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Leon muss sich seinen Körper mit einem Phönix teilen. Ob ihm das unangenehm ist, fragst du dich? Was man nicht alles für die Rettung der Welt tut ...
Denn eine alte Legende berichtet vom baldigen Ende der Welt, ausgehend von einer griechischen Halbinsel, wo der Weltuntergang seinen Anfang nehmen wird. Gemeinsam mit Emma, die heimlich in Leon verliebt ist, muss er eine verschollene Halbgöttin aufspüren, die das tragische Ende der gesamten Menschheit verhindern soll.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
2. zur Gänze überarbeitete Auflage
Copyright © 2021 Freya Phoenix
Erstveröffentlichung 1. Edition unter dem Titel
„Kiss the Dragon“
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung
www.bookcoverdesign.at
Lektorat/Korrektorat
»Phoenix Triumphalis. Der Legende nach die vorherrschende Spezies der altehrfürchtigen Königsgarde«, erklärte Leon seinen Studenten. Seine gebräunten Oberarme spannten sich, als er auf die Leinwand hinter sich zeigte. »Siebenhundert vor Christus ließ sich das griechische Götterreich von übermenschlichen Kriegern beschützen.« Er klickte auf die kleine Fernbedienung in seiner Hand. Das Bild eines mächtigen Feuervogels prangte auf der Leinwand. Ein lichterloh brennender Phönix.
»Ähm, entschuldigen Sie«, murmelte eine Studentin aus der ersten Reihe, die vorsichtig ihre Hand hob. Es handelte sich um Emma. Eine seiner besten Studentinnen.
»Ja, bitte?«, forderte Leon sie auf, ihre Frage zu stellen.
»Aber in den Geschichtsbüchern steht über diese Königsgarde nichts geschrieben.«
Leon schmunzelte. »Ich präsentiere Ihnen heute die Ergebnisse meiner jahrelangen Arbeit. Ich forsche schon seit einem Jahrzehnt nach einem Beweis für die Existenz der Phönixgarde. Eigentlich wollte ich mit der Bekanntgabe bis zum Ende der Vorlesung warten, aber da es hier sehr ungeduldige Studenten zu geben scheint, weihe ich Sie sofort in meinen Plan ein.« Leon warf der angespannt dreinblickenden Studentin einen herausfordernden Blick zu. »Direkt im Anschluss an diese Vorlesung mache ich mich auf den Weg zu einer Ausgrabungsstätte, die ich höchstpersönlich leiten werde. Ich biete einem meiner besten Studenten an, mir nachzureisen und das Geheimnis der Phoenix Triumphalis der Welt zu offenbaren.«
Emma schluckte schwer, ihre Finger zitterten vor Anspannung. »Und wie werden Sie sich für einen Studenten entscheiden?«
Leon grinste. Man konnte vor lauter Anspannung seine ausgeprägte Brustmuskulatur erkennen, die sich unter seinem Hemd anspannte. Er schloss die Augen, sagte einen Schüttelreim auf und deutete scheinbar wahllos in die Menge. Dann öffnete er seine Lider. »So wie es aussieht, zeigt das Rad des Schicksals geradewegs auf Sie, Emma.«
Die Studentin erschrak. »Ich soll Sie begleiten?«
»Betrachten Sie diese Mission als Ihr persönliches Los in die Welt der Archäologie.«
Emma blickte Leon in seine tiefbraunen Augen, als suchte sie in seinem Gesicht nach einem Anker, an dem sie sich festhalten konnte. »Meinen Sie … also, sofort?«
»Nein, nein«, beschwichtigte Leon sie. »Sie haben eine Woche Zeit, um mir zu folgen. Was sagen Sie? Nehmen Sie die Herausforderung an, die mächtigste Königsgarde Griechenlands zu erforschen?«
»Ja … natürlich«, murmelte Emma.
Leon schüttelte den Kopf und sein etwas zu langes Haar streifte seinen Nacken. »Wie bitte?« Emma mangelte es offensichtlich an Selbstbewusstsein.
»Ja, ich begleite Sie«, sagte sie nun etwas lauter.
»Wunderbar, dann sehe ich Sie nach der Vorlesung«, schloss er die Diskussion ab und wandte sich an den gesamten Vorlesungssaal, ohne seine auserwählte Studentin nochmals direkt anzusehen.
Leon predigte weiter über seine bisherige Forschung und berichtete über seine jahrelange Suche nach den Phoenix Triumphalis, der wahrscheinlich mächtigsten Rasse der Vorzeit, deren Existenz bis vor Kurzem ein gut behütetes Geheimnis gewesen war.
Nun hatte Leon es aufgedeckt. Die letzte Ausgrabung, die er in Griechenland geleitet hatte, brachte erstaunliche Funde zum Vorschein. Er grub schon seit langem nach einem Beweis und dieses Mal würde er ihn mit Sicherheit finden.
»Dieses Gewand konnten wir wohlbehalten freilegen«, erklärte er den Studenten, während er auf eine Abbildung in der Präsentation deutete. »Wie Sie sehen, trug die Königsgarde die Kleidung von wendigen Kriegern, die ohne Angst zu kämpfen schienen. Deshalb nehmen wir an, dass es sich eventuell um einen, uns bis dato unbekannten Kriegerstamm handeln könnte. Diese Lederkluft bedeckte nur die wichtigsten Stellen des Körpers und brachte durch das geringe Gewicht wichtige Vorteile im Kampf mit sich.«
»Was erwarten Sie, bei der nächsten Ausgrabung zu finden?«, fragte ein Student, dessen Namen er sich nicht gemerkt hatte.
»Dieses Mal geht die Reise nach Kreta. Durch die Ausgrabungen in Thessaloniki konnte ich Spuren auf die Insel nachverfolgen. Und so wie es aussieht, schlug dieser Stamm seine Wurzeln bereits Sechstausend vor Christus auf Kreta. Wie Sie daraus schließen können, hat dieser Stamm weit vor der Gründung der Königsgarde existiert. Ich erhoffe mir, einen endgültigen Beweis für die Existenz der Phoenix Triumphalis zu finden, der gleichzeitig die Macht dieser überaus beeindruckenden Spezies aufzeigt. Denn bis jetzt baue ich lediglich Wolkenschlösser, die immer wieder zu Staub zerfallen.«
Leon blickte auf die Uhr. »Unsere Zeit ist um, ich danke Ihnen fürs Zuhören. Weitere Berichte erhalten Sie in unserer nächsten gemeinsamen Vorlesung in ein paar Wochen, nachdem ich hoffentlich gefunden habe, wonach ich suche.«
Selten aber doch geschah es, dass sich seine Studenten erhoben und Applaus auf Leon niederregnen ließen. So auch heute. Sie waren beeindruckt von seinem Forscherdrang – davon, wie er um jeden Preis versuchte, seine Theorie über die Königsgarde aus längst vergangener Zeit zu beweisen. Nicht jedem erging es wie seinen fleißigen Studenten. Seine Mutter, ebenfalls Archäologin, hielt seine Mutmaßungen für puren Schwachsinn, behauptete, er hätte sich in ein Hirngespinst verrannt, dem nun seine zukünftige Karriere zum Opfer fiel. Doch Leon wusste, dass er recht behalten würde. Er würde seiner Mutter und der restlichen Welt beweisen, dass er keineswegs falsch lag. Und das würde ihm mit der Hilfe seiner besten Studentin auch gelingen.
Natürlich hatte er seine Begleiterin nicht durch reine Willkür ausgewählt. Leon wusste genau, auf wen er letztendlich zeigen wollte. Emma hatte sich bereits letztes Semester durch ihr Talent und ihren Wissensdurst hervorgehoben, als Leon die Klasse seines Vorgängers übernommen hatte. Er unterrichtete noch nicht lange, nicht ganz ein Jahr. Doch seine Studenten vergötterten ihn. Nur ausgerechnet seine beste Studentin schien nicht von Leon überzeugt zu sein. Emma verhielt sich in seiner Gegenwart stets zurückhaltend, als würde sie ihm etwas verschweigen. Als wollte sie Leon nicht spüren lassen, was sie über ihn dachte. Bei dieser Ausgrabung jedoch würde er seiner vielversprechendsten Studentin zeigen, was sie alles erreichen konnte, wenn sie an Leons Seite stand. Emma würde ihn nach ihrer Zeit in Kreta niemals wieder dermaßen zweifelnd ansehen, dessen war sich Leon sicher.
»Entschuldigung«, murmelte Emma wie aufs Stichwort in seinen Rücken. Leon wandte sich zu ihr um. Mit zu viel Schwung. Seine Aktentasche knallte gegen Emmas Hüfte.
»Oh, Verzeihung«, sagte Leon.
Emma schloss die Augen zu einer verkniffenen Grimasse. »Nichts passiert«, nuschelte sie. »Sie haben wirklich eine echt schöne Tasche.«
Leon konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Na, immerhin wissen Sie jetzt, wie viel Zeug ich mit mir herumschleppe«, lachte er und zeigte auf seine Aktentasche, deren Verschluss nicht zuging. »Glauben Sie mir, die wird bei der Ausgrabungsstätte sicherlich des Öfteren ungeniert Ihre Nähe suchen.«
Emma riss ungläubig die Augen auf.
»Wegen des Platzmangels«, erklärte Leon.
»Oh«, entkam es Emma, »kein Problem.«
»Sind Sie ein sehr in sich gekehrter Mensch, nicht wahr?«, fragte Leon ganz offen. »Sie dürfen bei unserer Suche aber nicht so kurz angebunden sein wie hier an der Fakultät, Emma. Wir werden gemeinsam im Dreck wühlen, da sollten wir ruhig offen aussprechen, was wir denken.« Leon kramte in seiner Tasche und überreichte Emma ein Stück Papier. »Das Flugticket.« Dann streckte er ihr die Hand entgegen. »Ich heiße übrigens Leon. Wir werden uns ab sofort die höfliche Anrede verkneifen. Denn nun sind wir gleichgestellte Kollegen, die – wie bereits erwähnt – demnächst gemeinsam im Dreck nach uralten Schätzen wühlen werden.«
Emma entwischte ein Lächeln. Das erste, seit sie Leons Vorlesungen besuchte. Dieses Mädchen schien nur selten glücklich zu sein. Das war Leon bis jetzt gar nicht richtig aufgefallen. Doch dieses kleine Lächeln machte ihm diese Tatsache auf einmal ziemlich bewusst. Emma zog meist eine ernste Miene.
»Dann freue ich mich auf unsere gemeinsame Ausgrabung, Leon. Und ich verspreche … etwas offener zu sein«, sagte Emma mit stolz erhobenem Kinn. Doch die Hand, die sie ihm reichte, um die Abmachung zu besiegeln, zitterte wie Espenlaub.
»Nur zu, Emma. Du bist eine wirklich intelligente und hübsche Frau, die eine große Zukunft vor sich hat. Ein wenig Selbstbewusstsein steht dir sicherlich ausgezeichnet. Du hast keinerlei Grund, dich zu verstecken.« Leon hielt inne. Hatte er seiner Studentin gerade ernsthaft gesagt, sie sei hübsch? Er klopfte Emma in väterlicher Manier auf die Schulter, um seine eigene Verlegenheit zu überspielen.
»Wir sehen uns dann in Griechenland«, schloss er seine Ansprache.
Emma nickte, lächelte kaum merklich und trottete mit dem Ticket in der Hand davon.
Ließ dieses Mädchen tatsächlich ständig den Kopf hängen? Leon wurde schmerzlich bewusst, dass er seine Studenten meistens gar nicht wahrnahm. Sie saßen in den Bänken vor ihm, aufgereiht wie Sardinen in einem viel zu engen Glas, und verschwammen zu einem randlosen Einheitsbrei. Selten nahm er ein Gesicht, gar eine Körperhaltung wahr. Wenn einer seiner Studenten depressiv wäre, würde Leon diese Tatsache mit Sicherheit entgehen. Er nahm sich vor, aufmerksamer zu sein, wenn er von den Ausgrabungen zurückkam. Er war im Unterrichten noch immer ein Anfänger und mit zwischenmenschlichem Kontakt hatte er generell seine Problemchen.
Leon war ein direkter Mensch, der Smalltalk nicht beherrschte. Nicht nur, dass er keine Lust darauf hatte, über das Wetter zu sprechen, er konnte es schlicht und einfach nicht. Die hohlen Phrasen klangen aus seinem Mund wie Lügen, die aus einer aufgesetzten Maske drangen, von seiner Umgebung meist sofort durchschaut und als unangenehm wahrgenommen. Deshalb strich er die Worthülsen lieber komplett aus seinem Repertoire. Seine direkte Art jedoch schlug leider ebenso auf Missverständnis, weshalb Leon soziale Kontakte eher mied. Doch für seine Studenten, die zu ihm aufschauten, wollte er sich bessern. Ihnen ein guter Mentor sein und auf jedes Individuum eingehen. Mit Emma würde er beginnen. Während der Ausgrabungen würde er ihr nicht nur ein Lehrer, sondern auch ein Freund sein.
Leon packte entschlossen seine Aktentasche, sortierte die Erkenntnisse, die er eben gewonnen hatte, in seiner geistigen Ablage und ließ den Verschluss mit viel Kraft endlich zuschnappen.
Er wandte sich zum leeren Vorlesungssaal um. »Na, dann … nichts wie los, ins nächste Abenteuer«, sagte er mit den Worten seiner Mutter, die nicht an ihn glaubte, und verließ den Raum.
Beinahe eine Woche war seit Leons letzter Vorlesung vergangen. Die Hitze Griechenlands brannte auf seinem gebräunten Gesicht, das nur minimal von seinem Dreitagebart abgeschirmt wurde. Schützend hielt er die Hand über die Stirn, um den Palast von Festos zu bewundern. Die Ausgrabungsstätte in Reichweite des Palastes war bereits zur Gänze aufgebaut und der Sand aufgeschüttet worden. Somit war genügend Platz für das Archäologenteam, das sich noch heute an die Arbeit machen würde. Leon vermutete die Wohnstätte der Königsgarde unweit des Palastes.
Er war sich sicher: Hier würde er endlich finden, wonach er suchte. Denn die Minoer, die dieses Reich erbaut hatten, waren kluge Leute gewesen. Über der ausgedehnten Messara-Ebene, die damals wie heute zur Kornkammer Kretas zählte, erbauten sie auf einem alles überblickenden Hügel ihr zentrales Heiligtum und den Palast ihres Herrschers. Ein italienisches Archäologenteam hatte den Palast des Festos damals freigelegt, der zwar sehr viel kleiner als der von Knossós war, jedoch größere Geheimnisse zurückzuhalten schien. Jedenfalls war das Leons Vermutung. Von weitem beobachtete er die Touristen, die ihren Rundgang vom Parkplatz aus starteten.
Keiner von ihnen wusste, dass heute eine Ausgrabung bevorstand, die eventuell die gesamte Geschichte Kretas (und vielleicht auch der ganzen Welt) auf den Kopf stellen könnte. Direkt vom Kassenhäuschen aus bot sich der prächtige Blick auf die Hochebene, in deren Richtung Leon den Ursprung der Phoenix Triumphalis vermutete. Der Palast lag gut geschützt zwischen dem Massiv des Psiloritis im Norden und dem wilden, über tausend Meter hohen Asteroussia-Gebirge im Süden, das bis unmittelbar an die Küste reichte. Die gut durchdachte Palastanlage – von der Leon vermutete, ein Mitglied der Königsgarde hätte sie mitgeplant – bestand aus dem tiefer gelegenen Westhof, an den heutzutage besonders viele Gebäudereste aus der Altpalastzeit grenzten. Auf seiner Nordseite fungierte eine breite Stufentribüne den Teilnehmern an kultischen Festen in längst vergangener Zeit als Zuschauerrang. Kreisrunde Schächte dienten höchstwahrscheinlich der Aufnahme von Opfergaben, die für die Götter erbracht wurden. Auf der Ostseite stand noch der Rest des Mauerwerks aus der neuen und aus der alten Palastzeit, die man gut unterscheiden konnte: Das Bruchsteinmauerwerk war das ältere, die Fassadenteile aus gut behauenen Steinblöcken gehörten in die jüngere Epoche. Unter den modernen Schutzdächern, die für die Touristen erbaut wurden, lagen die sogenannten königlichen Quartiere aus der Neupalastzeit verborgen. Er konnte die Vergangenheit beinahe vor seinen Augen auftauchen sehen. Menschen, die in alten Gewändern durch den Palast schritten, ihre Bewacher, die mit Argusaugen nach Feinden Ausschau hielten.
Leons innere Anspannung störte seine Konzentration. Er sah zu seinen Füßen, wo der Sand schon darauf wartete, beiseite geschaufelt zu werden. Eigentlich wollte er schon mit der Arbeit beginnen, doch Emma war noch nicht eingetroffen. Die blonde Studentin mit dem traurigen Blick ging Leon nicht mehr aus dem Kopf.
Leon krempelte die Ärmel seines Leinenhemdes hoch, legte seine gebräunt muskulösen Unterarme frei und winkte einem der Arbeiter zu. Er fragte ihn auf Englisch, ob das Flugzeug bereits gelandet sei. Dieser bestätigte die Landung und berichtete, dass die Studentin in Kürze hier eintreffen sollte. Leon bedankte sich bei dem griechischen Archäologen, der nur gebrochen Englisch und kein Wort Deutsch verstand.
Zwar beherrschte Leon die gängigsten Phrasen der griechischen Sprache, war jedoch noch nie ein Sprachengenie gewesen. Ihm mangelte es an der Fähigkeit, sich Vokabel einzuprägen. Seine Mutter behauptete gerne, er hätte ihr gutes Aussehen geerbt, aber keineswegs ihren messerscharfen Verstand. Sie rügte ihn gern für alles, was er nicht perfekt beherrschte, egal wie sehr er ansonsten überdurchschnittliche Leistungen an den Tag legte.
Leon tat sich zugegebenermaßen in seiner Muttersprache schon schwer genug, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Eine Fremdsprache machte die Sache nicht gerade einfacher. Er verachtete sich zwar für seine Unfähigkeit, neue Sprachen zu erlernen, da er diese für die Ausgrabungen gut gebrauchen könnte, doch er akzeptierte dieses Manko und handelte entsprechend. Daher organisierte er immer Personal, das ihn in dieser Angelegenheit unterstützte.
In diesem Fall hieß der Experte für die griechische Sprache Anastasios, der von allen Tasso gerufen wurde. Der Grieche hatte Sprachwissenschaft studiert und beherrschte neben allen romanischen Sprachen auch Altgriechisch, weshalb er regelmäßig an Ausgrabungen teilnahm und über die letzten Jahre Leon ein sehr guter Freund geworden war.
Aus diesem Grund hatte Leon Tasso losgeschickt, Emma vom Flughafen abzuholen. Sie sollte bei ihrer Ankunft in ein freundliches Gesicht blicken können, das ihre Sprache verstand. Emma sollte sich unter keinen Umständen verloren fühlen. Leon wusste ja mittlerweile um ihren zerbrechlichen Charakter und wollte die schüchterne Frau nicht mehr als nötig mit befremdlichen Dingen konfrontieren. Es reichte doch schon, dass sie in ein unbekanntes Land reiste und an der Seite eines Mannes arbeiten sollte, den sie im Grunde gar nicht kannte.
Leon rieb sich das Kinn. Er hoffte inständig, Tasso würde Emma nicht allzu sehr mit seinem Charme verzaubern. Sie sollte sich doch schließlich auf die Arbeit konzentrieren. Seltsamerweise musste er sich Emma plötzlich in Tassos Armen vorstellen. Der Gedanke verpasste ihm einen Stich. Leon konnte sich weder dieses wirre Bild, noch diese Gefühlsregung erklären.
Ihm blieb auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Tasso stieg gerade aus seinem blitzroten Fiat Panda und hielt Emma die Autotür auf. Die Studentin richtete sich auf und krallte die Nägel ihrer filigranen Finger abrupt in den Sonnenhut, der in der aufkommenden Windböe davonzufliegen drohte. Ihr himmelblaues Sommerkleid flatterte im Wind und legte für einen kurzen Moment ihre Oberschenkel frei. Leon erkannte trotz der relativ großen Entfernung die Makellosigkeit ihrer Haut.
Tasso winkte ihm zu und nahm Emma ihre Tasche ab. Sie lächelte ihm freundlich, wenn auch etwas mechanisch entgegen. Tasso schien wohl nicht ihr Typ zu sein. Leon fühlte einen Anflug von Erleichterung in sich aufsteigen. Emma würde zumindest nicht durch Tasso von ihrer Arbeit abgelenkt werden. An einen weiteren Grund für seine Erleichterung zu denken, erlaubte Leon sich nicht.
Emma stakste unbeholfen durch die sandige Erde.
»Du trägst die falschen Schuhe«, rief Leon ihr zu.
»Ich tue was?« Emma schien ihn nicht zu verstehen. Ihr Blick ruhte auf seinen braungebrannten Unterarmen.
»Unpassendes Schuhwerk«, sagte Leon, als sie etwas näher war.
»Oh.« Emma blieb stehen und schaute auf ihre Füße. Die Ledersandalen bedeckten lediglich ihren Schaft. Sie wackelte mit den freiliegenden Zehen.
»Flache Schuhe reichen nicht.« Leon deutete auf seine Füße. »Siehst du? Du brauchst geschlossene, vor allem bequeme Schuhe. Mit Stahlkappen, wenn möglich.«
»Das lernt man in keinem Seminar«, sagte Emma verlegen. »Ich habe keine anderen Schuhe eingepackt.«
»Welche Schuhgröße?«
»Wie bitte?«
»Sag mir, welche Schuhgröße du hast.«
»Siebenunddreißig.«
Leon deutete auf eines der Zelte, die hinter Emma mit dem Horizont verschmolzen. »In meinem Spind steht ein Paar Ersatzschuhe meiner Mutter, zwar eine Nummer zu groß, aber besser als schlecht geschützte Füße. Und nachmittags besorgen wir dir welche in der richtigen Größe, einverstanden?«
Emma nickte und marschierte zurück, hielt jedoch plötzlich inne.
»Wie erkenne ich deinen Spind?«
»Mein Spind ist nicht zu übersehen. Es ist der, auf dem tausend Notizzettel kleben. Du kannst dir übrigens auch gleich einen aussuchen. Es sei denn, Tasso hat das schon für dich erledigt, indem er deine Tasche einfach in einen freistehenden Spind gestopft hat.«
Emma sah ihn verwirrt an. Ein in den Wind gehauchtes »Okay« blieb ihre einzige Antwort, bevor sie den Weg zu dem Zelt in Angriff nahm.
Leon blieb leicht verdutzt zurück. Emma war der erste Mensch, den er nicht deuten konnte. Zwar lagen ihm oberflächliche Gespräche nicht, doch in die Seele eines Menschen zu blicken, war für Leon eine Kleinigkeit. Emma schien ihren Spiegel gut zu verhängen. Leon erahnte zwar ihre Zerbrechlichkeit, konnte sich auf ihr seltsames Benehmen aber keinen Reim machen.
Nur wenige Minuten vergingen, bis Emma ihren Kopf aus dem Zelt streckte. Sie hatte sich in eine richtige Forscherin verwandelt. Den Sonnenhut hatte sie gegen eine Schirmmütze getauscht. Ihr offenes Haar hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, ihr Sommerkleid hatte einer knielange Jeans und einem eng sitzenden Top weichen müssen. Nun würde ihr der Wind nicht mehr viel anhaben können. Auch wenn seine Studentin einen Fehlgriff bei den Schuhen begangen hatte, hatte sie die restliche Kleidung wie ein Profi ausgewählt.
»Hey, du hast dich von der Studentenraupe in einen richtigen Butterfly der Archäologie verwandelt«, zog Leon Emma auf. Erst ihr verdatterter Gesichtsausdruck machte ihm bewusst, dass sein Spruch vielleicht ein wenig, nun ja, deplatziert war.
Emma trug eine dunkel getönte Sonnenbrille, weshalb Leon ihre Augen nur erahnen konnte. Ihr Blick schien durch den Schutz der Unsichtbarkeit standfester zu sein. Sie wandte Leon ihr Gesicht direkt zu und sprach ohne ihr übliches Zittern in der Stimme.
Leon griff beherzt nach einem Spaten, zog sich kurzerhand das Hemd über den Kopf und begann zu graben. Seine Oberarme brannten in der Sonne, doch die Hitze war er gewöhnt. Sein Bizeps spannte sich bei jedem Schaufelhieb und trieb ihm die Kraft durch die Adern. Diesen Teil der Ausgrabungen liebte er besonders. Die körperliche Anstrengung, bei der man sich gehen lassen konnte. Leon genoss das Ziehen seiner starken Arme und spürte gerne seine Rückenmuskulatur, die angenehm zog. Die Ausgrabungen hielten seinen Körper stark, auch während er an der Uni nur hinter dem Schreibtisch saß.
»Hast du denn schon etwas gefunden?«
Leon schüttelte den Kopf. »Noch nichts, das uns weiterbringt. Einzelne Knochenfragmente, die allerdings aus der falschen Epoche stammen. Eventuell ist das Loch noch nicht ausreichend abgesteckt und wir müssen tiefer graben. Ich dachte eigentlich, wir hätten die entscheidende Erdschicht bereits erreicht.«
»Dann lass uns genauer nachsehen«, sagte Emma und kniete sich zu Boden. »Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage, dass sich ein zweiter Blick meist lohnt.«
Auch ein zweiter Blick auf Emmas strohblonden Hinterkopf lohnte sich, fand Leon, der Emmas Haar gerne berührt hätte. Stattdessen legte er seine Hand auf seinen eigenen Hinterkopf und stützte verlegen seinen Nacken. Am liebsten hätte er sich für den Gedanken in ein Erdloch gesetzt und sich selbst vergraben.
Diese Verlegenheit kannte er an sich gar nicht. Frauen gegenüber benahm er sich seiner Meinung nach stets respektvoll, doch seine Studentin löste in ihm unangemessene Gedanken aus. Eigentlich fühlte er sich nicht zu ihr hingezogen, doch aus irgendeinem ihm unbekannten Grund machte Emma ihn wahnsinnig nervös.
»Sieh nur«, riss Emma ihn aus seinen Gedanken. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden.«
Leon ließ sich auf ein Knie sinken. In der Hoffnung, endlich einen Beweis für die Existenz einer unbekannten Spezies zu entdecken, ließ er den Sand an der Stelle, die Emma ihm zeigte, durch das Sieb rinnen. Nichts. Nicht einmal der Hauch eines Fundes.
Doch Emma ließ sich davon nicht aus dem Konzept bringen.
»Versuch es noch einmal«, befahl sie Leon beinahe, so standfest äußerte sie ihre Bitte.
Leon tat, wonach Emma verlangte. Der Sand rann erneut durch das Sieb. Wieder nichts. Doch an der Stelle, an der sich eben noch Sand befunden hatte, reflektierte die Sonne an einem Gegenstand. Leon musste die Augen zusammenkneifen, so hell funkelte es plötzlich.
Emma streckte die Hand danach aus.
»Warte!«, rief Leon und Emma erstarrte in der Bewegung. Leon schob ihre Hand beiseite. Vorsichtig griff er nach dem Ding, das er für einen Glassplitter einer Getränkeflasche hielt. Er wollte sich nicht daran verletzen. Und ebenso wenig wollte er, dass Emma sich daran schnitt.
Seine Finger tasteten nach dem grünfunkelnden Glas.
Und da geschah es.
Ein smaragdgrüner Schimmer ergoss sich aus dem wolkenlosen Himmel. Die Sonne, die eben noch auf sie herunter gebrannt hatte, verlor schlagartig an Intensität. Eine grünglänzende Wolkenwand schob sich vor den brennenden Feuerball.
Leon berührte das Glas mit einem Finger. Der Wind trieb ihm Tränen in die Augen, als wollte er ihm verbieten, den Glassplitter an sich zu nehmen. Doch Leon ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen, dieses funkelnde Ding aus dem Sand zu ziehen. Die zunehmende Strömung peitschte den Wind in seine Augen. Leon umschloss den Gegenstand mit den Fingern und drückte ihn fest in seine Faust.
»Ein Smaragd«, brüllte Emma gegen den Wind, »es ist ein Smaragd!«
Leon sah seine Studentin an. »Wir haben den Beweis gefunden«, rief er ihr mit einem Lächeln entgegen, bevor sich sein Blick schlagartig verdunkelte. Es war nicht der Himmel, der sich weiter zuzog, sondern Leons Augenlicht, das langsam im Nichts der Dunkelheit versickerte.
Das Gefühl von immerwährender Schwärze legte sich über seine Lider und Emma verschwand aus seiner Welt. Übrig blieb nur noch diese intensive, alles überlagernde Dunkelheit, die sich mit der Stille paarte. Nur sein eigenes Herz konnte er noch schlagen hören.
Nach kurzer Zeit verebbte auch dieses Geräusch.
»Leon?«, rief Emma, packte ihren Professor an den Schultern und rüttelte ihn heftig. Von einer Sekunde auf die nächste war er in Ohnmacht gefallen. Sie war hilflos neben ihm gestanden und hatte nichts tun können, außer ihn zu stützen, damit er nicht unsanft auf dem sandigen Boden aufschlug. Nun lag er vor ihr und hielt den winzigen Gegenstand, den Emma als Smaragd erkannt zu haben glaubte, weiterhin fest in seiner Hand.
Sie hielt ihre Wange an Leons Lippen. Seicht, aber gleichmäßig drangen Atemzüge über seine Lippen und kitzelte Emmas Haut.
»Was ist passiert?«, hörte sie Tasso rufen. Er kam auf sie zugeeilt.
»Ich weiß es nicht. Der Himmel hat sich verdunkelt, als Leon dieses Ding aus dem Boden gezogen hat. Und dann ist er ohne Vorwarnung zusammengebrochen. Ich glaube, er ist bewusstlos.«
Tasso kniete sich neben Leon und fühlte seinen Puls.
»Er atmet«, bestätigte Emma unnötigerweise. Sie fühlte sich in dieser Situation dermaßen hilflos, dass sie dankbar war, ihre Stimme nicht zu verlieren. Also sprach sie lieber unnötige Dinge aus, als gar nichts zu sagen.
»Es dürfte ihm soweit gut gehen«, erwiderte Tasso. »Hilf mir, ihn ins Zelt zu tragen. Seine Haut fühlt sich kalt an.«
Emma umschloss Leons Knie mit ihren Armen, während Tasso seinen Oberkörper stützte. Einige Male drohte Emma zur Seite wegzuknicken, doch sie hielt ihr Gleichgewicht, darauf bedacht, Leon unbeschadet zum Zelt zu geleiten.
Gemeinsam betteten sie Leon auf eine Pritsche direkt neben einem Schreibtisch. Als sie ihn losließen, fiel der grüne Splitter aus seiner Hand. Emma bückte sich danach. Zuerst fürchtete sie aus einem Impuls heraus, dass sie ebenso in Ohnmacht fallen würde, wenn sie den Stein berührte, doch belehrte sie ihr logischer Menschenverstand eines Besseren.
Tassos hatte Leons Hemd mitgenommen und zog es ihm über. „Seine Haut sollte eigentlich von der Hitze der Sonne glühen, doch er fühlt sich nur leicht warm an, als würde das Leben aus ihm weichen.“
Mit einem Hauch von Ehrgefühl berührte Emma den Smaragd. In der Tat schien es sich um ebendiesen wertvollen Edelstein zu handeln. Sie wiegte ihn in ihren Händen. Die letzten Jahrzehnte hatten an ihm gezehrt und er hatte deutlich an Wirkung eingebüßt, doch Emma hegte keine Zweifel. Der Stein war an den Kanten geschliffen und schien für eine Fassung angefertigt worden zu sein. Mit dem Zeigefinger wischte sie über die beschlagene Oberfläche.
»Ist das eine Inschrift?,« fragte sie Tasso und hielt ihm den Edelstein entgegen.
»Das ist Altgriechisch. Warte einen Moment.« Tasso setzte ein nachdenkliches Gesicht auf. Dann las er vor. »Die Bestimmung erweckt den Phönix.«
»Was soll das bedeuten?«, fragte Emma.
»Ich weiß es nicht. Ich kann es nur übersetzen, für die Deutung ist unser bewusstloser Leon hier zuständig.«
»Ich studiere erst seit zwei Semestern Archäologie. Und Leon hat mir kaum etwas über die Phoenix Triumphalis erzählt.« Dann starrte sie ihren leblosen Mentor hilflos an. »Was ist, wenn er verflucht ist?«
»Wahrscheinlich ist ihm bloß die Hitze in den Kopf gestiegen. Leons letzte Ausgrabung in Griechenland liegt schon einige Zeit zurück. Er wird die Sonne nicht mehr gewohnt sein. Das ist alles … Und außerdem sind Flüche eine ernste Sache, Emma. Du solltest keine Scherze darüber machen.«
»Das tue ich nicht. Ich glaube zwar nicht direkt an das Übernatürliche. Aber an eine höhere Macht glaube ich sehr wohl. Und Zauberei ist ebenso durch simple Physik erklärbar. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass es für Flüche und Verwünschungen also durchaus nachvollziehbare Erklärungen gibt. Wäre doch gut möglich, oder?« Sie beobachtete Leons Brustkorb, der sich stetig hob und senkte. »Aber momentan habe ich noch keine Erklärung.«
»Wir benötigen keine Erklärung, sondern einen Arzt«, sagte Tasso, der erneut nach Leons Unterarm griff, um seinen Puls zu überprüfen. „Er ist jetzt schon seit zehn Minuten bewusstlos und sein Puls wird immer flacher. Wenn es ein einfacher Hitzschlag wäre, dann hätte er schon wieder aufwachen müssen.“
Besorgt strich Emma über Leons zerzaustes Haar. »Wir müssen herausfinden, wie wir ihn wieder wecken können. Und ich weiß, du willst nichts mehr von einem Fluch hören … aber, ich habe so ein Gefühl …«
Tasso schüttelte nur den Kopf und ignorierte Emmas letzte Aussage. »Ich kümmere mich um einen Arzt und du versuchst in der Zwischenzeit, ihn zu wecken, einverstanden?«
»Alles klar«, stimmte Emma zu.
Kaum hatte Tasso das Zelt verlassen, ereilte sie erneut dieses seltsame Gefühl. Sie wandte sich zu Leons Schreibtisch. Vielleicht konnte sie herausfinden, was mit ihm nicht stimmte. Dieses unerklärliche Gefühl, Leon wäre verflucht, versuchte sie abzuschütteln. Tasso hatte bestimmt recht, und seine Ohnmacht hatte natürliche Ursachen. Sie würde bestimmt Hinweise darauf finden, was ihrem Professor fehlte.
Eventuell litt Leon an Diabetes und erlag einer Unterzuckerung. Sie hielt nach einem kleinen Täschchen Ausschau, in dem sich Insulin befinden konnte. Doch sie entdeckte nichts.
Auf seinem Schreibtisch stand eine Feldflasche. Emma schüttelte sie. Beinahe leer. Die einfachste Lösung, Leon hätte zu wenig getrunken und sein Kreislauf hätte deshalb eine Pause eingelegt, erübrigte sich hiermit.
Vielleicht würde ihr der Inhalt seiner Notizen helfen können herauszufinden, weshalb Leon in Ohnmacht gefallen war. Die Aufzeichnungen lagen überall auf der Tischplatte verstreut, und schienen keinem System zu folgen. Wunderbar, anscheinend handelte es sich bei Leon um einen Chaoten, wie er im Buche stand. Aber das hätte sie sich auch schon beim Anblick seines Spindes denken können.