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In diesem Band geht es um die Darstellung des Spektrums von Beförderung und / oder Anpassung bis hin zum deutlichen Widerstand, mit dem die Philosophie in Deutschland 1933 auf den Nationalsozialismus reagierte. Die Beiträge in diesem Buch zu Universität, Wissenschaft und Philosophie im Nationalsozialismus, zum Untergang des Neukantianismus im 'Dritten Reich' und zu Oskar Becker, Martin Heidegger, Erich Rothacker, Joachim Ritter und Karl Schlechta einerseits und andererseits zu Hannah Ahrend und Karl Jaspers sowie zum Wiener Kreis - sie stehen für Alternativen, die es gegenüber dem Nationalsozialismus gegeben hat - zeigen, daß das wechselseitige Bestätigungsverhältnis der symbolischen Traditionen, gemeinsame Praktiken und Einstellungen nicht schicksalhaft zu Uniformität geführt haben. Zu unterscheiden und sich zu unterscheiden, war nicht unmöglich. Dies ist zu berücksichtigen, wenn es um das Verstehen dessen geht, was nicht vergessen und verdrängt werden darf. Zur nachträglichen Entschuldigung ist das Verstehen weder aufgerufen noch berufen. Das Verstehen-Können ist auch keine Alternative zu kantischer Kritik. Lehren ziehend, wird man die moralische Norm nicht aufgeben, auf deren Grundlage Hannah Arendt gefordert hat, "daß Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil, das zudem unter solchen Umständen in schreiendem Gegensatz zu dem steht, was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten müssen". Mit Beiträgen von Volker Böhnigk, Dagmar Borchers, Emmanuel Faye, Hans Friedrich Fulda, Michael Grüttner, Wolfram Hogrebe, Lars Lambrecht, Hans Jörg Sandkühler, Jens Thiel und Gereon Wolters.
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Veröffentlichungsjahr: 2009
Hans Jörg Sandkühler (Hg.)
Meiner
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Hans Jörg Sandkühler
Michael Grüttner
Gereon Wolters
Hans Friedrich Fulda
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Wolfram Hogrebe
Volker Böhnigk
Hans Jörg Sandkühler
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Staatsminister
Uk.
unabkömmlich (vom Militärdienst freigestellt)
Uk.-Stellung
›Unabkömmlich-Stellung‹
– HANS JÖRG SANDKÜHLER –
Zur Einführung
Muss oder soll man sich heute für die Beziehung zwischen Philosophen und Nationalsozialismus interessieren? Hans Friedrich Fulda gibt diese Antwort: »Sich Rechenschaft abzulegen über Anteile am Nationalsozialismus, die in unserer philosophischen Herkunft enthalten sind, kann insbesondere deshalb nicht etwas sein, das bereits hinter uns liegt, weil solche Selbstverständigung gar nicht ausschließlich eine Aufgabe historischer Forschung ist. Es geht darin nicht vorrangig um eine ideen- oder ideologiegeschichtliche Recherche, deren Ressourcen nach einigem, ernsthaften Bemühen erschöpft wären. Es geht auch nicht bloß um Kritik, durch die man vielleicht eine antifaschistische Haltung unter Beweis stellen möchte […] – und schon gar nicht um ein Neugierinteresse, mit dessen Befriedigung man am Ende Hochbetagte oder Gestorbene in Verruf bringen könnte. Die Arbeit, die wir uns schuldig sind, ist vor allem eine an uns selbst.«1
Diese Arbeit an ›uns selbst‹ ist zum einen Erinnerung an eine Vergangenheit, die nicht vergangen ist – eine Erinnerung im Bewusstsein der Diskontinuität. Dies gilt vor allem für die Generation, die zwischen 1950 und 1960 an deutschen Universitäten studiert hat. Einerseits gab es eine »Kontinuität der Nazizeit: Die Universitäten waren voll von Männern, die […] schon in der Nazizeit gelehrt hatten, und von Jüngeren, die dem Regime […] gedient hatten«, aber nicht gefragt wurden: »›Was haben Sie im Dritten Reich gemacht?‹ Die Älteren sprachen nicht darüber, und die Mehrheit der jungen wagte nicht zu fragen – ein weiterer Beleg für meine Behauptung, dass sich die Stimmung des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenfassen läßt in dem Satz: ›Sie wollten es nicht wissen.‹«2 Die Problemlage nach 1945 war freilich komplexer, als Fritz Stern sie – erzwungenermaßen ›von außen‹ – wahrnimmt: In der Regel war die Frage nicht, ob man zu fragen ›wagte‹ und wissen ›wollte‹. Zur Normalität an den Universitäten gehörte ein nicht als problematisch empfundener ›gemeinschaftlicher Denkstil‹, der Lehrer und Schüler verband. Die Einsicht »Immer Neues kommt zu Tage und immer anders als zuvor gewußt«3 ist eine späte Erkenntnis. Sie setzt eine zunächst nicht wachgerufene Aufmerksamkeit und ein zweifach gerichtetes historisches Interesse voraus: die Verknüpfung der Frage nach den Lehrern mit der selbstkritischen Frage »Wer bin ich wie geworden?« In den Anfängen war die deutsche Geschichte hinter die Grenze der vermeintlichen ›Stunde Null‹ des 8. Mai 1945 verlegt; das ›Neu Beginnen‹, nicht aber dessen Voraussetzungen bestimmten die Bewusstseinslage.
Rudolf Vierhaus berichtet: »Alle Historiker in Münster […] waren bereits vor 1945 als Hochschullehrer tätig. Von ihrer Tätigkeit, ihren Erfahrungen, ihrem Engagement in jener Zeit haben sie allenfalls nebenbei und in Anspielungen gesprochen […] Wir haben sie nicht danach gefragt. Zwei allgemeine Bemerkungen sind hier angebracht: Die Sprachlosigkeit über das in den ersten Nachkriegsjahren in seinem vollen Umfang erst bekannt werdende Geschehen in der NS-Zeit war die Folge von Betroffenheit, Verlegenheit, wohl auch schlechtem Gewissen, Vergessenwollen und Verdrängung, aber auch der schwierigen Bewältigung des Alltags unter den Bedingungen von Besatzung, Hunger, Wohnungsnot, […] etc., und auch der Suche nach neuer Sinnorientierung. An den Universitäten waren die Lehrenden stark absorbiert von den Aufgaben des Wiederaufbaus und von ihrem eigenen Bemühen, durch intensive Arbeit in der Lehre, Publikation und Forschung entweder zu beweisen, wie wenig sie vom Nationalsozialismus beeinflußt worden waren, oder aber ihre Verstrickung durch Leistung zu kompensieren.«4
Auf die Frage, ob und warum man sich heute für die Beziehung zwischen Philosophen und Nationalsozialismus interessieren solle, gibt es über das persönliche Erkenntnisinteresse hinaus auch allgemeine Antworten.5 Hermann Lübbes These, die Unterstellung eines Verschweigens der Zeit von 1933–1945 entstamme »der Neigung, ja der politischen Absicht späterer Jahre, die Gründungsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie moralisch zu delegitimieren«6, gehört nicht zu den Antworten, die allgemeine Geltung beanspruchen können. Lübbe fragt in der Absicht, ein Kapitel deutscher Philosophiegeschichte nicht aufzuschlagen: »War man also damals, in den späten vierziger und in den fünfziger Jahren, im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit allzu unsensibel?« Seine Auflösung der Frage hat die Arbeit an der Erinnerung nicht verhindern können: »Das zu unterstellen wäre […] ein Urteil Spätgeborener, die in empörter Nicht-Akzeptanz ihres nationalen Schicksals, als individuell gänzlich Unbeteiligte doch die Nazi-Erbschaft übernehmen zu sollen, für die Umgangsformen, die nach dem Ende des Nationalsozialismus zwischen Alt-Nazis und jungen Ex-Pimpfen, ja zwischen Alt-Nazis und ehemals verfolgten Remigranten sich herausbildeten, ohne Verständnis sind, und das mit Folgen eines historischen Wirklichkeitsverlustes.«7
Derartige selbst auferlegte Frageverbote haben dazu beigetragen, dass eine kritische Geschichte der Philosophie im Nationalsozialismus noch nicht geschrieben ist – eine Geschichte, in der die Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit von Freiheit und Notwendigkeit im Erkenntnisprozess, von frei zu verantwortender Nähe oder Distanz und sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Determinanten, von Fortschritten im Wissen und Wissensverlusten durch Verdrängung, von Verbrennung und Exilierung der Alternativen, von produktiven Irrtümern und sterilen Wahrheiten angemessen berücksichtigt wäre. Erst diese Geschichte der Philosophie käme der Wirklichkeit des Philosophierens in Deutschland vor und nach 1933 nahe, in der Kontinuität und Diskontinuität, die Orientierung am Faktischen und die Orientierung an neuen Zielen, das individuelle Erkenntnisinteresse und -vermögen sowie die institutionellen und personellen Potenziale der Philosophie in einer gegebenen politisch-sozialen Situation als Knotenpunkte eines nicht länger verworrenen Netzwerks sichtbar würden. Die epistemische und praktische Tätigkeit der Philosophierenden vollzieht sich in einem vielschichtigen System von Welt- und Wissensbeziehungen, dessen Momente analytisch unterscheidbar, de facto aber nicht trennbar sind. Zu diesem System gehören die intellektuelle Subjektivität, der Austausch mit den Lebenden und den Toten, Gründe aus individuellen und kollektiven Interessen, Unparteilichkeit und parteiliche Zwecke, Überzeugungen in Übergängen und Revisionen und letztlich die mit Geschichte und Zukunft aufgeladenen Bilder der Welt und des Selbst. Auch eine kritische Geschichte wird dies nicht alles berücksichtigen können, aber alles nicht zu berücksichtigen ist unangemessen.
Von einer falschen Prämisse sollte man sich nicht verführen lassen: Philosophische Theorien seien als Spiegelbilder gesellschaftlicher Bedingungen zu behandeln. Jenseits eines solchen simplen Determinismus sind in Biografien naive oder fahrlässige Selbsttäuschung, absichtsvoller Selbstbetrug und Betrug, das Ende von Täuschungen und Revisionen sowie hartnäckige Rechtfertigungen des nicht zu Rechtfertigenden zu entdecken. Zu einer kritischen Geschichte gehört waches historisches Bewusstsein gegenüber der Vergangenheit, die selbst als überwundene Stufe ein Horizont ist, in dem und auf den hin sich der Kritiker bewegt. Es ist trivial und muss doch gesagt werden: Es gibt keine exterritoriale Kritik. Deshalb ist die Forderung nach einer Kritik, die sich vom hermeneutischen principle of charity leiten lässt, nicht versöhnlerisch; sie zielt auf Aufklärung und stärkt den sensus communis – das Selbstdenken, widerspruchsfreie innere Konsistenz und die Perspektive der Alterität – und so die Philosophen und die Philosophie.
Im April 1933 heißt es in der ersten Verordnung zur Durchführung des ›Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹: »Als nichtarisch gilt, wer von nichtarischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder Großelternteil nichtarisch ist«.8 In § 4 (1) der ersten Verordnung zum ›Reichsbürgergesetz‹ wird im November 1935 oktroyiert: »Ein Jude kann nicht Reichsbürger sein. Ihm steht ein Stimmrecht in politischen Angelegenheiten nicht zu; er kann ein öffentliches Amt nicht bekleiden.«
Bis 1935 haben 22 Philosophen ihren Lehrstuhl verloren. 30 der deutschen Philosophen werden ins Exil gezwungen. Unter ihnen ist zu erinnern an Theodor Wiesengrund (Adorno), Ernst von Aster, Ernst Cassirer, Jonas Cohn, Hans Ehrenberg, Moritz Geiger, Fritz Heinemann, Dietrich von Hildebrandt, Richard Hönigswald, Max Horkheimer, Richard Kroner, Helmut Kuhn, Arthur Liebert, Karl Löwith, Georg Misch, Helmuth Plessner, Hans Reichenbach, Paul Tillich und Edgar Wind. Für Österreich ist etwa an Otto Neurath und Rudolf Carnap zu erinnern. Vielen von ihnen bleibt auch nach 1945 ihr Bürgerrecht in Deutschland versagt; viele sind noch heute aus der Erinnerung verdrängt.9
Von den Philosophen, die in Deutschland geblieben sind, sehen sich viele zum Schweigen veranlasst. Wieder andere schweigen nicht: 1932 unterzeichnen drei Philosophen Aufrufe zugunsten der NSDAP; zur Reichstagwahl 1933 sind es acht. Dem ›Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat‹ schließen sich im November 1933 unter 1000 Lehrenden 22 Philosophen an, unter ihnen Hans Freyer, Hans-Georg Gadamer, Arnold Gehlen und Joachim Ritter.10 Mitglieder der NSDAP sind bereits vor 1933 13 Philosophen, 1933 werden es weitere 22 sein, unter ihnen M. Heidegger und E. Rothacker. Nach einer Aufnahmesperre kommen 1937 weitere 18 hinzu, unter ihnen Joachim Ritter, dessen Aufnahmeantrag 1933 wegen seiner ersten ›nicht-arischen‹ Ehe abgelehnt worden war.11 Die Hälfte der Philosophen, die noch im Amt sind, hatte sich auf die eine oder andere Weise mit dem Nationalsozialismus arrangiert. Das heißt aber auch: eben nur die Hälfte. Einen direkten Zwang zur Mitgliedschaft in der NSDAP hat es nicht gegeben. Indirekter Zwang wirkt beim Bemühen um Existenzsicherung und Karriere.
In diesem Kontext spricht R. Dahrendorf im Blick auf die ›Intellektuellen in Zeiten der Prüfung‹ von ›Versuchungen der Unfreiheit‹ und stellt fest, dass sich viele Intellektuelle »im Jahr 1933 von den Schalmeienklängen des Nationalsozialismus haben betören lassen. Gewiss, die ersten hundert Tage der Hitler-Regierung hatten der ohnehin zerbröselnden deutschen Demokratie den letzten Halt geraubt. Der Reichstagsbrand und seine Erklärungen, das Ermächtigungsgesetz nach der Wahl vom 5. März, das Parteienverbot, die gesetzlich sanktionierte Entfernung von Juden aus dem öffentlichen Dienst deuteten sämtlich auf eine fundamentale Wende. Indes gab es noch viele, die das Ganze für einen Spuk, eine Episode hielten. Noch war das neue Regime keineswegs etabliert. Dennoch wurden ihm von manchen, die es besser wissen konnten, schon große Dinge nach- oder vielmehr vorhergesagt.«12 Dahrendorf verweist z. B. auf die Äußerung »des als Jude früh schon zur Emigration gezwungenen Frankfurter Soziologieprofessors Karl Mannheim«, der – 1934 in London nach seiner Meinung über Hitler befragt – antwortet: »›We like him.‹ […] Wir mögen ihn, nicht seiner Politik wegen, natürlich nicht, die uns als sehr falsch vorkommt. Aber aufgrund der Tatsache, dass er ein ernsthafter, aufrechter Mann ist, der nichts für sich selber sucht, sondern sich mit ganzem Herzen darum bemüht, eine neue Regierung aufzubauen. Er ist tief aufrichtig, aus einem Stück, und wir bewundern seine Rechtschaffenheit und seine Hingabe«.13
Der Politikwissenschaftler und Staatsrechtler Theodor Eschenburg berichtet über »das Korrumpierende an Zeiten der Diktatur, vor allem ›jene Mischung aus Wahrheit und Lüge, in die in diesen Zeiten unvermeidlicherweise alles geriet‹. Er habe es notwendig gefunden, sich anzupassen. »›Ich hatte ja schon der Politik Valet gesagt. Nun hörte ich auch auf zu publizieren.‹ ›Nicht aufzufallen und schon gar nicht zu provozieren, wurde zu meiner Devise.‹ ›Wir alle waren Gegner des Regimes, mussten aber unseres Berufes und des Überlebens willen unser Auskommen mit den Machthabern und ihren Funktionären suchen.‹ Dahinter steckte immer die Angst vor der Gestapo, vor dem Konzentrationslager und noch Schlimmerem, von dem Eschenburg wie viele eine vage Ahnung, aber kein genaues Wissen hatte.«14
Die Wahrnehmung eines Zwangs zur Anpassung war nicht auf Intellektuelle in Deutschland beschränkt. Dahrendorf nennt als Beispiel einen der später bedeutendsten liberalen politischen Philosophen, Norberto Bobbio: »Der 25-jährige Dozent Bobbio stand unter Antifaschismus-Verdacht und sah seine Lebenschancen gefährdet. ›Exzellenz‹, schrieb er [am 8. Juli 1935] an den Duce, ›seit meinem Studienbeginn 1928 bin ich Mitglied der Faschistischen Partei und der faschistischen Universitätsgruppe.‹ Mehr noch, ›ich bin in einer patriotischen und faschistischen Familie aufgewachsen.‹ Aktiv sei er als Faschist an der Universität gewesen, indem er eine Studentenzeitung herausgegeben, Reisen organisiert und Vorlesungen über den Marsch auf Rom gehalten habe. Das Studium habe ihn befähigt, ›meine politischen Meinungen zu konsolidieren und meine faschistischen Überzeugungen zu vertiefen.‹ Die Beschuldigung des Antifaschismus ›verletzt mich daher tief und beleidigt mein Bewusstsein als Faschist‹, für das es Zeugen unter den Freunden in der faschistischen Bewegung gebe. Ob infolge des Briefes oder aus anderen Gründen, Bobbios Karriere nahm ihren Gang, und sein Antifaschismus wurde eher noch aktiver. Doch war er von der Veröffentlichung des vergessenen Briefes tief schockiert. ›Eine Diktatur korrumpiert die Seelen von Menschen‹, schrieb er. ›Sie zwingt einem Heuchelei, Lügen und Unterwürfigkeit auf.‹«15
Für eine bewusste Parteinahme für den Faschismus in Frankreich kann an Louis Rougier erinnert werden, der unter dem Einfluss Couturats die moderne Logik und den Konventionalismus Poincarés verteidigte; der bedeutendste französische Vertreter des Wiener Kreises – persönlicher Freund Schlicks – plädierte in Schriften zu Ökonomie und Politik für eine Erneuerung des Liberalismus und schlug sich auf die Seite der extremen Rechten: Seit 1940 unterstützte er als glühender Anhänger aktiv das Vichy-Regime.16
In Deutschland fordern die Nationalsozialisten eine ›nationalsozialistische Wissenschaft‹. Ihre Strategie hat – so Michael Grüttner – folgende Schwerpunkte: Die Ablehnung der Idee einer ›voraussetzungslosen Wissenschaft‹; die Aufhebung der Trennung von Wissenschaft und Leben und die Kritik an zweckfreier Wissenschaft; den Rassenbegriff als Zentrum wissenschaftlicher Forschung; die gegen Spezialisierung gerichtete Forderung nach einer ›ganzheitlichen‹ Wissenschaft und nach Überwindung disziplinärer Grenzen; die Infragestellung des internationalen Charakters der Wissenschaft; und die Forderung, ›das Volkstum‹ stärker zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu machen.17 »Unmißverständlich postulierte etwa der Leiter des NS-Dozentenbundes, Walter Schultze, die Universität müsse ›getragen sein von dem Bewußtsein, daß ihre ganze Arbeit bis in die kleinste Disziplin hinein einen gemeinsamen Urgrund hat, nämlich die nationalsozialistische Weltanschauung. Das Wissen um diesen alles umfassenden Nährboden, auf dem jede Disziplin wachsen muß, das Wissen um eine für alle verpflichtende Weltanschauung ist das Lebensprinzip unserer deutschen Hochschulen‹«.18 »Für die Wissenschaftler ergab sich daraus eine verwirrende Situation: Einerseits sahen sie sich starkem Druck ausgesetzt, das Weltbild der Nationalsozialisten auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu übernehmen. Vor allem Nachwuchswissenschaftler, die bei der Besetzung von Assistentenstellen, bei der Verleihung der Dozentur oder bei Berufungen stets politisch überprüft wurden, hatten ohne Zugeständnisse an die Machthaber nur geringe Aufstiegschancen. Wer seine Distanz zum Regime ungeschminkt zum Ausdruck brachte, mußte alle Hoffnungen auf einen Lehrstuhl begraben oder sogar mit dem Entzug der Lehrbefugnis rechnen. Andererseits zeigte sich die Partei nicht imstande, klare Vorgaben für eine nazistische Umgestaltung der Wissenschaft zu machen.«19 Angesichts der Konkurrenz nationalsozialistischer Institutionen und persönlicher Fehden um die Definitionsmacht war ein derartiges Konzept nur teilweise durchsetzbar.20
Die Generation der um 1900 geborenen deutschen Philosophen hat von 1933 bis 1945 nicht nicht leben können. Wie jemand gelebt und gedacht hat, lässt sich nicht ohne Schwierigkeiten aus Veröffentlichungen und archivierten Akten erschließen, weil die Akte nicht den Kontext und die Veröffentlichung nicht, zumindest nicht eindeutig, die Intention offenlegt. Wer ist heute in der Philosophie als Nationalsozialist zu charakterisieren? Ist der folgende Katalog zutreffend, dann hat es in einem strengen Sinne nicht viele Nationalsozialisten unter den Philosophen gegeben: »In der Regel […] akzeptiert ein Nationalsozialist oder nationalsozialistischer Wissenschaftler alle vier der folgenden Grundsätze: (1) die rassisch-biologische Fundamentaltheorie; (2) das Recht der Gemeinschaft im Gegensatz zur Rechtlosigkeit des Individuums; (3) die rassen- und erbbiologische Bestandsbedrohung des eigenen Volkes vor dem Hintergrund einer Kulturkreistheorie; (4) die Rassen- und Volkswert-Lehre.«21
Die Philosophen im Staatsdienst sind seit 1933 auf Staatstreue verpflichtet, keineswegs aber »auf eine offizielle Philosophie«; diese gibt es so wenig wie eine einheitliche NS-Wissenschaft.22 Wie es nicht die Philosophie des Nationalsozialismus gibt, gibt es auch nicht die eine Motivation zum Philosophieren im Nationalsozialismus; dies gilt auch für die drei oben Genannten. Bei Motivationen zu bestimmten Auffassungen von Philosophie spielen – neben persönlicher Konkurrenz um institutionellen Einfluss – (i) die unterschiedlichen Quellen und Traditionen, auf die man sich beruft (so etwa auf den Deutschen Idealismus oder auf Nietzsche oder auf frühere rassistische Ideologien), und (ii) die Philosophien, gegen die man sich wendet (etwa Kants Erkenntniskritik, Hegels Logik, der Positivismus, der logische Empirismus …), eine wichtige Rolle. Ob Heidegger oder Krieck, Rothacker oder Baeumler oder Dingler23 – wer die Philosophie des Nationalsozialismus etablieren will, scheitert. Doch nicht wenige verhalten sich zur Faschisierung von Gesellschaft und Staat in dem Bewusstsein, nicht Opfer, sondern Urheber zu sein. So heißt es etwa 1933 im Hauptartikel des Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie: »die Rechts- und Sozialphilosophie […] wird von den ›neuen revolutionären Ideen‹ keineswegs überrascht, wie etwa mancher ruhige Bürger in seinen vier Wänden betroffen sein mag. Denn sie erkannte in dem Durchbruch nur ihre eigenen Ideen, deren […] Urheber sie insgeheim war.«24 In seiner Studie ›Philosophie im Deutschen Faschismus‹ bilanziert Wolfgang Fritz Haug, der Großteil der deutschen Philosophen habe sich »in den Nazismus und diesen in sich integriert und sich um ein staatstragendes Verhältnis bemüht«: »Ob Nietzsche- oder Platorezeption, ob Hegeldeutung oder Humanismusdiskussion, ob Phänomenologie oder Wertphilosophie, Ontologie oder Anthropologie: die unterschiedlichen Richtungen […] befleißigten sich, jede auf ihre Weise, den NS und seinen Führer als philosophische Tatsache zu artikulieren, ihm ihre spezifischen Traditionsmächte zuzuführen, ihre Diskurse als verbindende und legitimierende Diskurse anzubieten. Indes hatte der NS keinen Platz für eine besondere philosophische Leitideologie.»25
So zutreffend diese Beschreibung im Allgemeinen sein mag, ist doch nach den Individuen, den Philosophierenden, zu fragen, um kein zu großmaschiges Netz über alle zu legen. Es gibt Unterschiede zwischen aktiven NS-Ideologen und institutionell Angepassten, deren Philosophieren gleichwohl nicht nationalsozialistisch ist. Zur ersten Gruppe gehört neben Martin Heidegger26 etwa Arnold Gehlen, der »enthusiastisch auf die Aufforderung des Pressechefs der NSDAP, nach dem praktischen politischen Sieg der nationalsozialistischen Bewegung nun auch deren Weltanschauung ›als gefestigte philosophische Lehre‹ auszubauen«, antwortet und den »Aufbau einer nationalsozialistischen Philosophie« fordert, und zwar auf dem Wege der »philosophischen Durcharbeitung der nationalsozialistischen Weltanschauung«.27 Zur Gruppe der Ideologen gehört zunächst auch Erich Rothacker, der bereits 1932 Mitglied des NSLB wird und 1934 in seiner Geschichtsphilosophie schreibt: »Ein rassisch befriedigender Bevölkerungsdurchschnitt ist in dem Rassengemisch einzelner deutscher Stämme erreichbar nur durch die energischste Unterstützung aller eugenischen Maßnahmen durch Formung und Zucht des im äußern und innern noch knetbaren jugendlichen Menschenmaterials im Geiste der rassisch besten Bestandteile einer Erbmasse.«28 Genannt sei als weiteres Beispiel ideologischer Funktionalisierung Gerhard Lehmann, der 1943 in Die deutsche Philosophie der Gegenwart fordert, »den säkularen Abstand, das von Grund auf veränderte Lebens- und Weltgefühl, die weltanschauliche Revolution der Gegenwart zur Geltung zu bringen«.29 Kritik am Zustand der Philosophie und Hoffnung auf die »Wendung der Gegenwartsphilosophie zum völkisch-politischen Realismus« im »Kampf gegen den politischen Pluralismus«30 halten sich hier die Waage: »Das positivistische Jahrhundert liegt hinter uns, aber die Fachphilosophie distanziert sich noch gerne von jeder weltanschaulichen Bindung.«31 Lehmanns eigene These: Die »Sinnphilosophie der Gegenwart ist aktivistisch, realistisch, existenzialistisch – eine Interpretation jenes Daseins im Kriege, das keine Sicherungen kennt als die Kraft der Gemeinschaft und den Willen zum Siege.«32
Eine zweite Gruppe bilden diejenigen, die sich – wie z. B. der Heidelberger Neukantianer Heinrich Rickert33 – zum Nationalsozialismus bekennen, ohne aber ihre Philosophien in ihm aufgehen zu lassen. Die einer dritten Gruppe Zuzurechnenden erbringen ohne explizite ideologische Bekenntnisse die vom Regime erwarteten Beweise politischer Zuverlässigkeit; ihr Philosophieren ist nicht nationalsozialistisch – es ist vor allem nicht rassistisch und antisemitisch –, aber es schleichen sich – zumindest in die Rhetorik – ›völkische‹, ›nordische‹ Zugeständnisse ein. In dieser dritten Gruppe begegnet Joachim Ritter.
Jede Gesellschaft entwickelt in ihrer Zeit die ihr eigene Normalität. Dies gilt auch für die Zeit des Nationalsozialismus. In dieser Normalität gehen individuelle Überzeugungen in moralische und politische Optionen über – in Zustimmung, in Anpassung, in Verweigerung, in Widerstand. Für das, was als ›normal‹ galt, gab es de facto keinen universellen moralischen und rechtlichen Maßstab. Nach 1933 konnte sowohl die Anpassung an das kollektiv organisierte rassistische und chauvinistische Überzeugungssystem als auch die Teilhabe an den riskanten Überzeugungen einer widerständigen Gruppe die Funktion der Orientierungssicherung erfüllen. Die freiwillige oder unter Existenzdruck zugestandene Übereinstimmung mit Weltdeutungen und Zukunftsstrategien des NSRegimes verbürgte die Sicherheit einer politischen und sozialen ›Heimat‹. Dissident sein bedeutete existenzielle Unsicherheit.
»›Zu den schockierendsten und zugleich wichtigsten Erfahrungen bei dem Sichhineinarbeiten in eine uns, den Nachgeborenen, fremde Zeit, gehört die von der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit, die vom Nebeneinander von Terror und Normalität, von Gewöhnlichem und Sensationellem, von Schlagzeile und Kleingedrucktem, von politischem Leitartikel und Anzeigenprosa, von retuschiertem Propagandafoto und belangloser Reklame, wie sie einem bei der Lektüre von Zeitungen entgegentreten.‹ […] In ein und derselben Nummer [der Münchener Abendzeitung des Jahrgangs 1938] kann man folgendes lesen: ›Die alte Synagoge und der letzte Betsaal der Juden in München ist beseitigt… […] Letzte Wiederholung: Das Weib bei fernen Völkern. Spätvorstellung Diskretion Ehrensache.[…] Mit dem kürzlich erfolgten Übergang der Firma Felsenthal & Co, Zigarren- und Tabakfabriken, in deutschen Besitz kann der Arisierungsprozeß in der deutschen Zigarrenindustrie im großen und ganzen als abgeschlossen angesehen werden… […] Bis jetzt sind in München etwa 1000 Juden verhaftet worden und zwar deshalb, um für alle Fälle Faustpfänder in der Hand zu haben. Dabei hat sich gezeigt, daß jeder von ihnen irgend etwas bereits auf dem Kerbholz hat.‹« Ungleichzeitigkeiten »haben mit der unbesiegbaren Zähigkeit des Alltags zu tun. Wenn es um Wohnungsnot, Liebschaften, Geldsorgen, um das tägliche Mittagessen und um das Waschen der Windeln geht, stoßen Ideologie und Propaganda irgendwann an ihre Grenzen. […] Um so mehr gilt das für die Überreste der Zivilgesellschaft im Reiche Hitlers. Zahlreiche Nischen haben dort bis in die letzten Jahre des Krieges überlebt.«34 […] H.M. Enzensberger schreibt weiter: »Daß es unter den Bedingungen eines solchen Regimes Zonen scheinbarer Normalität gegeben hat, ist allerdings kein Trost; im Gegenteil, es mutet eher unheimlich an. Den Nachgeborenen muß es schwerfallen zu verstehen, wie ungerührt ›unpolitische‹ Lebenswelten im Angesicht des Terrors überwintern konnten. Dem Skandal der Gleichzeitigkeit ist jedoch mit rasch gefällten moralischen Urteilen nicht beizukommen; denn er lässt sich nicht einfach auf die Vergangenheit zurückdatieren. Seine Virulenz ist auch unter heutigen, weit komfortableren historischen Bedingungen nicht erloschen.«35
Der nationalsozialistische Staat wurde nicht durch die ›Vorsehung‹, sondern durch Bürger zu dem, was wurde. 1933 bedeutet nicht einfach den Übergang von Moral zu Unmoral, sondern eine – nur teilweise erzwungene – Veränderung der öffentlichen und privaten Moral durch die Exklusion ›der Anderen‹, für welche die moralischen Normen des Rechtsstaats nicht mehr galten. Die scheinbar rechtlich geregelte, tatsächlich aber durch ›gesetzliches Unrecht‹ (G. Radbruch) bestimmte Subsumtion unter Kategorien wie ›Volksfeind‹ oder ›Nicht-Arier‹ entlastete die Mehrheit der Deutschen von moralischen und rechtlichen Skrupeln. Und in diesem Kontext wurden die meisten jüdischen Deutschen erst zu ›Juden‹. »Ich empfand«, schreibt Fritz Stern, »eine ungefähre und nie einfache Übereinstimmung zwischen meiner inneren und äußeren Identität. Es war mir ein unerträglicher Gedanke, dass Hitler mich zum Juden gemacht hatte, indem er die Bindung ans Christentum, die meine Großeltern eingegangen waren, für nichtig erklärte, und gleichzeitig war mir klar, dass es der Nationalsozialismus war, der mir meine Zugehörigkeit zum Judentum bewußt gemacht hatte.«36
Die Übergänge in den Nationalsozialismus sind schleichend. Nicht alle stehen dem blind gegenüber; manche sehen früh, was kommen wird. Bereits 1930 beobachtet Harry Graf Kessler: »Das deutsche Bürgertum […] scheint endgültig im Aussterben, politisch. […] Der Nationalsozialismus ist eine Fiebererscheinung des sterbenden deutschen kleinen Mittelstandes; dieser Giftstoff seiner Krankheit kann aber Deutschland und Europa auf Jahrzehnte hin verelenden. Zu retten ist diese Klasse nicht; sie kann aber ungeheures neues Elend über Europa bringen in ihrem Todeskampf.«37 Und 1933 zitiert er einen französischen Beobachter mit der Analyse, »daß ein fundamentaler Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich darin bestünde, daß in Frankreich die Idee des ›Rechts‹ (l’idée du Droit) im Volk lebendig sei, in Deutschland nicht, und daß daher diese Idee, die in Frankreich automatisch als Bremse wirke, in der Dynamik des deutschen Volks keine Rolle spiele.«38
In der Philosophie trennen sich die Wege in Passung, Emigration, Exil und Widerstand. Der Weg, der in der Normalität dieser Zeit normal ist, ist – aus unterschiedlichen Gründen – der Weg der Passung. Ein erster Grund ist die kontextlose Rationalität von Philosophen; das ›Unpolitische als Wesensmerkmal der deutschen Universität‹ ist hinreichend beschrieben worden.39 Der Weg der Passung wird dadurch erleichtert, dass das Regime von den Intellektuellen keine völlige Identifizierung verlangt, nicht zuletzt deshalb, weil es die kohärente nationalsozialistische Weltanschauung gar nicht gibt. Es kommen auch Renegaten, die aus Sicht der Partei und ihrer Gliederungen aus der Zeit vor 1933 politisch belastet sind, in einflussreiche Positionen. Nach 1945 hat die kontextlose Rationalität erneut Folgen: »Jeder Text, der nicht bloß Propaganda war, sondern wissenschaftlich akademisch argumentierte, wurde sofort als Beweis für Regimeferne interpretiert, obwohl man ebenso gut hätte fragen können, ob nicht darin der Beitrag dieser Wissenschaftler bestand: dem Regime ein rationales Supplement zu verschaffen.«40 Ein zweiter Grund ist Existenzangst. Im Oktober 1934 erklärt der Hamburger SS-Standartenführer Streckenbach: »Für die unverbesserlichen Fanatiker, die von dem Kommunismus-Marxismus nicht lassen wollen und nie lassen werden, sondern immer wieder für diesen arbeiten werden, gibt es nur ganz klare Maßnahmen, rücksichtslosestes Eingreifen und härteste Bestrafung.«41 Was dies bedeutet, ist den Zeitgenossen bekannt. Ein dritter Grund, einen Weg in der nun normal werdenden Normalität zu finden, ist die Existenzsicherung, die berufliche Karriere in einer Mangelsituation: Von 67 Ordinariaten in der Weimarer Republik bleiben bis 1938 nur 36 erhalten.
Es gibt verschiedene Formen von Zugeständnissen und Nähen zum NS-System. Michael Grüttner hat sie so unterschieden: »1. Anpassung durch Ausblenden. Diese mildeste Variante der Anpassung bestand darin, bestimmte heikle Themen nicht mehr anzusprechen, Namen von Emigranten und anderen Unpersonen nicht länger zu erwähnen, jüdische Kollegen nur noch selten oder gar nicht zu zitieren. 2. Politisierung nach dem Sandwich-Prinzip. Anpassung beschränkte sich in diesem Fall auf gelegentliche politische Botschaften in Vorworten, Einleitungen oder Zusammenfassungen, ohne daß sich an der Substanz der Arbeit etwas änderte. […] 3. Begriffliche Anpassung an die LTI (Lingua Tertii Imperii), die von Victor Klemperer so eindringlich analysierte Sprache des Regimes. Dazu gehörte das Einsickern von Leitbegriffen wie ›artfremd‹, ›Führer‹, ›Gefolgschaft‹, ›heldisch‹, ›Volkstum‹ oder ›völkisch‹ in wissenschaftliche Publikationen. Eine Beurteilung solcher Prozesse ist oft schwierig, weil sie, wie man von Klemperer lernen kann, keineswegs immer bewußt verliefen. 4. Anpassung im außerwissenschaftlichen Bereich, durch Parteieintritt oder gelegentliche Zeitungsartikel, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung traditioneller Methoden und Standards in wissenschaftlichen Publikationen. Ein solches Verhalten reagierte auf die Erwartungen des Regimes und folgte gleichzeitig dem Grundsatz, Wissenschaft und Politik voneinander zu trennen. 5. Anpassung als Paradigmenwechsel durch die Übernahme der nationalsozialistischen Rassenideologie […].«42
Das NS-Regime bedurfte derer, die ihm Legitimität, juridische Legalität und kulturelle Akzeptanz andienten. Ernst Jünger gehörte zu ihnen. Bereits 1930 war bei ihm zu lesen: »Im gleichen Maße, in dem der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt, wird für den Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu können, unvollziehbar werden und wird er sich vor seiner letzten Alternative sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein.«43 Die Ermordung von Führern der SA beim ›Röhm-Putsch‹ 1934 wurde durch das ›Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr‹ vom 3. Juli 1934 nachträglich legalisiert.44 Intellektuelle Helfershelfer waren bereit, Rechtfertigungen zu liefern – so der Staatsrechtler Carl Schmitt. Unter dem Titel Der Führer schützt das Recht schrieb er: »Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. […] Aus dem Führertum fließt das Richtertum. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, […] sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben. […] Das Verfassungsrecht mußte dann […] zur Magna Charta der Hoch- und Landesverräter werden. […] In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz. […] Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche Urteil enthält nur so viel Recht, als ihm aus dieser Quelle zufließt.«45
So unterschiedlich Näherungen an den Nationalsozialismus motiviert sein konnten – ein wesentliches Motiv war der Kampf gegen den Liberalismus: »Sie griffen ihn an, weil sie in ihm die Voraussetzung der modernen Gesellschaft sahen, der alles entsprang, was sie fürchteten: die Bourgeoisie, das Manchestertum, der Materialismus, das Parlament und das Parteiwesen, der Mangel an politischer Führung. Außerdem hielten sie den Liberalismus für die Ursache ihres inneren Leidens.«46
Die nach 1933 auf unterschiedliche Weise mit dem Regime verbundenen Philosophen waren in ihrem öffentlichen Denken und Handeln mehr oder weniger eingeschränkt durch Angepasstheit oder Opposition, durch Zensur und Selbstzensur sowie durch politische und ideologische Vorgaben der NSDAP. Dieses Mehr-oder-Weniger zu berücksichtigen ist wichtig, sollen pauschale Urteile vermieden werden. Die Philosophen haben von 1933 bis 1945 unter dem Druck einer im Vergleich zur heutigen pluralistischen Demokratie weitgehend kohärenten Ideologie und Wissenskultur gelebt; aber sie haben unterschiedliche Funktionen (als Institutsdirektoren, Ordinarien, außerplanmäßige Professoren oder Mitarbeiter) in unterschiedlichen Wissens- und Wissenschaftsräumen gehabt. Das politische System hat Verantwortung arbeitsteilig organisiert und Restriktionen bzw. Zugeständnisse, verbunden mit Sanktion oder Gratifikation, unterschiedlich verteilt. Es gab ein deutliches Angebundenheitsgefälle von den Institutionen der NSDAP oder der SS hin zu Universitäten in der ›Provinz‹. Zu berücksichtigen sind auch politische Aufmerksamkeitsunterschiede gegenüber wissenschaftlichen Disziplinen, die für ›strategisch‹ und ideologisch wichtig oder weniger wichtig erachtet wurden. Manche Philosophen haben ihr Fach für wichtiger gehalten, als es in der Sicht der nationalsozialistischen Führung war.
Rekonstruktionen von Philosophien in ihrer Geschichte sind nicht ohne Voraussetzungen. Diese Aussage ist trivial nur für den, der weiß, dass ›die Geschichte selbst‹ ebenso wenig spricht wie ›die Dinge selbst‹ sprechen. Die Voraussetzungen von Rekonstruktionen ergeben sich nicht ›aus der Sache selbst‹, sie werden hergestellt. In der Historiografie wird Geschichte zur Sprache gebracht. Wer als Historiker ein Philosophieren in seiner Zeit rekonstruiert, beabsichtigt Verstehen. Um zu verstehen, interpretiert er. Verstehen und Interpretation drängen sich nicht ›von der Sache selbst‹ auf. Jede Interpretation steckt den Raum des Verstehens und die historische Zeit als Möglichkeitsbedingungen und Grenzen des Wissen-Könnens ab.
Eine wesentliche Voraussetzung des Verstehens, Interpretierens und ›Wissens‹ ist in Bezug auf den Nationalsozialismus die Einsicht, dass das Philosophieren nach 1933 nicht alternativlos war. Zur Wahl stand mehr als nur die NS-Ideologie. Philosophen hatten die Wahl zwischen verschiedenen Wegen, so etwa zwischen Idealismus und Rationalismus, Phänomenologie und Positivismus, Logik und Hermeneutik etc. Mit der Wahl waren Überzeugungen und Perspektiven verbunden, welche die Aufmerksamkeit, die Wahrnehmung und die Erkenntnis leiteten. Jede Wahl war zugleich ein Filter für Weltsichten und moralische Einstellungen. Mit dem je gewählten Denkweg waren nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Identitäten verbunden. Oswald Schwemmer betont zu Recht, »dass vor aller Individualisierung zunächst ein kollektiver Besitz symbolischer Traditionen besteht, der einen gemeinsamen Bestand grundlegender Einstellungen garantiert […], so dass man tatsächlich von einer kollektiven Identität reden kann, nämlich dem wechselseitigen Bestätigungsverhältnis der symbolischen Traditionen, gemeinsamen Praktiken und Einstellungen, die in einer Gesellschaft bestehen.«47
Die Beiträge in diesem Buch zu Universität, Wissenschaft und Philosophie im Nationalsozialismus, zum Untergang des Neukantianismus im ›Dritten Reich‹ und zu O. Becker, M. Heidegger, E. Rothacker, J. Ritter und K. Schlechta einerseits und andererseits zu H. Arendt und K. Jaspers sowie zum Wiener Kreis – sie stehen für Alternativen, die es gegenüber dem Nationalsozialismus gegeben hat – zeigen, dass das wechselseitige Bestätigungsverhältnis der symbolischen Traditionen, gemeinsame Praktiken und Einstellungen nicht schicksalhaft zu Uniformität geführt haben. Zu unterscheiden und sich zu unterscheiden war nicht unmöglich. Dies ist zu berücksichtigen, wenn es um das Verstehen dessen geht, was nicht vergessen und verdrängt werden darf. Zur nachträglichen Entschuldigung ist das Verstehen weder aufgerufen noch berufen. Das Verstehen-Können ist auch keine Alternative zu kantischer Kritik. Lehren ziehend, wird man im Interesse des Schutzes der Menschenwürde die moralische Norm nicht aufgeben, auf deren Grundlage Hannah Arendt gefordert hat, »daß Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil, das zudem unter solchen Umständen in schreiendem Gegensatz zu dem steht, was sie für die einhellige Meinung ihrer gesamten Umgebung halten müssen«.48
Für uns Heutige steht vor dem moralischen Urteil die Analyse der externen und internen Bedingungen des Denkens und Handelns an. Moralische Urteile über Individuen sind durchaus möglich, aber es ist eine Grenze zu beachten: Individuen sind nur für das verantwortlich, was sie selbst denkend und handelnd beeinflussen können.
Nicht anders als die Vereinten Nationen ist auch die UNESCO eine Antwort auf die Gräuel des Nationalsozialismus, des Faschismus und des Militarismus und auf die damit verbundenen Unrechtserfahrungen. 1946 kam es in Vorbereitung der 1. Generalversammlung der UNESCO zu einem Treffen bekannter Intellektueller, Philosophen wie Alfred Ayer und Jean-Paul Sartre, Wissenschaftler und Schriftsteller, die eine Programmatik für eine humane Welt entwarfen.49 Julian Huxley, der erste UNESCO-Generaldirektor, brachte das Programm auf die Formel: »Die allgemeine Philosophie der UNESCO muss ein universeller wissenschaftlicher Humanismus sein.«50
Die Beiträge zu diesem Buch sind entstanden als Vorträge anlässlich des von der Deutschen Abteilung ›Menschenrechte und Kulturen‹ des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris) in Bremen im November 2007 unter dem Titel Vergessen?Verdrängt? Erinnert? Philosophie im Nationalsozialismus organisierten UNESCO-Welttages der Philosophie. Zusätzlich aufgenommen wurden die Beiträge von Volker Böhnigk und Jens Thiel. Die Vorträge waren und die erweiterten Beiträge sind weder der politischen Polemik noch der moralisierenden Kritik gewidmet. Es geht um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Philosophierens im Nationalsozialismus, um Aufklärung und die Arbeit des Differenzierens sowie um Verantwortung.
Anmerkungen
1 H. F. Fulda, [Einführung zu] Schwerpunkt: Nationalsozialismus und Philosophie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), S. 205 f.
2 F. Stern, Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. Aus d. Engl. v. F. Griese, München 72007, S. 350 f.
3 R. Koselleck, Die Diskontinuität der Erinnerung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), S. 215.
4 Interview mit Rudolf Vierhaus zum Thema: ›Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren‹. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/BEITRAG/interview/vierhaus.htm. Internet-Abfrage 20.11.2008.
5 Ich nehme hier Perspektiven zur Philosophiegeschichtsschreibung auf aus H.J. Sandkühler, Der Philosoph, die Philosophie und die Kritik. Reflexionen über Entwicklungen, Zustände und das Mögliche. In: Wahrheiten und Geschichten. Philosophie nach ’45, Köln 1985, S. 26–44.
6 H. Lübbe, Affirmationen. Joachim Ritters Philosophie im akademischen Kontext der zweiten deutschen Demokratie. In: U. Dierse (Hg.), Joachim Ritter zum Gedenken, Stuttgart 2004, S. 90 f.
7 H. Lübbe, Deutschland nach dem Nationalsozialismus 1945–1990. Zum politischen und akademischen Kontext des Falles Schneider alias Schwerte. In: Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen. Hg. v. H. König / W. Kuhlmann, München 1997, S. 190.
8 W. Stuckart/ H. Globke (Hg.), Kommentare zur deutschen Rassengesetzgebung, Bd. 1, München/Berlin 1936, S. 260. Vgl. J. Walk (Hg.), Das Sonderrecht der Juden im NS-Staat, Heidelberg/ Karlsruhe 1981.
9 Vgl. A. Kamlah, Die Vertreibung von Philosophen durch den Nationalsozialismus – ausgewählte biographische Studien/ H. J. Sandkühler, Republikanismus im Exil – Ernst Cassirer. In: Bremer Philosophica 1996/5.
10 Vgl. T. Laugstien, Philosophieverhältnisse im deutschen Faschismus, Berlin 1990, S. 202. Das ›Bekenntnis der Professoren‹ ist insofern ein nur begrenzt aussagefähiges Dokument, als (i) nur an den Universitäten Hamburg und Marburg, die beide nicht als NS-Hochburgen galten, größere Teile des Lehrkörpers unterzeichneten, (ii) unter den Unterzeichnern auch später aus politischen oder rassistischen Gründen Entlassene waren und (iii) an mehreren Universitäten offensichtlich keine Unterschriften gesammelt wurden, so in Berlin, München, Kiel, Greifswald, Königsberg oder Tübingen.
11 So in der Abschrift eines Gutachtens des Reichsicherheitsdienstes über Joachim Ritter, vom 25. Mai 1940, UAJ, Bestand U Abt. IV, Nr. 25.
12 R. Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 22006, S. 16.
13 Ebd., S. 17.
14 Ebd., S. 108.
15 Ebd., S. 1o5.
16 P. Engel, Vies parallèles: Rougier et Cavaillès. In: Philosophia Scientiæ, 10 (2), 2006, S. 1–30.
17 Vgl. M. Grüttner, Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik und die Geisteswissenschaften. In: H. Dainat/ L. Danneberg (Hg.), Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, Tübingen 2003, S. 16.
18 Ebd., S. 13. W. Schultze, Rede vom 21. Januar 1938 in Kiel. In: Dokumente der Deutschen Politik. Reihe: Das Reich Adolf Hitlers, Bd. 6, Teil 2, Berlin 1941, S. 634.
19 Ebd., S. 19.
20 Vgl. M. Grüttner, Das Scheitern der Vordenker. Deutsche Hochschullehrer und der Nationalsozialismus. In: Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup. Hg. v. M. Grüttner/ R. Hachtmann/ H.-G. Haupt, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 458–481.
21 V. Böhnigk, Kulturanthropologie als Rassenlehre. Nationalsozialistische Kulturphilosophie aus der Sicht des Philosophen Erich Rothacker, Würzburg 2002, S. 11; vgl. den Beitrag von Böhnigk in diesem Band; vgl. auch ders., Kant und der Nationalsozialismus. Einige programmatische Bemerkungen über nationalsozialistische Philosophie, Bonn 2000.
22 Laugstien 1990, S. 185.
23 Vgl. H. Dingler, Zur Philosophie des Dritten Reiches (1934). In: Hugo Dingler, Gesammelte Werke. Werke auf CD-ROM. Im Auftrag der Hugo-Dingler-Stiftung, Aschaffenburg, hg. v. U. Weiß unter Mitarbeit v. S. Jeltsch und Th. Mohrs, Berlin 2004. Vgl. zu Dingler U. Weiß, Sicherheitstraum und Systemwille: Ein einleitender Essay. (Ebd.)
24 Zit. n. W.F. Haug, Philosophie im Deutschen Faschismus. In: ders. (Hg.), Deutsche Philosophen 1933, Berlin 1989, S. 5–28, hier S. 7.
25 Ebd.; vgl. hierzu G. Wolters, Der ›Führer‹ und seine Denker. Zur Philosophie des ›Dritten Reichs‹. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47/2 (1999).
26 Vgl. G. Leaman, Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen, Hamburg 1993. Vgl. jetzt v. a. Emmanuel Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Berlin 2009, und den Beitrag von Faye in diesem Band.
27 A. Gehlen, Der Idealismus und die Gegenwart. In: Völkische Kultur 3 (1935), S. 324; ders., Noch einmal: Der Idealismus und die Gegenwart. In: ebd., S. 561 f. Zit. n. W. Rügemer, Philosophische Anthropologie und Epochenkrise, Köln 1979, S. 89.
28 Zit. nach E. Piper, Alfred Rosenberg, München 2005, S. 211.
29 G. Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, S. VIII.
30 Ebd., S. 8.
31 Ebd., S. IX.
32 Ebd., S. 24.
33 Vgl. H. F. Fulda, Heinrich Rickerts Anpassung an den Nationalsozialismus (Zum 27. Januar 1998). In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999); vgl. den Beitrag von Fulda in diesem Band.
34 H. M. Enzensberger, Hammerstein oder Der Eigensinn, Frankfurt/M. 2008, S. 242.
35 Ebd., S. 246.
36 Stern 2007, S. 239.
37 Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937, hg. v. W. Pfeiffer-Belli, Frankfurt a. M./Leipzig 1996, S. 678.
38 Ebd., S. 760.
39 Vgl. W. Abendroth, Das Unpolitische als Wesensmerkmal der deutschen Universität, In: Universitätstage 1966. Veröffentlichung der Freien Universität Berlin. Nationalsozialismus und die deutsche Universität, Berlin 1966.
40 P. Schöttler, Einleitende Bemerkungen. In: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt/M. 1997, S. 16 f.
41 In: H. Timpke (Hg.), Dokumente zur Gleichschaltung des Landes Hamburg 1933, Frankfurt/M. 1964, S. 305.
42 Grüttner 2003, S. 26 f.
43 E. Jünger, Über Nationalismus und Judenfrage. In: Süddeutsche Monatshefte 27 (1930), S. 844 ff.
44 Der einzige Artikel des Gesetzes lautete: »Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.«
45 C. Schmitt, Der Führer schützt das Recht. In: Deutsche Juristen-Zeitung 1934, Sp. 945–950.
46 Stern 2007, S. 278 f.
47 O. Schwemmer, Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München 2005, S. 259.
48 H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität desBösen. Aus dem Amerikanischen v. B. Granzow. Mit einem einleitenden Essay v. H. Mommsen, Leipzig 1990, S. 65 f.
49 Zur Geschichte der UNESCO vgl. P. Vermeren, La philosophie saisie parl’UNESCO, Paris: UNESCO, 2003.
50 Ebd., S. 38.
– MICHAEL GRÜTTNER –
Die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reiches war lange Zeit ein eher tabuisiertes Thema und ist erst seit den 1980er Jahren intensiv erforscht worden. Während ältere Publikationen noch behaupteten, die Universitäten seien zwischen 1933 und 1945 im Kern ›gesund‹ geblieben, hat die neuere Forschung ganz überwiegend darauf hingewiesen, dass die Beziehungen zwischen dem Regime und der Wissenschaft enger gewesen sind, als lange Zeit angenommen wurde. Trotz starker antiintellektueller Ressentiments war auch die nationalsozialistische Diktatur auf wissenschaftliches Expertenwissen angewiesen und hat es für ihre Zwecke genutzt. Die neuere Forschung hat daher von der Vorstellung Abschied genommen, der Nationalsozialismus sei ›wissenschaftsfeindlich‹ gewesen. Tatsächlich sind die materiellen Aufwendungen für die wissenschaftliche Forschung nach 1933 sogar deutlich gestiegen.1 Allerdings profitierten von dieser Entwicklung weniger die Universitäten, sondern vor allem außeruniversitäre Forschungseinrichtungen wie die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (die Vorläuferin der heutigen Max-Planck-Gesellschaft), deren Etat zwischen 1933 und 1945 erheblich aufgestockt wurde.
Die Mehrzahl der deutschen Universitätslehrer stand dem Projekt einer demokratischen Republik ablehnend oder zumindest stark distanziert gegenüber. Die meisten Hochschullehrer trauerten dem untergegangenen Bismarckreich nach und erblickten in der Weimarer Republik hauptsächlich das »beschämende Ergebnis eines verlorenen Krieges« – so formulierte es rückblickend der Jurist Wolfgang Kunkel.2 Wie Max Weber schon im Sommer 1918 zum Ausdruck brachte, steckte hinter dem »Gezeter« gegen die gleichmacherische Demokratie vor allem die »Angst um das Prestige der eigenen Schicht, des Diplom-Menschentums«.3 Mit der antirepublikanischen Haltung verknüpft war ein weit verbreiteter Antisemitismus, der sich vor allem bei Berufungen bemerkbar machte. Allerdings war dies kein ›eliminatorischer‹ Antisemitismus im Sinne Goldhagens. Denn trotz erwiesener Benachteiligung spielten Juden bis 1933 eine bedeutende Rolle im Hochschulwesen. In Preußen gehörten vor 1933 etwa 9% aller Hochschullehrer der jüdischen Religionsgemeinschaft an – darunter zahlreiche bedeutende Wissenschaftler und nicht wenige Nobelpreisträger. Auffällig ist aber, dass die meisten jüdischen Hochschullehrer über den Status eines Privatdozenten oder nichtbeamteten außerordentlichen Professors nicht hinauskamen, während im eigentlichen Kernbereich des Lehrkörpers, unter den Ordinarien, die Zahl der Juden auf einen relativ kleinen Kreis beschränkt blieb.4
Vor 1933 hatten sich nur wenige Hochschullehrer der NSDAP angeschlossen. Parteipolitisch neigten die Hochschullehrer vor allem zu den Deutschnationalen oder zur nationalliberalen Deutschen Volkspartei. Allerdings bestanden erhebliche Unterschiede zwischen eher liberalen Universitäten – darunter Heidelberg – und nationalkonservativen Hochburgen wie z. B. Tübingen oder Rostock. Als Gruppe gehörten die Hochschullehrer daher zu jenen traditionellen Eliten, die einen signifikanten Beitrag zur Zerstörung der Weimarer Republik leisteten, ohne jedoch am Aufstieg des Nationalsozialismus zur Massenbewegung in nennenswerter Weise beteiligt gewesen zu sein.
Ein anderes Bild bot die Studentenschaft, die sich zu einem sehr frühen Zeitpunkt und mit besonderem Enthusiasmus dem Nationalsozialismus zugewandt hat. Unter den Studierenden, so könnte man es pointiert formulieren, fand die ›Machtergreifung‹ bereits eineinhalb Jahre vor 1933 statt.5 Schon bei den Wahlen für die Allgemeinen Studentenausschüsse (AStA) von 1931 avancierte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) an den meisten deutschen Hochschulen zur stärksten politischen Kraft. 1931 entschieden sich an den Universitäten insgesamt 44,6% aller studentischen Wähler für die nationalsozialistischen Listen. Seit diesem Jahr kontrollierte der NSDStB folgerichtig auch die Dachorganisation der Studierenden, die Deutsche Studentenschaft. 1932 betrug der nationalsozialistische Stimmenanteil sogar 49,1%. Ähnlich sah es an den Technischen Hochschulen aus. Da die Wahlbeteiligung im Schnitt zwischen 60% und 80% lag, lässt sich aus solchen Ergebnissen durchaus ein Einblick in die politische Haltung eines großen Teils der Studentenschaft gewinnen.6
Anfang der 30er Jahre befanden sich die deutschen Hochschulen in einer schweren Krise. Erst vor diesem Hintergrund wird die relativ reibungslose Gleichschaltung der Hochschulen von 1933/34 verständlich. Dies war erstens eine finanzielle Krise. Allein zwischen 1930 und 1932 wurden die staatlichen Aufwendungen für die Universitäten um mehr als ein Drittel gekürzt. Sie war zum zweiten eine Legitimationskrise, hervorgerufen durch eine zunehmende Kritik, gerade auch von studentischer Seite, an der ›Lebensabgewandtheit‹ der Hochschulen und der zunehmenden Aufsplitterung der Wissenschaft. Drittens handelte es sich um eine Krise des wissenschaftlichen Nachwuchses. Etwa seit der Jahrhundertwende hatte sich in den Lehrkörpern der Universitäten der Anteil der nichtbeamteten Hochschullehrer fast kontinuierlich erhöht. Im Sommersemester 1932 standen von mehr als 5.000 Professoren und Privatdozenten nur 45% in einer beamteten Stellung. Die übrigen 55% hatten oft nur ein relativ kärgliches Auskommen und wenig Hoffnung, dass sich daran in Zukunft viel ändern würde. Von den Privatdozenten und nichtbeamteten außerordentlichen Professoren der Philosophischen Fakultäten konnte nach Berechnungen des Hochschulverbandes Anfang der 30er Jahre nur etwa ein Drittel darauf hoffen, jemals einen Lehrstuhl zu erhalten, an den Medizinischen Fakultäten war es sogar nur ein Siebtel.7 Im wissenschaftlichen Nachwuchs dominierte daher Anfang der 1930er Jahre das Gefühl, einen Lebensweg eingeschlagen zu haben, der sich als Sackgasse erwiesen hatte. Der Marburger Privatdozent Erwin Wiskemann hat dieses Lebensgefühl seiner wissenschaftlichen Generation im Oktober 1932 auf dem Danziger Hochschultag beschrieben: »Wir können […] feststellen, dass selbst dort, wo das Einkommen gesichert ist, oder es jedenfalls für den Moment noch ausreichend ist, dass der Einzelne nicht mehr auszukommen glaubt. Es schwebt über ihm nicht nur die ganze Ungewissheit der allgemeinen Lage, nicht nur das Krisenhafte dieses Generationsumbruchs, sondern in ganz konkreter Weise steht er unter dem Eindruck des Nichtmehrvorwärtskommens. Die Barrieren sind vor ihm irgendwie zu. Bei uns ist es doch heute so, dass zahlreiche Lehrstühle nicht einmal mehr besetzt werden, dass eine Aussicht für den Nichtordinarius nicht mehr vorhanden ist.«8
Anfang 1933 fühlte sich in der NSDAP niemand für Wissenschaft zuständig, und auch eine Organisation nationalsozialistischer Wissenschaftler existierte damals noch nicht. Die Kultusministerien wurden in der Regel von ehemaligen Lehrern oder Studienräten wie Bernhard Rust (Preußen) oder Hans Schemm (Bayern) übernommen, die mit dem Universitätsbetrieb nicht wirklich vertraut waren. Dieses Vakuum nutzte der NS-Studentenbund, der 1933/34 versuchte, auf eigene Faust eine ›nationalsozialistische Hochschulrevolution‹ zu inszenieren. Durch ihre vehementen Attacken gegen die ›reaktionären‹ und ›verkalkten‹ Professoren erhielt die Phase der ›Machtergreifung‹ an den Hochschulen den Charakter eines Generationskonfliktes, der die traditionellen Hierarchien zeitweise außer Kraft setzte: »Wir sehen uns mit genau derselben Frechheit, wie einst als SA-Leute auf der Straße, heute im Hörsaal um und entscheiden, ob ein Professor bleiben kann oder nicht. Kriterium wird sein: Jener Mann kann nicht mehr Professor sein, weil er uns nicht mehr versteht […] Wir Jungen haben die Hochschule in der Hand und können daraus machen, was wir wollen«, erklärte ein Leipziger Studentenfunktionär im Juni 1933.9 Erst seit 1934/35 ging der Einfluss der Studentenfunktionäre wieder deutlich zurück.
Wissenschaftspolitik gehörte zu jenen Politikbereichen, für die Hitler sich nicht interessierte, in die er daher nur selten eingriff. Selbst wenn bedeutsame Entscheidungen an Hitler herangetragen wurden, reagierte er oft mit Indifferenz. Seine wenigen wichtigen wissenschaftspolitischen Entscheidungen traf Hitler meist dann, wenn unterschiedliche Staats- und Parteistellen sich in internen Konflikten festgebissen hatten und aus eigener Kraft keinen Ausweg mehr fanden. Sofern Hitler aus eigenem Antrieb Initiativen im Bereich der Wissenschaftspolitik ergriff, handelte es sich häufig um die Verwirklichung persönlicher Neigungen von drittrangiger Relevanz.
Die wichtigsten Institutionen nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik entstanden erst zwischen 1934 und 1936: das Reichserziehungsministerium (REM), die Hochschulkommission der NSDAP, der Nationalsozialistische Deutsche Dozentenbund (NSDDB) und das Amt Wissenschaft in der Dienststelle Rosenberg. Keine dieser Einrichtungen war im NS-Staat ein erstrangiger Machtfaktor. Das REM litt vor allem unter der geringen Reputation des Ministers Bernhard Rust, der auf der Rektorenkonferenz von 1943 als »mißratener Treuhänder der Wissenschaft« verspottet wurde.10 Bei Rosenbergs ›Amt Wissenschaft‹, das zunächst von dem Philosophen Alfred Baeumler geleitet wurde, handelte es sich jahrelang faktisch um einen Einmannbetrieb, der erst seit 1938 langsam ausgebaut wurde und sich im Wesentlichen auf die Geisteswissenschaften beschränkte. Der NSDDB unter Leitung des Reichsdozentenführers Walter Schultze verfügte in der Parteihierarchie und an den Hochschulen ebenfalls nur über ein geringes Ansehen und hatte an wissenschaftspolitischen Konzepten wenig anzubieten. Bei personalpolitischen Entscheidungen besaßen die Dozentenbundführer dagegen erhebliches Gewicht und konnten akademische Karrieren verhindern oder zumindest verzögern.11 Innerhalb der Wehrmacht hat vor allem die Forschungsabteilung im Heereswaffenamt Einfluss auf wissenschaftspolitische Entscheidungen ausgeübt. Der Leiter der Forschungsabteilung, Erich Schumann, war für seine guten Beziehungen zum REM bekannt. Einige andere Organisationen wie der NS-Lehrerbund oder die ›Dozentenschaften‹ spielten nur in den Anfangsjahren eine gewisse Rolle. In der SS gab es mehrere Einrichtungen, die sich mit Wissenschaftspolitik beschäftigten, darunter die SS-Forschungsgemeinschaft ›Ahnenerbe‹, die im Krieg für Menschenversuche verantwortlich war, bei denen der Tod der Versuchspersonen von vornherein geplant war.12 Wie im Dritten Reich üblich wurden die Kompetenzen dieser verschiedenen Institutionen nicht klar voneinander abgegrenzt. Das unvermeidliche Ergebnis waren erbitterte Machtkämpfe zwischen den verschiedenen für Wissenschaftspolitik zuständigen Staats- und Parteistellen, die teilweise bis in die Kriegsjahre hinein andauerten. Selbst die gemeinsame Zugehörigkeit zur SS milderte solche Konflikte keineswegs: Die Tatsache, dass das Amt Wissenschaft des REM von hochrangigen SS-Führern geleitet wurde, hat den SS-Brigadeführer und Reichsdozentenbundführer Walter Schultze nicht daran gehindert, sich bei zahlreichen Anlässen über die »Wissenschaftsarbeit« des Ministeriums zu beschweren, die nach seiner Ansicht »ohne jede nationalsozialistische Ausrichtung« war.13 Noch im März 1943 klagte Heinrich Härtle, ein Wissenschaftspolitiker aus dem Amt Rosenberg, dass »auf wissenschaftlichem Gebiete die Desorganisation und der Ressortstreit […] noch größer ist als auf anderen Gebieten«.14
Einigkeit herrschte unter den nationalsozialistischen Hochschulpolitikern immer dann, wenn bestimmte hochschulpolitische Maßnahmen sich eindeutig aus eingeschliffenen Feindbildern ergaben. Zu diesen Maßnahmen gehörte die Vertreibung jüdischer oder politisch unliebsamer Hochschullehrer und Studenten sowie die Beseitigung demokratischer Strukturen – soweit man davon an den Hochschulen sprechen konnte – zugunsten des Führerprinzips. Dem entsprach auch eine Personalpolitik, bei der neben dem Kriterium der Leistung fortan die politische Gesinnung und die ›Rasse‹ eine entscheidende Rolle spielen sollten. Alle wichtigen personalpolitischen Entscheidungen wurden seit 1933 mit einer politischen Überprüfung der Kandidaten verknüpft. Wer nicht den Eindruck erweckte, dem Regime mindestens loyal gegenüberzustehen, hatte keine Chance zu reüssieren.
Die traditionelle Struktur der deutschen Hochschulen ist dementsprechend bereits 1933 von den Kultusministerien per Runderlass liquidiert worden. Die bisherigen Entscheidungsgremien (Senate und Fakultäten) wurden weitgehend entmachtet. Stattdessen avancierten nunmehr die Rektoren zu ›Führern‹ der Hochschulen, die Dekane zu ›Führern‹ der Fakultäten. Wahlen von Rektoren oder Dekanen entfielen fortan. In der Realität blieb die Figur des scheinbar allmächtigen Führer-Rektors aber weitgehend eine Fiktion.15 Zum einen zeigten die örtlichen Funktionäre des NS-Dozentenbundes und des NS-Studentenbundes oft wenig Bereitschaft, sich dem Rektor unterzuordnen, sondern bildeten faktisch Nebenregierungen, was zu häufigen Konflikten Anlass gab. Zum anderen mischten sich neben dem Reichserziehungsministerium, dem der Rektor offiziell unterstand, auch örtliche Parteistellen (vor allem die Gauleiter) immer wieder in die Rektoratsgeschäfte ein. Klare Hierarchien bestanden daher an den Hochschulen nur auf dem Papier. In der Praxis hatte die Umstrukturierung der Hochschulen nach der ›Machtergreifung‹ vor allem zwei Konsequenzen: 1. eine Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse von den Hochschulen zur Staats- und Parteibürokratie und 2. eine partielle Entmachtung der Ordinarien, die bis 1933 die Universitäten beherrscht hatten.
Schließlich wurde auch die Forderung nach einer neuen nationalsozialistischen Wissenschaft erhoben. Was das genau bedeutete und wie eine nationalsozialistische Philosophie, Germanistik oder Physik auszusehen hatte, darüber bestanden allerdings lange Zeit nur unklare und häufig widersprüchliche Vorstellungen. Zudem konnten sich die zuständigen Staats- und Parteistellen nicht darüber einigen, wer von ihnen dazu berufen sein sollte, die Wissenschaft im Sinne des Regimes auszurichten und zu lenken.
Die Vertreibung unerwünschter Hochschullehrer begann mit dem ›Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹ vom 7. April 193316, dessen Geltungsbereich auch auf alle nichtbeamteten Hochschullehrer ausgedehnt wurde. Dieses Gesetz richtete sich sowohl gegen Juden und andere ›Nichtarier‹ als auch gegen politische Gegner des Nationalsozialismus, die nicht die Gewähr dafür boten, »jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat« einzutreten (§ 4). Allerdings wurden verschiedene Ausnahmeregelungen in das Gesetz eingefügt: Ehemalige ›Frontkämpfer‹ und Angehörige gefallener Soldaten blieben zunächst ebenso von Entlassungen verschont wie Hochschullehrer, die schon vor dem Ersten Weltkrieg zu Beamten ernannt worden waren. Gemäß der spezifischen Dynamik des NS-Regimes waren diese Ausnahmeregeln aber nur von kurzer Dauer. Bereits zwei Jahre später startete eine zweite Entlassungswelle: Das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 befahl die Entlassung der letzten jüdischen Beamten, die vom Berufsbeamtengesetz noch verschont geblieben waren.17 Eine dritte Entlassungswelle fiel in die Jahre 1937/38. Diesmal traf es »jüdische Mischlinge« und jene Hochschullehrer, deren Ehepartner als Juden oder »Mischlinge« galten. Ausnahmen wurden nur gemacht, wenn »eine strenge Prüfung ergeben hat, dass der Beamte nicht nur fachlich besonders tüchtig, sondern auch wegen besonderer Zuverlässigkeit, wegen schwerer Kriegsbeschädigung oder wegen besonderer Verdienste um die Partei oder sonstiger Verdienste der Belassung im Amte […] würdig ist.«18 Auf diese Weise überstanden etwa vier Dutzend Hochschullehrer den Säuberungsprozess, obwohl sie als ›jüdisch versippt‹ oder als ›Mischlinge‹ eingestuft worden waren.19 Eine vierte und letzte Entlassungswelle fiel in das Jahr 1939: Verschiedene Privatdozenten und nichtbeamtete Professoren verloren die Venia legendi, als die neue Reichshabilitationsordnung vom 17. Februar 193920 eine erneute politische und fachliche Überprüfung der Nichtordinarien in Gang setzte. Nach Kriegsbeginn kam es an den deutschen Hochschulen nur noch relativ selten zu weiteren Entlassungen. Dagegen wurden die Universitäten in den besetzten Gebieten, vor allem im Osten, teilweise mit großer Brutalität ›gesäubert‹.21
Insgesamt sind zwischen 1933 und 1945 18–19% des Lehrkörpers der deutschen Universitäten entlassen wurden. Bei etwa 80% der Entlassenen standen antisemitische Motive im Vordergrund, d. h., es handelte sich um Juden bzw. um Wissenschaftler, die (teilweise) jüdischer Herkunft waren oder um Hochschullehrer, deren Ehefrauen ›Nichtarierinnen‹ waren. Die restlichen 20% waren Angehörige der Linksparteien, Opfer des ›Kirchenkampfes‹, liberale und konservative Regimegegner sowie Homosexuelle. Weiter offenbart die Statistik erhebliche Unterschiede zwischen jenen Hochschulen, die aufgrund der Entlassungen mehr als ein Drittel ihres Lehrkörpers verloren (Berlin, Frankfurt), und anderen, die nur marginal von der Säuberungspolitik betroffen waren (Tübingen, Rostock), weil sie schon vor 1933 darauf Wert gelegt hatten, keine Juden zu habilitieren oder zu berufen.22
Im Lehrkörper der Universitäten provozierte dieser massive Eingriff nur schwache Reaktionen. Zwar setzten sich die Fakultäten in einer Reihe von Einzelfällen für bedrohte Hochschullehrer ein – insbesondere, wenn es sich um herausragende Wissenschaftler und beliebte Kollegen handelte, deren Lage nicht aussichtslos erschien.23 Hingegen scheiterte die Initiative des Hamburger Rektors Leo Raape, der auf der Rektorenkonferenz am 12. April 1933 in Wiesbaden vorschlug, grundsätzlich gegen die Entlassung jüdischer Hochschullehrer zu protestieren. Die Mehrheit der versammelten Magnifizenzen lehnte diesen Vorschlag als ›gefährlich und aussichtslos‹ ab. Zudem teilten einige der anwesenden Rektoren ganz offensichtlich die nationalsozialistische Kritik an der angeblichen ›Verjudung‹ der Universitäten. Unter ihnen war der Rektor der Berliner Universität, Eduard Kohlrausch, der Raapes Vorschlag mit folgenden Worten zurückwies: »Wir haben eine schwere Schuld auf uns geladen, wir haben viele Riegel nicht vorgeschoben, die man hätte vorschieben können. Die Verjudung ist gekommen, weil man sich nicht entgegengestellt hat.«24 Der Freiburger Rektor Josef Sauer kommentierte das Ergebnis der Diskussion in seinem Tagebuch: »Die Judensperre hat leider zu keiner grundsätzlichen Haltung geführt. Es wurde viel von der Würde der Hochschulen gesprochen, aber in keiner Weise diese auch zum Ausdruck gebracht […]. Das Gefühl der Ohnmacht lastet schwer auf unserer Tagung; würdevolle Haltung wäre allein der Schritt der sieben Göttinger gewesen. Eine große Entscheidungsstunde hat uns erbärmlich klein gesehen.«25
Die Folgen der Massenentlassungen lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: