Piercing Is Not A Crime - Tarek Ehlail - E-Book

Piercing Is Not A Crime E-Book

Tarek Ehlail

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Beschreibung

Piercing is not a crime lautet das Motto des Piercingstudios, in dem sich Schulabbrecher Tarek seine Brötchen verdient. Schnell wird ihm klar: Kaum ein Ort eignet sich besser für ausgiebige Sozialstudien - denn hier geben sich Menschen aller Altersklassen, sozialer Schichten und Nationalitäten die Klinke in die Hand und konfrontieren den jungen Piercer mit immer neuen, teilweise zweifelhaften Ansinnen. Aber auch die diversen Außeneinsätze haben es in sich: So wird Tarek zum Beispiel auf eine Piercingparty in einen Swingerclub gerufen, unternimmt eine Nadelstichexpedition ins Getto von Kairo und verhilft einem skurrilen SM-Pärchen im örtlichen Puff durch das Stechen eines Hodenrings zu einem ganz besonderen Start in die Ehe. Angesichts nekrotischer Brustwarzen, spritzen-der Eiterbrünnchen und versilberter Geni-talien bewegen sich die 33 Geschichten für den Leser oft am Rande der Schmerzgrenze. Doch Tarek Ehlail führt ihn mit einer gesunden Portion Sarkasmus und erfrischender Ehrlichkeit durch jede noch so heikle Situation. Denn ein Piercer verliert auch bei den abenteuerlichsten Kundenwünschen nicht die Nerven - so ist der Job.

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Seitenzahl: 287

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Tarek Ehlail

Piercing is not a crime

33 bestechende Anekdoten aus dem Leben eines Bodypiercers

Für Miriam.

Weil sie niemals Angst hat.

Piercer’s Creed

This is my needle.

There are many like it, but this one is MINE.

My needle is my best friend. It is my life.

I must master it as I must master my life.

Without me, my needle is useless. Without my needle,

I am useless.

I must place my needle true.

Before God I swear this creed.

So be it, until there is no flesh, but PEACE.

Geleitwort

Mein Name ist Tarek Mohammed Mahmud Ehlail. Ich schreibe dieses Buch nicht aus narzisstischen Gründen. Vielleicht sind Bücher von Laienautoren das Pendant zu Realitysoaps im Privatfernsehen: Ob Menschen wie ich sich dazu berufen fühlen sollten, ihren mehr oder minder nützlichen Beitrag ins literarische Massengrab zu schleudern, weiß ich nicht.

Ich schreibe dieses Buch nicht als Künstler mit Lakritzbrille und chronisch leerem Geldbeutel. Trotzdem freue ich mich, wenn es mir eine Zeit lang warmes Essen auf den Tisch bringt. Ich schreibe es nicht als Missionar für Bodypiercing. Ich habe mich immer über zufriedene Kunden gefreut und über korrekte Arbeit. Ich trage selbst keine Piercings und würde es auch nie tun.

Ich möchte dieses Buch als Fallbeispiel schreiben. Als Gegenbeweis für Mütter unerzogener Kinder. Als Beleg dafür, wie aufregend ein Leben ohne Schulabschluss ist, wie der Durst nach Wissen nicht aus dem Zwang einer Bildungsinstitution entsteht, wie finanzielle Sorglosigkeit nicht von einer Berufsausbildung abhängen muss, wie emotionale Intelligenz und moralische Werte nicht notwendigerweise durch Lehrer, Eltern oder Polizei begünstigt werden.

Als Beispiel für eine authentische Liebe zum Leben und zu anderen Menschen, ohne verzweifeltes Anhäufen von Pseudosicherheiten. Wie ein guter Punkrocksong: Am besten unter zwei Minuten bleiben und unbedingt auf das Gitarrensolo verzichten.

Ich bin am 31. August 1981 als Sohn eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter im beschaulichen Saarland zur Welt gekommen. Als ich sechs war, hat der Krebs meinen stolzen Vater dahingerafft, und meine Mutter hat seitdem gefühlte 24 Stunden am Tag gearbeitet, um den Laden am Laufen zu halten.

Das war in etwa der Zeitpunkt, an dem ich mir -Unfug zur Leidenschaft gemacht habe. Nach einer nutzlosen Odyssee durch zahlreiche Schulen, einem pädagogisch nicht gerade wertvollen dreijährigen Aufenthalt im Heim habe ich es geschafft, meine Schullaufbahn ohne Abschluss zu beenden. Immerhin war ich clever genug, um im Alter von 13 Jahren ein cooler Dorfpunker zu werden. Eine schöne neue Welt voller Möglichkeiten für das immer noch leidenschaftlich gepflegte Hobby Nonsens.

Als später 17-jähriger Schulabbrecher hauste ich in einer öden WG mit bekifften Kumpels. Mein Freund und Mentor Moses (ZAP Fanzine) hat zu dieser Zeit bereits die AK47 Piercingstudios betrieben. Diese hochwertige Kaderschmiede in Sachen subkutaner Körperschmuck hat absolute Pionierarbeit in der Branche geleistet. Meine Piercerlaufbahn begann mit Moses’ Frage, ob ich für ihn arbeiten möchte. Nach kurzer Zeit habe ich den Laden unter Moses’ Fittichen fast alleine geschmissen. Später begann Moses ein Medizinstudium, ich habe beide Läden übernommen. Wir sprechen hier von Prestigestudios mit guter Lage, immensem Kundenaufkommen und Top-Standards. Mit Anfang zwanzig hatte ich mehr Geld, als ich ausgeben konnte. Ein absolutes Eldorado in Sachen Eigenverantwortung. Trotzdem haben sich nach und nach meine Interessen erweitert und verändert.

Der ständige Kontakt mit Kunden ist für mich damals zur bestmöglichen Sozialstudie geworden. Ich konnte sehen, wie viele Menschen an dem Privileg freier Zeit scheitern. Dabei liegen alle Möglichkeiten und Ideen griffbereit vor uns. Statt mich vom Fernseher berieseln zu lassen, ging es für mich immer mehr darum, wahnwitzige Ideen auszuspinnen.

Aus dem Luxus der Selbstbestimmung während meiner Arbeitszeit habe ich begonnen, Reisen um die Welt zu planen und anzutreten, habe mich martialisch dem Boxtraining gewidmet und immer wieder Wettkämpfe bestritten, habe echte Kinofilme realisiert.

Die Filme waren es, wegen denen ich irgendwann für immer die Tür der Piercingstudios abgeschlossen habe. Das Aufregend-ste ist, dass es immer weitergeht und man ständig die Richtung wechseln kann. Jeder hat die Freiheit, alles zu tun. Der Wille muss lediglich die Angst besiegen.

Für mich ist die Welt der so ziemlich coolste Ort, den ich mir vorzustellen vermag. Man kann sie hassen oder lieben. Und man kann sie auf jeden Fall verändern. In den kleinsten und größten Belangen. Dieses Buch ist ein Beispiel. Das ist anmaßend und vermessen. Doch es ist ein Beispiel.

Dafür, wie leicht es ist, ein normaler Mensch zu sein.

Unperfekt

Es gibt keinen Grund. Wir beide wissen das. Wir wussten es vom ersten Moment an. Marie friert. Sie muss frieren, während ihr Körper das Blut kocht. Keimfreiheit fordert Kälte. Ich nehme das Geruchsallerlei aus Sterillium, jungem Schweiß und Latex längst nicht mehr wahr. Kunststoff ist die Trennlinie unseres intimen Pakts. Kunststoff ist meine Lebensversicherung, mein Bollwerk. Krankheitserreger, chemische Gefahrstoffe oder thermische Hitze werden an dieser Mauer zerschellen.

Wir sind still. Das Geräusch meines Atems, gedämpft durch einen Mundschutz, ist der einzige Taktgeber. Ich bin schnell.

Der Stahl dringt ein. Marie atmet tief aus, so habe ich es ihr beigebracht. Über vierzig ist sie. Marie hat sich gut gehalten – das ist für mich ohne Belang. Maries Ideen sind mir gleichgültig. Was ich brauche, ist ihr Vertrauen, in diesem Moment. Ich hatte zehn Minuten, um es mir zu erarbeiten. Ich bin schnell und präzise, ich werde sie nicht enttäuschen.

14 Gauge Außendurchmesser. 2 Millimeter dicker, geschlif-fener Stahl gleitet durch Marie. Sie ist bloß Symmetrie, Epider-mis, Muskel, Knorpel und Fettgewebe. Meine beschichtete Venenverweilkanüle hat eine Oberfläche, so glatt, dass kaum noch Reibungswiderstand besteht. Es ist nicht, wie mit dem Messer durch weiche Butter zu schneiden. Mit Marie ist es wie Schattenboxen.

Ich weiß, dass die Wunde diesmal kein Blut hinterlassen wird. Meistens ist das so. Die Spitze der Hohlnadel wird eine zarte Blutanhaftung zurückbehalten, unsichtbar füllt sich ihr Innenraum mit kleinen Blut- und Gewebepartikeln.

Annähernd für die Dauer eines meiner gefilterten Atemzüge ist der Stahl ganz verschwunden. An der Austrittsstelle des Stichkanals treibt der sterile Metalldorn durch Maries Schleimhautgewebe ins Freie. Eine Wiedergeburt. Marie fühlt keinen Schmerz.Was sie fühlt, ist Bewegung. Die Kanüle ist kein Werkzeug. Sie ist wie die biomechanische Verlängerung meiner Unterarmmuskulatur.

Mehr als Routine. Echte Harmonie.

Die Nadel verlässt Marie und verschwindet im Nadelabwurfbehälter. So sehr wir eins waren, so schnell trennen wir uns voneinander. Der Klang der herabfallenden Kanüle ist mir ein Genuss. Metall auf Metall. Schon viele ihresgleichen haben heute den Weg in die ewigen Jagdgründe gefunden. Ein spirituelles Erlebnis. Der schnöde Mammon ist Nebensache.

Marie ist keine Aztekin. Sie denkt nicht an ethnische Abgrenzung oder Rituale ihrer Stammesvorfahren. Marie trägt keinen Lippenteller aus Quarz. Sie hatte genügend Zeit, sich zu überlegen, was sie als schön empfindet. Zeit ist das Privileg der Cleveren und der Verwöhnten.

Mein Angebot ist Luxus durch einen Fremdkörper. Hochwertiger Schmuck aus einer Titanlegierung oder 750er Gelb- und Weißgold. Edelmetall, mit Glasperlen oder Perlmutt bestückt, subkutan in eine frische Wunde in den Leib gesetzt.

Marie ist eine Aztekin. Ich bin ihr Schamane. Niemals würde ich ihr schaden. Folgt Marie dem Orakel und beachtet alle Hinweise der Pflege und Sorgfalt, kann ihr nichts geschehen. Missachtet sie ihre Sorgfaltspflicht, erhält sie eine zweite Chance. Unentgeltlich. Nachsorge ist bei uns immer kostenlos.

Der Schmuck, der bald Teil von Marie sein wird, erfüllt keinen Zweck. Ich bewerte ihre Entscheidung nicht. Vielleicht wird sie sich tatsächlich schöner fühlen als zuvor. Vielleicht ist das Wagnis selbst Maries Beweggrund. Die Illusion, einmal auszuflippen, die sprichwörtliche Metamorphose zu etwas Besonderem, wo die biologische Uhr ehern rückwärts tickt.

Meine Liebe ist die Dienerschaft, mein Respekt ist die hundertprozentige Dienstleistung. Korrekt und angemessen. Ich werde keine Fehler machen, sie wird glücklich sein. Und ganz sicher wiederkommen.

Ich blicke tief in Marie hinein. Weit geöffnet ist sie, die rosa Schleimhaut benetzt von Feuchtigkeit. Marie presst ihre Knie gegen meine, geht auf Tuchfühlung. Sie braucht dieses Gefühl, dass jetzt jemand bei ihr ist. Es wird nicht mehr lange dauern.

Ein sanfter Impuls meines Zeigefingers hat die transparente Verschalung der Kanüle beim Herausziehen gelöst. Der Teflonschlauch, der die Nadel ummantelt hatte, bleibt im sauber durchstochenen Muskelfleisch zurück. Nicht mehr als ein Platzhalter.

Maries Blick trifft meinen. Sie schaut an sich herunter, beobachtet mich sekundenlang bei meinem Handwerk und schließt ihre Augen wieder. Marie harrt aus.

Eine Note von Minze dringt durch meinen Mundschutz. Ich blicke weit in Maries Schlund hinein. Mit Wettbewerbseifer spannt sie ihren Kiefer auf, bietet mir allen Platz, den ich brauche. Ihr Gaumensegel lässt mich von Expeditionen auf hoher See träumen.

Minze. Marie hat Mundhöhle und Rachen vor dem Prozedere ausgiebig mit Mundwasser ausgespült. Ihre Zähne sind gepflegt.

Ähnlich wie bei einer guten Mahlzeit fixiere ich das Muskelfleisch mit meiner Penningtonklemme. Ich halte das Chirurgenstahlwerkzeug wie eine Schere, das flache und im Kern ausgesparte Ende presst Maries Muskelbündel fest zusammen. Es gibt kein Entkommen. Nicht für Maries Zunge und nicht für ihre Tapferkeit. Viele haben gezappelt und gefleht. Viele hat Mut und Glaube an diesem Ort verlassen. Keiner kam damit durch. Alle waren sie am Ende entrückt vor Dankbarkeit. Marie ist gefasst und harrt aus.

Blind greift meine Hand zum Arbeitsbereich. Es ist Zeit für den Schmuck. Die 2 Zentimeter lange und knapp 2 Millimeter dicke Titanhantel bohrt ihr filigranes Gewinde in den Kunststoffschlauch hinein. Keine scharfe Kante wird Maries sensible Sprechlasche unnötig verletzen.

Das Schmuckstück findet seinen Weg durch den Kanal, vom Platzhalter vorgegeben. Ich löse die Klemme, presse Maries Zungenmuskel fest mit Daumen und Zeigefinger zusammen. Der heikle Moment, die Kugel zu verschließen, ist tausendfach einstudiertes Kinderspiel. Eine Gebetsmühle.

Die vollen, blauen Arterien in Maries Zunge wehren sich nur kurz pumpend gegen den ungebetenen Gast. Die hauchdünne Gewindespindel schließt bündig in der Kugel ab. Marie trägt ein Zungenpiercing.

Ich löse meinen Griff und nehme einen Schritt Abstand. Dieser Moment gehört Marie alleine. Sie schließt ihren Mund, zum ersten Mal spürt sie den Eindringling. Nach nur wenigen Tagen wird er ihr Freund sein.

Marie sucht den eisernen Geschmack von Blut, sucht Schmerz, sucht einen Ohnmachtsanfall. Sie findet nichts.

Da sind nur wir beide. Wir wissen, es gibt keinen Grund. Die Freiheit, Sinnvolles oder Sinnloses zu tun, braucht auch keinen.

Marie ist vorbereitet, alles, was ich ihr geben kann, hat sie erhalten. Der Säurehaushalt in ihrem Mund wird kurzfristig außer Kontrolle geraten, vielleicht schlägt ihre Mundflora mit Soor – einem unappetitlichen Pilzbefall in Sonnengelb – zurück. Die Muskelkörper werden nun tagelang mit Blut überversorgt. Sie werden anschwellen, bis fast der ganze Rachenraum mit Zunge gefüllt ist. Vielleicht entzünden sich ihre Lymphdrüsen, eine Grippe könnte sie heimsuchen. Marie weiß all das. Sie wird heilen. Schnell.

Ich erhalte gutes Geld für meine Pflichterfüllung. Ich nehme es gerne, doch niemals ist es Ermessensgrundlage.

Ich muss Maries Schönheitsideal nicht teilen, ich muss ihre Beweggründe weder kennen noch beurteilen. Ob Marie ein guter oder schlechter Mensch ist, kümmert mich nicht.

Marie gab mir ihr Vertrauen, und für einen kurzen Zeitraum hat uns das aneinandergebunden. Dieses Vertrauen verpflichtet mich zu dem Besten, was ich zu bieten habe.

Ich habe Marie etwas gegeben, das ihre Welt schöner macht. Etwas Simples, etwas Physisches. Metall und Technik.

Ändern sich die Dinge für Marie, dann entnimmt sie es wieder. Meine Vervollkommnung ist reversibel. Ich helfe ihr gerne dabei, unentgeltlich.

In diesem Moment ist das Leben perfekt.

Schädelbasisbruch

Ein dunkles, geschwollenes Brillenhämatom blickt mir aus dem Spiegel entgegen. Manchmal wissen Leute tagelang nicht, dass ihr Genick nur noch an einem Knochenstück in Zahnstochergröße befestigt ist. Nach einer Weile lassen die Schmerzen nach, und am Mittagstisch landet man unversehens mit dem Gesicht in den Spaghetti bolognese. Exitus letalis.

Ich habe ein bisschen was von Onkel Fester oder einem Panzerknacker mit meinen blaugeprügelten, blutunterlaufenen Augen. Für den plötzlichen Tod im Sterilisationsraum sehe ich aber eindeutig zu gut aus. Meine Haare sind akkurat auf 4 Millimeter gestutzt. Kurze, saubere Fingernägel, frischer Atem. Faltenfreie Kleidung, frei von Rauchgestank. Ich bin ohnehin Nichtraucher. Das empfinde ich als größte meiner zahllosen Freiheiten: nach nichts süchtig zu sein. Ich renne keiner Droge hinterher, zähle nicht ständig mein Geld, muss kein dämliches Facebook-Profil auf dem aktuellen Stand halten. Elektroschrott und materieller Luxus sind Bonus. Und Bonus ist nicht unbedingt notwendig. Mit nichts auszukommen und trotzdem kein seltsamer Eremit in Taka-Tuka-Land zu sein, erscheint mir als der modernste und eleganteste Weg durch den Dschungel.

Schlaf ist in der letzten Nacht ausgefallen, aber Nachtruhe wird überschätzt. Warum müssen die Menschen eigentlich immer so viel pennen? Vier Stunden Schlaf für die Männer, fünf für die Frauen, sechs für die Idioten.

In drei Räume ist unser stattliches Piercingstudio unterteilt. Ladenlokal, Stichraum und Sterilisation. Vorne, wie wir das Ladenlokal nennen, wartet eine ungeduldige Kundin. Typ Mutter, Krankenschwester, Klugscheißer. Unsere hygienischen Standards übererfüllen die Ansprüche jeder Arztpraxis. Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit. Steriles Arbeitsmaterial, polierter Schmuck, eine Auslage, in der man sich spiegeln kann. Schmuddelige Piercingstudios sind einfach nur uncool. Bei uns könnte das Gesundheitsamt jederzeit mit Schwarzlicht und Mikroskop durch die Vordertür stürmen. Wir sind good clean fun. Wir sind die Elite.

Vom Altenpfleger bis zur Zahnarzthelferin fühlen sich alle Menschen, die im Entferntesten aus medizinischen Berufen stammen, zu einem Beitrag berufen. Der Pool an klinischen Weisheiten ist unerschöpflich. Von der Art und Weise, wie Gummihandschuhe zu wechseln sind, bis zu einem günstigeren Anbieter von Einmalhandtüchern.

Ich komme zurück nach vorne, um der Kundin ihren Schmuck zu präsentieren. Auf einer kleinen Arbeitsfläche habe ich ihr nach individuellem Wunsch einen Zirkon zusammengestellt.

Schon beim Betreten des Studios konnte ich ihren Argwohn mir gegenüber erkennen. Ganz überraschend ist das nicht, wenn man aus zwei nachtschwarzen Blutkratern in die Welt hinausblickt.

50 Euro verlange ich für den geschwungenen Bananabell. Oben Steinchen, unten Steinchen. Der Preis ist gerechtfertigt, die Gewinnspanne ist trotzdem kaum in Prozent auszudrücken. Eine Zierde für jeden Bauchnabel. Wer es mag …

Das blonde Mädel dürfte in etwa so alt sein wie ich. Zu diesem Zeitpunkt heißt das Ende zwanzig. Sie sieht nicht übel aus mit ihren langen blonden Haaren. Mehr Analyse verbietet mir die Professionalität.

Kunden oder Kundinnen, die bereits gepierct sind und nur zielstrebig ihr Schmuckrepertoire vergrößern wollen, sind meine Favoriten. Ich versuche, den Aufenthalt jedes Kunden immer möglichst kurz und effizient zu halten. Lässt sich jemand piercen, muss er eigentlich nach maximal 15 Minuten wieder auf der Straße sein. In dieser Zeit finden Begrüßung, Vorgeplänkel, Aufklärungsgespräch, Vertragsunterzeichnung, Schmuckauswahl, Stichvorgang, Nachsorge, Reinigung der Arbeitsfläche und Verabschiedung statt. Meistens ist zwischendurch noch Zeit für ein paar persönliche Anekdötchen. Ich stehe im ständigen Wettkampf mit mir selbst, die Bestzeit zu optimieren.

Einfacher Schmuckwechsel oder Einkauf sind idealerweise mit weniger als fünf Minuten abgefrühstückt. Niemals entsteht dabei Eile oder gar Hektik. Die Methode lautet: zügig, aber nicht hastig. Es geht nicht darum, die Kundschaft schnell wieder loszuwerden, sondern um die apostolische Tat, niemandem seine Zeit zu stehlen. Mich selbst inbegriffen.

Statt jauchzend ihre Geldbörse zu zücken, gibt mir die Dame eine Gratisdiagnose. Natürlich hat sie es auf meine prächtigen Blinker abgesehen.

Bei ihrer ersten Nachfrage hatte ich mich mit der Story eines Fahrradunfalls aus der Affäre gezogen. Etwas Dümmeres war mir nicht eingefallen. Jetzt wirke ich wie ein Opfer häuslicher Gewalt, das all seinen Freundinnen erzählt, es sei die Treppe runtergefallen.

Sympathisch und charmant zu sein gehört als Piercer zum guten Ton. Unabhängig von Geschlecht, Alter oder zu perforierender Stelle. Ich gerate dabei nie an meine Grenzen.

Die Blondine schaltet ihren Joystick auf Dauerfeuer. Ich müsse sofort in die Notaufnahme, mein Brillenhämatom weise ganz klar auf eine massive Schädelbasisfraktur hin. Bei einer Schwärzung in dieser Größe müsse der Bruchspalt mindestens von den Nasennebenhöhlen bis zum Schläfenbein reichen.

Meine Versuche, die dicken Augenbriketts zu verharmlosen, prallen gegen eine Wand. Einem Panzerknacker glaubt man nicht.

Sie versucht, einen Blick in meine Ohren zu ergattern. Nicht selten läuft bei einem solchen Bruch Hirnflüssigkeit aus Ohren und Nase. Ich müsse das mit meiner Ausbildung zum Piercer doch selbst am besten wissen. Langsam wird das Girl verwegen. Piercer ist kein Beruf. Jedenfalls nicht mehr als Pfandflaschensammler. Keine gesetzlich legitimierte Ausbildung schafft die Grundlage für diese Tätigkeit. Im Gegenteil, Piercing ist per Gesetz ärztliche Tätigkeit und darf demnach auch nur von Ärzten ausgeführt werden. Oder unter deren Aufsicht.

Niemand schert sich auch nur einen Scheiß um diese Tatsache. Heutzutage werden ständig neue Piercingstudios von Nageldesignerinnen, Langzeitarbeitslosen oder ehemaligen Sträf-lingen eröffnet. Jeder Hartz-IV-Empfänger, der in der Lage ist, sich einen Gewerbeschein zu besorgen, kann loslegen. Für den einmaligen Aufwand von 30 Euro chirurgische Eingriffe durchführen zu dürfen, lässt sich mit gutem Recht als Schnäppchen bezeichnen.

In der Folge überfluten miese bis miserable Studios alle Landstriche, von Großstädten und Ballungsräumen gar nicht erst zu sprechen. Ehemalige Häftlinge, Alkoholiker, selbsternannte Heilpraktiker, Hepatitispatienten und andere Gewinnertypen halten die Nadeln bereit. Im endlosen Wettstreit um das maximale Preisdumping. Eine große Zahl seltsamer -Verbände hat versucht, gegen den Verfall dieser lukrativen Grauzonenbranche anzugehen. Für das entsprechende Kleingeld darf man Seminare zu Materialkunde, Hygiene, Neurologie, Mikroorganismen und vielem mehr besuchen. Am Ende gibt es für jeden ein Jodeldiplom, das er an der Wand seines Studios verstauben lassen kann. Sinnvoll ist das vor allem für die Initiatoren der Seminare, deren Säcke sind am Ende vollgestopft.

Mit nicht einmal 18 Jahren habe ich meine Karriere als Piercer begonnen. Zu dieser Zeit war es noch absolutes Prestige, sich ein Piercing zu setzen. Ich war, zeitlich gerade recht, in den Übergang von der Punkszene und diversen Underdogs, hin zu gut situierten Hausfrauen, Businessmännern und Kunden aus dem Fetischbereich geschlittert. Wer sich piercen lassen wollte, nahm sich die finanzielle und soziale Freiheit dazu heraus. Für ein Zungenpiercing beispielsweise musste man damals noch fast 200 DM berappen.

Ich habe keinen Schulabschluss, kein Studium oder irgendeine Berufsausbildung. Mit siebzehn habe ich einfach gar nichts gemacht. Mein Freund Abel hat mir angeboten, bei ihm als Piercer anzufangen. Zu dieser Zeit gehörte ihm das beinahe einzige Studio im Umkreis von 100 Kilometern. Und es lief bestens. Ich habe zugesagt.

Im Studio bin ich durch eine harte Schule gegangen. Die harte Schule hieß vor allem Selbsterziehung. Hier gab es keinen Chef, der drillt, keine Stechkarte musste abgestempelt werden. Ordnung ohne Herrschaft. So funktioniert Anarchie eben.

In wenigen Monaten habe ich die Verantwortung für den Laden übernommen, zeitgleich wurde ein zweites – weitaus größeres – Studio eröffnet. Für mich war das der reinste Goldrausch, ich hatte plötzlich mehr Geld, als ich ausgeben konnte. Aber die Kohle war immer zweitrangig. Gestandene Familienmütter, erwachsene Typen und nicht zuletzt reichlich hübsche Mädels brachten mir Vertrauen entgegen.

Seit acht Jahren mache ich das inzwischen. Ich habe weit über 20.000 Piercings gestochen. Augenbrauen aller Art, die dicksten und dünnsten Bäuche, Brüste in allen Farben und Formen, große und kleine Schwänze.

Die Blondine hat sich heiß geredet. Sie sieht wirklich ganz gut aus. Ich lasse sie ihr Pulver verballern, am Ende ist wichtig, dass sie den Schmuck mag und ihn kauft. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Und sie meint es in der Tat gut mit mir. Keilbeinverletzung, zerquetschte Sieb-beinzellen … Ihr wohlmeinender Zuspruch wirkt auf mich wie eine der nicht enden wollenden Reden des Máximo Líder Fidel Castro.

An einer guten Schlägerei ist nichts auszusetzen. Solange sie einvernehmlich stattfindet. Einvernehmlich ist sie genau dann, wenn jedwedes Mittel verbaler Interaktion bereits ausgeschöpft wurde. Unterdrückung hingegen oder Gewalt als Instrument physischer oder psychischer Macht, ist verachtens- und bemit-leidenswert. Das soll den Faschisten überlassen bleiben. Ich bin kein Gewaltmensch. Aber ich betrachte -Gewalt als existierenden Bestandteil unserer Gesellschaft. Gewalt ausschließlich mit konkreter Bedrohung und Einschränkung der körperlichen Freiheit zu assoziieren, ist totaler Blödsinn. Ihre Verdammung und Dämonisierung wie eine biblische Plage lässt sie nur zu einer größeren Bedrohung heranwachsen. Wir geben uns der Illusion hin, niederste Formen von Gewalt in großen Teilen abgeschafft zu haben. Dabei haben wir die Gewalt bloß abgegeben. An Institutionen wie Staat oder Kirche, an Kompetenzen, die Gewalt lediglich in abstrakterer Form auf uns zurückwerfen. Ich empfinde Fernsehwerbung als gewalttätiger als eine schöne linke Grade auf meine Fresse.

In der schlaflosen letzten Nacht war es schlicht das Aufeinandertreffen zweier betrunkener Platzhirsche. In der Regel finde ich den größten Spaß an Gewaltvermeidung. Aber gestern: Er wollte es und ich wollte es. Wir waren nicht zimperlich. Ich weiß, zu welchen Kollateralschäden es in einer Prügelei kommen kann. Niemals möchte ich einem Menschen nachhaltig schaden. Und doch nehme ich es in Kauf. Es ist ein unerklärbares Paradoxon.

Ich reibe meine Zähne aufeinander, denn ich bin nicht sicher, ob mein Kiefer gebrochen ist. Erst mal ein paar Tage abwarten.

Die Blonde spürt zwischenzeitlich, dass mir mit den Waffen der Vernunft nicht beizukommen ist. Ebenso sehr spürt sie, dass meine Fahrradgeschichte frei erfunden war.

Ich würde ihr gerne die Story meines Scharmützels en detail erzählen. Ich kann nicht.

Um die Kurve zu kriegen, kontere ich mit unserem gemeinsamen Nexus.

»Haben Sie gewusst, dass Piercing laut Gesetz schwere Körperverletzung ist?«

Nach deutschem Recht zählt die Kanüle als Stichwaffe. Könnte rückwirkend bestraft werden – wenn jemand auf die Idee käme, dieses Gesetz zu ändern, könnte ich bis zum Ende meines Lebens im Verlies schmoren.

Und schon sind wir wieder beim Thema.

We are the Fighting Irish

In der Medizin nennt man den ordinären Kreislaufkollaps Synkope. Leute fallen in Ohnmacht. Für eine Weile wird das Gehirn minder durchblutet, zumeist erwacht der Bewusstlose nach kurzer Dauer wieder. Ohne besonderes äußeres Einwirken. War man kurz weggetreten, dauert es oftmals einige Augenblicke, bis Orientierung und Verstand zurückkehren. Wir fragen uns: »Was war hier eigentlich los?«

Die rostrote Edda ist eine waschechte Irin. Als erste Kundin betritt sie heute das Studio. Extrem gut gelaunt und schnellen Schrittes stapft sie auf mich zu.

»I want one here!« Edda weiß, was sie will. Absolut mein Fall. Die Anfang Zwanzigjährige zeigt unter ihre Lippe.

»But I want a ring!«

Das sogenannte Labret-Piercing war früher neben dem Bauchnabel- und dem Augenbrauenpiercing der absolute Spitzen-reiter. Man muss wissen, dass es vor etwa zehn Jahren nicht mal einen Bruchteil des Schmucksortiments von heute gab. Eine Drahtstärke, ein Stecker, zwei Sorten Ringe. Heute suchen uns fast täglich Vertreter heim, mit Nippes in allen Farben und Formen. Die Option, winzige Steinchen seitlich unter oder über der Lippe zu platzieren, hat das old-school Labret verdrängt. Das machen eigentlich nur noch Gruftis oder Pillen fressende Technojünger. Für die haben wir sogar phosphorisierende Glow-in-the dark-Kügelchen – Wahnsinn.

Edda wünscht sich das klassische Labret-Piercing, um ihr schlankes Keltengesicht zu verschönern. Ein Jammer eigentlich, Edda ist – ohne jede Koketterie – voller Anmut.

»How much is it?« Sie kommt schnell zur Sache.

»Fifty Euro including the desinfection and the ring.«

Ein frisches Piercing erfordert kaum Pflege, insbesondere wenn es im Mundbereich gestochen wurde. Die Stelle wird ständig eingespeichelt, der Säurehaushalt im Mund übernimmt den Löwenanteil. Der Körper hat unwahrscheinliche Möglichkeiten der Selbstheilung, wenn man ihn nur lässt.

Viele Studios bieten die abenteuerlichste Desinfektion an. Keine Tinktur, Fettsalbe und auch kein farbenfrohes Elixier, das mir noch nicht unter die Augen gekommen ist. Meine ungeschlagene Nummer eins bleibt die Empfehlung, sich bei einem Nasenpiercing mit Mittelstrahl-Morgenurin selbst ins Gesicht zu pissen.

Wir bieten zusammen mit Aufklärung, Stich und Nachsorge kostenlos Octenisept an. Ein für jede Schleimhaut verträgliches Antisept. Eigentlich mehr ein klinisch riechendes Placebo, um den Grind und fettige Krusten besser vom Rand des Stichkanals lösen zu können. Octenisept könnte man unbedenklich einem Neugeborenen zu trinken geben. Besser jedenfalls als die Bierpisse im Morgengrauen.

»I pass out sometimes!« Manchmal werden Kunden nach einem Piercing ohnmächtig, meistens bleibt es aber bei einer kurzen Kreislaufschwäche, ohne dass sie wirklich das Bewusstsein verlieren. Mit Beinehochlegen, Traubenzucker und gutem Zuspruch sind 99 Prozent der Wackelkandidaten ruck, zuck wieder an Deck.

Edda ist ein Einprozenter. Ziemlich fair von ihr, den Hinweis auf ihr Kreislaufproblem im Vorfeld zu geben. In der Regel schämen sich die Leute eher.

»But I do have to eat first!« Ein voller Magen macht die Ausgangsposition natürlich besser. Edda büßt ein wenig ihres guten Gesamteindruckes ein. Wenn ein Kunde mal den Laden betreten hat, dann ist es mir heilige Aufgabe, ihm etwas zu verkaufen, zu piercen oder beides. Mein persönliches Steckenpferd ist es, Begleitpersonen, die wir »Händchenhalter« nennen, ebenfalls von einem Piercing zu überzeugen.

Wir sind allzeit bereit, keine Terminabsprache notwendig. Wer »später« wiederkommen möchte, tut es in vielen Fällen nicht. Die Nerven spielen im zweiten Anlauf nicht mit, oder die Oma muss mit ihrem Pudel in die Tierklinik gefahren werden.

Ich führe mit Edda trotzdem schon jetzt ein ausführliches Aufklärungsgespräch und lasse sie den Vertrag unterzeichnen. Das bindet sie, und die professionelle Aufklärung wird ihr zeigen, dass sie in guten Händen ist.

Bis später, Edda.

»I am back!« Der rote Teufel stopft sich gerade noch den letzten Bissen eines gigantischen Cheeseburgers zwischen die Zähne. In der freien Hand hält sie einen Colabecher, der mindestens einen Liter fasst. Die Eiswürfel klirren, als sie gierig am Strohhalm saugt. Sie hat das Ding schon fast leer getrunken. Mit 100 Gramm Zucker, als Kurzbrenner frisch in den Blutkreislauf eingeschleust, lässt es sich schwerer aus den Latschen kippen.

Edda begleitet mich in den Stichraum. Ich bin alleine im Laden und sperre die Vordertür ab.

Es wird gerade gepierct, bitte warten.

Das großflächige Studio war früher eine Fleischerei, der Stichraum das Kühlhaus mit Durchreiche. Wir haben die Durchreiche mit einem großen Fenster abgetrennt. Begleitpersonen, kichernde Freundinnen und nervöse Mütter dürfen, wie bei einer Hinrichtung, vor der Scheibe Platz nehmen. Edda ist allein.

Eine Arztliege, ein rollbarer Arbeitstisch mit Glasfläche und ein großer Spiegel sind die spartanische Einrichtung des Stichraumes. Unser High-End-Piercingstudio ist eine Galerie. Hier findet man keine Totenkopfposter an der Wand, keine Vishnu-Statuen. Bei uns läuft kein Deathmetal und es hängen keine Preislisten aus. Viel Licht, nur ausgewählter Schmuck, Musik mit Stil. Wir sind Stanley Kubrick, wenn die anderen Ed Wood sind.

Das Labret-Piercing wird stets im Sitzen gemacht. Durch die mittlere Lage und Höhe der Stelle bietet sich das an. Eddas Lippe ist bereits desinfiziert. Ich markiere mit einem sterilen Skinmarker die Stelle, an der ich den Ring anbringen möchte.

»That is just perfect!« Gerne markieren Kunden den Coolen, insbesondere wenn ihnen der Arsch auf Grundeis geht. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Der Schmerz bei den meisten Stichen ist lachhaft. Aber das Bewusstsein, sich aus freien Stücken einer Körperverletzung auszusetzen, muss jeder irgendwie kompensieren. Ein wenig dicke Arme zu markieren ist mir um Längen lieber als irgendwelche Kids oder Hausfrauen, die ihrer Panik freien Lauf lassen. Ich bin Menschenfreund und Kundenliebhaber, interveniere gerne pädagogisch und rede gut zu.

Selbst wenn Kunden handgreiflich werden, mir die Nadel aus der Hand schlagen wollen oder sich wahren Heulkrämpfen hingeben. Ich halte die Stellung. Du bist im Stichraum, du wirst hier nicht ohne Piercing wieder rauskommen. Diese Garantie versuche ich, allein durch Ausstrahlung und körperliche Präsenz zu vermitteln. Das hat ein bisschen was von Russisch Inkasso für mich.

Edda bleibt ganz cool, ihre Ruhe wirkt nicht gespielt. Vielleicht sind es aber auch nur die 500 Gramm Pressfleisch, die in einem Liter Zuckerwasser schwimmen, die ihren Organismus beschäftigt halten.

Schmuck, Besteck, Tupfer – alles liegt bereit. Ich setze die Klammer an, halte Eddas Lippe in Stellung, ziehe sie ein wenig von der unteren Zahnreihe weg. Die Spitze der Nadel dringt in das weiche Lippenfleisch.

»Oh my God …« Edda kann sich mit dieser abgespreizten Lippe und weit geöffnetem Mund kaum artikulieren. »Oh my God …« Als ich die Nadel zurückziehen will, sehe ich es bereits in ihren Augen. Eine Ohnmacht kündigt sich meistens an. Wer mit dem Kopf auf dem Bordstein landet, hat fast immer bloß den Moment versäumt, sich den kommenden Zusammenbruch einzugestehen oder ihn Anwesenden mitzuteilen. Erst kommt der Schwindel, dann ist alles weit weg. Wenn der Raum beginnt, Karussell zu fahren, oben und unten nicht mehr auszumachen sind, ist es bereits zu spät.

Eddas Augen klappen nach oben. Das ist nichts Neues für mich, bleibt aber eine unschöne Begebenheit.

Abwägen und schnell handeln. Die Nadel ist raus, keine Verletzungsgefahr mehr. Edda wird sich nach Fantasialand verabschieden, daran ist nichts mehr zu ändern. Ich entscheide, den Moment zu nutzen. Die schmale Sekunde einsetzender Handlungsunfähigkeit, in der die Muskeln aber noch nicht erschlafft sind. Edda tritt weg. Ein schneller Griff zum Schmuck. Ich ziehe den Ring mit einer klaren Bewegung durch den Schlauch. Millisekunden. Langsam verlässt die Spannung Eddas Körper. Ich klicke die Kugel, den Ball Closure Ring, in das Schmuckstück. Das Piercing sitzt. Sieht gut aus. Du kommst nicht aus dem Stichraum ohne Piercing. Wenn sie wieder im Reich der Sterblichen ankommt, wird sie froh sein, nicht bloß ein blutiges Loch über dem Kinn zu haben.

Edda ist weg vom Fenster. Ich habe Klemme und Schlauch rasch abgelegt, greife mit meinem Unterarm fest hinter Eddas Rücken. Edda ist bewusstlos. Ich lege sie schnell auf den Rücken, fixiere ihren Körper auf der Liege, um zu vermeiden, dass sie unsanft einen Meter tief auf den gekachelten Boden kracht.

Und dann kollabiert Edda völlig. Ihre Muskeln am Hals und in den Gliedern verkrampfen sich. Sie fängt an zu zappeln. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen – hat Edda einen epileptischen Anfall? Ich habe schon einige gesehen, außerhalb des Studios.

Mit meinem linken Arm drücke ich Edda auf die Liege. Schaum tritt aus ihrem Mund. Ich versuche, den Mund leicht zu öffnen. All das dauert nicht mal Sekunden. Ich muss den Mund öffnen. Bei einem solchen Anfall haben sich schon viele die Zunge abgebissen. Auch für meine Finger ist absolute Vorsicht vonnöten. Vorsicht vor der Beißkraft eines krampfenden Kiefers. Edda zappelt noch immer, ihre Bauchmuskeln drücken sich gegen meinen Arm.

Wasser? Es beginnt zu plätschern. Als ich meinen Fuß bewege, merke ich, dass ich schon komplett in Eddas Pisse stehe. Die Schleusentore sind in der Ohnmacht aufgegangen, das Mädel hat sich richtig eingepisst. Dass sie ordentlich Flüssigkeit intus hat, weiß ich ja. Sie kann nichts dafür. Dann ist es still. Regungslos liegt Edda auf der Pritsche. Ich fixiere sie noch immer. Den Anflug eines Momentes macht es den Eindruck, als wäre Edda hier gerade über die Wupper gegangen.

Leben kehrt in den geschlauchten Körper zurück. Das Mädel weiß nicht, wo es ist. Ich sage meinen Namen, frage Edda nach ihrem. Ich halte sie noch immer. Die Pisse bleibt unerwähnt.

Edda ist auf dem Weg zurück, nach kurzer Zeit ist sie wieder da. Wie viele frisch Umgeklappte möchte sie sofort aufstehen. Ich hindere sie daran. Erstversorgung mit Wasser im Nacken, Beine hochlegen, Traubenzucker. Wir haben auch Kreislauftropfen im Studio, aber aufgrund des extremen Anfalls möchte ich hier nicht selbstständig zur Medikation greifen.

»I am sorry.« Die Situation ist ihr peinlich, sie steht noch immer etwas neben sich.

»No problem.« Ich erkläre ihr, dass so etwas häufiger geschieht, sie wusste ja ohnehin über ihren schwachen Kreislauf Bescheid. Ich empfehle ihr, dieses Problem auf jeden Fall mal genauer diagnostizieren zu lassen.

Um Edda nicht zu demütigen, gehe ich kurz in den Zwischenraum – den vor der Glasscheibe. Dort will ich mir die Hände waschen. Edda soll diese Minute nutzen, um zu merken, dass sie sich vollgestrullert hat. Sie kann einfach ihre Jacke um die Hüften binden, die Sauerei zu beseitigen, ist sowieso meine Sache. Nachsorge ist bei uns immer kostenlos.

Ich wasche mir die Hände vorm Spiegel, behalte Edda aber in der Spiegelung im Auge. Niemand kann sagen, ob die Ohnmacht nicht erneut Schwung holt.

»Oh shit! I pissed my pants!« So viel zu dem piercenden Rosenkavalier. Eddas Umgang war etwas offensiver. Die Irin bricht aus Edda heraus. Das Mädel flucht wie ein Rohrspatz. Seine Beleidigungen gelten sich selbst und seiner Unfähigkeit, als Mensch auf Erden zu leben.

Wir thematisieren den Zwischenfall nicht weiter. Nach ein paar weiteren Minuten in der Horizontalen, der gleichen Zeit in sitzender Position scheint Edda wieder auf dem Damm zu sein. Genug, um sie aufstehen zu lassen. Sie ist schon über eine halbe Stunde hier.

Edda hat ihr Piercing noch nicht gesehen. Natürlich folgt das Betrachten immer direkt auf den Stich. In Eddas Fall war das Risiko einer neuerlichen Ohnmacht bei dem Anblick zu groß.

Dem großen Spiegel im Zwischenraum entgeht sie jedoch nicht. Sie ist sich ihrer Stabilität selbst noch unsicher, wirft einen raschen Blick auf ihr Spiegelbild.

»Oh, it’s really …«

»Nice« kann Edda nicht mehr sagen. Die Flutkammern ihrer Verdauungsgrube geben Rotalarm. Blast die Dudelsäcke! Fiddler, spiel die Geige! Singt den Folk! Whiskey, you are the devil! Es ist Eddas St. Patrick’s Day. Das Gesicht der Irin färbt sich grün. Und es geht los.

Ein 2,5-Bar-Strahl Kotze schießt aus den Untiefen ihres Magens. Cola, Fritten, Ketchup, Hackfleisch, Salatstückchen. Zwiebelstücke und Tomatenpüree drücken sich durch die Nasenlöcher. Der Sprung zum Waschbecken ist zu weit. Eddas Halbverdautes trifft auf den Spiegel, auf die Wand, auf die Schmuckablage, überallhin. Sie ballert den ganzen Zwischenraum voll mit ihrer versäuerten Fastfood-Pampe. Hell yeah!

Es ist immer noch ein schöner Tag. Und immerhin werden wir beide einander niemals vergessen. Edda tut mir leid. Aber auch aus narzisstischen Gründen. Ich fand sie wirklich sexy. Aber ich bekomme den Kotzgeruch nicht mehr aus der Nase bei dem Gedanken an sie. Hoffentlich hat sie ihr Piercing noch.

Einen Preisnachlass gebe ich ihr nicht. Dazu muss Schlim-meres geschehen. Edda taumelt beschämt und völlig zerstört aus dem Laden. Zur Nachsorge erscheint sie nicht mehr. Mein Mitleid ist aufrichtig, ganz sicher hat sie nicht verdient, sich so schämen zu müssen. Ich sperre erst mal den Laden zu und finde heraus, welchen Burger Edda sich wohl aus der Speisekarte ausgesucht hatte.

»Tiocfaidh ár lá« – Unser Tag wird kommen –, heißt es auf Gälisch. Die Iren sind wirklich beeindruckend.

Fuck the Police

Ich bin in einem reinen Frauenhaushalt aufgewachsen. Zwei größere Schwestern, Mutti und eine Großtante, die irgendwann einfach aufgetaucht ist. Selbst Tantchens greiser Pudel war eine Dame. Obwohl ich oft von den Vätern meiner Kumpels hören musste, mir würde die starke Hand fehlen, haben mir diese Umstände eigentlich nur Gutes beschert. Den maskulinen Vorschlaghammer erhielt ich dann als Teenager während einiger Jahre im Heim. Boys only.

Ein Großteil der Kundschaft im Piercingstudio sind Frauen. Viele kommen in Begleitung, ebenso viele allein. Trotz hoch angelegter professioneller Ebene ist der Piercingvorgang als solcher ein intimer Moment. Vor allem wegen des Vertrauens, das mir entgegengebracht wird.

Ich bin kein Sexist. Für mich war es schon immer eine Selbstverständlichkeit, mich Frauen gegenüber respektvoll und wertschätzend zu verhalten. Weil Frauen einfach cool sind. Sicher bin ich kein Kind von Traurigkeit, und ebenso sicher habe ich eine ausgeprägte Libido. Die Interaktion mit dem anderen Geschlecht kann aber auf verschiedene Art und Weise stattfinden.