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"Denken ist die schwierigste Arbeit, die es gibt. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum sich so wenig Leute damit beschäftigen." Henry Ford Nachhaltige und tragfähige Entscheidungen erfordern rationales Denken und eine vernünftige Beurteilung der Situation. Dies gilt umso mehr in Zeiten, die gleichermaßen durch Schnelligkeit und hohe Komplexität gekennzeichnet sind. Die Philosophie entstand vor 2.500 Jahren als methodische Lehre des rationalen Denkens. Diese Entwicklung war kein Zufall, sondern war die Folge bestimmter, aufeinander aufbauender Schritte, vom Staunen und der Kritik bis hin zur Abstraktion und logischen Analyse. Diese insgesamt sieben Schritte markieren den Weg zur Rationalität. Sie lassen sich aus der Entwicklungsgeschichte der Philosophie herausarbeiten und so nutzbar machen. "Philosophie in der Unternehmensberatung: Methodisches Denken für die Praxis" beschreibt die Entstehungsgeschichte der Philosophie und zeigt auf, wie dieser Anfang des rationalen Denkens heute in Unternehmen und Organisationen eingesetzt werden kann: Schritt für Schritt zu Rationalität und Vernunft!
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Seitenzahl: 260
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Der Autor:
Michael Rasche, PD Dr. phil. habil., Dr. theol., Unternehmensberater und Philosoph, 2015/16 Professor (i. V.) für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt, 2001-2016 Katholischer Priester.
EINLEITUNG
WAS IST PHILOSOPHIE?
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ARUM
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HILOSOPHIE
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HILOSOPHIE ALS
F
RAGEN
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HILOSOPHIE ALS
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ETHODE
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MOTIONALITÄT UND
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ATIONALITÄT
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METHODISCHES DENKEN
1. D
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TAUNEN
2. D
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K
RITIK
3. D
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B
EGRÜNDUNG
4. D
ENKEN IN
G
EGENSÄTZEN
5. A
BSTRAKTION
6. E
THIK
7. L
OGIK
Z
USAMMENFASSUNG
E
INFACHHEIT UND
K
OMPLEXITÄT
ANWENDUNGSFELDER
U
NTERNEHMENSKULTUR
U
NTERNEHMENSPHILOSOPHIE
V
ERÄNDERUNGSPROZESSE
U
NTERNEHMENSETHIK
K
OMMUNIKATION
P
ERSÖNLICHKEIT
SCHLUSSWORT
„Habe nun, ach! Philosophie
Juristerei und Medizin
und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühen.
Da steh ich nun, ich armer Tor,
und bin so klug als wie zuvor.“
Dieser Stoßseufzer aus dem ersten Teil von Goethes Faust hängt wie ein Damokles-Schwert über dem mittlerweile ergrauten Haupt der Philosophie: Ist die Philosophie nicht letztlich eine brotlose Kunst? Eine Art denkerischer Versponnenheit, die nur um sich selbst kreist?
Dieses Buch eröffnet der Philosophie ein wichtiges Feld: das Feld der Unternehmens- und Organisationsberatung. Dies mag als ein Spagat erscheinen zwischen zwei Dingen, die eigentlich nicht zusammengehören: Weltferne trifft auf Welt, blanke Theorie auf Praxis, abstraktes Denken auf pragmatisches Handeln. Vielleicht sind es gerade diese scheinbar unvereinbaren Gegensätze, die das Anliegen einer philosophischen Beratung so reizvoll machen.
Es geht der Philosophie um Denken. Um methodisches Denken. Um das rationale Hinterfragen. Mit diesen Fähigkeiten wird die Philosophie immer notwendiger für Unternehmen und Organisationen, die unter einem immer größeren Zeitdruck stehen. Entscheidungen müssen immer schneller getroffen werden in einer Welt, die immer komplexer wird. Eine komplexere Welt erfordert auch ein immer komplexeres Denken.
Philosophie lehrt Denken. Dies ist die ureigenste und wichtigste Aufgabe der Philosophie, und mit dieser Aufgabe kann sie eine bedeutende Rolle in der Beratung von Unternehmen und Organisationen spielen.
Was ist Denken und wie passiert es? Rationales und zielführendes Denken fällt nicht vom Himmel. Fiel es noch nie. Die Philosophie entstand vor 2.500 Jahren, indem sie Methoden des Denkens entwickelte. Die Philosophie ist nicht das Verkünden von weisen Sprüchen. Sie lehrt keinen genauen Inhalt, aber sie lehrt, mit Inhalten umzugehen: sie lehrt zu denken. Die Philosophie ist damals entstanden als der Versuch, die Welt und den Menschen rational zu durchdringen und aus dieser Analyse heraus Vorschläge zu entwickeln, wie der Mensch handeln soll. Die Philosophie entstand damals nicht zufällig, und die Methodik, welche die Philosophie damals entwickelt hat, entstand ebensowenig aus Zufall. Es waren einzelne, aufeinander aufbauende Schritte, deren Entwicklung damals ein paar Jahrhunderte gedauert haben, eine Evolution, die das hervorgebracht hat, was wir heute als „Logik“, „Rationalität“ oder „methodisches Denken“ bezeichnen.
Die Methodik, die in diesem Buch angewendet wird, ist eigentlich recht simpel: wenn es so ist, dass das Denken der Philosophie in aufeinanderfolgenden Schritten entstanden ist, dann muss es doch möglich sein, diese einzelnen Schritte herauszuarbeiten und auf diese Weise eine Anleitung zu geben, wie methodisches Denken funktioniert und zum Leben erweckt werden kann. Wenn dieser Weg in dieser Reihenfolge damals zum methodischen Denken führte, muss dieser Weg auch heutezum methodischen Denken führen. Und gleichzeitig wird noch einmal klarer, was eigentlich methodisches Denken ist. Der Leser wird zu den Wurzeln unserer Rationalität zurückgeführt.
Die damaligen Schritte, die zur Entwicklung des methodischen Denkens der Philosophie führten, werden in diesem Buch einzeln dargestellt und für die Beratung von Unter-nehmen und Organisationen, aber auch für die individuell-persönliche Beratung fruchtbar gemacht. Die Philosophie lehrt in ihrem Kern das methodische Denken und als solches soll sie in diesem Buch vorgestellt werden.
Die Leitung von Unternehmen und Organisationen, das Bewerten ethischer Fragestellungen, die Einleitung und Durchführung unternehmerischer Veränderungsprozesse, die Arbeit mit der Kultur eines Unternehmens, die Entwicklung einer Unternehmensphilosophie, die Kommunikation nach Innen und Außen: all das sind Dinge, die ein klares, methodisches Denken erfordern, um gute und nachhaltige Entscheidungen treffen zu können. Die Philosophie ist die Disziplin, die dieses Denken entwickelt hat und damit eine wichtige Grundlage der erfolgreichen Beratung von Unternehmen und Organisationen. Dieser Weg des methodischen Denkens ist durchaus ein steiniger Weg, aber ein Weg, den es sich lohnt, nachzugehen.
„Unternehmensberatung“ kann vieles und alles bedeuten und ist zu einem sehr schwammigen Begriff geworden. Beratungsleistungen werden in allen möglichen und auch unmöglichen Varianten angeboten. Das ist durchaus positiv zu bewerten, weil es für eine große inhaltliche Breite steht; andererseits macht es aber auch erklärungsbedürftig, was man unter „Unternehmensberatung“ eigentlich versteht und wo man seinen eigenen Schwerpunkt als Berater setzen will. Die klassische Unternehmensberatung basiert auf einer betriebswirtschaftlichen Analyse des Unternehmens oder einer Markt-situation und rät zu bestimmten strategischen Entscheidungen, die auf diesen Analysen aufbauen.
Neben diesen klassischen und „harten“ Unternehmensberatungen hat sich in den letzten Jahrzehnten ein inhaltlich breit gefächertes Feld etabliert, das grob gesprochen weniger die Zahlen des Unternehmens als vielmehr den Menschen im und um das Unternehmen ins Visier nimmt. Die humane oder soziale Komponente spielt in der Beratungspraxis eine immer größere Rolle, weil völlig zu Recht erkannt worden ist, dass ein Unternehmen nicht nur aus Zahlen besteht, sondern primär aus den Menschen, die für die Zahlen sorgen. Die Dienstleistungen dieser „weichen“ Unternehmensberatung reichen vom Coaching und Training der Führungskräfte oder Mitarbeiter bis hin zu Sozialanalysen der Unternehmenskultur oder der Marktsituation.
In diesem Gewusel von Betriebs- und Volkswirten, Bankern, Rhetorik-, Schlagfertigkeits- und Motivationstrainern, Kultur-, Kommunikations- und Sozialwissenschaftlern, Psychologen und Kaufleuten tummelt sich zusehends eine weitere Berufsgruppe: die Philosophen. In anderen Ländern – wie etwa in Frankreich – werden Philosophen von großen Unternehmensberatungen mittlerweile gezielt von der Universität abgeworben. In Deutschland ist man noch nicht so weit, aber auch hier tauchen immer mehr Philosophen in den Beratungsunternehmen auf. Roland Berger, einer der aktuell bedeutendsten Unternehmensberater, begründete dies mit der Fähigkeit der Philosophen, „querdenken zu können“. Und auch bei McKinsey sind Philosophen mittlerweile nicht mehr so selten, wie man glauben mag. Die Philosophen gelten als Leute, die nicht betriebs- oder fachblind sind, sondern die in der Lage sind, die Dinge neu zu denken. Dieses „Denken“ ist sehr wichtig für die Unternehmen, denen es gerade in Veränderungsprozessen darum gehen muss, alte und ausgetretene Pfade zu verlassen und sich selbst „neu“ zu denken.
Doch die Bedeutung der Philosophie für die Praxis der Unternehmensberatung beschränkt sich nicht nur auf den Exoten, der für den frischen Wind und neue Ideen zuständig ist. Sie ist umfassender, weil auch die Philosophie selbst umfassender ist. Die Philosophie ist etwa um das Jahr 600 v. Chr. im antiken Griechenland entstanden. Mit ihr ist eine neue Art des Denkens entstanden: sie ist der Versuch, die Welt vernünftig und rational zu erklären. Damit hat sie die Welt in einer völlig anderen Art und Weise erklärt als bis dahin üblich.
Bis dahin waren es religiöse oder kulturelle, häufig mythologische Vorstellungen, die alles dominiert haben, auch die Sicht auf die Welt. Nun wird auf einmal nach rationalen Begründungen gesucht. Schon bricht eine geistige Revolution aus, die dazu führt, dass der Mensch hellwach nach logischen Strukturen sucht, mit denen er sich die Welt erklären kann. Diese neue Wachheit führt zu großen Erfindungen, zu naturwissenschaftlichen Entdeckungen, zu einer neuen Einschätzung, was eigentlich der Mensch ist, und damit zu dem Denken, das wir heute als unser europäisch-abendländisches Denken ansehen. Hinter diesem neuen Denken steckt die bis heute gültige Aussage: es gibt kein göttliches oder sonstwie geartetes Schicksal, das uns die Welt erklärt, sondern wir als freie Menschen können die Welt selbst erklären!
Wir müssen uns nicht darüber unterhalten, dass diese Welterklärung immer auch ihre Schwächen hat, aber der Glaube daran, dass eine rationale Welterklärung möglich ist, setzte ungeheure geistige Kräfte frei und eröffnete so erst die Möglichkeit, zwar nicht alles, aber doch sehr viel über die Welt sagen zu können. Die Philosophie, wie sie damals vor etwa 2.500 Jahren im antiken Griechenland begann, ist damit nicht nur ein kulturell interessantes Phänomen, das man irgendwie nebenbei aus historischem Interesse zur Kenntnis nehmen kann, sondern etwas, das unser Denken bis heute in entscheidendem Ausmaß bestimmt. Wo wir uns für vernünftige und rationale Menschen halten (was wir nicht nur, aber auch sind), die aufgeklärt und fortschrittsorientiert sind, greifen wir auf einen Anspruch zurück, der durch die Philosophie in die Welt kam und die Welt bis heute entscheidend verändert hat.
Aus der Tatsache, dass in der Philosophie die Wurzel unserer Vernunft und unserer Rationalität liegt, leitet sich eine große Möglichkeit ab, die die Philosophie für die unternehmerische Beratung noch nicht besitzt, aber besitzen kann. Die Situation eines Unternehmens ist ausgesprochen komplex, viele Faktoren spielen hier hinein und beeinflussen sich gegenseitig. Damit ein Unternehmen überhaupt agieren und re-agieren kann, muss es verstehen, in was für einer Situation es sich befindet. Die Philosophie bietet die Möglichkeit, die verschiedenen Faktoren nach rationalen Kriterien zu gewichten und so die Grundlage dafür zu schaffen, dass ein Unternehmen angemessen und überlegt handelt. Die Stärke der Philosophie liegt weniger in der konkreten Durchführung von Veränderungen. Sie liegt vielmehr in dem, was den Veränderungen vorausgeht: dem Nachdenken, dem rationalen Überlegen darüber, was eigentlich die Situation ist und welche Möglichkeiten sich aus dieser Situation ergeben.
Hierbei kommt der Philosophie das zugute, was ihr oft als Schwäche ausgelegt wird: nicht konkret zu sein und überall mitzureden. Die Philosophie liefert kein Fachwissen. Der Philosoph ist ohne die Aneignung von zusätzlichem Fachwissen erst einmal nicht in der Lage, zu beurteilen, welche Ursachen der Fachkräftemangel hat oder ob es sinnvoll ist, Schrauben in Ecuador oder in Laos zu produzieren. Aber er ist in der Lage, die Faktoren zu beurteilen, die für die richtige Entscheidung relevant sind und das Zusammenspiel der einzelnen Elemente zu strukturieren. Hier kann die Philosophie gegenüber den einzelnen Fachdisziplinen ihre ganze Stärke und Wirkmacht entfalten.
Die meisten Entscheidungen, die ein Mensch trifft, trifft er emotional und unreflektiert. Es kann jetzt hier nicht um den Forscherstreit gehen, ob dies 80% oder gar 100% unserer Entscheidungen betrifft. Es ist der größte Teil der Entscheidungen, der so getroffen wird, und eine Begründung wird zumeist erst nachgeliefert, um nachträglich irrationalen Entscheidungen einen rationalen Anstrich zu geben. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit der Philosophie, rationales Denken und Begründen zu stärken oder sogar zu ermöglichen. Die Rationalität muss der Entscheidung vorausgehen, statt ihr nachzufolgen, damit sinnvolles Handeln möglich ist.
Schließen möchte ich dieses Kapitel mit zwei Anekdoten über den ersten aller Philosophen, Thales von Milet, der um 600 v. Chr. lebte. Diese beiden Anekdoten möchte ich deshalb an den Anfang dieses Buches stellen, weil sie sehr bezeichnend für die Philosophie als Ganze sind bzw. für die Menschen, die Philosophie betreiben. Das, was über den Ersten der Philosophen erzählt wird, erzählt auch sehr viel über all seine Nachfolger, im Guten wie im Schlechten.
In der ersten Geschichte, die von Platon1 überliefert ist, heißt es, dass Thales von Milet häufig nach oben in den Himmel geschaut habe, wenn er unterwegs gewesen sei, um den Lauf der Sonne und der Gestirne zu untersuchen. Es kam, wie es kommen musste: eines Tages fiel er dabei kopfüber in einen Brunnen. Zu allem Überfluss sei er dann noch von einer thrakischen Magd verspottet worden, dass er zwar alles wissen wollte, was am Himmel ist, aber von den Dingen auf der Erde keine Ahnung habe.
Um diese nicht ganz unberechtigte Anklage an die Philosophen und ihr Leben in den Wolken des Denkens direkt zu relativieren, die zweite Geschichte über Thales von Milet, überliefert von Aristoteles. 2 Hier heißt es, die Leute hätten Thales Vorhaltungen wegen seiner Armut gemacht und ihm vorgeworfen, dass die Philosophie zu nichts nütze und brotlose Kunst sei – ein alter Vorwurf, der nichts an Aktualität eingebüßt hat. Thales reagierte auf diese Vorwürfe auf die philosophischste aller Weisen und schlug zurück: aufgrund seiner astronomischen Berechnungen wusste er, dass die nächste Olivenernte sehr reichlich ausfallen würde. Er nahm sein ganzes Geld und mietete bereits im Winter sämtliche Olivenpressen für einen sehr geringen Preis an. Als dann die Erntezeit kam und der Bedarf nach Olivenpressen sehr groß war, konnte er jeden Preis verlangen und verdiente in dieser Zeit ein Vermögen. „Auf diese Weise hat er demonstriert, dass es für die Philosophen ein leichtes sei, reich zu werden, wenn sie nur wollten“, kommentiert Aristoteles anerkennend.
1 Vgl. Platon, Theaitetos 174.
2 Vgl. Aristoteles, Politik A 11.
Was ist ein Philosoph und wie sieht er aus? Wenn man dazu einen normalsterblichen Passanten auf der Straße befragt, kommt im Regelfall folgendes heraus: ein Philosoph ist ein älterer, weiser Mann, lebt im Idealfall in einer Höhle als Eremit und meditiert den ganzen Tag. Den Mitbürgern, die ihn demütig um Rat bitten, gibt er weise Sätze mit auf ihren Lebensweg, die ihnen bei entscheidenden Lebensfragen weiterhelfen sollen. Dieses Bild des Philosophen ist hier natürlich überzeichnet und klischeehaft dargestellt, dennoch ist erstaunlich viel von diesem Bild in den Köpfen der Menschen präsent, zumal sich dieses Bild eines Philosophen durchaus historisch belegen lässt, man denke an Diogenes in der Tonne.
Nun lebt jedoch die Philosophie von einer anderen Grundhaltung, und um die soll es in diesem Buch gehen: es handelt sich um die Grundhaltung des Fragens. Die Philosophie entfaltet ihre Kraft nicht durch die weisen Sprüche, nicht durch ihre Antworten, sondern durch ihre Fragen, durch ihre Fähigkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen und sie immer neu zu hinterfragen. Platon und Aristoteles haben das Staunen, das fragende Betrachten der Welt, als den Grund der Philosophie herausgestellt, und diesem Auftrag muss auch ein heutiger Philosoph gerecht werden, gerade wenn er in der Beratung seine Relevanz beweisen will. Die Wurzel der Philosophie besteht nicht in der Weitergabe von Lebensweisheiten, sondern im Staunen über die Wirklichkeit, im Bezweifeln vermeintlicher Sicherheiten, in der Suche nach rationalen Kriterien, die Wirklichkeit endlich erklärbar zu machen.
Die Wirklichkeit immer neu zu hinterfragen, ist der Anspruch der Philosophie, an den auch sie selbst sich immer wieder erinnern muss. Dies gilt auch für einen Mann wie Aristoteles selbst. So schreibt er in seiner „Geschichte der Tiere“, dass Frauen weniger Zähne als Männer hätten.3 Interessanterweise wurde dies auch 2.000 Jahre lang widerspruchslos geglaubt, bis jemand vor 200 Jahren auf die Idee kam, nachzuzählen.
Jede Antwort, die gegeben wird, muss immer neu auf ihre Gültigkeit befragt werden und in diesem Fragen entsteht die Dynamik der Wissenschaft, auch der Philosophie und damit gewinnt die Philosophie eine völlig andere Perspektive als die des apathischen Höhlenbewohners. Das Philosophische am Philosophen ist nicht die Ruhe der Antwort, sondern die Dynamik des Fragens. Nur so ist die Philosophie nicht ein Narkosemittel für das Denken, sondern sein Stimulans.
Vielleicht mag es überraschen: die Phasen der Philosophiegeschichte, in denen es der Philosophie vorrangig um die Vermittlung einer ruhigen und gelassenen Grundhaltung ging, waren erstaunlich kurz. Es ist wohl kein Zufall, dass unsere heutige Zeit in ihrer Ruhelosigkeit voller Faszination gerade auf die stoische Philosophie der Antike blickt, aber repräsentativ für die gesamte Philosophie ist sie eben nicht. Die Fähigkeit, in einem apathischen Zustand unangenehme Verhältnisse „stoisch“ zu erdulden, ist nicht das, worum es der Philosophie eigentlich geht. Von den großen Philosophen der Geschichte ist zwar zumeist überliefert, dass sie sehr konzentriert gedacht haben – und Konzentration braucht auch Ruhe –, aber die Ruhe selbst macht noch keine Philosophie aus. Entsprechend geht es der Philosophie eigentlich nicht darum, die Menschen zu beruhigen und stillzustellen, sondern darum, aus einem Fragen heraus eine denkerische Dynamik zu entwickeln. Bestehende Verhältnisse sollen nicht stoisch geduldig ertragen, sondern neugierig und kritisch hinterfragt und rational beurteilt werden. Denken wird durch Fragen angeregt und um dieses geht es der Philosophie, wenn sie nicht in küchenpsychologische Ratschläge oder esoterische Lehren abgleiten will. Die Philosophie ist nicht die Ruhe der Antwort, sondern die Dynamik des Fragens.
3 Vgl. Aristoteles, Hist. An. 2,3: „Bei Menschen, Schafen, Ziegen und Schweinen haben die Männchen mehr Zähne als die Weibchen.“
Die Philosophie verfügt bereits in der Antike über eine lebenspraktische Dimension. Mit Sokrates drängt die Frage in den Vordergrund, was denn eigentlich das theoretische Wissen über die Welt mit dem Menschen zu tun hat und wie ein Mensch überhaupt leben soll. Die lebenspraktischen Philosophen sind es, die bis heute das Bild der Philosophen bestimmen: Sokrates, wie er seine Mitmenschen auf dem Marktplatz mit Fragen nervt, Diogenes in seiner Tonne, wie er Alexander den Großen bittet, ihm aus der Sonne zu gehen. Philosophie, so machen diese Männer deutlich, hat mit Lebensweisheit zu tun. An diese lebenspraktische Tradition knüpfen viele heutige Philosophen an, die eine „philosophische Beratung“ anbieten. Oftmals passiert dies mit ausdrücklicher Distanzierung von einer akademischen oder theoretischen Philosophie, versehen mit dem Hinweis, das Leben nun endlich „ganzheitlich“ betrachten zu können. Verbunden wird diese Art philosophischer Beratung oftmals mit therapeutischen oder seelsorgerischen Elementen, ganz zu schweigen von verschiedenen Selbsterfahrungskursen, die unter dem spöttischen Titel „angstfreies Töpfern in der Toskana“ zum allgemeinen Kulturgut geworden sind.
All diese Elemente können viel Gutes bewirken. Sie können Menschen helfen, schwierige Lebenssituationen zu meistern und neue Dinge in ihrem Leben zu entdecken, die ihnen für ihre Zukunft Halt und Sicherheit geben. Aber: nicht überall, wo Philosophie draufsteht, ist auch Philosophie drin. Nicht jeder, der wie Diogenes in einer Tonne liegt, ist deshalb ein Philosoph. Was Diogenes zum Philosophen macht, ist sein Denken, das ihn schließlich zu dieser eigenwilligen Lebensform führte, nicht umgekehrt. Philosophie ist in erster Linie und ganz fundamental rationales Denken, das Suchen nach Begründungen. Diogenes ist Philosoph, weil er mit rationalen Kriterien über das Leben nachgedacht hat und die Tonne wurde dann zur Konsequenz dieser Überlegungen. Diese Reihenfolge ist existentiell für die Philosophie und so ist auch ihr historischer Weg verlaufen.
Die Philosophie begann um das Jahr 600 v. Chr. mit der großen Frage nach dem, was die Welt eigentlich zusammenhält: wie die Welt funktioniert und wo sie eigentlich herkommt. Diese Frage war nicht lebenspraktisch, sie hatte mit dem Menschen noch nichts zu tun. In der ersten Zeit der Philosophie war vom Menschen maximal indirekt die Rede als jemandem, der entweder rational denken kann (dann ist er gut) oder nicht (dann ist er dumm). Es hat fast zwei Jahrhunderte gebraucht, bis zuerst Sokrates und dann Platon und schließlich Aristoteles die Philosophie in Richtung der Ethik weiterentwickelt und danach gefragt haben, was denn all diese theoretischen Kenntnisse eigentlich mit dem Menschen und seinem konkreten Leben zu tun haben.
Dieser Schritt zum Menschen hin war absolut notwendig und er ist unwiderruflich. Aber es war eben erst der historisch und systematisch zweite Schritt der Philosophie. Philosophie ist nicht Philosophie ohne diesen ersten Schritt der Suche nach Begründungsstrukturen. Da, wo eine bestimmte Lebenshaltung oder Welteinstellung propagiert wird, aber auf eine rationale Begründung verzichtet wird, handelt es sich nicht um Philosophie, sondern um Esoterik oder gar um Ideologie. Nicht jeder, der eine Meinung oder These hat, ist deshalb ein Philosoph. Philosophie ist nicht das „Bewusster-Leben“ oder das „Andersleben“, sondern das rationale Nachdenken, das allerdings in einem zweiten Schritt zu einem anderen Leben führen kann. Natürlich kann und soll Philosophie lebenspraktische Konsequenzen haben, aber diese sind eben erst eine Konsequenz der Philosophie selbst. Damit ist die Philosophie in ihrem Wesenskern keine Therapie und erst recht keine Heils- oder Erlösungslehre. Natürlich kann ein Psychotherapeut mit einem philosophischen Anspruch auftreten. Was ihn dann aber zum Philosophen macht, ist nicht die Therapie, sondern das rationale Durchdringen, das die Therapie hervorbringt.
Was ist nun die Philosophie? Sie ist letztlich kein bestimmter Inhalt, sondern eine bestimmte Methode, einen Inhalt zu erzeugen. Das Wort „Methode“ ist hier nicht zufällig gewählt. Wie vieles Großartige stammt es aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich soviel wie „Nachgehen“ oder „Verfolgen“. Diese Bedeutung mag vielleicht erstaunen, macht aber Sinn, denn es geht bei einer Methode strenggenommen nicht – wie man vermuten könnte – um ein „Vorgehen“, sondern um ein „Nachgehen“: die Methode beschreibt die Schritte, wie ich mit einem bestimmten Inhalt umgehe, der bereits da ist, und dann gehe ich diesem Inhalt „nach“. Wo das nicht passiert, wird die Methode zu einem Selbstzweck, der toll daherkommt, aber nicht weiterhilft, einen bestimmten Inhalt zu bewältigen. Die Philosophie entstand als eine Methode, die einem bestimmten Inhalt „nachging“: dem Verständnis des Kosmos. Sie entstand als der Versuch, nach Kriterien zu suchen, wie man die Welt erklären kann: Welche Gründe gibt es, dass die Welt so und nicht anders funktioniert? Worauf können sich wirkliches Wissen und wirkliche Erkenntnis eigentlich stützen? Was ist Erkenntnis überhaupt? In den Jahren nach 600 v. Chr. entwickelte sich die Philosophie in Griechenland als ein methodisches Denken: Das Denken wurde in methodischen Schritten vollzogen und durch diese Methodik wurde neues Wissen erlangt. Diese ersten beiden Jahrhunderte der Philosophie sind eine Evolution des rationalen Denkens, weil in ihnen Schritt für Schritt das Denken in methodische Bahnen gelenkt wurde und auf diese Weise das geschaffen wurde, was wir als „rational“ und „vernunftgemäß“ verstehen. Wie die Evolution der Natur durch „trial and error“ immer neue Formen des Lebens hervorbrachte, entstanden auch in der Philosophie immer neue Denkansätze. Einige von ihnen setzten sich durch, andere nicht. Aber alle bauten mit an der philosophischen Methodik, wie sie sich uns heute präsentiert. Eine Beratung, die in vollem Sinne philosophisch genannt werden will, muss sich diesem hohen methodischen und rationalen Anspruch stellen.
Zur näheren Erläuterung, was denn die Philosophie eigentlich ist, schauen wir auf einen der ganz Großen der Philosophie, Aristoteles. Er hat eine kleinere Schrift „Über die Philosophie“ verfasst, die leider im Laufe der Geschichte verloren gegangen ist, aber einige Auszüge sind in anderen Werken erwähnt und damit gerettet.4 Aus diesen Zeilen lassen sich insgesamt sechs Kennzeichen der Philosophie herauslesen. 5 Man muss nicht jedes Kennzeichen gleich wichtig oder gleich gut finden, aber erwähnenswert sind sie in jedem Fall:
1. Philosophie ist das Wissen von Allem.
Natürlich sind Philosophen nicht allwissend. Im Gegenteil, oft sind sie erstaunlich uninteressiert an zu viel Detailwissen. Weil sie nicht wissen wollen, wie eine einzelne Sache funktioniert, sondern das große Ganze. Daher geht es ihnen darum, die Prinzipien zu erkennen und zu beschreiben, nach denen die Wirklichkeit als Ganze funktioniert und erklärt wird. Philosophen suchen nicht nach dem Speziellen, sondern nach dem Allgemeinen. Deshalb spricht Aristoteles bei der Philosophie von der „Wissenschaft vom Allgemeinen“.
2. Philosophie ist das Wissen von den schwierigsten Dingen.
Jeder, der bereits philosophische Texte gelesen hat, kann es bestätigen: Philosophie ist oft abstrakt und unverständlich. Aristoteles sagt, das muss so sein, weil die Sache, mit der sich die Philosophen beschäftigen, eben sehr unkonkret und wenig greifbar ist. Dieses Allgemeine, um das es der Philosophie geht, so Aristoteles, kann nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden, sondern durch das Denken. Das macht die Materie der Philosophie oft schwierig und wenig greifbar. Wie sonst kann man sich seit 2.500 Jahren um so ein Wörtchen wie „Sein“ prügeln?
3. Philosophie ist methodisch exaktes Wissen.
Philosophie ist dadurch Philosophie, dass sie methodisch ist, ein Wissen auf methodische Weise hervorbringt und vorhandenes Wissen methodisch hinterfragt. Philosophie ist damit nicht meditatives Nachdenken über das Leben und die Welt, sondern rationale Interpretation der Welt. Dabei ist die Philosophie nicht nur auf methodisches Denken angewiesen, sie selbst ist es, die überhaupt erst eine Methodik im wissenschaftlichen Sinne geschaffen hat.
4. Philosophie ist das am vollständigsten mitteilbare Wissen.
Diese These mag verwundern. Der Gedankengang des Aristoteles ist folgender: Die Philosophie schaut nicht auf die vielen kleinen konkreten Dinge, sondern auf das große Allgemeine. Dieses Allgemeine, so Aristoteles, ist präziser als das viele kleine Zeug darunter, weil es nicht mit unseren schwankenden Sinnen wie Hören oder Sehen wahrgenommen wird, sondern durch das unbestechliche Denken selbst. Hieraus ergibt sich für Aristoteles die Aussage, dass diese „Wissenschaft vom Allgemeinen“ auch die Wissenschaft ist, welche über die präzisesten und damit auch am besten lehrbaren Inhalte verfügt. Ob man dieser These des Aristoteles in dieser Form folgen muss, sei dahingestellt. Eine wichtige Sache allerdings schreibt er hier der Philosophie ins Stammbuch: sie muss lehrbar und mitteilbar sein. Das, was Philosophie macht und denkt, muss kommunizierbar sein.
5. Philosophie ist das Wissen, das seinen Wert in sich selbst besitzt und nicht als Mittel zu anderweitigen Zwecken erworben wird.
Aristoteles begründet diesen Punkt in seinem Sinne streng philosophisch: die Philosophie schaut auf das Allgemeine und auf die Prinzipien, die das Allgemeine hervorbringen. Wenn sie dies tut, tut sie dies dann unabhängig von allen anderen Dingen und damit zweckfrei. Dieser Anspruch der Philosophie ist auch heute gültig. Sie stellt einen Wert an sich dar und wird um ihrer selbst willen betrieben, um Philosophie zu sein. Was natürlich nicht heißt, dass die Ergebnisse der Philosophie nicht auch für bestimmte Zwecke zu verwenden sind, wie es etwa in der Beratung passiert. Aber die Philosophie selbst ist nur dann Philosophie, wenn sie nicht auf eine solche äußere Nützlichkeit hin betrieben wird, da eine solche Zweckbindung der Philosophie ihr Ergebnis verfälscht – was für die Philosophie genauso gilt wie für jede andere Wissenschaft.
6. Philosophie vermag zu regieren und zu befehlen.
Das klingt etwas martialisch. Aristoteles weist den Philosophen die Fähigkeit zu, zu regieren, da diese nicht nur die Ursachen der Wirklichkeit kennen würden, sondern auch ihre letzten Gründe. Damit besitzen die Philosophen ein tieferes Verständnis dessen, wie die Welt funktioniert und das wiederum gibt ihnen die Fähigkeit, fundierte Entscheidungen für die Welt treffen zu können – in der Konsequenz auch unternehmerische Entscheidungen. Die Realität vieler Philosophen in Vergangenheit und Gegenwart, die zwar große Denker waren, sich in politischen Dingen aber in ganz böser Weise verrannt haben – man denke nur an Martin Heidegger und seine Nähe zum Nationalsozialismus – scheint dem zu widersprechen, ändert aber nichts am Anspruch der Philosophie, auch etwas für die Welt Wichtiges und Relevantes sagen zu können und sich durchaus auch in die politische Diskussion mit einzubringen.
Diese sechs von Aristoteles genannten Elemente der Philosophie sind jetzt nicht im Einzelnen und in vollem Sinne auf unser heutiges Verständnis von Philosophie übertragbar. Aber in ihrer Gesamtheit verweisen sie auf die wunderbare Weite, aber auch auf die nicht aufgebbaren Grundlagen der Philosophie. Die Philosophie verfügt über ein sehr breites inhaltliches Spektrum. Jedes erdenkliche Thema und jede erdenkliche Sache können zum Objekt der Philosophie werden. Gleichzeitig ist die Philosophie aber auch an bestimmte Kriterien gebunden, um wirklich Philosophie zu sein, und ein zentrales Kriterium ist die Methodik.
Philosophie ist nicht nur Nachsinnen über Sinn und Unsinn dieser Welt, sondern methodisches Denken. Die Philosophie schaut nach rationalen Kriterien, mit denen sie die Welt beurteilen kann und fragt gleichzeitig danach, was eigentlich Vernunft und Rationalität sind. Hier liegt der Kern der Philosophie als Methode. Sie ist eine Methode, und in diesem Buch wird der Weg vorgestellt, wie sie zu einer Methode werden konnte. Dieser Weg lehrt den heutigen Beobachter, was eigentlich Rationalität ist und wie sie entstanden ist. Das methodische Denken verleiht die Fähigkeit, komplexe Situationen tiefer und besser zu verstehen, daher mit ihnen angemessen umgehen und sie gestalten zu können. Diese Fähigkeit macht die philosophische Methodik interessant für jede Art beraterischer Tätigkeit.
In vorliegendem Buch wird ein Blick in die Urgeschichte der Philosophie geworfen: Wie ist die Philosophie eigentlich entstanden? Welche Schritte hat das methodische Denken gemacht, damit es zur Rationalität werden konnte? Über zwei Jahrhunderte hindurch haben verschiedene griechische Philosophen, angefangen bei Thales von Milet bis hin zu Platon und Aristoteles, an diesem Denken gefeilt und geschliffen. Dieses Denken, wie es hier vorgestellt wird, erhebt nicht den Anspruch, das einzig mögliche philosophische Denken zu sein – genausowenig wie den Anspruch, die einzig mögliche Grundlage philosophischer Beratung zu sein. Auch hier geht es nicht um den Inhalt, sondern um das Methodische an sich: das heißt, letztlich ist die Philosophie keine einzelne Methode, sondern das „Methodisch-Sein“. Sie ist eine bestimmte Grundhaltung des Menschen, methodisch auf die Welt zu blicken und sie methodisch zu erklären. Der Weg, der im Laufe von über zwei Jahrhunderten zur Philosophie führte, ist nicht der einzige Weg, den man berechtigterweise Philosophie oder philosophische Methodik nennen kann. Im Gegenteil bringt die Philosophie bis heute immer neue Methoden hervor, so lassen sich auch aktuelle philosophische Schulen wie die Phänomenologie, die Analytik, die Hermeneutik oder die Dekonstruktion als Methoden begreifen und anwenden. Aber dieser erste Weg der Philosophie genießt natürlich eine außerordentlich hohe Reputation, weil er eben der erste Weg war und sich alle späteren Wege – bis heute – an diesem ersten Weg messen lassen müssen und von ihm abhängig bleiben.
4 Aristoteles, Metaphysik 982a-b; Nikomachische Ethik 1141a-b.
5 Vgl. dazu auch Olof Gigon, Grundprobleme der antiken Philosophie, S. 19f.
Die Philosophie verstand sich seit jeher als der methodische Versuch, die Wirklichkeit rational zu erklären. In diesem Selbstverständnis sah sich die Philosophie im Kampf gegen alles, was irrational war oder die Rationalität in irgendeiner Form einengte: Emotionen, Gefühle, Triebe und Affekte. Insbesondere die stoische Philosophie der Antike beschrieb den Weg der Philosophie als einen Weg, sich von jeder Art von Emotionen zu lösen und so zur Vernunft vorzudringen. Die moderne Philosophie bemüht sich, die Emotionalität zu integrieren, steht aber vor dem grundsätzlich unlösbaren Problem, selbst rational sein zu wollen und sich gleichzeitig auf das beziehen zu müssen, was der Rationalität entgegensteht.
Der historische Wendepunkt in der Einschätzung der Emotionalität ist wohl die Psychoanalyse Freuds. Das epochemachende Verdienst Freuds besteht darin, im menschlichen Geist eine Dimension erkannt zu haben, die sich schlicht und einfach der Rationalität entzieht: das Unbewusste. Die Emotionalität und Triebhaftigkeit des Menschen, so Freud, ist etwas, das er gar nicht ablegen kann und entsprechend auch nicht durch irgendeine Rationalität besiegen oder abstreifen kann. Diese Erkenntnis löste wahre Schockwellen in der europäischen Öffentlichkeit aus. Es wurde immer offensichtlicher, dass der Mensch kein rationales Wesen ist, sondern in einem erheblichen Ausmaß von seinen Emotionen beherrscht wird und dieser Herrschaft nicht entkommen kann.
Die moderne Kognitionswissenschaft geht davon aus, dass mindestens 80% der Entscheidungen nicht rational und bewusst, sondern emotional und unbewusst getroffen werden. Hieraus ergibt sich natürlich eine Anfrage an das Selbstverständnis der Philosophie, ob sie mit ihrer ewigen Jagd nach der Rationalität und nach der Vernunft nicht etwas hinterherläuft, das immer schneller als sie sein wird. Auch wenn die Philosophie dieses Rennen nicht in der Weise gewinnen kann, dass Emotionalität und Irrationalität endgültig besiegt sind und der Vergangenheit angehören, ist es ihre Aufgabe, für die Rationalität zu werben und auf den Wert rationaler Entscheidungen hinzuweisen. Natürlich haben Rationalität und Vernunft ihre Grenzen: weder ist es möglich, alles rational zu erfassen, noch ist es möglich, aus dem Menschen ein rein rationales Wesen zu machen. Der Mensch ist ein emotionales Wesen, der den Großteil seiner Entscheidungen auch immer emotional treffen wird.
Was sind emotionale Entscheidungen? Man entscheidet „nach Gefühl“, also ohne nachzudenken oder abzuwägen. Bei einem Großteil der täglichen Entscheidungen ist langes Nachdenken überhaupt nicht nötig und schlicht überflüssig. Bei komplexeren Entscheidungen hingegen ist es nötig, abzuwägen: welche Gründe sprechen dafür, welche dagegen?
Rationales Entscheiden beginnt da, wo Gründe gesucht werden und miteinander in Verbindung gesetzt werden. Diese Tätigkeit ist die Tätigkeit der Philosophie. Diese Tätigkeit ist da nötig, wo für eine richtige Entscheidung wesentliche Punkte nicht unmittelbar einsichtig sind – was eben bei komplexen Problemen der Fall ist. Hier erfordert es ein rationales Abwägen. Dieses rationale Abwägen bleibt dabei abhängig von der Emotionalität: jeder Mensch, auch jeder rational abwägende Mensch ist ein emotionales Wesen und bleibt auch eines. Rationales Denken kann nur da greifen, wo es die Emotionalität miteinbezieht. Alles andere wäre unmenschlich. Aber wäre es menschlicher, bei der Emotionalität stehen zu bleiben und sich nur auf Gefühle zu verlassen?