Pig Business - Rudolf Buntzel - E-Book

Pig Business E-Book

Rudolf Buntzel

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Beschreibung

Schweine und Menschen eint eine lange Geschichte – schon auf dem ersten Bild, das ein Mensch von einem Tier zeichnete, ist ein Schwein zu sehen. 90 Prozent unserer DNA teilen wir mit diesen intelligenten Wesen, die in vielen Weltgegenden immer noch als Haustiere gehalten werden. Weil man die Tiere bei uns jedoch kaum noch zu Gesicht bekommt, sind sie für viele zum seelenlosen Massenprodukt geworden. Der Agrarökonom Rudolf Buntzel unterzieht unsere Beziehung zum Schwein einer gründlichen Neubetrachtung. Indem er es uns mit all seinen Besonderheiten vorstellt, liefert Buntzel nicht nur eine spannende Kultur- und Wirtschaftsgeschichte dieses intelligenten wie sympathischen Tieres, er wirft auch einen kritischen Blick auf seine Verdinglichung und stellt würdevollere Formen der Haltung und Koexistenz vor.

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Rudolf Buntzel
Pig Business
Vom Hausschwein zumglobalen Massenprodukt
In Zusammenarbeit mit Franz-Theo Gottwald, Elisabeth Meyer-Renschhausen,Jasmin Zöllmer, Rupert Ebner, Hugo Gödde, Heiko Brath,Silvio Meincke, Paulo Alfredo Schönardie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2022 oekom verlag, Münchenoekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Umschlaggestaltung: Stefan Hilden, hildendesign.deCoverabbildung: © HildenDesign unter Verwendung eines Motives von shutterstock.com/DenysHolovatiuk
Abbildung Kapitelenden: © DenysHolovatiuk/ShutterstockLektorat: Maike Hofma, oekom verlagKorrektorat: Elena Bruns
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-892-8

Inhalt

Danksagung
Vorwort von Franz-Theo Gottwald
Einleitung
Kapitel 1Der Mensch und sein SchweinEine Hausgeschichte
Kapitel 2Das lokale SchweinSchweine hinter dem Haus
Kapitel 3Die Schweine der BäuerinnenEine Frauenfrage
Kapitel 4Das globale SchweinSchwein goes global
Kapitel 5Das weltgehandelte SchweinEin handelspolitisches Gerangel
Kapitel 6Das bäuerliche SchweinZwischen Industrie und Bauernhof
Kapitel 7Pig BusinessKonzentration ist alles
Kapitel 8Das chinesische SchweinDrachenköpfe mit Biss
Kapitel 9Das geschundene SchweinVom Wohl und Wehe eines Tieres
Kapitel 10Das epidemische SchweinWie ansteckend ist es?
Kapitel 11Das alternative SchweinWird eine Vision Realität?
Kapitel 12Das kulinarische SchweinWie man es wieder essen kann
Nachwort
Anmerkungen
Literatur
Glossar der verwendeten Fachausdrücke
Abkürzungsverzeichnis
Über die Autor*innen

Danksagung

Dieses Buch war auf die Mithilfe zahlreicher Personen angewiesen, denen ich meinen Dank aussprechen möchte. Einen besonderen Dank verdienen meine Co-Autoren und Co-Autorinnen, die teilweise eigenständig verschiedene Kapitel geschrieben haben, nämlich Hugo Gödde (»Das alternative Schwein«), Elisabeth Meyer-Renschhausen (»Die Schweine der Bäuerinnen«), Rupert Ebner (»Das epidemische Schwein«), Heiko Brath (»Das kulinarische Schwein«), Silvio Meincke und Paulo Schönardie (Beiträge zu Brasilien) und Jasmin Zöllmer (»Das geschundene Schwein«). Ganz speziell möchte ich Prof. Dr. Franz Theo Gottwald für das Vorwort danken.
Des Weiteren haben noch folgende Personen am Buch und seiner Entstehung mitgewirkt, denen ich ebenfalls danken möchte: Barbara Mitschker-Heinkel, Jörg Heinkel, Tillmann Zeller, Elisabeth Gäbler, Lilo Massing, Francisco Mari, Corinna Ruthenberg-Klein, Mayte Mari (für die Arbeiten an den Grafiken), Thomas Paulke vom Deutschen Schweinemuseum Teltow-Ruhlsdorf und Brot für die Welt (für eine Ermutigung).
VorwortMit dem Schwein nachhaltig wirtschaften?

Es wird Zeit für Exnovation!

Das Pig Business läuft auf vollen Touren. Während ich an diesem Vorwort schreibe, lese ich auf Spiegel online, dass in Deutschland die meisten Nutztiere weiterhin unter umstrittenen Bedingungen gehalten werden. Bei Schweinen habe »sich sogar eine Haltungsform weiter durchgesetzt, die von Tierschützern besonders kritisch gesehen wird«1. In der Tat, die tierschützerisch seit Jahrzehnten bekämpften Vollspaltenböden haben zugenommen. 96 Prozent der Haltungsplätze für Schweine sind vom Betonboden mit Spalten geprägt, durch die Kot und Urin entsorgt werden. Gelenkprobleme, Atemprobleme bei Schwein und Halter*in und Infektionen werden billigend in Kauf genommen. Die Haltung auf Teilspaltenböden, wo Tiere auch Fress- und Liegezonen mit Stroh nutzen können, ging dagegen seit 2010 von 25 auf 17 Prozent zurück. Das heißt, die Schweinehaltung wird nach wie vor weiter industrialisiert – es wird rationalisiert und auf mehr Effizienz und Produktivität geachtet. Trotz allem – auch das ist Fakt – sind die Margen, also die Differenzen zwischen Verkaufs- und Einkaufspreisen, bei den Mastbetrieben (pro Kilogramm Schlachtgewicht) nicht größer geworden; die Risiken, zum Beispiel aufgrund von Schwankungen der Weltmarktpreise und der Afrikanischen Schweinepest mit ihren Folgen für den Export, sind für die Betriebe jedoch gewachsen.
Ich frage mich, was hat die Initiative Tierwohl bewirkt, die seit 2015 als Förderprogramm der Marktpartner für mehr Tierwohl in der Breite arbeitet und mittlerweile als Deutschlands größte Plattform für mehr Tiergesundheit, Tierschutz und vor allem für verbesserte Haltungsbedingungen in besonderer Verantwortung steht?
Als Mitglied im Beirat des Deutschen Tierschutzbundes stellt sich mir ebenso die Frage, was wir mit dem Tierschutz-Labelprogramm erreicht haben, das ebenfalls seit 2015 Produkte tierischen Ursprungs kennzeichnet, die für Tiere einen wirklichen Mehrwert an Tierschutz gewährleisten sollen. Ja, es gibt mit den Praxispartnern aus der Schweinehaltung entwickelte Richtlinien für eine tiergerechtere Mastschweinehaltung, aber die an der Theke unter diesem Label verfügbare »Ware Schwein« ist gering.
Was haben andere Tierschutzorganisationen, wie Vier Pfoten oder PROVIEH, die Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt, PETA Deutschland und all die anderen gemeinnützigen, zivilgesellschaftlichen Organisationen wirklich durchgesetzt, die genauso wie der Naturschutzbund Deutschland, der WWF und auch die beiden großen christlichen Kirchen für die landwirtschaftlich genutzten Tiere politisch streiten?
Und ich frage mich auch selbst, was wir seitens der Schweisfurth Stiftung, deren Gründungsvorstand ich bin, über drei Jahrzehnte im Ringen für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Schweine erreicht haben. Die Stiftung hat etwa durch Publikationen von Artgemäßer Schweinehaltung über Lebensmittelqualität im Metzgerhandwerk bis hin zu ihrem Auszeichnungsprogramm »Tierschutz auf dem Teller« für das im vorliegenden Buch ebenfalls behandelte Thema der systemischen Alternativen (das »alternative Schwein«) konstruktive Angebote gemacht und ihre Umsetzung fördernd begleitet. Aber, die Ehrlichkeit gebietet dieses Eingeständnis: Pig Business ist dominant Big Business geblieben.

Den Wandel fördern – aus Liebe zum Schwein, zur natürlichen Mitwelt und zu den nächsten Generationen

Schweinewirtschaft ist ein nicht nachhaltiges Geschäft. Es verletzt die Würde der Tiere, schädigt die natürliche Mitwelt und lässt sich nur mit hohen externalisierten Kosten durchziehen, also zum Nachteil der nächsten Generationen. Das im vorliegenden Buch beschriebene Agrobusiness rund um das globalisierte Schwein kann allerdings nicht leicht transformiert werden. Dazu ist es unter den gegebenen Marktbedingungen zu erfolgreich – man könnte meinen: zu groß, um zu scheitern.
Ich bin dennoch nicht mutlos. Im Gegenteil, zusammen mit dem Hauptautor dieses Buches sehe ich eine Vielzahl von Möglichkeiten, von Europa ausgehend, eine nachhaltige Transformation der Schweinewirtschaft anzustoßen. Von einem Projekt, an dem ich ebenfalls als fachlicher Berater beteiligt war, möchte ich deshalb hier berichten, weil es mir Hoffnung macht. Es ist ermutigend, da es die Strukturfragen stellt, die auch in diesem Werk behandelt werden, und weil es aktuelle politische Vorschläge macht, die das Geschäft mit dem Schwein verändern werden. Im Rahmen des Projekts TRAFO 3.0, das den gesellschaftlichen Wandel breit untersucht, entstand unter der Leitung von Dr. Dietlinde Quack vom Öko-Institut die bahnbrechende Studie zur Gestaltung des Strukturwandels in der Schweinefleischproduktion – zur Zukunft der Schweinezucht und Schweinehaltung in Deutschland (2019), die vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung gefördert wurde.
In dieser Studie wird gezeigt, wie die öffentliche Hand durch die Unterstützung von gesellschaftlichen Leitbildern und Nachhaltigkeitszielen, die den Nutztierschutz einschließen, zu einem Wandel der Ernährungsgewohnheiten in Richtung einer verstärkt vegetabilen Nahrung beitragen kann, in der Produkte tierischen Ursprungs – ganz wie im Sinne der Deutschen Gesellschaft für Ernährung vorgesehen – weniger stark konsumiert werden.
Politisch aber noch interessanter spricht die Studie technische, soziale und institutionelle Innovationen und Experimente an, deren Förderung zu einer größeren Unabhängigkeit vom internationalen Fleischimperium und zu mehr Nachhaltigkeit führen würde:
♦ Zu den technischen Innovationen gehören alle Maßnahmen, die die Haltungsbedingungen von Schweinen verbessern. Das betrifft die bekannten Tierwohlmerkmale, aber ebenso den Umweltschutz. Zu nennen ist hierbei der Stallbau mit verschiedenen Funktionsbereichen (z. B. getrennter Schlaf- und Futterplatz), der Einsatz von Sensorik und digitalen Werkzeugen für Tierwohlindikation, die Familienhaltung, die Strohhaltung und anderes mehr.
♦ Zuchttechnisch geht es um die Etablierung von langjährigen Zuchtprogrammen mit Zuchtzielen wie Tiergesundheit, Robustheit und Mütterlichkeit, bei angemessener Leistung.
♦ Agrartechnische und fütterungsphysiologische Innovationen betreffen unter anderem eiweißhaltige Futtermittel. Neben den bekannten Hülsenfrüchten müssen vermehrt alternative Futtermittel (Insekten, Tiermehl) genutzt werden.
♦ Zu den sozialen Innovationen gehören regionale Akteurskooperationen von der Erzeugung über die Schlachtung bis hin zur Verarbeitung, um regionale Wertschöpfungsketten möglich zu machen. Zum Beispiel Kooperationen von Schweinehaltern, Verarbeitern, Metzgereien, Kommunen, Verbänden, Landwirtschaftskammern, Kantinenbetreibern oder anderen Partnern aus der Außer-Haus-Verpflegung.
♦ Eine wesentliche wirtschaftliche Innovation besteht aus der Etablierung einer vertikalen Wertschöpfungskette. Erzeugung, Schlachtung, Verarbeitung und Vertrieb in einer Hand kann sowohl von Erzeugern ausgehen (wie bei der Bäuerlichen Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall, die in diesem Buch ebenfalls beschrieben wird); oder aber sie wird vom Lebensmittelhandel betrieben, wie bei EDEKA mit dem Programm Hofglück. Diese Innovationen haben zugleich institutionellen Charakter.
♦ Zu den sozio-technischen und wirtschaftlichen Innovationen zählen zudem digitale Plattformen zur Direktvermarktung von besonders tierwohlgerechtem Fleisch oder Wurstwaren. Zu nennen sind hier das Crowdbutchering ( Grutto ) oder die Bündelung von Erzeugern verschiedener Produktgruppen (Marktschwärmer).

Nicht nachhaltige Strukturen beenden

Allerdings brauchen diese Keime der Hoffnung, die schon heute in Nischen umgesetzt werden, einen deutlichen politischen Willen, nicht nachhaltige Strukturen zu beenden. Es ist eindeutig: Die heute überwiegend praktizierte Haltungsform in unstrukturierten Buchten und auf Vollspaltenböden ist aus Tierschutzgründen und, allein was die Masse an Tieren angeht, auch aus Umweltgründen nicht zukunftsfähig. Es muss also um Exnovation gehen, um eine Verabschiedung von dieser Haltungsform. Dies ist wirtschaftlich wie politisch ein dickes Brett, nicht leicht zu bohren. Mit einem politisch festgeschriebenen klaren Zeitplan und einem rechtlichen Rahmen, der die Planungssicherheit garantiert, kann der Ausstieg aus der gesellschaftlich insgesamt schon heute nicht mehr akzeptablen Haltungsform für Mastschweine jedoch gewagt werden. Dass dies gelingen kann, zeigt das Beispiel des Ausstiegs aus der Käfighaltung bei Legehennen. Deutschland kann sich in einem vieljährigen Wandlungsprozess auch beim Schwein weg von Standardprodukten hin zu einer qualitativ höherwertigen und höher preisigen Erzeugung umstellen. Mit einer nachhaltigeren Produktion, die mehr Tierwohl einschließt, können auch international neue Märkte und Zielgruppen angesprochen werden.
Die Studie des Öko-Instituts endet mit acht klassischen Politikansätzen. Werden diese parallel zum alles entscheidenden Hebel des langfristigen Verbots der Vollspaltenböden und unstrukturierten Buchten in der Mastschweinehaltung umgesetzt, kann eine Transformation im Sinne der Nachhaltigkeit erreicht werden:
♦ Verschärfung des Tier- und Umweltschutzrechts mit verlässlichen rechtlichen und zeitlichen Vorgaben sowie der Sicherstellung von Vollzug und Kontrolle.
♦ Entwicklung und Umsetzung von Finanzierungskonzepten für die Anhebung der Tierwohl- und Umweltstandards.
♦ Einführung eines staatlichen Tierwohllabels mit anspruchsvollen Kriterien.
♦ Entwicklung des rechtlichen Rahmens für eine verpflichtende Deklaration der Haltungsbedingungen aus Fleischerzeugnissen und Wurstwaren.
♦ Ein klares Bekenntnis aller beteiligten Bundes- und Länderministerien zu einer fleischärmeren Ernährung.
♦ Umsetzung der Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in der öffentlichen Beschaffung von besonders tiergerechten Erzeugnissen.
♦ Forschungsprogramme für umwelt- und tierwohlfreundliche Haltungssysteme und für Zuchtprogramme robuster Rassen.
♦ Bildungsprogramme für die Entwicklung nachhaltiger Ernährungsstile.

Bewusstseinsbildung

Das vorliegende Buch von Rudolf Buntzel, in dem der eindeutig nicht nachhaltige Weg vom Hausschwein zum internationalen Fleischimperium erläutert wird, gibt nicht zuletzt für die Fundierung dieser politischen Forderungen eine Fülle von Argumenten. Es erlaubt den Leser*innen das Schwein als Mitgeschöpf wahrzunehmen und eine neue wertschätzende Haltung seinen Erzeugnissen gegenüber aufzubauen, die man selbst möglicherweise weiterhin genießen will.
Und genau um diese Bewusstseinsbildung geht es: in Kenntnis des historischen Gewordenseins einer Industrie das eigene Einkaufs- und Essverhalten kritisch zu überprüfen, um immer wieder bewusst zu wählen.
München, im August 2021
Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald

Einleitung

Wer sich das Kotelett an der Fleischtheke besorgt, sieht dem Fleischstück seine Entstehungsgeschichte und die großen Zusammenhänge nicht an, die ein weltweites Agrobusiness offenbaren. Das ist vielleicht auch zu viel verlangt, denn letztendlich soll es ja vor allem schmecken. Aber machen wir es uns nicht zu einfach? Schließlich essen wir nicht nur für uns allein, sondern schleppen unweigerlich einen großen Berg an Folgewirkungen mit: Gerechtigkeitsfragen, Tierwohlbelange, Machtkomplexe, Strukturveränderungen oder Umwelteinflüsse zum Beispiel. Wer ein wenig mehr von dem Tier »Schwein« und was wir aus ihm gemacht haben, wissen will, kommt über kritisches Nachdenken über die Zustände in der weltweit verflochtenen Schweinewirtschaft nicht umhin.
Das Futter aus Brasilien, die Ferkel aus Dänemark, die Schlachter aus Rumänien, die Zuchtlinien vom Weltmarkt und der Fleischexport nach China: Wer will da noch glauben, dass das Schweinefleisch auf unseren Tellern aus regionalen Ställen stammt? Die Fleischwirtschaft ist längst international geworden, was mit einigen Strukturänderungen und Problemen einhergeht: die Stallbautechnik und digitalen Managementkonzepte sind weltweit die gleichen, intensiver Medikamentengebrauch wird überall betrieben, mit Herkunft von internationalen Pharmakonzernen, Konzerne der Fleischwirtschaft sind international verschachtelt, die Weltmarktpreise sind tonangebend, die Treibhausgase planetarisch, die Nachfrage nach Fleisch in Niedrig- und Mitteleinkommensländer explodieren, die Bedrohung durch epidemische Zoonosen erhöht sich immer weiter. Nur eines bleibt strikt zu Hause: die Gülle!
Das bescheidene und intelligente Geschöpf »Schwein« ist von findigen Machern und Konzernen als Fleischlieferant einer industrialisierten und globalen Schweinewirtschaft gekapert worden. Der Heißhunger der Verbraucher*innen in vielen Teilen der Erde nach Fleisch sorgte für einen Aufbau von lukrativen Binnen- und Weltmärkten für allerlei Fleischprodukte des Schweins. Multinationale Konzerne großen Ausmaßes sind entstanden: im Zuchtbereich, in der Futtermittelversorgung, bei den Schlachthöfen und Fleischwerken, und die großen Supermarktketten haben den Verkauf von Fleisch an die Endverbraucher*innen von kleinen Schlachtergeschäften übernommen.
Dabei ist Qualität auf vielen Ebenen auf der Strecke geblieben: das Tierwohl und die -gesundheit, das Metzgerhandwerk, die Fleischqualität, der Umwelt- und Klimaschutz, die Biosicherheit sowie einvernehmliche Handelsbeziehungen. Außerdem droht das spezielle Mensch-Tier-Verhältnis und die kulturelle Funktion des Hausschweins in vielen traditionellen Gesellschaften zu schwinden.
Die Krise um die Massentierhaltung des Schweins ist globaler Natur. Der Gang der Dinge scheint unumkehrbar, weil politische und wirtschaftliche Kräfte die marktwirtschaftlichen Strukturen und den globalisierenden Prozess antreiben. Der wirtschaftliche Konkurrenz- und Verdrängungskampf schreitet international voran und setzt die einzelnen Beteiligten unter enormen Anpassungs- und Erfolgsdruck.
Doch hinter der Fassade des machtvollen Agrobusiness keimen Gegenkräfte, sowohl bei den erfindungsreichen Bauern und Bäuerinnen, als auch bei kritischen Verbraucher*innen. Auf beiden Seiten gibt es einen Suchprozess nach Alternativen jenseits der großen weltumspannenden Strukturen – eine Suche nach neuen Märkten, Produkten, Qualitäten, Produktionsmethoden und Wertschätzungen. Sie versuchen das »Pig Business« zu umgehen und neue Chancen der Überlebensmöglichkeiten auf Produzentenseite und des Genusses auf Konsument*innenseite zu finden.
Doch bei näherem Hinsehen auf die Schweinehaltung der Welt schreitet zwar die Industrialisierung und Globalisierung der Schweinewirtschaft aggressiv voran, aber die Relikte einer vorkapitalistischen Schweinehaltung sind in vielen Ländern noch vorherrschend. Sie befinden sich allerdings in einem zähen Überlebenskampf, sowohl die Tiere als auch ihre Halter*innen betreffend. Das gilt vor allem für nicht muslimische Regionen und Länder Asiens, des Pazifiks, Osteuropas und der Karibik, für Brasilen und – als Nachzügler – auch für afrikanische Staaten südlich der Sahara. Hier lebt das Schwein noch als »Hausschwein« im wahrsten Sinne des Wortes, in diesem Buch das »lokale Schwein« genannt, in enger Lebensgemeinschaft mit der Halterfamilie und dem Dorf. Es wird meist allein mit den Resten der Haus- und Gartenwirtschaft gefüttert oder in den Wäldern und Freiflächen. Die Tiere sind kaum züchterisch bearbeitet. Ihre Haltung hat keinen Bezug zu der Ökonomik des Fleischertrags. Die Tiere werden als Reserve für Notfälle, für Rituale oder für den Tauschhandel gehalten, sie finden ihr Ende nicht in Schlachthäusern, sondern sie enden in der Hausschlachtung. Es ist das Schwein der »Kleinen Leute«, der Armen auf dem Lande, kleinbäuerlicher Existenzen, zumeist Angelegenheit der Frauen und Kinder.
Doch überall, wo das Schwein als Nutztier heimisch ist, hat sich aus den autochthonen Verhältnissen heraus auch eine neue Schicht von Bauern und Bäuerinnen entwickelt, die den Verlockungen des Marktes gefolgt sind. Es entstand flächendeckend ein Segment der modernen »bäuerlichen Schweinehaltung«, die im Rahmen des Familienbetriebs eine kommerzielle, technisch modernisierte Schweinehaltung betreibt. Die Halter*innen folgen der Logik der Effizienz, benutzen verbesserte Zuchtrassen, achten auf gute, ausgewogene Futtermittel, zumeist angekauft, und greifen auch auf Berater- und Veterinärdienste zurück. Dieser Sektor ist je nach gewachsener Agrarstruktur, gezielter Förderpolitik des Staates, Vorhandensein einer Wertschöpfungskette und funktionsfähigen Vermarktungsstruktur eines Landes ausgeprägt beziehungsweise kann sogar die dominante Produktionsweise sein.
In der Regel koexistiert dieser Sektor mit der global orientierten, industrialisierten Schweinewirtschaft, profitiert von ihren Schlachteinrichtungen, Fleischwerken, ihrer Marktentwicklung und Förderpolitik. Der Begriff »Das globale Schwein« kennzeichnet den Systemzusammenhang dieser Tierindustrie. Kapitalgesellschaften sind hier die Akteure, die mit internationaler Technologie und Zuchtlinien operieren, oft international verflochten sind, in einem globalen Konkurrenzkampf stehen und ihre Effizienz aus den sinkenden Stückkosten bei Massentierhaltung und Massenschlachtungen beziehen.
Die Geschichte der Mensch-Schwein-Beziehung auf der Erde wird durch das Zusammenspiel dieser drei Segmente bestimmt: dem »lokalen Schwein«, dem »bäuerlichen Schwein« und dem »globalen Schwein«. Die Dynamik dieser drei konfligierenden Sektoren zueinander kennzeichnet die Entwicklung der Tierhaltung auf der Welt im Spannungsfeld der weltweiten Konzentration, zunehmenden Globalisierung und der rücksichtslosen Naturaneignung. Das ist unsere Erzählung.
Wir stellen im Folgenden diese drei Systeme der Schweinewirtschaft vor, das bäuerliche Schwein dabei als letztes, weil es sich um eine Übergangsformation zwischen dem lokalen und dem globalen Schwein handelt, mit Elementen der Überlappung in die eine oder andere Richtung. Die Rolle der Konzerne und die überwältigende Position Chinas in dem internationalen Zusammenspiel bedarf dann einer eigenen Betrachtung. Ebenso lebt das globale Schwein von funktionsfähigen freien internationalen Märkten; deshalb auch ein Extrakapitel zur internationalen Handelspolitik. Mit der Globalisierung geht auch die weltweite Dimension der Tierwohl- und Tierschutzdebatte einher, denn nichts schadet dem Geschäft mehr, als wenn im internationalen Handel ungleiche Wettbewerbsbedingungen aufgrund von unterschiedlicher Rücksichtnahme auf die Tierbelange bestehen. Jasmin Zöllmer hat es übernommen, diesen Zusammenhang zu erklären. Die Corona-Pandemie hat die globale Dimension von Krankheitsrisiken vor Augen geführt, die unter Umständen auf tierischen Ursprung zurückgehen (Zoonosen). Diesen Aspekt der Biosicherheit mit Bezug zum Schwein beschreibt Rupert Ebner in seinem Kapitel.
Dass es auch selbst innerhalb des Systems des globalen Schweins Handlungsoptionen für Schweinehalter*innen und Metzger*innen gibt, die Chancen für eine etwas andersartige Produktion und Vermarktungsmöglichkeit bieten und dadurch neue Überlebensmöglichkeiten für Erzeuger*innen eröffnen, davon erzählt uns Hugo Gödde aufgrund seiner eigenen praktischen Erfahrungen durch 30 Jahre Engagement für Qualitätsfleisch in Deutschland. Das geht aber nicht ohne eine neue Wertschätzung von Fleisch bestimmter Herkunft, seiner Erzeugung und Verarbeitung. Hierzu schließen wir den Hauptteil des Buches mit dem Kapitel »Das kulinarische Schwein«, eine Möglichkeit zur Rehabilitierung des Konsums von Schweinefleisch.
Abb. 1: Das Ferkel, das Futter und der Bauer beziehungsweise die Bäuerin sind eine Einheit. Kurt Stodal aus dem Dorf Creglingen in Baden-Württemberg lockt junge Mastschweine in seinem Außenklimastall mit Futter an.
Kapitel 1
Der Mensch und sein SchweinEine Hausgeschichte
»Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch.«1
Gottfried Benn
Wo kommt das Schwein als Nutztier des Menschen her und wie hat die enge Beziehung zwischen Menschen und Schweinen die Schweine vermenschlicht und die Menschen »versaut«? Das Schwein verstehen, geht das überhaupt? Was macht seinen Charakter aus? Und wie hat der Mensch das Schwein benutzt?
Erst, wenn wir diese Fragen beantwortet haben, verstehen wir, womit wir es eigentlich zu tun haben: mit unserem Spiegelbild; mit einem Geschöpf, das uns Menschen erstaunlich ähnlich ist. Das Schwein ist weit mehr als lediglich eine biologische Fleischmaschine.

Die »Verhausschweinung« des Schweins

Am Anfang der wechselvollen Beziehung von Menschen und Tieren stand die Jagd. Erste Versuche der Tierdomestizierung folgten. Es war ein langer Weg von der frühgeschichtlichen Haustierhaltung in den alt- und neuweltlichen Kulturen bis zur modernen Rasseentwicklung, dem industriellen Hybridschwein.
Aus kulturhistorischer Sicht stellt die Haltung von Haustieren im Verbund mit dem Anbau von Kulturpflanzen eine der bedeutendsten Vorgänge in der Menschheitsentwicklung dar. Erst später kam ein systematischer Futteranbau im Fruchtwechsel mit bekannten Nahrungskulturen hinzu, wie zum Beispiel der Leguminosen vor Getreide oder Kleegras vor Rüben. Die Agrargeschichte der Nutztierhaltung geht zurück auf etwa 10.000 Jahre v. Chr. Schon früh, etwa 6.000 v. Chr., wurde den Haustieren die Bewegungsfreiheit mächtig eingeschränkt. Ihre Sozialbedürfnisse wurden beeinträchtigt, der Fortpflanzungsdrang wurde der Kontrolle des Menschen unterworfen.2 Das waren die Voraussetzungen für eine dem Menschen dienliche Nutzung des Schweins.
Die weltweit älteste bislang bekannte künstlerische Darstellung eines Lebewesens konnte kürzlich datiert werden: Vor mindestens 45.500 Jahren malte ein prähistorischer Künstler ein Schwein an die Wand einer Höhle in Sulawesi/Indonesien, daneben die Umrisse zweier menschlicher Hände.3 Die Gestalt des Schweins ähnelt eher dem heutigen Hausschwein als dem borstigen Wildschwein mit langen Beinen und spitzer Schnauze. Die Hände lassen darauf schließen, dass sich das Tier in menschlicher Obhut befand. Es bleibt allerdings offen, ob es schon damals domestiziert war.
Wie es scheint, hat die Beziehung zwischen Menschen und Schweinen also eine sehr lange Geschichte. Dass das Schwein durch Züchtung gezielt an die menschlichen Nutzungsbedürfnisse angepasst wurde, ist erstmals etwa vor 10.000 Jahren in Vorderasien nachgewiesen. Archäozoologische Funde über Schweine als Haustiere fand man in Syrien (etwa 7.300 bis 7.100 v. Chr.), im Irak (7.700 bis 7.100 v. Chr.) und im Iran (7.100 bis 6.400 v. Chr.).4 Im Gegensatz zur Domestizierungsgeschichte von Ziege und Schaf ist zur Domestizierung von Schwein und Rind noch recht wenig bekannt. Sehr alte Nachweise zur Haustierhaltung des Schweins stammen unter anderem aus der Siedlung Coyonü in dem früheren Südostanatolien und aus Siedlungen der chinesischen Ci-shan-Kultur von vor etwa 8.000 Jahren. So gibt es mindestens drei Orte in China, in denen das Schwein unabhängig voneinander domestiziert wurde. Unklar sind die exakten Zeitangaben. Die Flüsse Huang He und Jangtse sind zwei wichtige Zentren der Domestizierung, denn schon in ältesten Zeiten wurde das chinesische Schwein in andere Gebiete Südostasiens gebracht, bis hin in den pazifischen Raum. Die systematischere Schweinehaltung setzte die Sesshaftwerdung der Menschen voraus.
Zwischen der antiken Schweinehaltung in China und Europa gab es einen entscheidenden Unterschied: In Europa lebten die Tiere noch von den Früchten des Waldes, während sie in China schon vor 6.000 Jahren in Pferchen gehalten wurden. Das ist der dichten Besiedlung und dem schon zu dieser Zeit hochentwickelten chinesischen Ackerbau geschuldet. Dabei mussten die chinesischen Schweinebauern und -bäuerinnen mehr Arbeit auf sich nehmen, um die Tiere rundum zu versorgen. Außerdem entstanden dadurch schon früh ökonomische Zwänge, das heißt, die Ausbeute des Schweinefleisches musste effizienter werden.5 Im Zuge dessen wurden die Hausschweine auf Zahmheit und geringere Wildheit hin selektiert, damit sie leichter zu halten waren. Damit verloren sie aber auch einen Teil ihrer wildwüchsigen Intelligenz.6 Die Schweine wurden auf kleinerer Fläche im Hofbereich gehalten, und der Düngewert und die Fütterung mit Haushaltsabfällen nahm an Bedeutung zu. Eine solche Selektion wird Domestizierung genannt.7
Zunehmend verdichten sich die Beweise, dass alle Hausschweine von einer einzigen Wildschweinart abstammen, dem Sus scrofa, einem Wildschwein, das in verschiedenen Gebieten Eurasiens, Nordafrika und im Niltal lebte.8 Durch die Domestizierung entstanden Modifikationen des Sus scrofa, die unter natürlichen Bedingungen nie zustande gekommen wären. Das Haustier ist eine »Degeneration« des Wildschweins – völlig aus der Art geschlagen.9 Dadurch wird eine Nutzung durch den Menschen erst möglich und kann enorm verbessert werden. So entstand eine Mensch-Tier- Hausgemeinschaft, die in erster Linie auf den Nutzen des Menschen ausgerichtet war.
Fragt man nach der Herkunft des Sus scrofa, dem »Urschwein« des Hausschweins, dann gibt es kein eindeutiges Zentrum der Abstammung. Schweine waren über weite Teile Europas und Asiens verbreitet, und die Domestizierung ging an vielen Stellen Eurasiens gleichzeitig vonstatten. Weil das Schwein nicht schwitzen kann, kommt es in semi-ariden Gebieten, in denen die meiste Zeit des Jahres Trockenheit herrscht, kaum vor; es bevorzugt schattenreiche Wald- und Flusstäler. Die Domestizierung in warmen Regionen ging daher einher mit dem Bau von bedachten Unterständen, Ställen und Bereitstellung von Abkühlungsmöglichkeiten durch Wasser und Senken. Das machte die Nutzung des Schweins zum Beispiel in Vorderasien aufwendig und wenig angepasst an die dortigen Bedingungen. In den Trockenzonen der Erde gab es also keine Hirtenvölker mit Schweineherden. So ist der Niedergang der Schweinehaltung im Orient schon in vorchristlicher Zeit auch damit zu erklären, dass durch die Abholzung der letzten Buchen- und Eichenwälder aufgrund eines wachsenden Bevölkerungsdrucks und dem militärischen Schiffbau wenig Hütung im Schatten von Bäumen möglich und wenig Futter von Waldbeständen vorhanden war.10
Abb. 2: Ein Hausschwein aus Ghana in einem einfachen Verschlag mit Sonnenabdeckung, das unter der Hitze leidet und Abkühlung sucht.
Es ist belegt, dass Hausschweine auch dort vorkamen, wo es gar keine Wildschweine gab, das heißt sie wurden schon als Haustiere dorthin gebracht. Dadurch, dass Schweine an vielen Orten der Erde getrennt voneinander domestiziert wurden, hat sich eine große Anzahl unterschiedlichster Nutztierrassen entwickelt. Auf dem amerikanischen Kontinent kommen das Schwein und verwilderte Anverwandte beispielsweise erst seit Ankunft der Europäer vor. Neben den Schweinen der Nutztierhaltung verbreiteten sich in der Natur entlaufene Schweine alsbald über weite Teile des Kontinents.
Früher wie heute gab es Interaktionen und Vermischungen: entlaufene Haustiere verwilderten und schlossen sich Rotten von Wildschweinen an oder wilde Keiler deckten Haustiersauen bei deren Weidegang. Es mag der Intelligenz des Schweins zu verdanken sein, dass selbst domestizierte Rassen in der Lage sind, sich sehr schnell wieder an wilde Lebensbedingungen anzupassen.11 Die Haustierwerdung ging immer mit einem Intelligenzverlust einher, doch bei anderen Haustieren liegt diese Verlustrate unter der der Schweine, nämlich nur bei 20 bis 25 Prozent.12 Dennoch besitzt auch das Hausschwein noch genügend Intelligenz, um sich an die vom Menschen geschaffenen neuen Bedingungen anzupassen.
Zurück zum historischen Sus scrofa: Das Verhältnis der alten Griechen zum Schwein wird aus Erzählungen Homers deutlich. In der Odyssee etwa tauchte der Schweinehirt Eumanios auf.13 Es ist der erste literarische Bericht über eine große Schweinehaltung, mit erstaunlicher Präzision des Besitzumfangs: Eumanios betrieb 12 Ställe mit je 50 Sauen und ihren Ferkeln. Sie dienten als Mast- und Opfertiere. Die Haltung von 600 Schweinen stellt selbst nach heutigen Maßstäben einen ernstzunehmenden Agrarbetrieb dar. Der »göttliche Sauhirt«, wie er bezeichnet wurde, half Odysseus bei der Vertreibung der Freier seiner Gattin.
In der griechischen Mythologie galt der Kampf mit dem wilden Schwein geradezu als die Heldentat, an der sich manche messen lassen mussten. So auch Herkules mit seiner Jagd auf den erymanthischen Eber, Theseus mit der wilden Sau von Crommyon oder die berühmte kalydonische Eberjagd. Wenn man bedenkt, dass das größte je vermessene Schwein – ein Yorkshire Schwein des Züchters Charles Beaumont – immerhin 3 Meter lang wurde, 1,27 Meter hoch und 609 Kilogramm wog, versteht man den Respekt, den die massige Gestalt eines Schweins den Griechen einflößte.
Im alten Ägypten der dynastischen Zeit (rund 3.000 bis 2.500 v. Chr.) war das Schwein neben dem Rind das wichtigste Haustier, obwohl man es verachtete. Wenn die Ägypter*innen von einem Schwein berührt wurden, stiegen sie sogleich mitsamt Kleidung in den Nil, um sich zu reinigen. Ferkel wurden für Selene und Dionysos, dem Götterpaar der Zauberer und des Teufels, geopfert. Es gab dafür gesonderte Schweinehirten, die die unterste Kaste bildeten.14
Später kam auch im Judentum aus noch nicht umfassend erforschtem Grund die Ächtung des Schweins auf. Die Abneigung gegen den Schweinefleischverzehr hat ihren Ursprung wohl in der ägyptischen Gefangenschaft.
Auch in Mesopotamien war bis Hammurabis Regierung 1.900 v. Chr. Schweinehaltung weit verbreitet. Doch unter seinen Nachfolgern fielen Schweine in Ungnade. Der bekannte amerikanische Kulturanthropologe Marvin Harris vermutete als Ursache die Versalzung der fruchtbaren bewässerten Felder der Sumerer am Unterlauf des Zweistromlandes, also eine Ackerbaukrise, die dazu führte, dass Getreidefutter nur noch schwer zu bekommen war.15 Das sumerische Reich kollabierte unter anderem infolge an dieser Krise.
Anders verhielt es sich bei den Römern. Deren hohe Anerkennung des Schweinefleisches erkennt man daran, dass unter Diokletian (etwa 284 bis 305 n. Chr.) der Preis für Schweinefleisch doppelt so hoch war wie der für Rind- oder Schaffleisch. Bei den Römern gab es zudem genaue Aufzeichnungen über die »gute landwirtschaftliche Praxis« einer systematischen Schweinehaltung, mit Anleitungen zu einer einfachen Zuchttechnik und Fütterungshinweisen. Auf keinem römischen Landgut durfte das Schwein fehlen.
Bei den Germanen dagegen war die Schweinehaltung zu römischer Zeit und im Mittelalter eher primitiv, nur die Waldweide war bekannt. Ein Schweinehirt hütete eine Rotte Hausschweine in Mischwäldern, wo sie die Eicheln und Bucheckern abweideten, die Früchte der Oleasterbäume (schmalblättrige Ölweide) und Tamarisken aßen, ebenso alle Arten von Nüssen und Obstbäumen, Johannisbrot, Weißdorn, und so weiter. Zu jeder Jahreszeit gab der Wald etwas her. Der Wert des Waldes wurde sogar daran bemessen, wie viele Schweine sich damit mästen ließen. Nachts wurden die Schweine ins Dorf zurückgetrieben und in Koben (einfache Stallverhaue) eingesperrt. Systematisch gefüttert wurden die Tiere allenfalls in der »Endmast«, also rund drei Monate vor dem Schlachttermin.
Auch mythologisch kam der Bedeutung des Schweins eine große Rolle zu, bei den Germanen wie auch bei den Kelten. Bei den Kelten gab es sogar einen Ebergott. Im Frühmittelalter nahm die Schweinehaltung in Europa enorm zu, auch in Städten, wo man die Tiere auf der Straße mit Küchenabfällen, die aus den Fenstern geworfen wurden, fütterte.
Eine noch lebendige prähistorische Schweinekultur: die Eipo
Bei den Eipo, einem Stamm in Irian Jaya (West-Papua) mit rund 800 Mitgliedern, handelt es sich um ein in den Bergen lebendes Volk, das erst in den 1970er-Jahren Kontakt zur Außenwelt bekam. Die melanesische Kultur der Eipo ist mit einem Alter von 50.000 Jahren eine der ältesten der Welt. Sie hängen einem überlieferten Glauben an, in dem alte Riten und Mythen noch intakt sind. Obwohl der Stamm inzwischen christlich missioniert wurde, hat das Schwein immer noch eine quasi-theologische Bedeutung. Die Eipo glauben, dass alle Menschen von sakralen Urschweinen abstammen. Die Schweine sind als Geister in Form von Steinen den Fluss Eipomek hinuntergespült worden. Als sie unten am Ufer ankamen, verwandelten sich die Steine in Menschen und Schweine. In der Mitte der Welt, so glauben die Eipo, ruht ein Schwein; wenn es sich bewegt, bebt die Erde.
Die Tiere werden Zeit ihres Lebens verhätschelt und wie Familienmitglieder behandelt. Die Eipo nehmen aber an, dass das Schwein geschlachtet werden will. Andernfalls läuft es davon. Zu rituellen Anlässen werden geweihte, auserwählte Schweine getötet. Dabei gibt es verschiedene Anlässe, für die unterschiedliche Ritualschweine gehalten werden. Zur menschlichen Ernährung spielt das Schwein keine systematische Rolle, obwohl – wenn denn ein Tier geschlachtet wird – es auch gänzlich verzehrt wird.16
Das Hausschwein besaß im Laufe der Geschichte keine große Bedeutung in Vorderasien, weil es sowohl in der jüdischen als auch der muslimischen Religion als unrein galt und jeglicher Kontakt mit Schweinen ein absolutes Tabu darstellte. Die armen Tiere wurden nicht nur als unnütz erklärt, sondern auch als schädlich; ein Fluch für denjenigen, der es berührte oder auch nur ansah. Es ist paradox, dass ausgerechnet in den Gebieten, wo das Schwein unter anderem zum ersten Mal domestiziert wurde, Jahrtausende später eine tiefgründige Abneigung gegen Schweinefleisch und der Berührung mit dem Tier und seinen Teilen entstand.
Die Stellung des Schweins im Judentum, Islam und Christentum
Im Judentum verbietet das Alte Testament jeglichen Umgang mit Schweinen mit drastischen Worten: »Alles, was gespaltene Klauen hat, ganz durchgespalten, und wiederkäut unter den Tieren, das dürft Ihr essen. Nur diese dürft ihr nicht essen von dem, was wiederkäut und gespaltene Klauen hat: [3+4] Das Schwein, denn es hat wohl durchgespaltene Klauen, ist aber kein Wiederkäuer, darum soll es Euch unrein sein. Vom Fleisch dieser Tiere dürft ihr weder essen noch ihr Aas berühren; denn sie sind unrein.« [7+8]17
Im Koran sagt die Sure 5,4: »Verboten ist euch der Genuss von Fleisch verendeter Tiere, Blut, Schweinefleisch […]«.
In beiden Religionen gilt das Schwein als »unrein«, weil es sich im Dreck suhlt und unreine Dinge frisst, wie zum Beispiel im Notfall den eigenen Kot.
Das Christentum brach zwar mit dem jüdischen Verzehrverbot, aber auch im Neuen Testament taucht das Schwein wiederholt negativ auf. »Werft Eure Perlen nicht vor die Säue«18, heißt es in der Bergpredigt, und kurz danach wird von Jesus erzählt, wie er Besessene heilt, indem er deren Dämonen austreibt. Die Dämonen fahren daraufhin in eine Schweinerotte, welche sich selbst im See ersäuft.19 Beide Vorkommnisse deuten an, dass das Schwein auch in der christlichen Gesellschaft keine Wertschätzung erfährt. Das Schwein ist dem Menschen ähnlich genug, um dessen Besessenheit zu übernehmen, aber auch »nur« Tier, um dafür geopfert zu werden. Theologisch genießt das Nutztier zwar Rechte und Achtung, aber die »Ebenbildlichkeit« des Menschen mit Gott hebt den Menschen hervor. Entscheidend dafür ist, dass nur der Mensch eine Seele besitzt, die ihm eine unveränderbare, einzigartige Individualität verleiht.20
Wo der Islam bei seiner Verbreitung auf Völker traf, die eine Tradition an Schweinezucht aufwiesen, konnte sich das Schweinetabu nicht flächendeckend durchsetzen. Das gilt zum Beispiel für China, Vietnam, Teile von Indonesien und den Philippinen, Korea, aber auch Afrika südlich der Sahara. Die »Schweinegrenze« bildete mithin auch die geografische Schranke des Islams.21
Alle nachträglichen Begründungen von Religionsforschenden für das Schweinetabu können nicht recht überzeugen, denn auch andere Tiere, wie zum Beispiel Ziegen, essen Kot. Eine artspezifische Tierkrankheit, die dem Menschen beim Verzehr des Fleisches schadet, wie die Trichinose beim Schwein, kann auch nicht der Grund dafür sein, denn andere Tiere haben auch ihre jeweils spezifischen Krankheiten, die dem Menschen gefährlich werden können (beispielsweise der Milzbrand). Ökologische Gründe wie die Wasserknappheit Vorderasiens – das Schwein benötigt einen großen Wasserbedarf zur Körperkühlung – sind für das Verzehrverbot ebenso weit hergeholt, denn es geht ja nicht nur um die Nützlichkeit des Schweins, sondern das Schwein wurde regelrecht ausgestoßen. Das Wiederkäuerargument des Alten Testaments leuchtet noch am ehesten ein, denn damit wird das Schwein – als einziges Nutztier eine Omnivore (Allesfresser) – zum Nahrungskonkurrenten des Menschen. So zu argumentieren entspräche einer gesellschaftspolitischen Ethik, die historisch zumindest ungewohnt ist. Allerdings müssten dann ja auch Hund und Katze gebannt werden, denn auch sie sind Omnivore. Eine andere, politische Theorie besagt, dass hinter dem Schweinetabu das Interesse von zentralisierten Machthabern – weltliche wie religiöse – steht, um politische Kontrolle über die Untertanen zu halten, denn das Schwein hat das Potenzial, eine autonome Nahrungsquelle armer Leute zu sein; es lässt sich im Hof verstecken und muss nicht draußen gehütet zu werden.22 Als weitere Begründung wird vereinzelt angeführt, dass die Distanzierung vom Schwein eine Distanzierung von Opferritualen – und damit von heidnischen Praktiken – darstellt, denn in alten Gesellschaften und Ethnien wurden Schweine gerne den heidnischen Göttern als Opfer dargeboten (wahrscheinlich als Ersatz zum Menschenopfer).23
Doch zurück zur Verbreitung des Schweins: Eine systematische Schweinehaltung kam erst mit der industriellen Revolution auf, als es darum ging, die wachsenden Städte mit Fleisch zu versorgen. Die Kreuzung von chinesischen Schweinen mit dem lokalen europäischen Schwein in England Anfang des 20. Jahrhunderts war der Beginn der modernen, weltweiten Schweinezüchtung.24

Der Mensch und sein Sus scrofa

Das enge Zusammenleben von Menschen und Schweinen hat nicht nur das Schwein verändert, sondern auch den Menschen. Die Veränderung der Eigenschaften durch die modernen Schweinerassen ging so weit, dass viele der heute genutzten Rassen für das Überleben in der Wildnis nicht mehr gerüstet wären. Die Tiere, die heute unsere Ställe bevölkern, sind auf die Fürsorge durch den Menschen angewiesen. Umgekehrt mussten sich auch die Schweinehalter an die Bedürfnisse der Tiere anpassen. Sie müssen für ihr Futter sorgen, den Tagesablauf nach ihnen bestimmen, das Fortpflanzungsverhalten der Tiere kontrollieren sowie auf das Wohl und die Gesundheit der Tiere achten. So entstand eine doppelseitige Abhängigkeit voneinander, die sowohl für Zuneigung als auch für gegenseitige Aggressionen sorgte.
Nach dem Psychologen Jürgen Körner ist die Nähe zum Tier gerade deswegen so reizvoll, weil wir zugleich eine Andersartigkeit und Fremdheit spüren, und weil wir ahnen, dass wir hierin etwas von uns selbst wiedererkennen.25 Wir beschimpfen zwar andere Menschen als Schweine, aber wir haben auch unseren eigenen »inneren Schweinehund« und müssen mit diesem zurechtkommen. Für einen solchen Spiegel der eigenen Natur bedarf es einer gewissen Ähnlichkeit und Vertrautheit mit dem Tier, was beim Schwein absolut gegeben ist: Das Schwein ist der einzige Allesfresser unter den Nutztieren des Menschen, es teilt den Verdauungstrakt mit uns, besitzt das gleiche Herz-Kreislauf-System, die gleiche Haut, ein ähnliches Gewicht und weist eine ähnliche Körpergröße auf. Außerdem teilen wir Menschen 90 Prozent unserer genetischen Basispaarketten mit dem Schwein. Im ganz Fremden (also dem Schwein) das Vertraute zu entdecken, aber auch im Vertrauten das Fremdartige zu finden, zeichnet zwei Pole der Tierliebe aus. So bleiben Tiere allgemein, aber Schweine wegen der Ähnlichkeit mit dem Menschen im Besonderen, eine ideale Projektionsfläche: In dem Schwein werden alle möglichen Eigenschaften entdeckt, die der Mensch an sich selbst als fragwürdig oder erschreckend empfindet; dies ist die Grundlage für die Schweineverachtung: die Verachtung von sich selbst. Diejenigen, die nicht vom Schwein leben, vermenschlichen das Schwein eher oder es ist nur als Kotelett von der Speisekarte her bekannt, als Tier aber nicht präsent. Mit Erstaunen nimmt der Städter wahr: »Die Wurst war ja ein Schwein!«
Selbst erfahrenen Schweinezüchtern mangelt es oft an Einsicht in die subtilen Formen des Gemeinschaftslebens ihrer gehaltenen Schweine. Jede Form der Gruppenbildung bei Schweinen ist ein komplexer soziologischer Vorgang. Die Tiere entwickeln automatisch klare Rangfolgen, deren Zustandekommen sich für den Menschen schwer nachvollziehen lässt und die für die Tiere handlungsbestimmend sind. Der Respekt dieser Rangfolge trägt sehr zum Wohlbefinden der Tiere bei. Jede Veränderung der Gruppe durch den Menschen erzeugt Stress, der auch Einfluss auf die Leistungsfähigkeit der Tiere hat. In der Massentierhaltung gehorcht das Mensch-Schwein-Verhältnis vornehmlich den vom Menschen bestimmten ökonomischen Prinzipien, dabei wird auf das Sozialleben der Tiere wenig Rücksicht genommen.
So ist die Beziehung Mensch/Schwein höchst ambivalent und vielfältig. Das Schwein erfährt in der Geschichte – und auch noch heute – in einigen indigenen Kulturen fast so etwas wie den Status von etwas Heiligem, in anderen Kulturen ist es eher Symbol von etwas Profanem und Verabscheuungswürdigem schlechthin, was einer mentalen Lizenz zur Ausbeutung des Tieres gleichkommt. Kein anderes Haustier wurde mit so vielen Aspekten der menschlichen Existenz in Verbindung gebracht. So spaltet das Verhältnis zum Schwein die Gesellschaft: Diejenigen, die vom Schwein leben und es möglichst produktiv und kostengünstig nutzen wollen, und diejenigen, denen die »Mitgeschöpflichkeit« des Tieres am Herzen liegt und das Tier eher kuscheln wollen.
Das Schwein ist in unserer Kultur ungeheuer ambivalent. Auf der einen Seite gilt es in Mitteleuropa seit der Barockzeit als Glücksbringer, als Symbol für Wohlstand: Hinter »Schwein gehabt« stehen beispielsweise die Nützlichkeit, Vermehrungsfreude und schnelle Gewichtszunahme des Schweins, in der Annahme, dass sich seine Produktivität auch auf das Geld und das gesamte Hab und Gut der Halter überträgt. Das Schwein dient außerdem in Form des Sparscheines als Wertbewahrer und -vermehrer.26 Das Sparschwein als Symbol der Sparsamkeit und ökonomischen Vernunft hat eine weltweite Verbreitung gefunden. »Das kostet ein Schweinegeld!« bedeutet, was gut ist, ist auch teuer; jetzt muss das Sparschwein geplündert werden, um es sich zu leisten. Umgekehrt, wenn jemand ein »Schweinegeld verdient«, kommt er zu Reichtum, hat also ein »Schweineglück«.
Zudem wird das Schwein häufig zu einer Art Doppelgänger des Menschen. Die ganze deutsche Sprache ist mit allegorischen Schweinebegriffen und Sprichworten durchsetzt, durch die der Mensch zum Schwein degradiert oder das Schwein vermenschlicht wird. »Jemanden zur Sau machen« ist zum Beispiel eine große Demütigung, weil die Grenzziehung zum Tier überschritten wird.
Auf der anderen Seite ist das Schwein – und noch mehr die Sau – auch mit negativer Konnotation belegt. Die schnelle Gewichtszunahme des Schweins hat dem Schwein nicht nur Sympathien eingebracht, sondern wird ihm gleichzeitig paradoxerweise auch indirekt vorgeworfen. Wegen seiner Gefräßigkeit und Fruchtbarkeit wurde das Schwein auch als Maßstab für körperliche Maßlosigkeit, Wollust und Habgier, und damit zum Schimpfwort der deutschen Sprache schlechthin: »Du Schwein!« Die Sau, die unübertreffliche fruchtbare Gebärmaschine, dient in Bezug auf alle negativen Eigenschaften des Menschen als Steigerungsform: »saudumm«, »saublöd«, »Saukladde« (für eine unleserliche Handschrift), »Saustall« (das unaufgeräumte Kinderzimmer), »Pottsau«, »die Sau rauslassen«, und wenn etwas allgemein ganz schlecht läuft, schiebt man die Schuld auf eine höhere Macht: »Sauerei!«. Das Schwein muss aber auch zur rassistischen oder politischen Abwertung eines Gegners herhalten, wie beispielsweise in den vor allem historisch verbreiteten Ausdrücken »Judensau«, »Saupreußen«, »Nazischwein«, »Schweinesystem«.
Den Menschen zur »Sau zu machen« hat einen mystischen Ursprung, wird aber heute als gängige Floskel negativ gedeutet. Die Metamorphose des Menschen zum Schwein hat so manchen Autor animiert.27 Schon Homer erzählt in seiner Odyssee davon, wie die Zauberin Kirke die Gefährten des Odysseus in lächerliche, quiekende Schweine verwandelt. Die Geschichte von Kirke steht für die Erotisierung des Schweins. Nicht umsonst spricht man auch heute noch von der weiblichen Verführung als »bezirzen« (von Kirke abgeleitet), wobei der Freier seine Zurechnungsfähigkeit verliert. Ausschweifender Sex ist »das Schweinische« par excellence. Die Geschichte Kirkes sagt uns etwas über die Grenzerfahrung eines Menschen in Schweinsgestalt, der seinen menschlichen Verstand behält; aber auch über das Schwein als Mensch, der in tierisches Verhalten verfällt. Die Metamorphose ist in beide Richtungen denkbar, was darauf hinweist, dass das Schwein dem Menschen als wesensverwandt und intellektuelles Gegenüber erscheint. In jedem bezirzten Menschen steckt also ein artverwandtes Schwein.28
Homer bleibt nicht die einzige literarische Bearbeitung eines negativen Bildes vom Schwein. In George Orwells berühmtem antikommunistischem Werk Animal Farm (Farm der Tiere) etwa avanciert der Eber Napoleon zum Diktator auf dem Hof, nachdem sich alle Tiere gemeinsam gegen den Landwirt erhoben und ihn vertrieben hatten. Napoleon, ein mächtiger Fleischkoloss von 300 Kilogramm, reißt rücksichtslos die Herrschaft an sich und bestimmt über alle Tiere des Hofs, so wie das männliche Alphatier in der Wildschweinrotte über alle Frischlinge und Bachen herrscht. Der letzte Satz in George Orwells Parabel lautet: »Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein, und dann wieder von Schwein zu Mensch; doch es war bereits unmöglich zu sagen, wer was war. Das Schwein ist halt auch nur ein Mensch.«29
In der Filmkunst sind fiese Gestalten wie Orwells Napoleon, Kirkes Freier, Mullewapp oder das eberähnliche »Biest« im Film Die Schöne und das Biest weit entfernt von niedlichen Ferkelgestalten wie das Rennschwein Rudi Rüssel, Schweinchen Babe, Peppa Wutz, Miss Piggy oder Schweinchen Dick. Sie sind erfolgreiche Medienstars, die herzerweichend über die Leinwand flimmern und alle denkbaren kindlichen beziehungsweise menschlichen Gefühle auslebten. Miss Piggy aus der Muppet Show, Wilbur und Schweinchen Dick waren Schweineinspirationen der künstlerischen Ausdrucksform. Charlotte, die Freundin von Wilbur dem Eber, bewahrte Wilbur im Roman von E. B. White sogar davor, verwurstet zu werden.
Für Wilhelm Busch ist schon 1870 die enge Mensch-Schwein-Beziehung eine antiklerikale Karikatur wert. Um der erotischen Versuchung durch eine Balletteuse zu entgehen, schickt der Herr dem heiligen Antonius ein Schwein: »Und siehe da! – Aus Waldes Mitten, ein Wildschwein kommt daher geschritten.« Schließlich fahren Asket und Schwein gemeinsam in den Himmel. Maria als Himmelskönigin empfängt die beiden mit den Worten:
»Willkommen! Gehet ein in Frieden!
Hier wird kein Freund vom Freund geschieden.
Es kommt so manches Schaf herein,
Warum nicht auch ein braves Schwein!«30
Trotz der vielen Darstellungen weiß man immer noch nicht recht, was von Schweinen zu halten ist. Dabei ist das Faszinierende zu entdecken, welche außerordentliche Anpassungsfähigkeit, Intelligenz und Geschicklichkeit Hausschweine zu entwickeln vermögen, wenn ihr Lernumfeld stimmt.31 »Schweine bleiben uns Menschen einfach widersprüchlich und geheimnisvoll, geziert und fett, wuchtig und niedlich, stur und schlau. Wir empfinden Zuneigung und Abscheu, Sentimentalität und Schuld.«32
Alle negativen Konnotationen zum Schwein sind auf einmal verschwunden, wenn es um die Gaumenfreuden geht. Zwar lässt der Konsum an Schweinefleisch in unserer übersättigten Gesellschaft ein wenig nach, aber noch immer ist der Schweinebraten am Sonntag mit Kartoffeln, Soße und Gemüse ein Symbol des deutschen Wirtschaftswunders. Das deutsche Gasthaus wirbt zur Einkehr mit dem als Koch verkleideten Schweinekonterfei; wenn das Schwein vor der Tür steht und die Speisekarte hält, dann ist man hier richtig! Was für eine Symbolik versteckt sich hinter dem Schwein mit Kochmütze, das gut gelaunt eine Schlachtplatte präsentiert: »Hier gibt es Leberwurst, Blutwurst, Bauchspeck, Schinken«? »Schwein kocht Schwein«, soll es das aussagen? Das versaute Tier kocht sich selbst und lädt uns Menschen zum kannibalischen Bruder- oder Schwestermahl ein?33 Sinnbild für die »sauleckere« deutsche Küche ist im Ausland immer noch die »Deutsche Wurst« und die »Bayerische Schweinshaxe«. Keine*r lässt sich den Appetit verderben durch das Andenken an das schmutzige und unsittliche Image der lebenden Quelle des Sonntagsbratens. Der Schlachthof ist außer Sichtweite.
Es ist interessant festzustellen, dass in Asien immer ein respektvollerer Umgang mit Schweinen herrschte, und die Beziehung zu dem Tier weniger ambivalent ist als die der Europäer*innen. Schweine galten als Verkörperung des Glücks, der Fruchtbarkeit und des Reichtums, und als besonders ehrliche Tiere. In China beispielsweise gibt es in einem gewissen Turnus immer mal wieder das »Jahr des Schweins«, was zuletzt 2019 der Fall war. Dieses Tierkreiszeichen drückt die Wesensart des Tieres aus, die auch auf alle unter diesem Tierkreiszeichen Geborenen überspringt: Das Schwein ist kein Jäger und mag sich nicht hetzen lassen. Es gilt als wohlwollendes, gutmütiges und gemächliches Tier, als neugierig, wissbegierig und verspielt. Außerdem ist es ein Kenner der Kunst, ein Genießer der kleinen Wonnen und Freuden des Lebens. Es kann sich in Genuss üben und die schönen Dinge des Lebens wertschätzen. Im Zeichen des Schweins stehen die Tugenden: Großzügigkeit, Sanftmut und Lebensfreude. So darf sich ein jeder ausgezeichnet sehen, der im Jahr des Schweins geboren ist.34
Das Schwein wird in Asien also ganz anders wahrgenommen als in Europa, wo das Verhältnis zum Schwein eher als schizophren zu bezeichnen ist, oder in den muslimischen und jüdischen Kulturen, die das Schwein als unrein empfinden. Dies hat das Schwein trotzdem nicht davor bewahrt, dass China Weltmeister in der Industrialisierung der Schweinehaltung und des Schweineverzehrs geworden ist und dass in der heutigen chinesischen Massentierhaltung das Wohl des Tieres nicht mehr geachtet wird als anderswo.

Das Schwein an sich

Was ist es, das Schwein? Kennen wir es überhaupt oder ist es uns egal, wessen Fleisch wir essen, welche Kreatur in unseren Ställen gemästet wird und eventuell fürchterlich leidet? Hat das Tier seine eigene »Würde«, die es bei der Nutzung durch den Menschen zu wahren gilt? Was macht die Würde des Schweins aus?35
Der immer noch nahe Verwandte des rosaroten nackten Hausschweins36, das Wildschwein, erfreut sich in der gesamten Menschheitsgeschichte einer hohen Achtung; der Keiler wird wegen seines Mutes, Flinkheit, Klugheit, Wildheit und Entschlossenheit verehrt. Der Jäger, der ihn erlegt, ist immer noch ein Held. Eine Wildschweinjagd kann ein wahres Abenteuer werden, wenn das flüchtige Tier mit Hunden und zu Pferd über Stunden durch den Busch gehetzt werden muss und alle ihm gestellten Fallen schnell durchschaut.
Doch was haben die Hausschweine noch mit dem Wildschwein gemeinsam? Es herrscht die Meinung vor, dass sich der Charakter des Hausschweins nicht grundsätzlich von dem des Wildschweins unterscheidet. Die Züchtung hat zwar tief in den Körperbau eingegriffen, aber kaum in das Sozialverhalten des Tieres. Die Wildheit und Aggressivität mögen bei modernen Haustierrassen weggezüchtet worden sein, aber viel mehr auch nicht. Deshalb müssen wir bei der Suche nach der »Würde« des Schweins über die des Nutztiers hinausgehen.
Noch immer hat auch das ordinäre Hausschwein eine sehr gute Nase. Schweine haben von Natur aus tausendmal mehr Riechzellen pro Quadratmillimeter als wir Menschen. Mehr als 1.300 Gene sind beim Schwein für die Funktion der verschiedenen Duftsensoren zuständig. Es kann dadurch besser riechen als viele Hunde und findet Essbares bis zu einem halben Meter tief unter der Erdoberfläche.37 Schweine besitzen auch ein vortreffliches Gehör und können selbst eine differenzierte Vielfalt von Lauten hervorbringen. Ihr Gehörsinn ist besonders gut im Bereich von Ultrasound, den wir Menschen nicht mehr hören. Das Hausschwein erkennt außerdem die Stimme seines/seiner Halter*in. Seine Sehfähigkeit allerdings ist nicht überwältigend, sie entspricht der des Menschen, aber Schweine haben einen breiteren Sichtkreis.
Das Schwein hat kognitive Fähigkeiten, ist kreativ, listig und hat einen hochentwickelten Sinn für räumliche Orientierung. So wurde beispielsweise von einer Sau aus Hampshire berichtet, die durch alle möglichen Hindernisse ihren Weg zum Eber fand, und danach auch wieder zurück: Sie erkannte die Öffnungen im Gehege, machte Tore auf und nahm die richtigen Wege auf Anhieb.38 Schweine sind neugierig und überaus lernfähig. Sie sind intelligenter als Hunde, aber niemals dem Menschen gegenüber unterwürfig. Des Weiteren besitzen sie einen ausgeprägten Eigensinn. Das Schwein schaut dem Menschen direkt ins Auge, es hat eine eigene Identität. Schweine werden also verkannt und zu Unrecht geschmäht und missachtet.
Zur Fruchtbarkeit des Hausschweins – einige Daten
Ihre Zuchtreife erreichen die weiblichen Tiere mit 7 bis 12 Monaten, während die Eber bereits mit 6 bis 7 Monaten zeugungsfähig sind. Hausschweine können das ganze Jahr über trächtig werden. Der Höhepunkt der Rauschezeit einer Sau hält rund 12 bis 24 Stunden an, in dieser Zeit muss sie gedeckt sein, wenn sie trächtig werden soll. Die Trächtigkeitsdauer beträgt 16 bis 17 Wochen. Das Schwein gebiert mehrere Ferkel pro Wurf; im Durchschnitt sind es heute 12 Ferkel, selten auch über 20 Ferkel, wobei die Sau zwei- bis viermal im Jahr werfen kann, vorausgesetzt sie und die Ferkel finden optimale Verhältnisse vor (gutes Futter, Wärme für die Neugeborenen, ein ungestresstes Muttertier). Das heißt, eine »gute« Muttersau bringt rund 30 Ferkel pro Jahr zur Welt; nicht alle überleben allerdings.
Eine Sau hat zwischen 12 und 16 Zitzen. Ein Ferkel nutzt nur seine »Stammzitze«, hier darf kein anderes ran. Die Saugferkel werden nach 21 bis 28 Tagen »abgesetzt«. Sie werden nun »Aufzuchtferkel« genannt, werden von der Muttersau getrennt und kommen in den Aufzuchtstall. Dort bleiben sie bis zu einem Gewicht von 25 bis 30 Kilogramm. Anschließend werden sie wieder umgestallt und kommen als Mastläufer in die Mastbetriebe. In diesem Alter sind die Ferkel auch »marktgängig«, das bedeutet, sie werden von spezialisierten Ferkelerzeugern an spezialisierte Mastbetriebe verkauft. Nach rund 4 Monaten in der Mast, also im Alter von 5 bis 6 Monaten und einem Gewicht von etwa 115 Kilogramm, sind sie schlachtreif. Das setzt gute Mastbedingungen voraus. Die natürliche Lebensdauer eines Schweins liegt bei 12 bis 15 Jahren. Die 27 Millionen Mastschweine in den modernen deutschen Mastanlagen werden also niemals älter als Teenager. Maximal 3 Jahre wird eine Muttersau ab dem ersten Wurf zur Ferkelerzeugung gehalten, bevor ihre Fruchtbarkeit nachlässt und sie geschlachtet wird. Dann hat sie je nach Rasse rund 60 bis 90 Ferkel in die Welt gesetzt.
Nach Michael Pollans tiefgreifender Analyse »Das Omnivoren-Dilemma« teilen wir mit dem Schwein – wie mit allen anderen Allesfressern – mehr, als man vermuten würde. Denn Allesfresser haben zum einen die Flexibilität, sich in fast allen Habitaten eine Existenzgrundlage aufzubauen, das heißt, sie können sich weltweit ausbreiten, und zum anderen brauchen sie eine enorme Begabung um herauszufinden, was für sie essbar ist und was nicht. Omnivoren brauchen daher ein gutes Gedächtnis, um diesen Befund als eine lebenslange Abneigung oder Zuneigung von bestimmten Substanzen zu speichern.39 Die gute Ernährung von Omnivoren liegt also weniger im Gedärm als im Gedächtnis. Zur Überprüfung der Selektion von denkbaren Nahrungsquellen sind besondere sensorische und kognitive Fähigkeiten nötig. Wegen dieser Ähnlichkeit waren Menschen und Schweine sich jahrtausendelang recht nahe. Erst in den letzten Jahrzehnten sind wir einander fremd geworden, weil der Mensch die Schweine in eine abgeriegelte, auf höchste Effizienz getrimmte Parallelwelt abgeschoben hat, in der nicht mehr das Tier selbst wählt, was essbar und nahrhaft ist, sondern die Computerprogramme der Mischfutterwerke. Bei der Stallfütterung nimmt das Mastschwein seine Tagesration in 5 Minuten auf und langweilt sich die restliche Zeit zu Tode; das freilaufende Tier dagegen verbraucht 70 Prozent seiner Zeit für die Futtersuche.
Schweine leben gerne in der Rotte, sie lieben die kleine Gruppe von acht bis zwölf Schweinen, in der jedes das andere kennt und respektiert und eine relativ stabile Rangordnung besteht. Sie sind sehr sozial, kommunikativ und haben angenehme Verhaltensweisen. In der freien Natur leben Wildschweine in Rotten von verwandten Muttertieren mit ihrem Nachwuchs. Sie sind matriarchalisch organisiert und halten im Familienverbund eng zusammen bis zum Erwachsensein.40 An der Spitze der Rotte steht die erfahrene »Leitbache«, hinter der eine dominante »Beibache« als Stellvertreterin steht. Die Keiler sind eher Einzelgänger, die nur zeitweise den Rotten beitreten. Zur Brunstzeit im Herbst kämpfen sie um die Bache.
Zur Futterverwertung und Fütterung