere und oft nicht einmal sich selbst. Wenn man eine Aussage treffen will, deren Gültigkeit über die eigenen Erfahrungen hinausgeht, und erst recht wenn man politische Schlussfolgerungen ziehen will, muss man mehr tun als nur neunmalklug daherreden. Dann muss man sich die gesamte, umfassende Forschung auf diesem Gebiet vornehmen, inklusive einer Flut von empirischen Daten aus Soziologie, Psychologie und Neurowissenschaft.23 Eine adäquate philosophische Untersuchung der Einsamkeit muss daher auch die empirischen Funde aufgreifen, die in den vergangenen Jahren in anderen Fachbereichen gemacht wurden und frühere Auffassungen von Einsamkeit in zentralen Punkten korrigieren. Daher wird dieses Buch ebenso sehr von der Präsentation unterschiedlicher empirischer Funde geprägt sein wie von der Art von Begriffserklärungen, die viele mit philosophischen Arbeiten verbinden.

Man kann die Frage stellen, warum dieses Buch den Titel Philosophie der Einsamkeit trägt. Was macht es zu einem Philosophiebuch? Die vielleicht eindeutigste Antwort ist, dass es von einem Philosophen geschrieben wurde und sich in Teilen mit Stoff auseinandersetzt, der von anderen Philosophen verfasst wurde. Es ist nicht einleuchtend, wie und wo man eine Grenze zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie ziehen soll. Auffällig ist, dass in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren eine Reihe philosophischer Disziplinen Einsichten empirischer Wissenschaften aufgenommen hat, nachdem die Philosophie im 20. Jahrhundert versuchte, sich in hohem Maße auf die Verwendung von Logik und Begriffsanalyse zu begrenzen. Blickt man weiter zurück in die Philosophiegeschichte, ist es vielmehr die Regel als die Ausnahme, dass sich Philosophen des Materials der empirischen Wissenschaften bedienten – auch die Trennung zwischen Philosophie und Wissenschaft an sich ist neueren Datums – und diese neue Hinwendung zu empirischen Wissenschaften kann vielmehr als eine Rückkehr zu einer traditionellen Weise des Philosophierens betrachtet werden denn als eine radikale Abweichung von dem, was Philosophie zu sein pflegt.

Das Buch ist in acht Kapitel eingeteilt. Kapitel 1 liefert Ausführungen zur Einsamkeit, die mehr auf psychologischen und sozialwissenschaftlichen Quellen basieren als auf philosophischen. Es beinhaltet zudem eine Reihe von Begriffserklärungen – wie den Unterschied zwischen dem Alleinsein und dem Einsamsein – und gibt eine Übersicht über verschiedene Arten von Einsamkeit. Was Alleinsein und Einsamkeit ganz entscheidend voneinander trennt, ist eine affektive Komponente, und um diese besser zu verstehen, folgt eine kurze Diskussion darüber, was Gefühle sind, mit Schwerpunkt auf dem Gefühl der Einsamkeit (Kapitel 2). In Kapitel 3 schaue ich mir näher an, wer einsam ist, welche Faktoren scheinbar besonders dazu beitragen, Einsamkeit zu erleben. Der Mangel an Vertrauen scheint der womöglich wichtigste Faktor zu sein, um sowohl die Einsamkeit von Individuen als auch Unterschiede in der Einsamkeitsprävalenz verschiedener Länder zu erklären. Daher ist Vertrauen Thema von Kapitel 4. Ist Einsamkeit das Gegenteil von Liebe und Freundschaft? Um Einsamkeit besser zu verstehen, werde ich in Kapitel 5 auf die Rolle von Freundschaft und Liebe im Leben eines Menschen eingehen. Die Einsamkeit kann einen Hinweis darauf geben, warum diese Phänomene so entscheidend für unseren Lebenssinn und unser Glück sind. Literatur über Einsamkeit hebt oft den modernen Individualismus als eine der Hauptursachen für Einsamkeit hervor. Daher müssen wir uns das moderne Individuum näher anschauen. Was für ein Wesen ist es und wird es wirklich in besonderem Maße von Einsamkeit heimgesucht (Kapitel 6)? Darauf folgen eine Präsentation sowie Diskussion der guten Einsamkeit (Kapitel 7). Vielleicht ist das Hauptproblem unserer Zeit nicht, dass es so viel von der schlechten Einsamkeit gibt, sondern dass es so wenig von der guten gibt. Zum Abschluss folgt eine Diskussion über die Verantwortung, die jeder Einzelne von uns hinsichtlich des Umgangs mit der eigenen Einsamkeit hat.

1

Das Wesen der Einsamkeit

Mein Lebensgefühl gründet sich auf die feste Überzeugung, dass die Einsamkeit keineswegs etwas Seltenes und Merkwürdiges ist, etwas nur mir und einigen anderen einsamen Menschen Eigentümliches, sondern die unausweichliche, zentrale Tatsache des menschlichen Daseins. Wenn wir die Beweggründe, Taten und Aussagen aller möglichen Menschen prüfen – nicht nur Schmerz und Seligkeit der größten Dichter, sondern auch das gewaltige Unglück der Durchschnittsseele, das sich in zahllosen Äußerungen von Schimpf und Hass, von Verachtung, Misstrauen und Spott kundtut, in bissigen Worten, die im Menschengewimmel der Straßen misstönend an unser Ohr schlagen –, dann, glaube ich, müssen wir feststellen, dass sie alle von dem gleichen Leiden befallen sind. Die Grundursache ihres Jammers ist die Einsamkeit.

(Thomas Wolfe: Hinter jenen Bergen)

Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Definitionen von Einsamkeit, die jedoch durchgängig einige Gemeinsamkeiten aufweisen: ein Gefühl von Schmerz oder Traurigkeit, eine Selbstauffassung als isoliert oder allein sowie einen gefühlten Mangel an Nähe zu anderen. Die meisten Definitionen sind Variationen dieser grundlegenden Züge. Eine solche Definition von Einsamkeit lässt offen, ob sie innere oder äußere Ursachen hat, ob sie Ergebnis der eigenen Konstitution des Individuums oder Resultat der äußeren Bedingungen ist, unter denen das Individuum lebt. Jedoch funktioniert es schwerlich, Einsamkeit aus dem Versagen sozialer Stütze oder Ähnlichem heraus zu definieren, wie es das norwegische Gesundheitsamt tut, da es Menschen gibt, die nach normalem Verständnis sozial gut gestützt werden, sich aber dennoch chronisch einsam fühlen.24 Umgekehrt gibt es eine Vielzahl von Menschen mit schlechter sozialer Stütze, die aber trotzdem nicht nennenswert von Einsamkeit geplagt sind. Es gibt statistische Zusammenhänge zwischen sozialer Stütze und Einsamkeit, aber das ist kein notwendiger Zusammenhang, daher muss Einsamkeit ausgehend vom subjektiven Erleben definiert werden und nicht von objektiven Festlegungen wie der Menge an sozialer Stütze.

»Einsam« und »Allein«

Das Wort »einsam« stammt vom altnordischen einsamann, wobei es sich um eine Zusammensetzung aus dem Zahlwort einn (»eins«) und dem Adverb saman (»zusammen«) handelt, und bezeichnet etwas, das ganz allein steht. Das könnte vermuten lassen, dass Einsamkeit weitestgehend deckungsgleich mit dem Alleinsein ist; es scheint eine verbreitete Annahme zu sein, dass einsame Menschen mehr allein sind und dass diejenigen, die allein sind, häufig auch einsamer sind. Wie wir sehen werden, ist Einsamkeit indessen sowohl logisch als auch empirisch unabhängig vom Alleinsein. Es geht nicht darum, in welchem Umfang ein Individuum von anderen Menschen – oder Tieren, was das betrifft – umgeben ist, sondern wie das Individuum seine Beziehung zu anderen erlebt.

Man kann sagen, dass jeder Mensch immer allein ist, was seine Erfahrung der Welt betrifft. Wenn wir einen Vortrag hören und dabei von Hunderten Anderer umgeben sind, sind wir in gewissem Sinne allein mit den Worten, die wir hören. Auf einem Konzert, umgeben von Tausenden Anderer, ist man allein mit der Musik, weil es das eigene Erleben der Musik ist. Selbstverständlich teilen wir diese Erlebnisse auch mit anderen, nehmen ihre Reaktionen auf und kommunizieren mit Worten, Mimik und Gestik, wie wir selbst den Vortrag oder das Konzert erleben, aber das Erlebnis wird immer einen privaten Charakter haben, der nicht vollständig mit anderen geteilt werden kann. Auch Schmerzen können nicht geteilt werden. Werden sie hinreichend stark, zerstören sie die Welt und die Sprache des Betroffenen. Der Schmerz pulverisiert die Sprache.25 Man kann sagen, dass etwas weh tut, wenn der Schmerz aber hinreichend stark wird, verliert man selbst diese Fähigkeit. Ein so starker Schmerz kann nicht mit jemand anderem geteilt werden, weil es keinen Platz für jemand anderen gibt, wenn der Schmerz für den Betroffenen die ganze Welt ausmacht. Wir können uns den Schmerz eines anderen nicht nur vorstellen, sondern teilweise auch fühlen, weil es auch uns weh tut zu sehen, dass andere Schmerzen haben, aber es besteht dennoch eine Kluft zwischen dem gefühlten Schmerz bei dem Anderen und unserer eigenen Reaktion auf diesen Schmerz. Solche Erfahrungen zeigen uns, dass es einen unüberschreitbaren Abstand zwischen uns selbst und allen anderen gibt.

In gewissem Sinne sind wir alle allein. Dieser Gedanke kommt Celia in T. S. Eliots Die Cocktail Party (1949), nachdem ihr Liebhaber Edward beschließt zu seiner Frau zurückzukehren. Sie sagt, dieser Bruch habe sie nicht nur in diesem Moment allein gemacht, sondern habe ihr vielmehr ins Bewusstsein gerufen, dass sie immer allein gewesen ist, dass sie immer allein bleiben wird, dass es eine Bewusstmachung nicht nur hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Edward war, sondern bezüglich aller Menschen, dass alle Menschen allein sind, dass sie Geräusche und Mimik von sich geben und glauben, sie würden zueinander sprechen und einander verstehen, dass dies in der Realität aber eine Illusion ist.26 Auch wenn Celia das Wort »allein« verwendet, beschreibt sie Einsamkeit – das schmerzhafte Gefühl, keine Bindung zu anderen zu haben. Celia hat recht damit, dass wir alle in gewissem Sinne allein geboren werden, allein leben und sterben müssen. Wir alle haben ein Selbst, das sich zu sich selbst verhält und sich bewusst ist, von anderen getrennt zu sein.

Man kann eine metaphysische Einsamkeit erleben, bei der man sich selbst als dazu verurteilt auffasst, immer einsam zu sein, abgeschnitten von anderen, weil die Welt ganz einfach so ist, dass wir alle in letzter Instanz nur uns selbst überlassen sind.27 Eine verwandte Variante ist die epistemische Einsamkeit – die Überzeugung, dass man niemals wirklich mit einem anderen Menschen kommunizieren und ihn verstehen kann, und dass man aus diesem Grund auch niemals von anderen verstanden werden kann. Bertrand Russell schreibt über solche Formen der Einsamkeit in seiner Autobiografie: »Jeder, der überhaupt begreift, was das menschliche Leben ist, muss irgendwann die merkwürdige Einsamkeit jeder abgeschnittenen Seele fühlen. Die Entdeckung der gleichen Einsamkeit in anderen erschafft dabei ein merkwürdiges neues Band sowie ein Mitgefühl, das so stark ist, dass es das Verlorengegangene beinahe ersetzen kann.«28 Die Einsicht, dass alle einsam sind, erschafft für Russell paradoxerweise ein Band zwischen Menschen, das die Einsamkeit nahezu überwindet. Solche Erfahrungen und Gedanken handeln ungeachtet dessen von etwas anderem als davon einfach allein zu sein.

»Allein« ist zunächst eine rein numerische und physische Bezeichnung, die nichts anderes besagt, als dass man nicht von anderen umgeben ist, und der Ausdruck an sich beinhaltet keine Einschätzung dahingehend, inwieweit das positiv oder negativ ist. Im Kontext indessen kann »allein« wertend sein, wenn zum Beispiel jemand in einer Tonlage, die auf einen traurigen oder auf einen positiv gestimmten Gefühlszustand hinweist, sagt: »Ich bin ganz allein.« »Einsam« hingegen ist immer wertend. Am häufigsten wird »einsam« für die Beschreibung eines negativen Zustandes verwendet, aber wir können auch davon sprechen, »die Einsamkeit zu genießen«. »Einsam« hat eine emotionale Dimension, der »allein« nicht bedarf.

Man kann zwischen verschiedenen Formen des Alleinseins unterscheiden, abhängig von der Art der Beziehung, die man in diesem Zustand zu anderen hat. Man kann aufgrund einer eigenen Entscheidung allein sein, zum Beispiel, indem man sich nach draußen in die Natur begibt, fernab von anderen. Es gibt auch ein institutionalisiertes Alleinsein, wobei man anerkennt, dass jeder Anrecht auf ein Privatleben hat. Das Privatleben ist eine Institution, in der die soziale Gemeinschaft weiterhin intakt ist, selbst wenn man die Möglichkeit hat, sich dieser zu entziehen. Schließlich kann man allein sein, weil man sozial isoliert ist, sodass der Wunsch nach sozialen Beziehungen nicht erfüllt wird.

Es gibt Menschen, die praktisch gesprochen ihre ganze Zeit allein verbringen, ohne nennenswert von Einsamkeit geplagt zu werden, sowie andere, die sich besonders einsam fühlen, auch wenn sie den Großteil der Zeit von Familie und Freunden umgeben sind. Im Durchschnitt verbringt eine Person fast 80 Prozent ihrer wachen Zeit in Gesellschaft anderer Menschen.29 Das gilt auch für die Einsamen. Betrachtet man die Gruppe derer, die in verschiedenen Untersuchungen angeben, sich »oft« oder »sehr oft« einsam zu fühlen, ist ein durchgängiges Merkmal, dass sie nicht mehr Zeit alleine verbringen als die Gruppe von Menschen, die angibt, sich nicht einsam zu fühlen.30 In über 400 Aufsätzen über die Erfahrung von Einsamkeit fand ein Forscher keinerlei Korrelation zwischen dem Grad der physischen Isolation und der Intensität des Erlebens von Einsamkeit.31 Die tatsächliche Anzahl von Menschen, die eine Person um sich hat, korreliert in geringem Ausmaß mit dem Einsamkeitsgefühl der Person, aber es gibt gewisse Hinweise darauf, dass die stärksten Einsamkeitsgefühle in Situationen auftreten, in denen der Einsame von anderen Menschen umgeben ist. Allein zu sein und einsam zu sein sind trotzdem sowohl logisch als auch empirisch unabhängig voneinander.

In Reportagen über Einsamkeit, bevorzugt zu Festen wie Ostern und Weihnachten gesendet, werden gern Menschen hervorgehoben, die allein und einsam sind. Das trägt dazu bei, den Eindruck zu erschaffen, dass sie einsam sind, weil sie allein sind. Das kann berechtigt wirken. Nicht zuletzt bei Älteren, die einen Ehepartner verloren haben, scheint es klar, dass ihre Einsamkeit in hohem Maße damit erklärt werden muss, dass sie nunmehr allein sind. Indessen wäre es übereilt, den Schluss zu ziehen, dass Menschen, die allein und einsam sind, vor allem einsam sind, weil sie allein sind. Ebenso gut kann das Entgegengesetzte der Fall sein. Wie wir sehen werden, zeichnen sich Einsame durch eine Reihe von Charakterzügen aus, die eine Bindung an andere Menschen erschweren. Was Einsamkeit bedingt, ist nicht die Anzahl der Menschen, mit denen man sich umgibt, sondern ob der soziale Umgang eines Individuums sein Bedürfnis nach Bindung zufriedenstellt, ob der soziale Umgang, den es hat, als sinnvoll erlebt wird.32 Einsamkeit ist ein subjektives Phänomen. Es wird von einem Individuum als ein Mangel an zufriedenstellenden Beziehungen zu anderen erlebt, entweder aufgrund von zu wenigen Beziehungen oder weil die existierenden Beziehungen nicht die gewünschte Form von Nähe aufweisen.

Um das kontingente Verhältnis zwischen sozialer Isolation und Einsamkeit zu erklären, wurde das sogenannte kognitive Diskrepanzmodell der Einsamkeit entwickelt.33 Dieser Theorie zufolge entwickeln Individuen einen inneren Standard oder eine Erwartung, an dem bzw. an der sie ihre Beziehungen zu anderen messen. Wenn ihre Beziehungen zu anderen diesen Standard erfüllen, werden sie mit den Beziehungen zufrieden sein und keine Einsamkeit erleben. Genügen ihre Beziehungen diesem Standard nicht, werden sie hingegen Einsamkeit erleben. Ein überraschender Fund mehrerer Studien ist, dass die Einsamkeit steigt, wenn man weitaus mehr Freunde hat, als die Anzahl, die man als ideal betrachtet!34 Die vier am nächsten stehenden Personen im sozialen Netzwerk eines Menschen liefern den stärksten Schutz gegen Einsamkeit; weitere Beziehungen liefern nur marginal einen besseren Schutz.35 Den besten Schutz geben Beziehungen unterschiedlicher Art, wo man eine stärkere Bindung an jemanden und lockerere Bindungen an andere hat, und wo man sowohl mit Familie als auch mit Freunden verbunden ist. Die meisten Menschen antworten eindeutig, dass sie eine geringere Anzahl enger Freunde einer größeren Anzahl weniger enger Freunde vorziehen.36 Die Qualität der sozialen Netzwerke ist wichtiger als die Quantität, aber unter ansonsten gleichen Verhältnissen sind Personen mit einem größeren sozialen Netzwerk weniger einsam als Personen mit einem kleineren.

Eine soziokognitive Theorie der Einsamkeit betrachtet eine stärkere Empfindlichkeit gegenüber sozialen Bedrohungen als Ursache von Einsamkeit.37 Demnach befürchten Einsame eine fehlende Bindung an andere und suchen daher nach Zeichen des Mangels in den Bindungen, was wiederum ihre Bindungen an andere untergräbt, sodass die Einsamkeit weiter bestärkt wird. Eine soziale Zurückweisung erzeugt Empfindlichkeit für neue Zurückweisungen, was wiederum dazu führt, dass man nach neuen Zeichen der Zurückweisung sucht. In sozialen Situationen wird so eine Norm der Hemmung von Spontaneität erschaffen, die sich in einem Verhalten äußert, welches das Risiko für eine erneute Zurückweisung erhöht. In Kapitel 3 werden wir einige empirische Daten betrachten, die eine solche soziokognitive Theorie stützen.

Einsamkeit und Lebenssinn