Philosophische Temperamente - Peter Sloterdijk - E-Book

Philosophische Temperamente E-Book

Peter Sloterdijk

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Beschreibung

Die großen Weltendeuter im Portrait

Vierzig Jahre nach Wolfgang Weischedels Philosophischer Hintertreppe präsentiert Peter Sloterdijk philosophische Temperamente von Platon bis Foucault und öffnet damit einen neuen Zugang zu den Meisterdenkern des Abendlands. Seine Toasts auf die zwanzig bedeutendsten Köpfe der Geistesgeschichte sind die perfekte philosophische Einstiegsdroge. Prägnanter und treffender wurden Platon, Marx & Co. noch nicht porträtiert.

Vierzig Jahre nach Wolfgang Weischedels Philosophischer Hintertreppe präsentiert Peter Sloterdijk philosophische Temperamente von Platon bis Foucault und öffnet damit einen neuen Zugang zu den Meisterdenkern des Abendlands. Seine Toasts auf die zwanzig bedeutendsten Köpfe der Geistesgeschichte sind die perfekte philosophische Einstiegsdroge. Prägnanter und treffender wurden Platon, Marx & Co. noch nicht porträtiert.

Aus dem Inhalt: Platon, Aristoteles, Augustinus, Descartes. Leibniz, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Kierkegaard, Marx, Schopenhauer, Nietzsche, Wittgenstein, Sartre, Foucault

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Auf Wunsch des Autors erscheint das Werk in alter Rechtschreibung.
© 2009 Diederichs Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München. ISBN 978-3-641-04405-3V003
www.diederichs-verlag.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
PLATON
ARISTOTELES
AUGUSTINUS
BRUNO
DESCARTES
PASCAL
LEIBNIZ
KANT
FICHTE
HEGEL
SCHELLING
SCHOPENHAUER
KIERKEGAARD
MARX
NIETZSCHE
HUSSERL
WITTGENSTEIN
SARTRE
FOUCAULT
Anmerkungen
Copyright
Vorwort
Um die Mitte der neunziger Jahre entwickelten der Diederichs Verlag und ich gemeinsam den damals zunächst verwegen anmutenden Plan einer alternativen Philosophiegeschichte, die die großen Etappen des alt- und jungeuropäischen Denkens in Form von Lesebüchern zu den bedeutsamsten Autoren abschreiten sollte. Die Idee war damals ohne Zweifel von dem Wunsch mitgetragen, ein antizyklisches intellektuelles Signal gegen die entfesselte Geistlosigkeit zu setzen, die für das deutsche Fin-de-siècle bezeichnend war.
Das Neue an dem Unternehmen bestand in dem Beschluß, den maßstäbesetzenden Autoren selbst das Wort zu geben. Es war unser Anliegen, als Editoren und Vermittler philosophischer Primärtexte die Vorherrschaft der Sekundärliteratur zu unterlaufen, die seit langem dafür sorgt, daß der Wortlaut der ursprünglichen Gedanken allenthalben hinter undurchdringlichen Schleiern aus Kommentaren und Kommentarskommentaren verschwindet. Mit der Hinwendung zu den Texten selbst wollten wir einem breiteren Publikum einen Zugang zum originären philosophischen Denken erschließen und nicht zuletzt auch den Studierenden des akademischen Fachs »Philosophie« eine Alternative zu den überall dominierenden »Einführungen« an die Hand geben. Es war meine Überzeugung – und ist es noch -, daß es in die Philosophie keine Einführung geben kann, vielmehr muß von der ersten Minute an die philosophische Disziplin selber sich vorstellen, als Modus des Denkens fürs erste, als Modus des Lebens in der Folge.
Das Projekt nahm durch die gute Zusammenarbeit zwischen dem Verlag und dem Herausgeber rasch konkrete Gestalt an und vermochte eine Anzahl exzellenter Gelehrter so zu überzeugen, daß sie sich bereit erklärten, die Auswahl und Präsentierung der Primärtexte zu übernehmen. Binnen weniger Jahre entstand eine Serie, die nicht weniger als eine philosophische Bibliothek in nuce darstellte. Diese Bücher haben bald ihren Weg zu den Lesern gefunden und haben vor allem mit ihren Nachdrucken als Taschenbücher ein großes Publikum erreicht. Nur zwei von den geplanten Bänden – nicht zuletzt solche, die mir besonders am Herzen lagen -, das Heidegger-Lesebuch und der Adorno-Reader, kamen aufgrund von rechtlichen Schwierigkeiten nicht zustande. Es war eine bestürzende Erfahrung zu erkennen, wie die Besitzer der Nachlässe von Heidegger und Adorno ihre Monopole dazu nutzten, die von den besten Kennern erarbeiteten Auswahlen aus den Schriften dieser Autoren zu verhindern.
Durch die Sammlung der Herausgebervorworte zu den einzelnen Bänden in dem vorliegenden Büchlein ist ein Effekt entstanden, der ursprünglich nicht intendiert war und jetzt doch eine gewisse Plausibilität erzeugt: Zu meiner eigenen Überraschung bemerke ich, daß die hier zusammengetragenen Denker-Vignetten so etwas wie ein sinnvolles Aggregat ergeben – keine Philosophiegeschichte, aber doch eine Galerie von Charakterstudien und intellektuellen Portraits, die zeigen, wie sehr Nietzsche im Recht war, wenn er notierte, alle philosophischen Systeme seien immer auch so etwas wie unbemerkte Memoiren und Selbstbekenntnisse ihrer Verfasser gewesen. Daß die Auswahl der Autoren mit einem unvermeidlichen Faktor an Ungerechtigkeit verbunden war, läßt sich nicht leugnen. Indem sie der Beliebigkeit aus dem Weg ging, hielt sie sich in der Mitte zwischen Notwendigkeit und Willkür.
Der Titel der vorgelegten Sammlung spielt unüberhörbar auf Fichtes bekannte Sentenz an: Welche Philosophie man wähle, hänge davon ab, was für ein Mensch man sei. Damit wollte er sagen: Die unterwürfigen Seelen entscheiden sich für ein naturalistisches System, das ihre Servilität rechtfertigt, während Menschen von stolzer Gesinnung nach einem System der Freiheit greifen. Diese Beobachtung ist so wahr wie eh und je. Ich hoffe, mit den folgenden kleinen Studien gezeigt zu haben, daß die Skala der philosophischen Temperamente weit über den Typengegensatz zwischen feigen und stolzen Subjekten hinausreicht. Sie ist so ausgedehnt wie die vom Logos aufgehellte Seele, von der Heraklit behauptete: So weit man auch gehe, es sei unmöglich, an ihre Grenzen zu gelangen.
PLATON
In dem berühmten Aphorismus 344 der Fröhlichen Wissenschaft: »Inwiefern auch wir noch fromm sind« hat der Antiplatoniker Friedrich Nietzsche dem Gründer der athenischen Akademie ein so ehrenvolles wie problematisches Denkmal gesetzt:
»Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich daß es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht – daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit, daß die Wahrheit göttlich ist... wie aber, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird...«1
Die Geschichte der europäischen Philosophie lässt sich als eine Stafette vorstellen, in der ein bei Platon – und einigen seiner Vorläufer, namentlich Parmenides und Heraklit – entzündetes Feuer durch die Generationen getragen wurde.
Das Bild vom Fackellauf des Denkens durch die Jahrtausende ist mit den gegensätzlichsten Wertungen verträglich, gleich ob man diesen Lauf umstandslos als Wahrheitsgeschichte auffassen möchte oder nur als Problemgeschichte oder gar, wie Nietzsche suggerierte, als Geschichte unseres längsten Irrtums.2 Mit gutem Recht hat Marsilio Ficino – Schlüsselfigur des florentinischen Neoplatonismus im 15. Jahrhundert – in der Einleitung seines Kommentars zum Symposion (De amore) Platon den »philosophorum pater« genannt.3
Tatsächlich war die europäische Philosophie in ihrer idealistischen Hauptströmung gleichsam die Folge einer platonischen Patristik; sie prozessierte als ein Komplex von Lehrsätzen und Machtworten, die in letzter Instanz aus einer einzigen zeugungsmächtigen Quelle zu fließen schienen. Die platonischen Meisterschriften haben wie eine Samenbank der Ideen gewirkt, aus der sich zahllose spätere Intelligenzen befruchten ließen, oft über große zeitliche und kulturelle Entfernungen hinweg. Dies gilt nicht nur für die athenische Akademie selbst, die als Urbild der europäischen »Schule« ihren Lehrbetrieb fast ein Jahrtausend lang in einer ununterbrochenen Folge aufrechtzuerhalten wußte (387 v. Chr. bis 529 n. Chr.); Platons Lehre erwies sich zudem als ein Wunder an Übersetzbarkeit und strahlte auf eine Weise, die man evangelisch nennen könnte, in fremde Sprachen und Kulturen ein – wofür die römische und die arabische4 Rezeption, später auch die deutsche, die wichtigsten Beispiele bieten. Sie werden an Bedeutung nur noch übertroffen durch die Einschmelzung des Platonismus in die christliche Gotteslehre. Was Adolf von Harnack einst die Gräzisierung oder Verweltlichung der christlichen Theologie genannt hat, die akute gnostische wie die allmähliche katholische, steht weithin im Zeichen des göttlichen Platon.5 Im übrigen transportieren manche der spekulativen Theosophien des Islam bis in die Gegenwart eine Fülle platonisierender Motive.
Somit ist das Corpus Platonicum mehr als eine Sammlung klassischer Schriften unter anderen; es ist das Gründungsdokument für das gesamte Genre der europäischen idealistischen Philosophie als Schreibweise, als Lehre und als Lebensform. Es repräsentiert einen neuen Bund der Intelligenz mit den Menschen in der Stadt und im Reich; es lanciert die gute Nachricht von der logischen Durchdringbarkeit dieser trüben Welt. Als Evangelium von dem guten Grund aller Dinge verankert der Platonismus das Streben nach Wahrheit in einem frommen Rationalismus – und es waren nicht weniger nötig als die zivilisatorischen Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts, um diese Verankerungen auszureißen; als Phasen der Losreißung haben wir die Schopenhauersche Metaphysik des blinden Weltwillens, Nietzsches Perspektivismus und Fiktionalismus, den materialistischen Evolutionismus der Natur- und Sozialwissenschaften und zuletzt die neueren Chaos-Theorien vor Augen. In ihrer klassischen Schulform wollte die Lehre Platons eine Anweisung zum seligen Leben in der Theorie vermitteln; sie war im wahren Sinn des Wortes eine Religion des Denkens, die es sich zutraute, Untersuchung und Erbauung unter einem Dach zu vereinen. Manche Religionshistoriker meinen, zeigen zu können, daß die Lehre Platons in manchen Aspekten geradezu eine Modernisierung schamanistischer Traditionen darstellte. Von alters her kannten diese die Himmelsreisen der Seele und den heilsamen Verkehr mit Geistern des Jenseits; der überhimmlische Ort Platons, wo die reinen Ideen bei sich schweben, wäre in dieser Sicht nur ein logisierter Himmel und der Aufstieg des Denkens zu den Ideen nur eine modernisierte Seelenreise auf den Fahrzeugen des Begriffs.6
Mit seinem vornehmen Erkenntnisoptimismus und seiner Ethik des bewußten Lebens war der Platonismus gleichsam das Über-Ich des weltmächtig werdenden europäischen Rationalismus. Auch wenn Platons generöse Suche nach dem guten Leben im guten Gemeinwesen von Anfang an mit dem Mangel, bloße Utopie zu sein, behaftet schien, so gab sie doch Maß und Richtung an für die höchsten Ansprüche des philosophischen Begehrens: Die Freundschaft mit der Wahrheit verstand sich als Sorge um den Stadt- und Weltfrieden und als Engagement für dessen fortgehende Neustiftung aus dem Geist der Selbsterkenntnis. Nietzsches Wort vom Philosophen als Arzt der Kultur ist der Intention nach schon für Platon durchaus wahr. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Prätentionen als überschwenglich abgetan wurden; ja, man hat in ihnen den Vorschein dessen erkennen wollen, was man im 20. Jahrhundert die totalitäre Versuchung nannte.
Nichtsdestoweniger bleibt Platons Entdeckung gültig, daß es einen wie auch immer problematischen Zusammenhang zwischen persönlicher Weisheit und öffentlicher Ordnung gibt. Und auch wenn die Philosophie, wie in der gesamten Spätantike, im Grunde bereits seit Alexander dem Großen, in eine tiefe Entpolitisierung zurücksank, so blieb ihr – wie einer ersten Psychotherapeutik – eine unbestreitbare Zuständigkeit für die Fragen des inneren Friedens erhalten; dieser mochte wie eine Vorleistung für den äußeren wirken – ein überlegenes stilles Leuchtfeuer in einer aufgewühlten Welt. Die platonische Tradition kam mit der stoischen und später mit der epikureischen Lehre darin überein, daß sie den Philosophen als Experten für Seelenfriedensforschung definierte.
Wenn wir bis heute Gründe haben, uns an die Anfänge der Philosophie bei den Griechen zu erinnern, so vor allem deswegen, weil es die Philosophie war, durch die sich die indirekte Weltmacht Schule, die uns noch immer beherrscht und beirrt, den sich entwickelnden Stadtgesellschaften aufzuzwingen begann. Mit dem Philosophen tritt ein anspruchsvoller Erziehertypus auf den Plan, der es sich vornimmt, die städtische Jugend nicht länger nur am Spalier der Konventionen aufwachsen zu lassen, sondern sie nach überlegenen und künstlichen, der Form nach universalen Maßstäben zu formen.
Das Gespann Sokrates und Platon markiert den Durchbruch der neuen Erziehungsidee; sie treten gegen den Konventionalismus und Opportunismus der Rhetoriklehrer und der Sophisten mit dem Plädoyer für eine umfassende Neuprägung des Menschen hervor. Paideia oder Erziehung als Heranbildung des Menschen für eine latent oder manifest imperiale Großwelt ist nicht nur ein Grundwort des antiken Philosophierens, sondern benennt auch das Programm der Philosophie als politischer Praxis. An ihm läßt sich ablesen, daß die Geburt der Philosophie durch die Heraufkunft einer neuen riskanten und machtgeladenen Weltform bedingt war – wir nennen sie heute die der Stadtkulturen und der Imperien. Diese erzwang eine Neudressur des Menschen in Richtung auf Stadtund Reichstauglichkeit. Insofern darf man behaupten, daß die klassische Philosophie ein logischer und ethischer Initiationsritus für eine Elite junger Männer – in seltenen Fällen auch für Frauen – gewesen ist; diese sollten es unter der Anleitung eines fortgeschrittenen Meisters dahin bringen, ihre bisherigen bloßen Familien- und Stammesprägungen zu überwinden zugunsten einer weitblickenden und großgesinnten Staats- und Reichsmenschlichkeit. So ist Philosophie gleich an ihrem Anfang unvermeidlich eine Initiation ins Große, Größere, Größte; sie präsentierte sich als Schule der universalen Synthesis; sie lehrt, das Vielfältige und Ungeheure in einem guten Ganzen zusammenzudenken; sie führt ein in ein Leben unter steigender intellektueller und moralischer Belastung; sie setzt auf die Chance, der zunehmenden Weltkomplexität und der übersteigerten Hoheit des Gottes durch eine fortgehende Bemühung um Seelenerweiterung zu entsprechen;7 sie lädt ein zum Umzug in den mächtigsten Neubau: in das Haus des Seins; sie will aus ihren Schülern Bewohner einer logischen Akropolis machen; sie weckt in ihnen den Trieb, überall zu Hause zu sein. Für das Ziel dieses Exerzitiums bietet uns die griechische Tradition den Terminus sophrosyne – Besonnenheit – an, die lateinische den Ausdruck humanitas. Sofern die antike philosophische Schule also paideia ist, Einführung in die erwachsene Besonnenheit, die Humanität bedeutet, vollzieht sie eine Art Übergangsritus zur Heranzüchtung des stadt- und reichstauglichen »großseelischen« Menschen.8 Es wäre unbedacht, in den Werten der paideia und der humanitas nur unpolitische Charakterideale zu sehen. Daß von dem Weisen alle Menschen als Verwandte erkannt werden – ist diese Doktrin wirklich nur eine humanitaristische Naivität, geboren aus einer übertriebenen Ausweitung des Familienethos?9 Eine Erinnerung an die Hochzeiten der europäischen Gymnasialkultur zwischen 1789 und 1945 mag verdeutlichen, daß die europäischen Nationalstaaten allesamt auf ein humanistisches Erziehungswesen setzten, um ihre Jugend für Aufgaben im Rahmen nationalimperialer Programme zu konditionieren. So sehr Philosophie und Erziehung schon in antiker Zeit auf den einzelnen abheben, fällt doch der Akzent aller »Arbeit an sich selbst« zunächst und zumeist auf die Ertüchtigung der einzelnen zur »Staatsmenschlichkeit«. Erst als die Spaltung zwischen Macht und Geist sehr tief geworden war, wie in der römischen Kaiserzeit, geriet das Philosophieren unter das Leitbild des autarken Weisen, der den Weltmächten den Rücken gekehrt hat.
Die klassische Philosophie stellte ihren Adepten in Aussicht, sie könnten es in einem chaotischen Kosmos zur Heiterkeit bringen; zum Weisen wird, wer das Chaos als Maske des Kosmos durchschaut. Wer in die Tiefenordnungen durchblickt, gewinnt Verkehrsfähigkeit im Ganzen; kein Ort im Sein ist ihm mehr ganz fremd; darum ist die Liebe zur Weisheit die Hochschule der Exilfähigkeit. Indem sie den Weisen so witzig wie programmatisch als kosmopolités, als Weltallbürger, bezeichnete, versprach die Philosophie Überlegenheit über ein Universum, das seiner Form nach schon ein wüster Markt der Götter, der Bräuche und der Meinungen war – zugleich ein Schlachtfeld, auf dem mehrere Staatswesen um die Hegemonie kämpften. Man hat wohl dem Umstand zu wenig Beachtung geschenkt, daß Platons Jugend – er ist wohl im Jahr 427 geboren – ganz in die Zeit des Peloponnesischen Krieges (431- 404) fiel; die ominöse Distanz des Philosophen zur empirischen Wirklichkeit und die oft bemäkelte idealistische Tendenz zur Abhebung vom bloß Gegebenen verstehen sich leichter, wenn man bedenkt, daß der Autor in seinen jüngeren Jahren kaum eine andere Welt erlebt hatte als eine von kriegerischen Leidenschaften verzerrte.
In moderner Sprache würde man die klassische Philosophie mithin als Orientierungsdisziplin bezeichnen; wollte sie für sich werben, so konnte sie es vor allem mit dem Versprechen tun, den Wirrwarr der vorgefundenen Verhältnisse durch einen geordneten Rückgang auf sichere Grundlagen zu übersteigen – in heutiger Terminologie spräche man von Komplexitätsreduktion. Der Philosoph als Eliminator von schlechter Vielfalt trug Züge eines Mysterienführers, der die Schüler in die Region der ersten Gründe begleitete, von wo aus die befriedigenden großen Übersichten zu gewinnen wären. Jeder Aufstieg zu höheren Standorten fordert aber seinen Preis. Wollte sich der Philosoph als Erzieher für einen noch nicht da gewesenen Typus vernunftgeleiteter Menschen empfehlen, so mußte er sich das Recht nehmen, neue Maßstäbe für das Erwachsenwerden in der Stadt und im Reich aufzurichten. In der Tat veränderte sich der Sinn von Erwachsenwerden beim Übergang der Stammesgesellschaften zu politischen und imperialen Formen auf radikale Weise.