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Bei Kolloquien treffen mehrere Personen aufeinander, um sich um über ein vorgegebenes Thema zu unterhalten. Bei den hier versammelten Statements zu Fragen über Gott und die Welt tritt an die Stelle der vielen Stimmen die eine, die von Peter Sloterdijk. Polyloquien präsentiert, mal zum Einzelsatz geschrumpft, mal als ausführliche Auslassung, jene plötzlich aufblitzenden Maximen, in denen sich Werk wie Denken in der größtmöglichen Zuspitzung zeigen. Bei einem philosophierenden Literaten und literarischen Philosophen zeigen sich die Aussagen als überraschende wie riskante Pointen, überzeugen durch ihre Klarsicht, irritieren durch ihre kategorische Bestimmtheit, stacheln durch ihre Schärfe an. Die An- und Einsichten Peter Sloterdijks reichen von den alltäglichsten Erfahrungen (»Zu den Geheimnissen des Verhältnisses zwischen Frau und Auge gehört der Umstand, daß Frauen fast nie wissen, welches das Auge ist, in dem sie am meisten leuchten.«) über politische Kommentare (»Hätte der Neoliberalismus Titten aus Zement, er sähe aus wie Heidi Klum«) bis zu .philosophischen Erwägungen („Wirkliche Autoren sind nur diejenigen, die die Entstehung eines Diskurses verhindert haben.«). Es versteht sich bei diesem Autor von selbst, dass seine Äußerungen im Modus der ironischen Übertreibung auftreten – und als solche gelesen werden müssen.
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Seitenzahl: 54
Peter Sloterdijk
Polyloquien
Ein Brevier
Zusammengestellt und mit einer Gebrauchsanweisung versehen von Raimund Fellinger
Suhrkamp
Szene eins
MakrohistorikerDer zivilisationsdynamische Hauptsatz
LiteraturhistorikerIronietheoretischer Zusatz
Der TheologeAnekdote über die Tiara
Opiniater
Szene zwei
Makrohistoriker
Theologe
Literaturkritiker
Opiniater
Szene drei
Makrohistoriker
OpiniaterFragmente über Gott und die Welt
Szene vier
Makrohistoriker
LiteraturwissenschaftlerNotizen zur Kunst der Über- und Untertreibung
TheologeFingerspitzenphilosophische Anmerkungen
Epilog
Raimund FellingerGebrauchsanweisung
Makrohistoriker
Literaturkritiker
Theologe
Opiniater (Facharzt für Erkrankungen des Meinungsapparats)
Der zivilisationsdynamische Hauptsatz
Aus dem zivilisationsdynamischen Hauptsatz, wonach die Summe der Freisetzungen von Energien im Zivilisationsprozeß regelmäßig die Leistungsfähigkeit kultivierender Bindekräfte übersteigt, lassen sich, je nach Grundstimmung und Geschmack des Interpreten, etwas mehr als zwanzig tragische oder erheiternde Folgesätze ableiten.
1 Seit dem Hiatus werden viel mehr Optionen auf zukünftige Statusvorteile heraufbeschworen, als je durch legitime Herkunftstitel oder Leistungsnachweise besichert werden können.
2 Es werden nach dem Vorstoß in die Freiheits- und Unternehmensära viel mehr Ambitionen geweckt, als je unter dem Obdach legitimer Ansprüche zu beherbergen sind.
3 Es werden in aller Welt viel mehr Wünsche nach Objekten des Konsums und des Genießens stimuliert, als durch real erarbeitete Güter bedient werden können.
4 Es werden auf breiter Front stets mehr Lizenzen zugestanden, als durch regulierende Beschränkungen zu überwachen sind.
5 Es werden überall mehr Ausnahmen in Anspruch genommen, als durch Modernisierungen der Regel wieder einzufangen wären.
6 Es werden im Gang der Liberalisierung mehr Hemmungen fallengelassen, als durch Hinweise auf frühere Zurückhaltungen und neuere Fairness-Regeln redomestiziert werden können.
7 Es werden im Kulturbetrieb der neuen »Gesellschaft« sehr viel mehr Traum- und Begehrenskräfte freigesetzt, als je durch Umverteilung von Gütern und Vitalchancen in beherrschbare Ausdruckswelten integriert werden können.
8 Es werden in den Subjekten mehr defensive und offensive Unzufriedenheiten gestaut und bis zur Schwelle von Ausdruckshandlungen verstärkt, als je durch massenkulturelle Abreaktionen erledigt oder durch Individualtherapien versöhnt werden können.
9 Es werden mehr Fahrten angetreten, mehr Reisevorhaben auf den Weg gebracht, mehr Starts, Landungen und Transfers durchgeführt, als durch Vorkehrungen zur Kollisionsvermeidung schadlos abzuwickeln sind.
10 Es werden im geld- und zinsbewegten Wirtschaftsgeschehen von Gläubigern stets mehr Kredite an Schuldner herausgereicht, als sich durch angemessene Rückversicherungen in Pfändern und realistischen Leistungserwartungen besichern lassen.
11 Es werden von Schuldnern in modernen Tauschgesellschaften, namentlich von Regierungen sogenannter souveräner Staaten, stets sehr viel mehr Kredite aufgenommen, als sich jemals mit bona-fide-Rückzahlungsabsichten rechtfertigen ließen.
12 Es werden auf den Feldern moderner Politik und Kultur stets mehr Täuschungen, Wahnkonzepte und Angebote an die Deliriumsbereitschaft des Publikums in die Welt entlassen, als je in realistische Vorhaben re-integriert werden können.
13 Es werden ständig mehr einklagbare Rechte von möglichen Inhabern formal gültiger Ansprüche geltend gemacht, als sich durch Prozesse vor bestehenden Gerichten bestätigen lassen.
14 Es wird ständig mehr empörungsbereite moralische Sensibilität herangezogen, als sich durch den Hinweis auf ständigen Strukturwandel der Mißstände beruhigen läßt.
15 Es wird im Lauf der modernen Lockerung der Sitten und ihrer Bilderwelten stets mehr erotisches Begehren aufgereizt, als durch lizenzierte Sexualität zu absorbieren wäre.
16 Es werden durch die Ausstrahlung der Bilder reichen Lebens weltweit fortwährend mehr Forderungen nach Teilhabe an Gütern und Statussymbolen hervorgerufen, als jemals durch nicht-kriminelle Formen der Umverteilung von Wohlstand befriedigt werden können.
17 Es werden ständig mehr Krankheiten entdeckt, neu beschrieben und diagnostiziert, als je durch die bestehenden oder künftigen Therapieeinrichtungen auf der Höhe der Kunst behandelt werden können.
18 Es verlegen weltweit immer sehr viel mehr Menschen ihren Lebensschwerpunkt in großstadtartige Ballungsgebiete, als jemals zu Lebzeiten an den Vorzügen zivilisierter Urbanität werden teilhaben können.
19 Es werden ständig mehr soziale, technische und psychologische Probleme entdeckt und erfunden, als sich durch die Problemlösungsfähigkeit der lebenden Generationen bewältigen lassen.
20 Es werden der Problemlösungsfähigkeit künftiger Generationen zunehmend mehr Aufgaben aufgebürdet, als diese durch die Übernahme des Kompetenz-Erbes vorangehender Generationen und dessen Ergänzung durch eigene Erfindungskräfte meistern könnten.
21 Es werden im Gang der Modernisierung fortwährend mehr existentielle Optionen erschlossen, als sich je in Konstrukte persönlicher und kollektiver Identität integrieren lassen.
22 Es werden in den Netzwerken der Global Art ständig mehr Kunstwerke auf den Markt gebracht, als jemals durch Kennerschaften, Sammlungen und kunstwissenschaftliche Résumés gewürdigt werden können.
23 Es werden im aktuellen Kulturbetrieb ständig sehr viel mehr Kandidaturen auf Prominenz, das heißt auf mit Wahrnehmungsprivilegien ausgestattete soziale Positionen, deponiert, als durch die vorhandenen Aufmerksamkeitskapitale honoriert werden können.
24 Es werden weltweit mehr Abfälle aus konsum- und industriegesellschaftlichen Lebensformen generiert, als sich auf absehbare Zeit in Recycling-Prozessen resorbieren lassen.
25 Es werden in Menschenkörpern der wohlhabenden Hemisphäre ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind.
Ironietheoretischer Zusatz
Zwischen der anwaltlichen und der ironischen Rede besteht eine alte Korrespondenz. Nun finden wir Gelegenheit, anzumerken, daß dies nicht erst für den advocatus diaboli im Verfahren vor der römischen Ritenkongregation gilt, sondern von dem Augenblick an, in dem griechische Rhetoren, Komödiendichter und Philosophen sich mit dem dramatisch gespannten Verhältnis zwischen Redeführung und Wahrheitsfindung zu befassen begannen. Unter den frühen Manifestationen des ironischen Bewußtseins ist die sokratische am folgenreichsten geworden, von der man durch Platons Prosa den Eindruck gewonnen hat, sie sei eine rhetorische Taktik der scheinbar bescheidenen Verstellung gewesen, mit welcher der überlegene Frager Sokrates seine Bewunderung für das vorgebliche Wissen der Kontrahenten zum Ausdruck gebracht habe. Ironie wäre demnach eine Sprache der Bescheidenheit, vor der sich die Unbescheidenheit regelmäßig blamiert. Von hier aus führt der Weg über die aristotelische Unterscheidung von Untertreibung und Übertreibung, eironéia und alazonéia, zu den Schuldoktrinen der antiken Rhetoriker, die mit einem Erfolg, der bis ins 18. Jahrhundert reicht, die Ironie als eine Redefigur festlegten, mit welcher ein Redner im Modus spielerischer Dissimulation das Gegenteil von dem vorbringt, was er meint – eine Technik, ohne welche kein Anwalt ein wirkungsvolles Plädoyer und kein Aufklärungsschriftsteller eine elegante Polemik zustande brächten.
Bei diesem Stand der Dinge fungiert die Ironie über ein Weltalter hin als die stille Teilhaberin der Philosophie, eine unter den vielen Figuren der ars oratoria