Pilger und Hospitaleros -  - E-Book

Pilger und Hospitaleros E-Book

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Beschreibung

Wieso gehen Pilger rückwärts einen Berg hinunter? Warum trägt eine amerikanische Pilgerin Kinder-Söckchen in ihren schweren Wanderstiefeln? Was machen Glasperlen in einem Pilgerrucksack? Und wie kam eine schwäbische Glocke in den Turm der St. Andres-Kirche in La Faba? Seit fast 20 Jahren finden Pilger auf dem Jakobsweg einen Platz in der Herberge von La Faba, rund 160 Kilometer entfernt von Santiago de Compostela. Der Stuttgarter Verein Vltreia e.V., der diese Herberge betreibt, hat Pilger und Hospitaleros nach ihren Erlebnissen gefragt - in La Faba und auf dem Camino Frances, aber auch auf all den anderen Jakobswegen Europas. Herausgekommen ist ein Buch mit Begegnungen, die uns die Vielfalt des Pilgerns zeigen. Und die uns oft genug daran erinnern: Wunder können uns überall begegnen, wenn wir bereit sind, uns ihnen zu öffnen.

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Singende Steine

Anton Theiner

Welch Zauber

In Santiago!

Wo bunter Klang

Der Pilgerschritte

Am Platz der Silberschmiede …

So tief mich bewegte!

Welch Zauber

Im Park

Von Corrubedo!

Wo auf den mächtigen Steinen

Ich ruhte ... die mich trugen

Sanft in süße Lethargie!

Wie einstens

Den heiligen Ero wiegte

In himmlischen Schlaf

Mit lieblichen Weisen …

Das kleine Vögelchen

Von Armenteira.

Seid ihr es vielleicht,

Singende Steine

Galiciens …

In denen mein Sinnen,

Mein Sehnen

Immer wieder ruh’n?

Inhalt

Vorwort

Der spanische Medico

(

Heike Auel)

Agua potable

(

Rita van Drunen)

Das besondere Konzert

(

Roland Kuret)

Bienvenida! Ultreia! Buen Camino!

(

Elisabeth Bognár)

Camino in Bildern

(

Almut Holtmann-Bélard)

Drei Begegnungen aus der Vergangenheit

(

anonym)

Engel, gibt’s die wirklich?

(

Waltraud van Altena-Höffken)

Das erlebte Geschenk

(

Roland Kuret)

Der erste Eindruck kann täuschen

(

Aurelia Zimmermann)

Erster Morgen

(

Jens Thiele)

Die Fahrt auf der Baggerschaufel

(

Waltraud van Altena-Höffken)

Fensterfront

(

Franz Hanßler)

Fußbad im Brunnen

(

Uwe Wingerning)

Glasperlen im Rucksack

(

Anita Heck)

Himmlische Schuhe

(

Marieluise Eder)

Impulse

(

Francisco Javier Castro Miramontes)

Internationale Fußtätigkeit

(

Ellen Zierott)

Kleine blaue Schmetterlinge

(

anonym)

»Lieber Gott, hilf Pascal!«

(

Rita Wittenbreder)

Lost in France

(

Christel Neumann)

Merkwürdige Zufälle

(

Roland Kuret)

Meine Camino-Wunder

(

Frauke Keßner)

Morgentliches Wecken

(

Roland Kuret)

Eine Nacht in Belorado

(

Anton Theiner)

Das Pilgerlied

(

Ellen Zierott)

Pilgern light

(

Ellen Zierott)

Polnische Überraschung

(

Ellen Zierott)

Eine Reise mit unvergesslichen Folgen

(

Steffi Wagner)

Der richtige Camino

(

Roland Kuret)

Sie liebt mich, sie liebt mich nicht

(

Monika Krüger-Stahl)

Der Stiefel

(

Almut Holtmann-Bélard)

Die Treppe zum Himmel (Stairway to Heaven)

(

Sebastian Strob)

Ubi Caritas et Amor

(

Rita Wittenbreder)

Ungewöhnlicher Pilger-Ratschlag

(

Roland Kuret)

Ungewöhnliches Pilgergepäck

(

Roland Kuret)

Ein unvergessliches Frühstück

(

Ursula Heinrichs)

Vertrauen

(

Ellen Zierott)

La Vida Feliz

(

Monika Krüger-Stahl)

Von halbherzig nach Santiago

(

Aurelia Zimmermann)

Ein WUNDERbares Dankeschön

(

Rita Wittenbreder)

Eine Glocke für La Faba

(

Sabine Thomsen)

Die Vltreia e.V.-Geschichte – wie alles begann

(

Roland Kuret)

Die Caminos

(

Rita van Drunen)

Dank

Glossar

Vorwort

W er schreibt mit an einem Camino-Buch? Mit diesem Aufruf starteten wir, der Verein Vltreia e.V. Stuttgart, im vergangenen Jahr in unserem INFO-Brief das von Aurelia Zimmermann initiierte Projekt. Sicher wunderten sich einige zunächst über diese Initiative, es gibt doch schon viel zu viel Literatur zu diesem Thema! Warum also noch ein weiteres Buch?

Ich denke, weil es viele persönliche Pilger- und Hospitalero-Geschichten gibt, die nicht in Vergessenheit geraten sollten; unsere Geschichten: traurige, berührende, nachdenkliche, lustige, unglaubliche, …

Viele von uns, und da schließe ich mich besonders mit ein, hatten vermutlich wenig Erfahrung mit dem Verfassen von Geschichten. Um das Schreiben für ein Buch zu erleichtern, bot der Verein professionelle Unterstützung an. Die Autorin Heike Auel begleitete nach Wunsch die Pilgerinnen und Pilger bei der individuellen Erstellung ihrer Geschichten. Zudem fand ein virtueller Schreib-Workshop unter ihrer Leitung statt mit Themen wie ›Schreiben und Veröffentlichen‹ oder ›lebendig schreiben, um den Leser zu fesseln‹. Dank ihrer fachfraulichen Unterstützung finden ›besondere‹ Geschichten den Weg an die Öffentlichkeit.

Einigen von uns verlangte es eine gehörige Portion Überwindung ab, mit dem Schreiben zu beginnen. Ich weiß, worüber ich hier spreche. Aber das Resultat, das Buch, das nun vor Ihnen liegt, war es doch wert.

Mein Dank gilt daher den vielen Autorinnen und Autoren, die uns ihre oft sehr persönlichen Begegnungen auf dem Camino authentisch schildern.

In besonderem Maße danke ich unserer Initiatorin des Projekts, Aurelia Zimmermann, ohne deren Einsatz dieses Vorhaben nicht realisierbar gewesen wäre.

Im Interesse der Lesbarkeit haben wir in dieser Veröffentlichung auf geschlechtsbezogene Formulierungen verzichtet. Selbstverständlich sind immer Frauen und Männer gemeint, auch wenn explizit nur eines der Geschlechter genannt wird.

Ich wünsche allen Lesern emotionale Unterhaltung mit unseren Geschichten bei einer gedanklichen Pilgerschaft auf dem Jakobsweg. Buen Camino!

Roland Kuret Vorsitzender Vltreia e.V. Juni 2021

Der spanische Medico

Heike Auel

Die folgende Geschichte ist fiktiv, sie entstand nur in meinem Kopf. Aber sie wurde inspiriert von den Erzählungen einer Freundin, die bereits viele Kilometer auf dem Jakobsweg gewandert ist. Und wer weiß, vielleicht ist sie ja tatsächlich irgendwann irgendwem passiert und ich bin nur das Sprachrohr? Es könnte schon sein, denn eines habe ich gelernt bei der Arbeit zu diesem Buch: Auf dem Jakobsweg ist nichts unmöglich!

M anchmal denke ich, ich habe das alles gar nicht erlebt. Ich war niemals bei jenem Arzt, fast besinnungslos vor Fieber und Schmerzen.

Und doch war es genauso, wie ich es hier erzähle. Es war auf einer Wanderung, in Spanien, genauer gesagt, irgendwo in den Hügeln südlich von Santiago de Compostela. Nein, nicht auf DEM Pilgerpfad, dem großen Jakobsweg, der damals mehr oder weniger eine Pilgerautobahn geworden war – spätestens seit Hape Kerkeling unbedingt dort herumlaufen musste. Was nicht so schlimm gewesen wäre – hätte er es einfach für sich behalten und kein Buch darüber geschrieben.

Denn in der Folge musste jeder, der etwas auf sich hielt, dort ebenfalls wandern. In jener Zeit war der Weg nichts mehr für Pilger, die die Einsamkeit suchten.

In jener Zeit war der Weg auch nichts mehr für mich, weswegen ich auswich bei meinen ausgedehnten Wanderungen in die Einsamkeit – auf die zahllosen Wege, die zum Jakobsweg führen, weniger bekannt sind, weniger gut ausgestattet, aber die mir genau das gaben, was ich mir im Urlaub ersehnte: absolute Ruhe, Einsamkeit und das echte einfache Leben.

Spanisch sprach ich damals nicht, obwohl ich mir jedes Jahr wieder vorgenommen hatte, damit anzufangen. Es würde so manches erleichtern.

In jenem Jahr war ich überstürzt aufgebrochen (der Job, Sie verstehen), die Wanderschuhe waren brandneu. Die alten hatten sich zum Schluss arg offenherzig gezeigt und irreparabel von ihren Sohlen getrennt. Ja, ich weiß: Wandere niemals mit neuen Schuhen. Aber das gilt natürlich nur für Anfänger, wissen Sie. Wer, wie ich, nur drei Wochen Zeit hat für die Erholung, der kann nicht wählerisch sein.

Also wanderte ich frohgemut los. Die Blasen nach dem ersten Tag waren schmerzhaft. Aber ich hatte genug Salbe dabei, ein Kamillenkonzentrat zum Waschen, Verbandszeug. Ich sagte mir, dass es nur noch kurz dauern würde, bis meine zarten Füße sich wieder an die Belastung gewöhnt hätten.

Am zweiten Tag wurde es noch schlimmer, ich tat, was man nicht tun soll: Ich stach die Blasen auf, packte Salbe drauf und einen Verband.

Nach fast fünf Tagen schmerzte jeder Schritt, und meine Füße sahen aus wie eine Kraterlandschaft: fast verheilte Blasen dicht an dicht mit neuen. Je mehr ich Verbandszeug nutzte, desto enger wurden die Schuhe, jeden Tag wurden andere Hautstellen malträtiert. Echte Sorgen machte mir eine ziemlich große Blase am rechten inneren Knöchel, die nicht nur täglich größer wurde, sondern auch blutgefüllt war.

Kurz überlegte ich, meinen Füßen einen Ruhetag zu gönnen. Aber ich hatte wieder mal viel zu wenig Zeit für echte Entschleunigung. Der Job, Sie wissen schon. Also Zähne zusammengebissen und weiter.

Nach zwei weiteren Tagen wurde mir klar, dass ich etwas unternehmen musste. Ich fühlte mich schwächer als normal, und die ehemals blutgefüllte Blase war inzwischen groß wie ein Hühnerei, gelblich prall gefüllt und sonderte eine Flüssigkeit ab, die genauer zu betrachten oder zu beschnuppern ich mich einfach weigerte. Schnüren konnte ich meinen rechten Schuh kaum noch, der ganze Knöchel war geschwollen.

Ich hatte in den letzten zwei Tagen keinen einzigen Pilger gesehen, übernachtet hatte ich in den einfachen Hütten, die ohne Bewirtschaftung am Wegrand standen. Der letzte Ort lag fast dreißig Kilometer zurück, eine Stunde mit dem Auto, allerdings mindestens ein ganzer Tag zu Fuß – vorausgesetzt, man ist fit. Was ich definitiv nicht war. Voraus sah es nicht viel anders aus.

Einen weiteren Tag schleppte ich mich auf dem Weg weiter. Am Abend konnte ich nicht mehr ignorieren, dass ich Fieber hatte. Mein Kopf und das rechte Bein schmerzten bei jedem Schritt. Mein Mobiltelefon zeigte wie üblich keinen Empfang. Und selbst wenn, hätte ich gar nicht gewusst, wen ich anrufen sollte. Ich brauchte Penizillin – dringend! Und einen Arzt. Nur, dass es den vermutlich in 50 bis100 Kilometern Umkreis gar nicht gab. Also stolperte ich nach einer unruhigen Nacht, nach der es mir eher schlechter als besser ging, weiter, in der Hoffnung auf ein Wunder.

In der Mittagszeit querte der Wanderpfad einen halbwegs befestigten Weg. Und dort, in vielleicht 300 Metern Entfernung, tauchte das Wunder auf. Es kam in Gestalt eines Mannes mit seinem Esel und einem Karren, unter einem einzelnen Olivenbaum. Trotz meines geschwächten Zustandes sah der Mann, und vor allem der Esel, zu realistisch aus für einen Fiebertraum.

Also verließ ich den Wanderpfad und trat aus dem schattigen Weg in die Sonne. In der gleißenden Mittagshitze flimmerte die Luft, der spanische Bauer hatte sich gerade unter dem Baum zur Siesta zurückgezogen. Ziegen grasten auf dem kargen Feld.

Ich wankte auf ihn zu, die Sonnenstrahlen wirkten wie Messerstiche in meinem Kopf. Humpelnd kam ich näher, verzweifelt nach Worten ringend. Meine Kehle war ausgedörrt, denn auch das Wasser hatte nicht gereicht – war ich die letzten Tage doch gerade mal zehn Kilometer pro Tag weitergekommen statt wie üblich dreißig.

Als ich näherkam, starrte der Bauer mich neugierig an. Spanisch konnte ich nicht, und so stammelte ich nur »Wasser – agua«. Und »doctore – medico«, in der Hoffnung, dass diese Wörter universell genug waren.

Was danach geschah, nahm ich nur schemenhaft wahr. Der Mann reichte mir eine Flasche, ich schmeckte Wasser. Kurz entstand in meinem Kopf das Bild von Bakterien, aber der Gedanke reizte mich fast zum Lachen – was sollten mir die jetzt noch tun? Ich trank, der Mann stützte mich, als ich stolperte.

Irgendwann spürte ich, dass ich auf dem Karren lag. Endloses Schaukeln und Rattern und Stoßen, es roch streng nach Ziegen. Ich schloss die Augen, dankbar, nicht mehr gehen zu müssen.

Wieviel Zeit verging, weiß ich nicht. Das Schaukeln hörte auf, jemand beugte sich über mich, ich hörte eine Stimme – spanisch, vermutlich. Ich öffnete die Augen. Ein bärtiger Mann beugte sich über mich. Ob ich schon im Himmel war? Ein stechender Schmerz im Fuß zeigte mir, dass ich noch lebte. Kurz danach etwas Kühles auf meinem Arm, ein Stich – dann wieder Schwärze.

Als ich aufwachte, lag ich in einem Bett, geblümte Tapeten an den Wänden, dunkles Holz, duftendes Bettzeug.

Eine alte Señora brachte mir etwas zu essen, sie nickte, als sie sah, dass ich wach war.

»Medico, muy bien!« Lächelnd sah sie auf mich herab.

Mein Fuß war sauber verbunden, der bärtige Mann kam vorbei, wortlos wechselte er den Verband, strich eine Salbe auf den Schnitt, den er anscheinend gesetzt hatte, um die Eiterbeule zu entfernen. Das Penizillin tat sein Übriges. Der Mann mit dem Karren hatte mich wohl in den nächsten Ort gebracht, einen Arzt gefunden und auch noch für eine Pflegerin gesorgt.

Zwei Tage verbrachte ich dort, dann war ich kräftig genug, um weiterzuziehen.

Als ich die Señora nach dem Doktor fragte, um die Behandlung zu bezahlen, zuckte sie mit den Achseln. Ich insistierte, doch sie schüttelte nur den Kopf. Schließlich kritzelte sie etwas auf ein schmutziges Stück Papier. Lesen konnte ich es nicht, das Einzige, was ich erkennen konnte, war ein fast unleserliches ›Medico‹ mit einem mir unbekannten Zusatz, sowie ein Ortsname, an den ich mich vage aus meinen Reisevorbereitungen erinnerte. Ich wollte nachfragen, aber für eine weitere Unterhaltung reichte mein Spanisch nicht aus.

Schließlich hinterließ ich ihr einen Umschlag mit etwas Geld für den Doktor, und einen weiteren für sie selbst.

Der Ort, zu dem mich der Bauer gefahren hatte, war tatsächlich nur eine Ansammlung von ein paar einfachen Hütten und Hunderten von Ziegen. Erstaunlich, dass es hier einen Arzt gegeben hatte. Ich hatte überlebt, und je länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde mir, dass mein Schutzengel äußerst aktiv gewesen war in den letzten Tagen.

Der Bauer mit seinem Karren brachte mich noch zur nächsten Ortschaft, von dort fand ich einen Bus, mit dem ich wieder zurückfahren konnte in die Zivilisation.

Auch wenn im Laufe der Jahre die Details meiner vielen Wanderungen verschwammen, nie vergaß ich den kleinen Ort in den Hügeln. Ich empfand tiefe Dankbarkeit für die mir unbekannten Spanier, denen ich nicht einmal in ihrer Sprache hatte »Danke« sagen können. Das wollte ich nachholen, und so begann ich, kaum zurück in Deutschland, Spanisch zu lernen.

Drei Jahre lang übte ich jeden Tag; statt Wanderungen auf dem Jakobsweg machte ich Sprachreisen, wie besessen war ich von der Idee, zurückzugehen und mich persönlich zu bedanken. Und das sollte mehr sein als ein mühsam formuliertes »gracias«.

Schließlich, an einem sonnigen, aber noch kühlen Frühlingsmorgen, fuhr ich über einsame Straßen in das kleine Bergdorf. Bald fand ich das Haus, in dem ich zwei Tage verbracht hatte. Die alte Señora erinnerte sich sofort an mich, sie lachte mich zahnlos an, ergriff meine Hand und streichelte sie wieder und wieder.

An diesem Abend erfuhr ich alles über den kleinen Ort, dass die vielen Ziegen, die ich gesehen hatte, die Lebensgrundlage dort waren. Die Menschen lebten völlig zurückgezogen. Kein Arzt, keine staatliche Hilfe, hier war jeder für sich selbst verantwortlich. Junge Leute gab es kaum, und wenn jemand krank wurde, dann half die Señora, so gut sie konnte. Nur ein einziges Mal im Jahr, so verstand ich, kam ein Arzt aus der Stadt. Welch unglaubliches Glück ich gehabt hatte.

»Und er behandelt dann alle im Dorf?«, fragte ich die Señora.

»Behandeln? Wie meinen Sie das?« Die Señora sah mich fragend an. Dann fuhr sie fort: »Er impft alle Jungtiere, die in dem Jahr geboren wurden. Er ist wirklich ein sehr guter Tierarzt, Sie hatten Glück, dass er damals hier war.«

Agua potable

Rita van Drunen

Es ist mein erster Pilgersommer in 1998. Die Hitze flirrt über dem Asphalt, als ich nach Ponferrada gehe. Vor mehr als drei Wochen bin ich in St. Jean-Pied-de-Port losgegangen, mit dem Ziel Santiago de Compostela. Ich wollte mich in dieses Abenteuer treiben lassen, ohne umfassendes Planen. Dieses neue Unterwegssein wollte ich unvoreingenommen auskosten. Meine körperliche Kondition war gut und ich war mir sicher, die lange Strecke von ungefähr 800 Kilometern zu bewältigen.

Morgens schwamm ich auf der Welle der Pilger mit, die schon vor Sonnenaufgang ihre Stiefel schnürten und sich in der Dämmerung – oftmals mit Stirnlampen – auf den Weg machten, um der gnadenlosen Mittagshitze zuvorzukommen. Ich traf die unterschiedlichsten Menschen: Einheimische, die mich mitten auf der Straße umarmten, mir einen »Buen Camino« wünschten und mir das Versprechen abnahmen, in der Kathedrale von Santiago für sie zu beten. Oder Pilger, denen zuhause die Last auf ihren Herzen so schwer geworden war, dass sie den einzigen Ausweg im meditativen Gehen sahen.

Abends in den Herbergen wurde ohne Scheu über all die Beweggründe gesprochen, die zur ›Option Camino‹ führten. Diese Offenheit von ›fremden‹ Menschen war für mich faszinierend und neu und wurde für mich zu einem wichtigen Bestandteil des Pilgerns.

In der Herberge von Villar de Mazarife, unweit von León, war es anders. Gleich nach dem Einchecken bemerkte ich im ersten Raum nahe der Eingangstür zwei Uniformierte, wie sie mit ihren Armee-Rucksäcken und olivfarbenen Schlafsäcken hantierten. Sie schienen keinen Wert auf Kontakt zu anderen Pilgern zu legen. Der mehrfach ausgesprochene Gruß »buenas tardes« blieb ohne Erwiderung. Auch beim Pilger-Abendessen in der Dorfkneipe ließen sie sich nicht sehen. Man tuschelte über die ›merkwürdigen Gestalten‹, der Begriff ›Légion étrangère‹ fiel. Die abenteuerlichsten Geschichten wurden den beiden im Laufe des Abends zugeschrieben.

Als wir zurück zur Herberge kamen, waren sie noch wach, sie saßen am Boden auf ihren Schlafsäcken und redeten leise miteinander. Keiner von uns sprach sie an. Es schien, als hätten wir eine Festlegung getroffen: Mit vertrauten Mustern im Kopf steckten wir sie mühelos in ihre ›Schublade‹. Wir wollten uns abgrenzen, da wir ja die guten, die ›richtigen‹ Pilger waren.

Auf vielen Strecken überhäuften mich meine Mitpilger mit gutmeinenden Ratschlägen. Schon in den Pyrenäen wurde mir gezeigt, wie man Wanderstiefel optimal verknotet, sodass diese Prozedur nicht alle paar Kilometer von neuem beginnen musste. Einmal bekam ich die Wegbeschreibung zur nächsten Poststelle, von wo aus ich in passenden Kartons überflüssige Kleidungsstücke nach Hause schicken könnte.

Um noch mehr Rucksackgewicht zu sparen, hielt ich mich eisern an den folgenden Rat: »An jedem Brunnen am Wegesrand mit dem Hinweis ›agua potable‹ kannst du problemlos deine Wasserflaschen füllen, Trinkwasser-Qualität ist garantiert.«

Was ich auch am Tag meiner Ankunft in Ponferrada ausgiebig tat.

Und jetzt das.

Total erschöpft treffe ich in der Herberge ein, erfrische mich kurz und krieche sofort in meinen Schlafsack. Ich verspüre keinerlei Hunger und auch nicht die Vorfreude, an dem mittlerweile liebgewonnen Ritual teilzunehmen, mit anderen Pilgern zusammen zu sitzen, sich auszutauschen und den Tag Revue passieren zu lassen. Ich will nur noch schlafen.

Nach traumloser Nacht wache ich schweißgebadet auf. Mein Kopf hämmert. Habe ich Fieber? Es kostet mich Mühe aufzustehen. Wie in Zeitlupe packe ich meinen Rucksack, gehe nach draußen. Pilger, die mit mir in der Herberge genächtigt haben, sind schon über alle Berge. Will ich das heutige Etappenziel Villafranca del Bierzo erreichen, muss ich versuchen, meine zunehmenden Kopfschmerzen zu ignorieren, um schnell in meinen gewohnten Laufrhythmus zu finden. Nur hin und wieder gönne ich mir eine kurze Pause im Schatten, unter einem Baum oder einem Dachvorsprung in den zu durchquerenden Dörfern.

Nach endlos scheinenden Kilometern schleppe ich mich mit letzter Energie in die Stadt. Pilgerunterkünfte sind dem seit Wochen anhaltenden Ansturm nicht mehr gewachsen. Die Stadtverwaltung von Villafranca bietet den Pilgern die Alternative, auf einem Sportgelände am Stadtrand in einem der bereitgestellten Viermannzelte zu übernachten. Ich nehme dieses Angebot dankend an. Mich in meinem jetzigen Zustand in einer überfüllten Herberge aufzuhalten, ist undenkbar.

Die Zelte haben auf dem schattenlosen Platz die Hitze des Tages gespeichert. Beim Öffnen des Reißverschlusses an meinem Zelt schlägt mir stickige, abgestandene Luft entgegen. Notgedrungen muss ich warten, bis der Abend Kühlung verschafft und ich mich dann vielleicht besser fühle. Ich sollte die Zeit nutzen, um etwas zu essen und vor allem zu trinken. Lustlos schlendere ich in Richtung Stadtzentrum. Vor den Restaurants herrscht reges Treiben. Auf beiden Seiten der Straßen sitzen gut gelaunte Pilger über ihren Menüs, plaudern, lachen. Einige, die ich von den zurückliegenden Etappen her kenne, winken mir zu, ich solle mich doch zu ihnen setzen. Mir wird zunehmend übel. Die schattenlosen Häuserfronten, der glühende Asphalt, der Lärmpegel, der Geruch nach Essen in der engen Straße …

Dann passiert es.

Es würgt mich, ich presse die Hand vor den Mund und schaffe es gerade noch durch die Tür in die nächste Bar. Die Kellnerin schaut mich mitleidig und verständnisvoll an, wie ich zur Toilette renne. Wieder draußen ist mir klar, dass jetzt jeder an den Tischen weiß, was passiert ist. Ich traue mich nicht aufzuschauen, kann gerade noch ein »sorry« stammeln und mache mich auf dem schnellsten Weg zurück zum Zeltplatz.

In der Nacht muss ich mehrmals vom Zelt zum WC Container gehen, da jegliche Flüssigkeit, die ich noch in mir habe, sich von mir zu verabschieden scheint. Mein Kreislauf spielt verrückt. Kurz vor meinem Zelt werde ich ohnmächtig. Ein Pilger vom Nachbarzelt bekommt das mit, richtet mich auf und lässt mich nicht mehr aus den Augen. Halbstündlich kocht er Schwarztee und wacht besorgt darüber, dass ich ihn auch trinke.

Langsam kommt etwas von meiner Energie zurück. Nachdem die anderen Pilger schon weitergezogen sind, packe ich meine Sachen und gehe langsam vom Zeltplatz. Die Morgenluft tut gut. Ich nehme mir vor, nur bis zum nächsten Ort zu gehen, dort ein Hostal zu suchen und solange zu bleiben, bis ich mich wieder fit genug fühle, um weiter zu pilgern.

Wie ich so die Landstraße entlang schlendere und mit mir hadere, ob ich nicht doch besser zum Zeltplatz zurückgehen soll, sehe ich in der Ferne zwei Personen am Weg stehen. Vermutlich Einheimische bei einem Schwätzchen. Beim näher kommen erkenne ich sie: Es sind diese beiden ›Fremdenlegionäre‹, die ich einige Tage zuvor in der Herberge von Villar de Mazarife gesehen hatte.

Ich gehe weiter in Richtung der beiden Soldaten. Sie scheinen auf mich zu warten. Beim näher kommen fragt der eine auf Französisch:

»Geht es dir denn besser?« Er klingt besorgt. »Wir haben deine ›Aktion‹ gestern mitbekommen. Mein Freund hier hat dasselbe Desaster auch schon erlebt. Deshalb können wir gut nachempfinden, was dies auf einem Pilgerweg bedeutet.«

Ich bin baff. Er fährt fort:

»Brunnenwasser, das in dieser Hitze schnell verkeimt, ist wohl die Ursache deiner Misere. Warte, ich hab’ was für dich.«

Er fängt an, seinen Rucksack komplett auszuräumen. Am Straßenrand! Die beiden überraschen mich mit einer unerwarteten Offenheit. Sie erzählen von ihren mentalen Schwächen auf dem Camino, von ihrer Sorge um ihre Familien, die sie jetzt, in all den Wochen, die sie schon unterwegs sind, nur hin und wieder telefonisch kontaktieren konnten. Von körperlichen Grenzerfahrungen, von der Schwierigkeit, sich jeden neuen Tag auf einen anderen Ort und andere, fremde Menschen einzulassen. Von Erfahrungen auf dem Camino, die sie staunen ließen und demütig machten. Er kramt ein Behältnis mit Tabletten hervor und legt mir ein paar davon in die Hand.

»Die helfen gut!«, meint er. Mit vielen Ratschlägen, wie ich mich in den nächsten Tagen verhalten soll, und mit guten Wünschen für schnelle Besserung verabschieden sie sich.

Dass mir aus diesem Bereich Hilfe zuteil wird, irritiert mich. In meiner Gedankenwelt hatte ich rigoros Menschen, die beim Militär in Lohn und Brot stehen, keinen positiven Platz eingeräumt. In der Herberge in Villar de Mazarife war mir nicht bewusst, dass in jedem von uns etwas ist, das uns verbindet.

Mitgefühl, Fürsorge, Verantwortung.

Das besondere Konzert

Roland Kuret

I m Spätsommer waren meine Frau und ich wieder zu einem Hospitalero-Einsatz nach La Faba aufgebrochen. Erwartungsvoll empfingen uns die Vorgänger in der Herberge. Nach herzlicher Begrüßung und der obligatorischen Übergabe traten wir am nächsten Tag unseren Dienst an. Wie in den Vorjahren gestaltete sich die Arbeit mit den Pilgern außergewöhnlich erfüllend.

So vergingen die ersten Tage, als sich ein junges Pilgerpärchen aus Peru in der Herberge anmeldete. Sie waren uns auf den ersten Blick sympathisch. Nachdem sie sich eingerichtet hatten, kamen sie zu mir in die Pilgerküche, um sich nach den Einkehrmöglichkeiten im Dorf zu erkundigen. Dabei entdeckten sie die Herbergsgitarre hoch oben auf dem Ablageboard. Neugierig fragten sie:

La Faba

»Dürfen wir die Gitarre mit in die Bar nehmen?«

Ich witzelte und antwortete: »Aber nur, wenn ihr nach eurer Rückkehr ein Ständchen für uns spielt.«

Sie stimmten erfreut zu und machten sich auf den Weg zum Pilgermenü in die Bar.

Mittlerweile war es Abend geworden. Einige Pilger saßen noch in der Pilgerküche beim Abendbrot, andere waren bereits in ihren Betten verschwunden.

Als das Pilgerpärchen wieder erschien, erkundigte ich mich nach ihrem Barbesuch und erinnerte sie, halb im Spaß, an ihr Versprechen. Sie setzten sich zu uns, sie schlossen ihre Augen und sangen mit Hingabe ein Lied aus ihrer Heimat.

Erstaunt sahen sich alle Anwesenden an und applaudierten stürmisch. Ihr Gesang drang tief in unser Innerstes. Da sie in ihrer Muttersprache gesungen hatten, schilderte die Frau auf Englisch die Bedeutung des Textes. Ein Lied folgte dem anderen. Alle hörten gebannt zu.

Die Lieder handelten von Themen wie Mutter Erde, Kriegen auf der Welt, Kindern in Armut und anderem mehr. Inzwischen hatte sich immer wieder leise die Tür zur Pilgerküche geöffnet. Angelockt von der Musik waren weitere Pilger teils in Nachtbekleidung zu uns gestoßen. Die Pilgerküche hatte sich zu einem kleinen Konzertsaal gefüllt, alle lauschten ergriffen dem Gesang unseres Pilgerpärchens aus Peru.

Nach etwa einer Stunde sagten beide sichtlich erschöpft das letzte Lied an. Der anschließende Applaus wollte nicht enden. Die Nachtruhe nahte und es wurde Zeit für uns, die Küche für den nächsten Morgen herzurichten. Das Pärchen umarmte uns für die Gastfreundlichkeit. Als kleines Geschenk für das besondere Konzert überreichte meine Frau ihnen eine Packung Blasenpflaster, die beide für die restlichen Etappen bis nach Santiago de Compostela wegen ihrer Fußprobleme gut gebrauchen konnten.

Als wir das Pärchen am nächsten Morgen verabschiedeten, erfuhren wir von ihnen, dass sie mit den Liedern in ihrer Heimat professionell auftreten. Dieser Abend bleibt für uns ein unauslöschliches Hospitalero-Erlebnis auf dem Camino.

Bienvenida! Ultreia! Buen Camino! Erinnerungen einer Hospitalera

Elisabeth Bognár

G erne denke ich an die schöne Zeit zurück, als ich noch mobil genug war zu pilgern sowie als Hospitalera zu arbeiten. Heute noch finde ich, dass eine Kombination von Pilgern und praktischer Tätigkeit nötig ist, um zu verstehen, was wirklich der Jakobsweg bedeutet. Pilgerberichte gibt es genügend, davon soll hier nicht die Rede sein. Die andere Seite als Hospitalera ist mindestens so interessant.

Also zurück in das Jahr 2005! Mein Mann und ich hatten schon im Jahr zuvor die wunderbare Herberge in La Faba als Pilger kennengelernt. Damals hatten wir beschossen, das Schöne, das wir erlebt hatten, auch weiterzugeben. Wir bewarben uns in Stuttgart beim Verein ›Vltreia‹ als Hospitaleros und freuten uns auf diese neue Tätigkeit. Um vor Ort etwas mobil zu sein, nahmen wir unser Auto nach La Faba mit. Auf dem Weg nach La Faba waren wir immer wieder ein paar Strecken als Pilger unterwegs. Dabei übernachteten wir selbstverständlich in Herbergen.

Im Juli 2005 standen wir dann endlich vor der Herberge – diesmal nicht als Pilger, sondern als Hospitaleros. Ein besonderer Moment für uns. Unsere Vorgänger wiesen uns in alles ein, was man als Hospitalero wissen und kennen muss. Die Übergabe war schnell erledigt. Es war ein herrlicher Sommertag, und unsere Vorgänger wollten ihren ersten freien Tag nutzen. Wir verabschiedeten uns herzlich voneinander.

Bei der Übergabe war mein Mann in die Kassengeschäfte und die technischen Aufgaben eingeweiht worden, ich in die praktischen Tätigkeiten wie Bettenzuteilung, Hausordnung, Wäschepflege. Das funktionierte hervorragend. Später, als alles gut lief, wechselten wir uns mit den Aufgaben ab.

Am ersten Tag hatten wir wirklich Glück – nur wenige, angenehme und disziplinierte Pilger kamen zu uns, so dass wir uns allmählich eingewöhnen konnten. Voller Freude über unsere neue Aufgabe luden wir einige von ihnen zu einem Glas Wein ein. Wir waren rundum mit uns und unserer Tätigkeit zufrieden.

Vier Wochen dauerte unser erster Einsatz in La Faba. In dieser Zeit passierten viele unterschiedliche Dinge, die auch unterschiedlichste Anforderungen an uns stellten. Im Nachhinein kann ich manchmal kaum glauben, dass es nur vier Wochen waren.

Um nur einige Gegensätze zu skizzieren: Das Wetter im Juli war mal sehr heiß, mal kühl und regnerisch. Die Belegung der Herberge schwankte zwischen acht Pilgern und sechzig Pilgern pro Nacht, was damals schon viele Gäste bedeutete. Wir hatten Gäste aus allen Nationalitäten, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten. Natürlich sehr viele Spanier. Weniger Deutsche als erwartet. Die Pilger kamen aus ganz Europa, auch Osteuropa, USA, Australien, Südamerika, Südkorea. Alle Altersstufen waren vertreten, unser jüngster Gast war gerade einmal sechs Jahre alt, unser ältester in diesen vier Wochen bereits achtzig. Da gab es Einzelpilger, kleine Gruppen, größere, Paare, selbst ganze Familien waren unterwegs.

Wie man sich denken kann, gab es ebenso die unterschiedlichsten Charaktere.

Da gab es den wortkargen Einzelpilger neben dem Spaßvogel, der immer einen Witz auf den Lippen hatte, der streitsüchtige Nörgler fehlte ebenso wenig wie der, der schon mittags zu viel vom Rotwein getrunken hatte. Es gab die freundlichen, stillen, die sich niemals beschwerten, genau wie die ungeduldigen, die schon in die Luft gingen, wenn sie kurz auf ihren Pilgerpass warten mussten.

Pilger jeder Art, ein buntes Gemisch: bescheidene und anspruchsvolle, religiös motivierte und sportlich ambitionierte, rücksichtsvolle und gedankenlose, geizige und großzügige, gepflegte und Dreckspatzen. Sie alle kamen vorbei und erwarteten etwas, was man nicht immer geben konnte. Mir kam es damals vor wie das ganze Panoptikum unserer Gesellschaft. Und ich musste immer wieder an die sogenannten Wimmel-Bilder von Pieter Bruegel und Hieronymus Bosch denken, an deren Spiegel vom Menschen.

Besonders nett war es, wenn Pilger aus Baden-Württemberg begeistert sangen, um die fällige Übernachtungsgebühr zu sparen, manche sangen aber aus lauter Freude am Singen. *)

Jeder Tag war anders, jede Situation war anders. Wichtig war, immer die Ruhe zu bewahren, auch mal Kritik wegstecken zu können. Hospitalero/Hospitalera ist eine Aufgabe, für die man sehr gesund sein muss, sie verlangt den ganzen Menschen! Das merkte ich schon in den ersten Tagen, viel mehr aber noch bei späteren Einsätzen in La Faba. Bei dieser Tätigkeit lernt man viel für das Leben, muss an sich selber arbeiten, sich mit dem Partner gut verstehen und mit ihm auf begrenztem Raum auskommen, manchmal unter hoher emotionaler Belastung.

Freude und Begeisterungsfähigkeit gehören ebenfalls zu einer solchen Aufgabe, aber man bekommt dafür viel zurück. Das macht Mut weiterzumachen, wenn es wieder einmal ›brennt‹, wenn wieder einmal Geduld und Nervenstärke gefragt sind, weil ein Exzentriker unter den Pilgern das Unmögliche möglich gemacht haben will. Herausforderungen warten an jeder Ecke. Was zum Beispiel mache ich, wenn Pilger ankommen, die ein Pferd, einen Esel oder Hund, ein Baby im Kinderwagen oder eine Trage mit einem Schwerbehinderten mit sich führen?

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*) Wer als schwäbischer Pilger nach La Faba kommt und sich als solcher ausweist, entweder mit einem Silcher-Lied oder einem Gedicht von Schiller, Hölderlin oder einem anderen schwäbischen Dichter, darf eine Nacht kostenlos in der Herberge übernachten. Das hat der Hauptsponsor der Herberge verfügt.

Doch es gibt auch die andere Seite, die, für die sich all die Mühen lohnen. Für mich unvergesslich bleiben die vielen warmen Sommerabende unter faszinierendem, sternbedeckten Himmel. Mit vielen Pilgern haben wir zusammengesessen und geredet, oft bei einem oder mehreren Gläschen vorzüglichen Rotweins aus Villafranca. Sie sprachen über ihre Beweggründe für die Pilgerschaft, über die Erlebnisse unterwegs. Oft hatte ich den Eindruck, es war ihnen ein Bedürfnis, sich mitzuteilen. Darauf einzugehen, ein offenes Ohr zu haben – auch das gehört zur Aufgabe einer Hospitalera dazu.

Besonders freute ich mich immer, wenn sich unter den Pilgern Sänger oder Gitarrenspieler befanden, die dann die ganze Pilgerschar und auch uns ansteckten, gemeinsam mit ihnen zu singen.