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Ed ist ein eingefleischter Junggeselle, der ganz gut mit seinem Leben klarkommt. Er hat einen öden Job, mit dem er sich abgefunden hat, und seine Musik, Science-Fiction-Literatur, Computerspiele und seine Freunde helfen ihm ganz gut über die Runden – wenn sie nicht gerade bekifft zwischen leeren Pizzakartons liegen und über die neuesten SF-Romane philosophieren. Sein geruhsames Leben gerät aus den Fugen, als eines Morgens eine überirdisch gut aussehende Frau an seiner Tür klingelt und ihm einen Job anbietet. Mehr von der Frau als vom Job fasziniert, nimmt er diesen an, und tatsächlich verdient er sein Geld im wahrsten Sinne des Wortes im Schlaf. Aber lange ignoriert Ed offensichtliche Ungereimtheiten … Ihm wird immer klarer, dass außerirdische Mächte mit im Spiel sind. Doch was können Außerirdische schon von einem einfachen kaufmännischen Sachbearbeiter wollen? Als Ed die unterirdische Einrichtung der Außerirdischen sieht, beginnt er zu begreifen: Eine Invasion findet nicht statt; vielmehr geht es um den PLANET DER NAVIGATOREN …
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Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2024
AndroSF 179
Pete Farn
PLANET DER NAVIGATOREN
AndroSF 179
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Januar 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Thomas Breher (Pixabay)
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 370 3
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 737 4
Obwohl ein Lasermesser in meinem linken Schulterblatt steckte und die Anzeige des Lovesuites anzeigte, dass die rote Soße aus dem Rücken floss, verspürte ich nichts. Keine Schmerzen! Stattdessen eine wohlige Taubheit in der Schulter. Die KI des Anzuges hatte schnellstens reagiert und mir einen Medikamentencocktail verabreicht, der es in sich hatte und sofort in meinem Körper aufräumte. An einem der integrierten Displays las ich den Grad der Qualen ab, die ich erleiden müsste. Beruhigend war das nicht. Die KI empfahl mir, das Messer vorerst im Rücken zu belassen. Eine künstliche antiseptische und heilungsfördernde Schicht bildete sich zwischen Wunde und dem fiesen Metall. Der Kampfanzug, den wir liebevoll Lovesuite nannten, weil er sich mütterlich um seinen Träger kümmerte, würde kleinere Stichwunden problemlos behandeln. Bei einem Lasermesser war es angeraten, rasch Land zu gewinnen und ein Feldlazarett aufzusuchen; sofern es eins gab; oft gab es keins.
Die Invasion fand früher statt, als Generäle und Strategen erwartet hatten. Es war einer dieser lausigen Offshore-Planeten, die zum Nebenschauplatz eines intergalaktischen Krieges degradiert wurden. Zum Glück gab es eine atembare Atmosphäre. Ob sie verkeimt war, dürfte ich bald merken. Ich wäre nicht der Erste, der eine schwere Verletzung überlebte und an unbekannten Parasiten jämmerlich verendete. Sollte der Lovesuite sich darum kümmern. Ich hatte ohnehin keine Wahl.
Mindestens ein, zwei Stunden würde ich bis zum nächsten Stützpunkt benötigen. Es war ein Wettrennen mit der Zeit.
Der Angriff war ohne Vorwarnung gekommen. Für eine geordnete Evakuierung blieb kaum eine Frist. Alle Landungsgleiter und Rettungsboote wurden unkontrolliert ausgeschleust, da das Mutterschiff vom Feind empfindlich beschädigt und später explodiert war. Jemand hatte unsere Position verraten.
Nicht alle Raumfahrzeuge dürften es bis zur Planetenoberfläche schaffen. Meine ursprünglich vorgesehene Mission, auf diesem Planeten eine neue Kampftruppe einzuweisen, hatte sich damit erledigt. Ich musste ein Beiboot finden. Dort gäbe es ausreichend medizinische Versorgung und frische Energiezellen. Mit etwas Glück gelang es mir, eines davon in Bewegung zu setzen oder zumindest Hilfe anzufordern. Mit Sicherheit war dem Feind unsere Flucht nicht entgangen. Dummerweise würde er uns jagen, bis er den Letzten von uns in die ewigen Jagdgründe geschickt hat. In diesem Krieg gab es keine Gefangenen. Dafür fehlte die Logistik. Das Alien, das mir das Lasermesser verpasst hatte, lebte nicht mehr. Ich habe es ordentlich gezonkt, wie man in der Truppe sagte. Die übergroß dimensionierten Zonker erzeugten exakt jenes Geräusch: ein fieses und unangenehmes Zonk! Vom Feind blieb höchstens eine blaue Lache übrig.
Die Luft war dampfig. Es war einer dieser Regenwaldplaneten. Die Aircondition des Lovesuites wäre zwar hilfreich, jedoch benötigte ich die Energien überwiegend für die medizinische Versorgung. Die Wirkung des Cocktails würde bald nachlassen und eine neue Dosis unabdingbar. Dummerweise beeinflusste das Messer in meinem Rücken die Effektivität der Klimaanlage.
Ständig galt es, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, um Herr der nahezu aussichtslosen Umstände zu werden. Die Insekten auf dieser Welt waren verdammt monströs und ich war mir nicht sicher, inwieweit ein Stich giftig oder tödlich war. Es gab die Möglichkeit, den Helm zu schließen und auf die interne Sauerstoffatmung umzuschalten. Der Nachteil war, dass meine Chance, das Ziel zu erreichen, deutlich sinken würde. Die Lebensdauer der Energiezellen war begrenzt. Ich entschied mich dafür, den Helm wegzulassen, und atmete weiterhin die stickige Luft dieses Planeten.
Wenn die Anzeigen korrekt waren, hatte ich anderthalb Stunden Zeit, bis der Medikamentensynthesizer seinen Dienst quittieren würde. Danach dürften die Schmerzen ins Unerträgliche steigen, eine Bewusstlosigkeit verursachen und mich auf den Weg ins Nirwana begleiten.
Mein Neobiometer zeigte eine erhöhte Anzahl von Sporen an. Kein Wunder bei dem Klima. Ich hielt mir ein vom Blut verschmiertes Tuch vor das Gesicht, in der Hoffnung, diese von mir fernzuhalten. Mag sein, dass solch ein Handeln lächerlich war. Es gehörte zu den Standardtipps, die man im Handbuch für den Soldaten fand. Schaden würde es nicht. Es sei denn, ich nahm Keime in mich auf, die in dem seit Monaten nicht mehr gereinigten Tuch lauerten.
Ein Warnlicht leuchtete an meinem Multifunktionsarmband auf. Monomolekulare Fäden! Für das Auge waren sie nahezu unsichtbar. Sie befanden sich direkt vor mir! Geriet man in solch einen Schwarm, würde man sofort in Einzelteile zerlegt, scheibchenweise. Der Feind war fies, machte Salami aus uns. Ich blieb stehen und versuchte eine genaue Lokalisierung der Fäden. Selbst jene, die den Boden erreichten, waren enorm gefährlich. Trat man darauf, hatte man einen gespaltenen Fuß. Ein mit solchen Waffen kontaminierter Planet war für den Feind nicht mehr von Interesse. Sie zersetzten sich nie; nicht in tausend Jahren. Es genügte das leiseste Windchen, um sie wieder in die Luft zu heben, damit sie ihren tödlichen Job weiter verrichten konnten.
Ein Schwarm größerer fliegender Insekten näherte sich und flog auf mich zu. Die meisten davon verfingen sich im Netz der Fäden und landeten in makellose Hälften geteilt auf dem Boden.
Drei oder vier der Riesenfliegen schafften es, unversehrt zu bleiben, und flogen direkt in Richtung meines ungeschützten Gesichtes. Instinktiv wedelte ich mit der Hand und versuchte, sie zu vertreiben. Dabei geriet ich mit den Fingern in einen der Fäden. Zwar hatte ich die Handschuhe des Lovesuites an, aber diese boten keinen ausreichenden Schutz. Sie glitten durch die unsichtbare Faser und zwei Fingerkuppen fielen herab. Sofort reagierte die KI des Lovesuites, verschloss die Wunde, um ein Ausbluten zu verhindern, und verpasste mir einen weiteren Cocktail.
Mittlerweile war ich ordentlich benebelt. Ein paar Minuten später verwandelte sich dieser Nebel in absonderliche Euphorie. Ein Blick auf das Multifunktionsarmband zeigte mir, dass meine Ressourcen und damit die Überlebenschancen weiter gesunken waren.
Egal, wir schaffen das!
Ein Geräusch in den Wipfeln der Bäume. Ein Schatten, der sich vergrößerte. Es war ein Gleiter des Feindes. Man hatte mich entdeckt! Sinnlos, das Soldatenhandbuch zurate zu ziehen. Das Objekt verharrte über mir und ich sah das kurze Aufglühen eines Blasters, der in meine Richtung zielte. Eine gleißende Farbshow versüßte mir die letzten Sekunden des Lebens. Es fing mit einem blendenden Weiß an, gefolgt von einer Farbsequenz, die alle Nuancen von gelb bis rot einschloss und am Ende in ein endgültiges Schwarz überging.
»MISSION FAILED. RE-START INVASION?«, war auf dem Monitor des Spielecomputers zu lesen.
Wieder nicht geschafft! Zum dritten Mal war es mir nicht gelungen, dieses Level lebend zu verlassen, geschweige denn die Invasion zu verhindern. Mit Ach und Krach war ich im vorangegangenen Spiel an die Sonderfunktionen des Lovesuites gekommen. Das reichte nicht aus. Die Aliens schienen auf jeder Spielebene die besseren Waffen zu haben und waren einen Tick flinker. Oder ich war zu langsam.
Ich lehnte mich in meinen Stuhl zurück und legte Joystick, VR-Brille und Tastatur beiseite. Vielleicht sollte ich mir eine andere Beschäftigung für den Sonntagabend suchen. Vielleicht war ich mit vierundfünfzig Jahren zu alt für solche Spiele?
In aller Ruhe schlenderte ich die von der brütenden Hitze und dem Tag-Nacht-Wechsel wiederholt aufgeweichte Straße entlang. Mich umgab die behagliche Frische eines unverbrauchten Morgens, die den Geruch von zähem Teer verbreitete.
Der Wechsel zwischen Tag- und Nachttemperaturen hatte seltsame Formen und Wülste auf dem Asphalt hinterlassen. Der Anblick ließ mich das frustrierende Spiel vom Vorabend rasch vergessen.
Dieser frühe Sommer zeigte sich von seiner skurrilen Seite, in dem er wunderliche Spuren im Revier der Menschen verewigte. Fantastisch anmutende Miniaturtäler und -gebirge durchschnitten das sonst so langweilige graue Band.
Seit Monaten hatte ein extrem trockenes und heißes Klima Mitteleuropa erfasst. Nach dem Winter war innerhalb von drei, vier Wochen der Sommer gekommen. Der Frühling hatte keine Chance, blieb daheim oder zog woanders hin. Die Zeitungen waren angereichert mit Beiträgen über Waldbrände, kollabierende Menschen und neue Rekordwerte.
Dass mir die ewigen Geschichten vom Klimawandel und Heißzeiten aus dem Hals hingen, ließ sie nicht unwahrer werden. Ich versuchte einfach, den Jahrhundertsommer zu genießen.
Seit über zwanzig Jahren spazierte ich täglich zwei Kilometer zur Arbeit, unabhängig vom Wetter. Dies war die einzige regelmäßige physische Ertüchtigung, die ich mir und meinem Körper aufzwang. Keine kaputten Kniescheiben vom Joggen, weder Rückenschmerzen, Erkältungen oder sonstige Leiden von welchem Sport auch immer. Einfach Laufen – in Maßen; und das täglich.
Vor Jahren hatte ich Yoga für mich entdeckt. Eher zufällig war ich darauf gestoßen. Ein Bekannter hatte mir einen Kurs empfohlen, an dem er seit Längerem teilnahm. Er war der einzige Mann in der Gruppe, was sich mit mir änderte. Leider stellten sich bei ihm drei Monate später lästige Knieprobleme ein. Das Thema Yoga hatte sich damit für ihn erledigt. Mittlerweile war ich der Quotenmann zwischen all den Seniorinnen und aus dem Schnupperkurs war ein dauerhaftes Ritual entstanden. Für mich war das die körperliche Erdung, die ich benötigte.
Wie an jedem Werktag stand ich zeitig auf und ließ mir und dem Tag ausreichend Zeit, in die Gänge zu kommen. Ein hastig heruntergeschlucktes Frühstück oder einen zu heiß getrunkenen Tee kannte ich nicht. Der Büroalltag würde mich früh genug in seinen künstlich beschleunigten Fluss mitreißen. Dieser Strom der Hektik war ein tragendes Gefährt, welches mir meinen Platz zuwies. Die banalen und bisweilen lästigen Rituale mit Kollegen und Kunden fingen mich auf und betteten einen in einen Kokon aus Gewohnheit und behaglicher Belanglosigkeit. Diese Mittelmäßigkeit war mein Anker. Wer ankert, hat Hände und Rücken frei. Und ich ankerte gern.
Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet. Jeden Morgen sah ich die voranschreitende Deformierung des Straßenbelags.
Einem inneren Impuls folgend, schaute ich zum westlichen Horizont. Dort hing der Mond wie eine vergessene leuchtende Laterne am wolkenfreien Himmel, zum Greifen nah.
In meiner Kindheit hatte ich mich für Astronomie begeistert und die erste Mondlandung 1969 live erlebt. Erinnerungen an die für heutige Maßstäbe miserable Qualität der übertragenen Bilder hatten sich in das Gedächtnis eingebrannt. Dennoch – oder gerade deswegen – fand ich sie anregend und inspirierend. Es gab dort Platz für Fantasie und eigene kindliche Interpretationen.
Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass meine Sinne aus den Fugen gerieten, sich mir der Boden entzog. Ein dezenter Schwindel, Desorientierung … oder nicht? Ich schaute auf die Füße: Sie waren – wer hätte dies vermutet – beide da und bewegten sich, wie sie es immer taten, wenn man nicht allzu sehr darauf achtete und meinte, den seit Kindheit erlernten und ausgeführten Prozess analysieren zu müssen. Der Mond war mit einem Mal kein Fixpunkt mehr, schien gleichzeitig verschiedene Positionen einzunehmen, um sich am Ende für die eine ›Richtige‹ zu entscheiden. Die Straße musste sich ebenfalls entschließen, als ob sie eine freie Wahl hätte. Mein Geist versuchte, voneinander unabhängige Bewegungen in Einklang zu bringen, zu koordinieren, was nicht gelang.
Ich »sah« Verschiebungen, die es nicht gab. Waren dies echte oder mögliche Standpunkte? Mein eigener Bezugspunkt zur Straße und der Umgebung war für Augenblicke aufgelöst. Ich blieb stehen. Der räumliche Fluss setzte sich fort. Es schien, als hätte ich die absolute Position verlassen, den Boden unter den Füßen verloren. Ich stand fest auf dem von der Hitze neu modellierten Asphalt.
Der Schwindel ließ rasch nach. Das Welt-aus-den-Fugen-Gefühl blieb ein paar Augenblicke länger, sodass ich es bewusst erlebte: diese Unordnung im Gefüge, die keine war; oder das Gegenteil, die Wahrnehmung zahlreicher Ordnungen gleichzeitig? Fing so Demenz an? Ich hatte mir das anders vorgestellt: eine Diffusität, die den Geist befällt. Ein Schleier, der sich langsam, aber sicher darüber legt. Nach und nach, Jahr für Jahr. Diese Erfahrung schien auf der einen Seite klar und deutlich zu sein, war unbekannt und auf gewisse Weise schockierend, da sie nicht meiner Alltagserfahrung entsprach.
Hatte ich nicht früher ähnliche Erfahrungen erlebt? Ich erinnerte mich an eine Autofahrt vor einigen Monaten. Damals hatte ich Freunde besucht. Im Rückspiegel sah ich einen zum Überholen ansetzenden Lastwagen. Ohne jeden Übergang war er vor mir, obwohl er hinter mir, im toten Winkel sein musste. Hatte der Laster urplötzlich beschleunigt? Verwirrt schaute ich nach links und erkannte, wie dieser erst jetzt an mir vorbeifuhr – zum ›richtigen‹ Zeitpunkt. Der zeitliche Ablauf stimmte nicht.
Ich versuchte, mir eine Unaufmerksamkeit oder Abgelenktheit meinerseits einzureden. Ein seltsames Gefühl blieb. Solche Aussetzer könnten im Straßenverkehr gefährlich enden.
»Also, ich kann nichts Ungewöhnliches feststellen, Herr Wagner«, versicherte mir mein Hausarzt. »Blutdruck ist in Ordnung, die Blutwerte ebenso. Für einen Mittfünfziger sogar ganz gut. Essen Sie etwas weniger Schokolade, Sie bekommen einen Bauch.«
Nicht, dass ich wegen dieser Angelegenheit den Hausarzt aufgesucht hätte, eine Rundumuntersuchung war ohnehin überfällig. Die Praxis würde er nicht mehr lange führen, da er weit über siebzig war. Er war zwar ein verschrobener schräger Vogel, arbeitete dessen ungeachtet seit Jahrzehnten mit Liebe in seinem Beruf (was ich von mir nicht zu behaupten wagte). Zum Abschied den Onkel Doktor besuchen, ihm zuletzt die Diagnose des Lebens und Krönung einer aufrichtigen Karriere zu ermöglichen.
»Kiffen Sie etwa?« Die Frage kam aus heiterem Himmel und wühlte mich auf. Ich lallte etwas Unverständliches mit gespielter Empörung.
Die letzten Flashbacks hatte ich in meiner Jugend. Diese waren nicht mit den jüngsten Erlebnissen vergleichbar. Mit Rauchen und bewusstseinsverändernden Substanzen hatte ich abgeschlossen. Nicht, weil man sie ächtete oder die Justiz damit ein Problem hatte, sondern infolge der extrem nachlassenden Wirkung im zunehmenden Alter. Die Zeit der subversiven und grellen Jugenderlebnisse war vorbei. Für viele Erfahrungen gab es kein erstes Mal mehr, was ich bedauerte. Man gewann den Eindruck, dass mit dem Voranschreiten des Lebens die Optionen ausgingen. War das nicht die Sichtweise eines alten Mannes, der abgeschlossen hatte?
Für einen Moment schaute er mich direkt an; zu direkt und zu lang. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, trotz der angeblich traumhaften Werte. Er senkte wieder den Blick, um auf dem Laborbericht irgendeinen weiteren Hinweis zu finden. Vergeblich. Ich war absolut gesund.
»Wir sollten das beobachten. Vielleicht einen Neurologen hinzuziehen, falls das noch öfter vorkommt.«
Na, das war doch was! Im Geiste sah ich mich mit Elektroden bestückt zwischen irgendwelchen technischen Apparaturen sitzen. Ein wirr dreinschauender Arzt mit weißem Kittel, Sandalen und dicker Hornbrille schüttelte beim Betrachten der Gerätschaften und der endlos langen Ausdrucke ungläubig den Kopf. Bevor mir vor dem inneren Auge eine auf der Rückseite verschnürbare Jacke angezogen wurde, streckte sich mir die Hand des Hausarztes entgegen.
»Machen Sie es gut«, dabei zwinkerte er mir zu, ergriff mein bemitleidenswertes Pfötchen zum Abschied und zerquetschte es fast.
Beim Verlassen des Sprechzimmers spürte ich deutlich seine Blicke auf meinem Rücken ruhen. Beruhigt war ich nicht.
Auf dem Nachhauseweg war ich in Gedanken bei den Hobbys. Seit einigen Tagen bastelte ich an einem Musikstück, das ich nicht in den Griff bekam.
Zwar hatte ich auf den Synthesizern reizvolle abstrakte Klänge eingestellt, diese weigerten sich aber vehement, eine Verbindung mit dem experimentellen Ambiente des Arrangements einzugehen. Oft erreichte ich einen Punkt, an dem es nicht mehr weiterging. Es kamen mir alte verbrauchte Ideen oder Phrasen in den Sinn. Ein Zeichen dafür, ein Weilchen Abstand zu nehmen.
Zum Glück verdiente ich damit nicht den Lebensunterhalt. Hierfür gab es meinen öden Job: kaufmännischer Angestellter, Sachbearbeiter im Vertrieb.
In der Vergangenheit hatte ich CDs produziert, für die sich kaum jemand erwärmte. Zu sperrig, zu wenig Melodien, zu viel was-auch-immer. Im Keller sammelten sich die Kartons mit den unverkauften Exemplaren. Interessanterweise waren die Plattenkritiken einiger exotischer Zeitschriften passabel ausgefallen. Was daran lag, dass Nerds diese verfassten, die ebenfalls einen eher schrägen Musikgeschmack hatten. Für die breite Hörermasse daher nicht relevant.
Es machte mir unheimlich Spaß mit experimentellen, unerhörten Klängen zu arbeiten, diese in einen neuen Kontext zu setzen, so wie ein Architekt die Entwürfe für ein innovatives Haus schuf. Aus einem Nichts ein Etwas zu erschaffen: Wo vorher Stille war, eine Komposition zum Leben erwecken.
Wie haben sich einst Leute wie Beethoven gefühlt, die ganze Sinfonien komponierten? Von diesem Profisein war ich Lichtjahre entfernt. Man konnte nicht in jeder Disziplin ein Meister sein. Ich war nirgend worin ein Meister. Damit lebte ich bisher ein behagliches Leben.
Am darauf folgenden Tag versuchte ich einen weiteren Anlauf. Mir kam die Idee, die Klänge anders im Stereofeld aufzuteilen und mit dem Equalizer zu bearbeiten. Das brachte zumindest bescheidene Erfolge.
Entgegen den Erwartungen hörte ich Klänge, die ich nicht aufgenommen hatte. Interferenzen? Störgeräusche von außen? Ich nahm den Kopfhörer ab, um festzustellen, ob die Nachbarn wieder ein neues elektrisches Gadget im Garten in Betrieb genommen hatten. Rasenmäheropern und Heckenscherensonaten gab es im Frühling und im Sommer jeden Samstag zu hören. Unkrautvernichtungsouvertüren kamen eher verhalten daher.
Nein, verdächtig unproduktive Stille in der Nachbarschaft. Ich setzte den Kopfhörer wieder auf. Waren beim Mix Nebenfrequenzen, Nebenmelodien oder psychoakustische Effekte im Spiel? Dies schien nicht der Fall zu sein. Die Klänge kamen weder direkt über die Ohrhörer, noch ortete ich sie außerhalb. Es war, als ob sie innerhalb meines Kopfes entstanden.
Da kam mir die Idee, die Wiedergabe zu stoppen. Es tönte weiter: Statt Stille erlebte ich einen Klangkosmos, wie ich ihn zuvor nie wahrgenommen hatte, ein Konglomerat aus vermeintlich synthetischen Klängen, die nicht synthetisch waren, sondern sich auf eine gewisse Art und Weise natürlich anhörten. Das Klanggebilde hätte eine Komposition aus der fernen Zukunft sein können. Warum kriege ich so was nicht hin? Ich startete wieder meine eigene Aufnahme. Der fremde Klangkosmos verschwand zwar nicht sofort, dafür rückte er langsam und deutlich in den Hintergrund. Ich schaltete die komplette Musikanlage aus; die ferne Musik war vorhanden, verblasste aber zusehends. Nach fünf Minuten war der Spuk vorbei.
Was hatte ich denn da erlebt? Sofort schnappte ich mir ein Blatt Papier und machte mir Notizen. Ich versuchte, den kompletten Vorgang und den zeitlichen Ablauf festzuhalten. Beim Beschreiben der Klänge tat ich mich schwer, da diese verbal nicht greifbar waren. Andererseits hatte ich durch meine Klangbasteleien an den elektronischen Instrumenten gewisse Referenzklänge, auf die ein Bezug möglich war.
Ich betrachtete meine Notizen. Neue Erkenntnisse gewann ich dadurch nicht. Ich wusste, dass ich der hausärztlichen Diagnose nach gesund war, mit mir dennoch irgendetwas nicht stimmte. Gab es einen Zusammenhang mit den anderen Erlebnissen? Diese ›Nichtkrankheit‹ war nicht auf einen Sinn begrenzt, sondern umfasste zumindest das Sehen und das Hören. Oder war die zuvor erfahrene Klangorgie durch die eigene Komposition ausgelöst worden und in Wirklichkeit etwas gänzlich anderes? Mir fiel ein, dass ich die fremde Musik nicht über die Ohren wahrgenommen hatte. War die Beschäftigung mit den Klängen ein Trigger, ein Auslöser für irgendeinen Prozess? Dies ließ sich unter Umständen nachvollziehen.
Ich schaltete die Musikanlage wieder ein und versuchte, den Vorgang genauso nachzuvollziehen, wie ich ihn erlebt hatte. Aber es geschah nichts. Ich nahm nur mein eigenes unfertiges und deprimierendes Werk wahr.
In den Folgemonaten häuften sich die Vorfälle. Da keine ernsthafte Erkrankung vorlag und die meisten Erlebnisse nicht unangenehm waren, gewöhnte ich mich an diese sinnlichen Erfahrungen. Meine Ängste schwanden und ich gewann den Vorgängen Positives ab. Sie erinnerten an alte Zeiten, als die Kumpels und ich zugedröhnt auf bunten muffigen Sofas herumhingen und unsere Musik hörten.
Stundenlang recherchierte ich im Internet und versuchte, an weitere brauchbare Informationen heranzukommen. Dabei stellte ich fest, dass viele Menschen über Fähigkeiten wie Telepathie, Zeitreisen, Teleportation, Telekinese und dergleichen verfügten. Von Wunderheilern, die Dienstleistungen wie Fernheilung, Teufelsaustreibung oder Zombiejagden anboten, sah ich vorsichtshalber ab. Wie wunderlich die Welt war.
Die Verunsicherung blieb. Wie sollte ich damit umgehen? Mich über diese Art der Bereicherung meines langweiligen Lebens ergötzen?
Es klingelte an der Haustür. Samstagmorgen, zehn Uhr. Wer konnte das sein? Ich öffnete die Tür und eine hübsche, makellos geformte Enddreißigerin strahlte mich an. Sie musste sich in der Tür geirrt haben.
»Hallo, Herr Wagner!« Der Name war korrekt; der stand an der Haustür: Edgar Wagner. In der Schule hatten sie mich Ede oder Ed genannt. Ede fand ich beknackt, erinnerte an Sträflinge, die ihr Geld mit Safeknacken verdienten. In Zeiten des Netzes wurde daraus @Wagner.
Sie hatte keinen Staubsauger hinter ihrem Rücken versteckt, keinen Wachtturm in der Hand, war ansprechend gekleidet; nicht overdressed. Blieb die Variante mit den Versicherungsvertretern.
»Keine Sorge, ich will Ihnen keine Versicherung verkaufen.«
Gedankenlesen gehörte wohl auch zu ihrem Job.
»Mein Name ist Sabine Meyer. Darf ich hereinkommen?« Sie hatte braune Augen, die mit ihrer Blässe harmonierten. Da fiel mir ein, dass ich Junggeselle war; aus Überzeugung. Das stabilste Gebäude begann einmal zu wanken.
Etwas wie »Grfzl« kam über meine Lippen, was höchstwahrscheinlich »gerne« hieß. Sicher war ich mir nicht, da ich üblicherweise keine fremden Leute einließ. Sie hatte den Laut korrekt für sich übersetzt und betrat lächelnd die Wohnung.
Meine Güte, waren wir Männer tatsächlich so einfach gestrickt, wie man uns nachsagte?
»Schön haben Sie es hier.«
Das war glatt gelogen. Seit Wochen hatte ich nicht mehr aufgeräumt. Aufräumen gehörte nicht zu den Lieblingstätigkeiten, die ich mir für den optimalen Zeitvertreib vorstellte.
Ich stand noch an der Tür und schloss sie. Sie drehte sich in dem Moment zu mir um, als sich meine Blicke auf ihrer Hüfte ausruhten. Peinlich. Verlegen rieb ich mir die Augen. Sie lächelte mich durchschauend an. Sie war es mit Sicherheit gewohnt, dass man sie musterte.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so überfalle.«
»Ach, ist schon in Ordnung. Ich wollte gerade aufräumen.« Was auch glatt gelogen war. Es war einfacher, mein chaotisches Revier als künstlerisches Environment zu deklarieren. Ein kreativer Geist lebte nicht in einer klinisch geleckten Bude.
Ihr Blick durchstreifte noch einmal und nicht ernsthaft prüfend die Wohnung. Ihre Augen sagten: ›Ist okay, wie es ist.‹ Ich war ihr insgeheim dankbar dafür.
»Nun«, meinte ich, um keine peinliche Stille entstehen zu lassen, »da Sie mir weder eine Versicherung noch einen Teppich andrehen wollen, womit kann ich Ihnen dienen?« Akzeptabler erster Satz, wenn auch dezent angestaubt. Aber hey, ich war ein Ü 50!
Mit einer gekonnten Bewegung wandte sie sich mir zu. Dabei fiel das lange Haar perfekt auf ihre Schultern. Sie schaute mir direkt in die Augen. Knieerweichen ersten Grades; bei mir.
»Herr Wagner, ich vertrete eine Organisation, die Ihnen ein äußerst lukratives Angebot unterbreiten möchte.«
Doch eine Vertreterin? Meine Gesichtszüge entschieden sich für eine harmlose unkontrollierte Entgleisung.
»Wie ich schon sagte, ich bin keine Verkäuferin. Sehen Sie mich bitte als eine Art Begleiterin.«
Diese Strategie war mir unbekannt. Begleiterin hörte sich gut an. Entgleisung gestoppt, Lage tendenziell entspannt, Neugierde geweckt.
»Wir sind ja alle nicht so arbeitsgeil, wie man uns gerne hätte. Ich sitze auch lieber daheim …«
Hoffentlich sagte sie nicht ›… bei meinem Mann, den beiden Kindern und dem Rauhaardackel‹.
»… lege in meiner niedlichen Zweizimmerwohnung die Beine hoch und schaue mir einen alten Film an. Erst letztens hatte ich Lust auf Casablanca.«
Das war einer meiner Lieblingsfilme, vor allem, weil man in der Schlussszene eine DC-3 sah, bekannt als Rosinenbomber.
»Wissen Sie, ich liebe alte Flugzeuge. Bei der Abschiedsszene kommen mir jedes Mal die Tränen. Ist das nicht schön?«
Ein mulmiges Gefühl stellte sich langsam in der Magengegend ein. Was passierte hier?
»Aber zur Sache. Meine Organisation wählt nach sehr ausgeklügelten Verfahren Menschen mit besonderen Eigenschaften aus.«
Ich fragte mich seit Jahrzehnten, was an mir speziell und faszinierend wäre. Würde sie es mir sagen?
»Wir nehmen Kontakt zu diesen Leuten auf und fragen sie, ob sie für uns arbeiten möchten. Wobei ›Arbeit‹ ein etwas unschönes Wort ist. Es ist eher eine gehobene Form der Freizeit.«
Sie schenkte mir wieder das gezuckerte Lächeln. Dies würde ihr sicher vergehen, wenn das Thema auf eine angemessene Bezahlung käme. Immerhin war ich berufstätig. Öder Job oder nicht, er ermöglichte mir zu leben, die Miete zu begleichen, meinen Interessen nachzugehen und das Musikequipment zu finanzieren. Den konnte ich nicht aufgeben.
»Selbstverständlich wollen wir Ihren sicheren Arbeitsplatz nicht gefährden. Daher würden Sie an einem Wochentag Ihrer Wahl, gerne auch am Wochenende, zu uns kommen und dort etwa zwei Stunden in unseren Räumlichkeiten mit einfacheren Tätigkeiten verbringen. Danach sind Sie wieder frei und können nach Hause. Was die Bezahlung anbelangt, nun, die dürfte in etwa mit Ihrem derzeitigen Monatsgehalt gleichziehen.«
»Ich muss aber nicht irgendwelche Medikamente testen, oder?«
»Nein, um Gottes willen! Wir werden zwar einige Elektroden bei Ihnen befestigen müssen, diese dienen aber nur zur Messung der Hirnströme. Das bleibt natürlich alles streng geheim. Ihr Arbeitgeber muss davon nichts erfahren. Die Vergütung erhalten Sie auch direkt im Anschluss der Session in Bar. Sie können jederzeit wieder aussteigen.«