Politik der Ökonomie - Franz Hederer - E-Book

Politik der Ökonomie E-Book

Franz Hederer

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Beschreibung

Der Reichswirtschaftsrat gilt gemeinhin als typisches Beispiel für die großen Erwartungen der Revolution von 1918/19, die sehr bald an der harten Wirklichkeit der Weimarer Republik zerbrachen. Diese Studie betrachtet ihn neu und rückt seine Rolle als Akteur in Wirtschaftsordnung und politischem System in den Fokus. So erscheint der Reichswirtschaftsrat als Versuch, die komplexen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Weimarer Republik durch einen Politikstil zu bewältigen, der auf rationale Kooperation statt ideologische Konfrontation setzte. Doch die Räume für eine solche »Politik der Ökonomie« waren denkbar klein: Dem Reichswirtschaftsrat blieb so nur ein prekärer Platz zwischen allen Stühlen des politischen Systems, zwischen Wirtschaft und Politik, Technokratie und Parlamentarismus.

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Franz Hederer

Politik der Ökonomie

Der Reichswirtschaftsrat in der Weimarer Republik

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Der Reichswirtschaftsrat gilt gemeinhin als typisches Beispiel für die großen Erwartungen der Revolution von 1918/19, die bald an der harten Wirklichkeit der Weimarer Republik zerbrachen. Diese Studie betrachtet ihn dagegen anhand zentraler Politikfelder – Sozialisierung, Reparations- und »Erfüllungspolitik«, Kartelle und Wirtschaftsordnung, Arbeitsbeschaffung und Konjunkturpolitik – neu und rückt seine Rolle als Akteur in Wirtschaftsordnung und politischem System aus der Perspektive der Praxis in den Fokus. So erscheint der Reichswirtschaftsrat als Versuch, die komplexen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Weimarer Republik durch einen Politikstil zu bewältigen, der auf rationale Kooperation setzte und sich ganz bewusst von parteipolitischen Konflikten distanzierte. Doch bot Weimar – so Franz Hederer – dafür kaum Räume: So blieb dem Reichswirtschaftsrat nur eine prekäre Position zwischen allen Stühlen des politischen Systems, zwischen Ökonomie und Politik, Technokratie und Parlamentarismus.

Vita

Franz Hederer, PD Dr. phil., ist Privatdozent für Neuere Geschichte am Historischen Seminar und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsgeschichte der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

1.

Einleitung

1.1

Der Reichswirtschaftsrat, oder: Von der historiographischen Relevanz einer »bedeutungslosen« Institution

1.2

Forschungsstand

1.3

Fragestellung und Hypothesen

1.3.1

Neuvermessungen

1.3.2

Der Reichswirtschaftsrat als politischer Akteur

2.

Der Reichswirtschaftsrat: Zwischen Erwartung und Ernüchterung

2.1

Erwartungen: Der Reichswirtschaftsrat in der Weimarer Reichsverfassung

2.1.1

Motive: Neuordnung des Verhältnisses von Wirtschaft und Staat

2.1.2

Ideologischer Überschuss: Räte, Stände, Wirtschaftsverfassung

2.1.3

Pragmatische Kontinuitäten: Wirtschaftsrat und Reichswirtschaftsrat

2.1.4

Der »Räteartikel« 165 WRV

2.2

Ernüchterung: Der Reichswirtschaftsrat als Verordnung und Entwurf

2.2.1

Arbeitsprogramm in Zeitnot

2.2.2

Die Verordnung von 1920 und die Schaffung eines »vorläufigen« Reichswirtschaftsrats

2.2.3

Ein »endgültiger« Reichswirtschaftsrat wird geplant: Der Verfassungsausschuss

2.2.4

Doch kein »endgültiger« Reichswirtschaftsrat: Der Gesetzgebungsprozess

2.3

Norm und Realität: Versuch einer Neubewertung

2.3.1

Der Reichswirtschaftsrat als Norm: Zwischen Erwartung und Ernüchterung

2.3.2

Der Reichswirtschaftsrat als Akteur: Fragilität und Persistenz

3.

Der Reichswirtschaftsrat als Institution des politischen Systems

3.1

Institutioneller Wandel und politische Ordnung

3.2

Der Reichswirtschaftsrat als Institution: Phasen seiner Entwicklung

3.2.1

Formierung, Erprobung, Neujustierung: 1919-1923

3.2.2

Anpassung und Wandel: 1924-1928

3.2.3

Infragestellung und Behauptung: 1929-1933/34

3.3

Der Reichswirtschaftsrat im politischen System

3.3.1

Zwischen den Stühlen: Reichstag, Regierung, Verbände, Kommissionen

3.3.2

Ökonomische Fakten, politische Dogmen: Die Ausformung einer »institutionellen DNA«

3.4

Zusammenfassung: Reichswirtschaftsrat und politisches System

4.

Der Reichswirtschaftsrat als Akteur der Wirtschaftspolitik

4.1

Der Reichswirtschaftsrat und die »großen Fragen« der Weimarer Republik

4.2

Übergangswirtschaft und Sozialisierung

4.2.1

Die Frage der Sozialisierung zwischen Theorie und Praxis

4.2.2

Reichswirtschaftsrat und Sozialisierung: Keine Aussicht auf Verständigung

4.2.3

Lerneffekte: Sachpolitik statt Politisierung der Sache

4.3

Reparationsregime und »Erfüllungspolitik«

4.3.1

Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Der Reparationsausschuss auf der Suche nach Geld

4.3.2

Ökonomie des Kompromisses I: Die »Kreditaktion« der deutschen Wirtschaft

4.3.3

Ökonomie des Kompromisses II: »Erfüllungspolitik«

4.3.4

Ergebnisse: Der Reichswirtschaftsrat als fragiler Akteur

4.4

Kartelle, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung

4.4.1

Kartelle und Wettbewerb in der Weimarer Republik

4.4.2

Der Umgang mit Kartellen in den 1920er Jahren, oder: Welche Wirtschaft wollen wir?

4.4.3

Stochern im Nebel? Kartelle, Preise und die Logik des Einzelfalls

4.4.4

Wahrer Wert oder bloßer Ramsch? »Zugaben« und die Frage der »guten« Marktordnung

4.4.5

Was sachlich nicht zu lösen ist: Kartelle, Wirtschaftsordnung und Reichswirtschaftsrat

4.5

Arbeitsbeschaffung und Konjunkturpolitik

4.5.1

Ein neuer Kontext: Der Reichswirtschaftsrat und die Präsidialkabinette

4.5.2

»Zentralausschuss« und Selbstbehauptung

4.5.3

Agenda Setting als politischer Akteur

4.6

Der Reichswirtschaftsrat als Akteur – Fragilität und Persistenz

4.6.1

Der Reichswirtschaftsrat als politischer Akteur: Fragilität

4.6.2

Der Reichswirtschaftsrat als politischer Akteur: Persistenz

5.

Reichswirtschaftsrat und Weimarer Republik

5.1

Der Reichswirtschaftsrat im Spannungsfeld von Ökonomie und Politik

5.1.1

Reichswirtschaftsrat, Wirtschaftsordnung und politisches System

5.1.2

Der Reichswirtschaftsrat und die Politik der Ökonomie

5.2

Der (leere) Ort des Reichswirtschaftsrats in der deutschen Geschichte

Danksagung

Abkürzungen

Quellen und Literatur

Archivalische Quellen

Gedruckte Quellen und zeitgenössische Literatur

Literatur seit 1945

Personenregister

1.Einleitung

1.1Der Reichswirtschaftsrat, oder: Von der historiographischen Relevanz einer »bedeutungslosen« Institution

Wer sich mit dem Reichswirtschaftsrat beschäftigt, steht vor einem Paradox: Über kaum eine Institution der Weimarer Republik scheint so viel Klarheit zu herrschen, obwohl man von kaum einer Institution doch konkret so wenig weiß.1 Dieser Konnex soll aufgebrochen werden – nicht als Selbstzweck, um eine vermeintlich randständige, »totgeborene«2 Erfindung aus Revolutionszeiten zum archimedischen Punkt der Weimarer Politik und Wirtschaft zu stilisieren. Wohl aber soll die black-box »Reichswirtschaftsrat« geöffnet werden, um auf diesem Wege neue Einblicke in seine Bedeutung als Akteur, seine Rolle im politischen System und das spannungsreiche Verhältnis von Ökonomie und Politik in der Weimarer Republik zu erhalten. Angesichts des weitgehenden Forschungskonsenses,3 über den zwischen 1920 und 1933/34 nur »vorläufig« existierenden Reichswirtschaftsrat hinreichend informiert zu sein, bedarf die im Folgenden unternommene Untersuchung eines erhöhten Begründungsaufwandes. Ziel ist, das gängige Bild eines »im Meer der Interessen«4 dümpelnden Tankers, einer strukturell überforderten Institution mit einer dementsprechend unbedeutenden Performanz zu differenzieren. Zum Vorschein kommt so ein in mehrerlei Hinsicht hybrides5 Gebilde im Spannungsfeld von öffentlichen Erwartungen, verfassungsrechtlichen Grundsatzdiskussionen, wirtschaftlichen Interessen, politischen Konflikten und nicht zuletzt einer Vielzahl ganz handfester Probleme. All dies förderte einen bisher kaum gewürdigten institutionellen Wandlungsprozess des Reichswirtschaftsrats,6 der einerseits durch Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen Persistenz ermöglichte, andererseits aber auch einen dauerhaft prekären Status mit sich brachte. Eigentlich erklärungsbedürftig ist damit, wie der Reichswirtschaftsrat angesichts der gewaltigen ökonomischen Herausforderungen und steter politischer und sozialer Spannungen überhaupt bis zum Ende der Weimarer Republik bestehen bleiben konnte.7 Denn auch wenn er den ambitionierten, teils inkongruenten und konkurrierenden Erwartungen, die Politik und Öffentlichkeit mit dem »Räteartikel«8 der Weimarer Reichsverfassung verbanden und in der Folge mit politischem und juristischem Elan hineinlasen, nicht zu entsprechen vermochte, so scheint er doch im politischen System wie der Wirtschaftsordnung eine spezifische Funktion erfüllt und ein spezifisches Bedürfnis der Akteure bedient zu haben. Den Blick auf den bloßen output zu richten oder die empirisch ja nicht zu bestreitende Abweichung von der Verfassungsnorm als »Enttäuschung« zu werten, greift zu kurz: Denn je näher man kommt, desto farbiger wird das Bild, desto komplexer die Schattierungen und desto vielfältiger die Verbindungen, die gezogen werden können. Dieser Doppelprozess aus Annäherung im Detail – der Reichswirtschaftsrat als Akteur – und Deutung im Gesamtzusammenhang – der Reichswirtschaftsrat in Wirtschaftsordnung und politischem System der Weimarer Republik – definiert die Problemstellung, der im Folgenden systematisch nachgegangen werden soll.

Die Relevanz einer Neubetrachtung speist sich aus unterschiedlichen Quellen: Zunächst ist ganz grundsätzlich zu konstatieren, dass die etablierte (und vielfach nur graduell variierte) Annahme einer ebenso schillernden wie überforderten und rasch bedeutungslosen Institution den Blick für die Spezifik des Reichswirtschaftsrats verstellt. Damit soll nicht gegen Quellenevidenz behauptet werden, es sei alles ganz anders gewesen; vielmehr geht es darum, einige wichtige Probleme zu diskutieren, die auf Basis des gegenwärtigen Forschungsstandes nur unbefriedigend beantwortet werden können. Die im Folgenden kurz skizzierten Aspekte sollen einen Eindruck von den offenen Fragen und den hier vorgeschlagenen Wegen zu ihrer Beantwortung vermitteln:

Je näher man dem historischen Phänomen »Reichswirtschaftsrat« kommt, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, es je nach Perspektive mit sehr unterschiedlichen Institutionen zu tun zu haben. Da ist erstens der »Reichswirtschaftsrat« der Verfassung (Art. 165 WRV), der als institutionelle Spitze einer sich über das gesamte Reichsgebiet erstreckenden Kaskade von regionalen Wirtschaftsräten fungieren und gemeinsam mit einer spiegelbildlichen Kaskade von Arbeiterräten das politisch-ökonomische Herzstück einer neuen Wirtschaftsordnung bilden sollte. Zweitens der »Vorläufige Reichswirtschaftsrat«, der 1920 im Verordnungswege ins Werk gesetzt worden war und weder auf dem in der Verfassung entworfenen »Unterbau« fußte noch, und das ist wichtiger, das ursprünglich vorgesehene Gesetzesinitiativrecht besaß.9 Sodann drittens der projektierte (und zwischen 1920 und 1926 im Verfassungsausschuss des Reichswirtschaftsrats akribisch diskutierte)10 »endgültige Reichswirtschaftsrat«, der nur auf dem Papier11 existierte und dessen Implementierung schließlich 1930 an der erforderlichen verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit im Reichstag scheiterte. Viertens ein auch danach ja noch immer »vorläufiger« Reichswirtschaftsrat, der sich in gravierend veränderten ökonomischen und politischen Umständen neu positionieren musste. Und schließlich fünftens ein Reichswirtschaftsrat, der jenseits all dieser Brüche praktisch wirkte, und den seine führenden Mitglieder selbst und durchaus ostentativ als autonomen, relevanten und notwendigen Akteur an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Politik, Wirtschaft und Staat, Verbänden und Parteien, Fachkreisen und Öffentlichkeit positionierten. Diese unterschiedlichen Dimensionen stehen in der Forschung, sofern sie als solche überhaupt isoliert werden, weitgehend unverbunden nebeneinander oder greifen ineinander über; was fehlt, ist ein kohärentes und mit den empirischen Beobachtungen in Einklang zu bringendes Narrativ, das den Reichswirtschaftsrat als Institution zu verstehen und seine Bedeutung für die Wirtschaftsordnung und das politische System der Weimarer Republik zu erklären vermag. Die Arbeit geht dabei von zwei Prämissen aus, die einen Perspektivwechsel begründen und eine Neuvermessung seiner Rolle initiieren können: Zum einen ist es notwendig, den Blick von der Norm auf die Praxis zu verlegen, zumal die Akteure selbst bereits in den frühen 1920er Jahren von einer Umsetzung der hypertrophen Verfassungsvorgaben Abstand genommen hatten – und dies weniger aus theoretischen Erwägungen denn als Konzession an praktische Notwendigkeiten.12Zum anderen kann mit dem herrschenden Narrativ der Bedeutungslosigkeit oder des sukzessiven Niedergangs die wenn auch prekäre, so doch beständige Präsenz des Reichswirtschaftsrats in der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Weimarer Republik nicht erklärt werden. Hier ist von einem institutionellen Wandel »beyond big legislative changes«13 auszugehen, der jenseits aller theoretischer und legislativer Debatten um die gegenwärtige oder zukünftige Gestalt des Reichswirtschaftsrats sein praktisches Handeln formte, prägte und stabilisierte. Dieser Dimension ist in der Forschung bisher kaum Beachtung geschenkt worden; für ein angemessenes Verständnis seiner Rolle in der Weimarer Republik ist sie jedoch von ganz entscheidender Bedeutung.

Dass viele Fragen an die konkrete Rolle des Reichswirtschaftsrats auf Grundlage des bisherigen Forschungsstandes offengeblieben sind, kann freilich auch erklärt werden, und steht in engem Zusammenhang mit den Konjunkturen der Weimar-Forschung. Doch auch die Empirie trug dazu bei: Denn in der Tat sah sich der Reichswirtschaftsrat von Beginn an mit einem Übermaß an Erwartungen konfrontiert, die nicht nur auf ein äußerst komplexes, krisengeschütteltes Umfeld trafen, sondern zu allem Überfluss auch noch erhebliche Zielkonflikte in sich bargen. Die Bedingung der Möglichkeit des Reichswirtschaftsrats – seine Anschlussfähigkeit an die unterschiedlichsten Konzepte einer Reorganisation des Verhältnisses von Wirtschaft, Staat und Politik nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs – trug bereits den Keim jener »enttäuschten Erwartungen« in sich, die seine historische Betrachtung prägten und prägen. Weder konnten sämtliche auf den Reichswirtschaftsrat projizierten politischen Sehnsüchte – Räte, Stände, Expertengremium, Wirtschaftsparlament, »Kammer der Arbeit«14 – befriedigt werden, noch die weitreichenden Erwartungen an eine grundsätzliche »Versachlichung« der Politik durch »Entlastung« des »politischen Parlaments« für alle Beteiligten erfüllt werden.15 Angesichts der ökonomischen, sozialen, politischen und internationalen Rahmenfaktoren ist dies auch eigentlich alles andere als überraschend. Und dennoch festigte die Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und politischer Wirklichkeit, zwischen den akribischen Bemühungen um die »endgültige« Implementierung eines verfassungskonformen Reichswirtschaftsrats und dem (durchaus überraschenden) Scheitern der Gesetzentwürfe das Bild einer institutionellen Skurrilität, die nur sehr bedingt auf den Gang der Dinge Einfluss zu nehmen vormochte – und so zu einer Randerscheinung der deutschen Geschichte der Zwischenkriegszeit degenerierte.16 Diese faktengeschichtliche Dimension des Reichswirtschaftsrats ist indes ebenso zutreffend wie irreführend: Indem sie die Perspektive auf eine in der Tat nur rudimentär erfolgte Umsetzung der hypertrophen Verfassungsnorm verengt, geraten Etablierung und institutioneller Wandel des Reichswirtschaftsrats in der politischen Praxis aus dem Blick. Die Arbeit versucht, hier eine neue Perspektive zu eröffnen.

Zweifelsohne ist die Fokussierung auf den Reichswirtschaftsrat als Prisma unterschiedlicher theoretischer Entwürfe zur Neuordnung des durch die Kriegswirtschaft in mehrfacher Hinsicht verwirrten Verhältnisses von Wirtschaft und Staat interessant und einer eingehenden Analyse und Interpretation wert. Die mehr oder weniger radikalen Gegenentwürfe zur privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung einerseits und der staatlichen Zwangswirtschaft andererseits, die im Reichswirtschaftsrat auch institutionell ein Ventil fanden, verstellen aber paradoxerweise den Blick für die Entwicklungen im Verlauf der 1920er Jahre, die die Ausformung alternativer Formen ökonomisch-politischer Kommunikation als Reaktion auf die jeweils aktuell gestellten Herausforderungen mit sich brachte. Die Deutung einer mit großen Erwartungen an eine grundsätzliche Neuordnung gestarteten Institution, die genau an diesen Erwartungen letztlich scheiterte, passte aber wohl zu gut zu den gängigen Deutungen der Weimarer Republik als eines überforderten und aufgrund mangelnder Unterstützung von innen heraus ausgezehrten politischen Systems. In der Tat ist der Reichswirtschaftsrat als typisch für seine Zeit anzusehen – allerdings weder für ein lineares Niedergangsnarrativ, noch für eine euphorische Erzählung der vielfältigen Chancen und Möglichkeiten.17 Er verkörperte vielmehr die grundsätzliche »Unausgetragenheit«18 und Umstrittenheit der Weimarer Wirtschaftsordnung, die sich weder auf den simplen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, noch den von links und rechts, noch den von demokratisch und autoritär reduzieren lässt. Darin liegt die Komplexität des Phänomens, darin liegt aber auch sein besonderer Reiz.

Will man den Reichswirtschaftsrat also in seinen historischen Bezügen verstehen, so ist es notwendig, sich von der Fixierung auf die bloß normative Ebene, d.h. die Nichtumsetzung der Verfassungsnorm zu lösen. Vielmehr gilt es, den institutionellen Wandel des Reichswirtschaftsrats in der politischen Praxis in den Vordergrund zu rücken – theoretisch wie empirisch. Darüber hinaus erscheint es notwendig, sich von den gängigen Labels zu verabschieden, die den Reichswirtschaftsrat vor allem im Lichte der Korporatismusforschung zu erfassen suchten; die damit verbundenen Prämissen und Annahmen (der Politikwissenschaft) scheinen mit Blick auf den Reichswirtschaftsrat mehr zu verhüllen, als zu erhellen.19 Er bildete vielmehr einen spezifischen Realtypus, dessen Eigenart sich erst über eine Analyse von Praxis und Selbstverständnis erschließt. Eine solche Perspektive legt nahe, dass der Reichswirtschaftsrat nicht nur – zu Beginn und für sehr kurze Zeit – als Sehnsuchtsort all jener fungierte, die eine institutionelle Manifestation der »neuen Wirtschaft«20 wünschten, sondern auch ein eminent praktisches Bedürfnis der Wirtschaftsakteure befriedigte. Angesichts der politischen Polarisierung im Inneren, die nicht zuletzt ihre Wurzeln in einer Vielzahl ungelöster ökonomischer Probleme besaß, bot der Reichswirtschaftsrat ein Forum, auf dem ohne ideologischen Konformitätsdruck kontroverse policies diskutiert, Netzwerke gepflegt und politische Entscheidungen beeinflusst werden konnten. Insofern verkörperte er eine spezifische Antwort auf das Problem des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik, die einerseits dem offenen Horizont und dem Gestaltungsoptimismus der Zeit nach 1918 Rechnung trug,21 andererseits aber eben auch die Labilität der daraus erwachsenden Ordnungsversuche artikulierte. Die Anerkennung dieser Hybridität eröffnet weiterführende Einsichten: Denn dass der Reichswirtschaftsrat nach 1945 zunächst als Vorbild für einen etwaigen Bundeswirtschaftsrat diente, man sich unter geänderten Vorzeichen dann aber für ein gänzlich anderes Modell ökonomischer Politikberatung entschied,22 zeigt die historische Bedingtheit, nach der das Verhältnis von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft jeweils auch institutionell kanalisiert und politisch organisiert werden kann.23 Der Reichswirtschaftsrat als Versuch der politischen Ordnungsstiftung durch Versachlichung stellte in der historischen Situation eine mögliche Lösung dar.

1.2Forschungsstand

Das »Schattendasein«24, das dem Reichswirtschaftsrat mit Blick auf seine periphere Rolle in der Weimarer Republik attestiert wurde,25 gilt noch viel mehr für seine Rolle in der historischen Forschung. Gerade in den klassischen allgemeinhistorischen Handbuchdarstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik sind informative Ausführungen zum Reichswirtschaftsrat selten, das Urteil über seine politische Irrelevanz als Relikt revolutionseuphorischer Großpläne dafür umso fester.26 Randständigkeit, Schwerfälligkeit und Ineffizienz scheinen denn auch jene Formeln zu sein, die sich mit Blick auf die Charakterisierung des Reichswirtschaftsrats – von einigen Ausnahmen, auf die noch einzugehen sein wird, abgesehen – mehr oder weniger statisch in der Forschung gehalten haben.27 Die Gründe für die offenkundige Stabilität dieses Narrativs sind zum einen in seiner hohen Anschlussfähigkeit an den über lange Zeit dominierenden Niedergangsdiskurs zu suchen, der – in gewisser Hinsicht ja nachvollziehbar – in der Weimarer Republik vor allem eine zu erklärende Vorgeschichte von »1933« gesehen, und damit den Fokus auf den Aspekt des »Scheiterns« (des Parlamentarismus, der liberalen Großstadtkultur, der demokratischen Öffentlichkeit, der Wirtschaftsordnung, des sozialpolitischen Anspruchs, des Friedens- und Sicherheitsversprechens etc.) gerichtet hatte.28 Der Reichswirtschaftsrat als fehlkonzipierte Krönung eines überambitionierten Verfassungskonzepts passte da offenbar hervorragend hinein.29 Zum anderen mag die schon in der frühen Bundesrepublik virulente und im Zuge der Debatten um die mögliche Einrichtung eines Bundeswirtschaftsrats artikulierte Skepsis gegenüber einer Weimarer Neuauflage eine prägende Rolle gespielt haben: Mit dem politischen Thema »Wirtschaftsrat« verschwand auch der historische Fall »Reichswirtschaftsrat« von der Tagesordnung; sein in den 1950er Jahren vermitteltes Bild schien offenbar erschöpfend.30 So verfestigte sich die Vorstellung einer im Kern bedeutungslosen Institution, die zwar zu einzelnen Sachfragen in Erscheinung getreten sein mag, politisch aber vor dem Hintergrund der gehegten Erwartungen wirkungslos geblieben war.31

In den vergangenen Jahren waren es neben dem enzyklopädisch angelegten Band von Lilla, der eine unverzichtbare Ressource zur formalen Erschließung des Reichswirtschaftsrats darstellt,32 vor allem Arbeiten mit einem im weiteren Sinne wirtschafts- und sozialhistorischen Fokus, die den Reichswirtschaftsrat als Akteur näher in den Blick genommen haben.33 Dabei bietet insbesondre Alexander Nützenadels Charakterisierung als »Hybrid«, als eine Institution, auf die jeder projizieren konnte, was er wollte, und die gerade deshalb »nie scharfe Konturen« hatte gewinnen können,34 eine Grundlage, auf der eine Neuvermessung plausibel gemacht werden kann. Doch nicht in der Konstatierung des Mangels liegt das eigentlich Wesentliche begründet, sondern darin, das Unfertige als Signum der Zeit wahrzunehmen und für eine neue Interpretation des Reichswirtschaftsrats nutzbar zu machen. Dabei kann ein solcher Zugriff an die in der jüngeren Weimar-Forschung registrierbare Tendenz anknüpfen, die »Offenheit« der Situation nach Ende des Ersten Weltkriegs stärker gegenüber den restringierenden Faktoren zu betonen, zumal die »Krise« ein erhebliches Dynamisierungs- und Gestaltungspotential barg und von den Zeitgenossen (auch) als »offene Entscheidungssituation« wahrgenommen wurde.35 Dieser Paradigmenwechsel in der Deutung der Weimarer Republik, der freilich nicht zu einer historisch inadäquaten Verklärung führen sollte, findet seinen Niederschlag auch in den zum hundertjährigen Verfassungsjubiläum erschienen Sammelbänden, deren programmatische Titel sich nun auch begrifflich von der »Krisenrepublik« distanzieren und vielmehr das »Wagnis«, den »Aufbruch« oder den »Versuch« in den Fokus rücken.36 Vor allem in der verfassungshistorischen Literatur war indes schon seit geraumer Zeit hervorgehoben worden, dass man weder mit dem Schlagwort der »Konstruktionsfehler«37 und einer allzu dichotomen Gegenüberstellung von Weimar und Bonn, WRV und GG eine adäquaten Beschreibung der Verhältnisse liefern, noch grundsätzlich von einer 1919 fixierten, mithin statischen Verfassung ausgehen könne. Das lange Zeit unhinterfragte und bis heute im öffentlichen Diskurs virulente blame game zu Lasten der Weimarer Reichsverfassung wurde so einer grundsätzlichen Revision unterzogen und der Fokus mehr auf die Entwicklungspotentiale der Verfassung einerseits, ihre retrospektiv allerdings nur sehr kurze (und überdies arg belastete) Entfaltungsphase andererseits gerichtet.38 Dass dieses Veränderungspotential auch für den in der Verfassung normierten Reichswirtschaftsrat angenommen werden muss, liegt auf der Hand, wurde aber bisher kaum problematisiert.

Die eher geringe Relevanz des Reichswirtschaftsrats in der Forschung kontrastiert augenfällig mit seiner enormen Relevanz in der verfassungs- und staatsrechtlichen wie politisch-theoretischen Diskussion der Zeitgenossen: Neben ausführlichen Analysen des Verfassungsartikels39 lässt sich eine Fülle an (zumeist juristischen) Arbeiten nachweisen, die sich aus der ein oder anderen Perspektive dem »Problem« des Reichswirtschaftsrats und den mit ihm aufgeworfenen Fragen – Rolle der Wirtschaft im Staat, Vertretung von »Berufsständen«, Rätesystem etc. – widmen;40 sie verraten freilich mehr über die Zeit, in der sie entstanden, als über den Untersuchungsgegenstand selbst.41 Die Beobachtung der erheblichen Diskrepanz zwischen der Menge an Literatur über den Reichswirtschaftsrat aus zeitgenössischer Perspektive42 und dem Mangel an tiefgreifenden Interpretationen in der Forschung seit 1945 scheint zu bestätigen, dass der Reichswirtschaftsrat als ein typisch Weimarer Phänomen anzusehen ist und aus seiner Zeit heraus verstanden werden muss. Doch auch darüber hinaus scheint er einen Realtypus zu bilden, der sich in die herrschenden Klassifikationen der Regierungs- und der politischen Systemlehre nicht recht einfügen lässt. Dabei hat es eine gewisse Tradition, den Reichswirtschaftsrat, wenn auch bisweilen nur als Stichwort, im Kontext der weit ausgreifenden Forschungsdiskussion um den »Korporatismus« (in der Zwischenkriegszeit) bzw. jüngere Ansätze der (regulierten) »Selbstregulierung« zu lokalisieren.43 Doch so zutreffend die Beobachtung eines inneren Zusammenhangs zwischen dem Wandel der ökonomischen Ordnungskonzeptionen und der Forderung nach einer institutionellen Manifestation dieser Veränderungen auch sein mag, und so sehr auch der Wunsch nach einem »Reichswirtschaftsrat« dieses Bedürfnis zu befriedigen suchte: Seine zeitgenössische Relevanz speiste sich gerade aus dem Oszillieren zwischen unterschiedlichen Charaktereigenschaften und Repräsentationslogiken. Zwar agierte er in einem »korporatistischen« Umfeld und bediente sich korporatistischer Praktiken; seine spezifische Rolle und Stellung ist damit aber nicht angemessen zu erfassen, sofern man an einem auch theoretisch belastbaren Konzept des »Korporatismus« festhalten möchte.44 Dieser Verzicht auf eine typologische Qualifizierung mag auf den ersten Blick unbefriedigend erscheinen. Er öffnet aber erst den Raum für eine Deutung des Reichswirtschaftsrats in seinem historischen Umfeld, aus dem heraus sich seine konstitutive Ambivalenz, sein Changieren zwischen Fragilität und Persistenz verstehen lässt; die gängigen Modelle zur Umschreibung des »organisierten«45 Verhältnisses von Wirtschaft und Staat im 20. Jahrhundert greifen hier ebenso zu kurz46 wie die Konzeptualisierung des Reichswirtschaftsrats als »zweiter Kammer« oder als »Oberhaus«,47 auch wenn beides zeitgenössisch diskutiert48 und in der Spätphase der Weimarer Republik als Reformprojekt (insbesondere) im rechten politischen Spektrum vorgestellt wurde.49 Und schließlich trifft auch die Annahme, ihn als bloßes »Expertengremium«, als überdimensionierten Sachverständigenausschuss zu begreifen, nicht den Kern: Denn auch wenn sich der für die Zeit durchaus typische expertokratische Anspruch eindeutig und sehr prominent in Selbstverständnis und Praxis des Reichswirtschaftsrats nachweisen lässt, so ist er darauf gerade nicht zu reduzieren. Er verkörpert damit ein Organ sui generis, das normativ als Facette des Weimarer »Verfassungslaboratoriums«50, empirisch als Ausdruck einer »unausgetragenen« Wirtschaftsordnung erscheint, und das sich in einer neuen, ungefestigten politischen Ordnung, einer Fülle von Konfliktlagen und nicht zuletzt einem extrem ungünstigen ökonomischen Umfeld zurechtfinden musste.

Auch die Interpretation der Wirtschaftsordnung der Weimarer Republik folgt vor diesem Hintergrund relativ stabilen Deutungsmustern, die Eigenart und Facetten einer Wirtschaftsordnung im »historischen Übergang« beschreiben.51 Klassisch etwa das Narrativ eines fundamentalen Wandels vom liberalen zum »sozialen«, »staatsinterventionistischen« Modell, das in den zeitgenössischen Vorstellungen einer »organisierten«, »geplanten«, staatlich geregelten, in jedem Fall nicht mehr »freien« Wirtschaft zum Ausdruck kam,52 und die ihrerseits als Symptom einer epochalen Transformationsdynamik »des Kapitalismus« schlechthin gelesen wurde.53 Dabei entwickelte sich die spezifische Struktur der Weimarer Wirtschaftsordnung aus einer doppelten Herausforderung: Einerseits galt es, dem Bedürfnis nach einer Rekalibrierung des durch die Kriegswirtschaft überformten, zu einem kaum entwirrbaren Knäuel verschlungenen institutionellen Arrangement aus Staat, Privatwirtschaft und Verbänden zu befriedigen. Wie genau diese Neuordnung auszusehen hatte, die weder die Fortsetzung staatlicher Zwangswirtschaft noch die Renaissance einer »freien«, liberalen Marktwirtschaft bringen sollte, blieb unscharf. Andererseits mussten ökonomische, soziale, und nicht zuletzt außenpolitische Probleme ungeahnten Ausmaßes gemeistert werden, denen ein manifester Zwang zur Pragmatik inhärent war. Zwischen beiden Polen bestand freilich ein nicht unerhebliches Spannungsverhältnis, das die Weimarer Wirtschaftsordnung zwischen 1918 und 1933 prägte.

Die verfassungsrechtliche Konzeption des Weimarer »Wirtschaftslebens«, wie sie sich in Art. 151-165 WRV niederschlug, war ein Kompromiss unterschiedlicher politischer Akteure und gesellschaftlicher Kräfte;54 ihn als bloß »dilatorisch«55 zu diskreditieren, mag einem in der Zwischenkriegszeit weit verbreiteten Streben nach »Einheit« und »Gemeinschaft« entsprochen haben.56 Doch ganz bewusst bot die Verfassung einer parlamentarischen Demokratie durchaus angemessene Spielräume, die nach Ausdeutung und Konkretion verlangten.57 Das dieser Offenheit inhärente Dynamisierungspotential war freilich ambivalent: Es ermöglichte Wandel, bezahlte diese Anpassungsfähigkeit aber mit einem Dauerkampf um die »richtige« Ordnung – ein Kampf, der in der Weimarer Republik nicht zum Abschluss gebracht werden konnte. Das Übermaß an unmittelbaren Herausforderungen, die einer raschen und konsistenten Lösung harrten, politisch aber schwer zu bekommen waren, verkomplizierte die ohnehin komplexe Lage noch weiter. In diesem Rahmen hatte sich der Reichswirtschaftsrat zurechtzufinden. Dem Betrachter zeigt sich so das Bild einer Ordnung, die angesichts der obwaltenden politischen und sozio-ökonomischen Kräfteverhältnisse, angesichts der enormen Herausforderungen und den Versuchen ihrer Bewältigung, vor allem aber angesichts der erheblichen Veränderungsdynamik zwischen Revolution und Weltwirtschaftskrise, die alle scheinbar statischen Konstellationen einem kontinuierlichen Anpassungsdruck unterwarf, »in der Schwebe« blieb – und von den Akteuren bis in die frühen 1930er Jahre hinein auch in der Schwebe gehalten wurde.58 Das galt auch für den Reichswirtschaftsrat.

Bleibt die Frage nach dem Ort des Reichswirtschaftsrats in der historiographischen Deutung der Weimarer Republik: Es wurde bereits darauf verwiesen, dass das ehedem düstere Bild von Weimar in den vergangenen Jahren erheblich aufgehellt wurde und der Topos des »Scheiterns« jenem der »Potentiale« gewichen ist. In der Deutung des Reichswirtschaftsrats, so viel steht fest, hat sich dieser Trend indes nicht niedergeschlagen. Doch so bedeutsam auch die kritische Revision der ebenso zählebigen wie bekannten Weimar-Topoi – »Republik ohne Republikaner«, »Demokratie ohne Demokraten«, »Konstruktionsfehler«, »Überforderung« – mit Blick auf die politische Ordnung auch war und ist: Man sollte dabei nicht dem anderen Extrem verfallen, und nur »Optionen« sehen, wo es auch eine Vielzahl an Hemmnissen gab, die »Offenheit« des historischen Moments zu hypostasieren, wo – um einen theoretisch problematischen Begriff zu verwenden – »Strukturen« die Handlungsräume erheblich beschnitten. Dass Akteure auf der Mikroebene handeln, entscheiden und Strukturen dadurch verändern heißt eben nicht, dass auf der Mesoebene des politischen Systems nicht restringierende Faktoren wirkten, die in den eigenen Horizont integriert werden mussten, wollte man handlungsfähig bleiben.59 Konkret bedeutet dies, dass auch eine (gebotene) Neubewertung der Weimarer Republik, die den Fokus auf ihren pluralistischen Charakter, den sozialen Aufbruch und die Freisetzung einer demokratischen Gesellschaft und Kultur lenkt, nicht die grundlegenden Belastungen negieren kann, denen sich die Republik vom ersten bis zum letzten Tag gegenüber sah. Denn die »Krise« als »offene Entscheidungssituation« und nicht als »Niedergangsszenario« zu konzeptualisieren,60 verweist auch auf die fatalistische Komponente, nicht mehr viel zu verlieren zu haben. Die gravierenden Hypotheken der Republik,61 die ganz im Unterschied zur frühen Bundesrepublik und den Entwicklungsmöglichkeiten des Grundgesetzes die Entfaltung einer pluralen und lebendigen »Verfassungskultur«62 erheblich hemmten, machen dies unmittelbar greifbar – auch wenn, das sei konzediert, prinzipiell alles auch anders hätte kommen können. Aber es kam eben nicht anders. Und so bleibt auch »1933« als Zäsur erklärungsbedürftig – gerade dann, wenn der Horizont 1918/19 (angeblich) weit offen und die Chancen auf eine gar »sozialliberale« Entwicklung groß gewesen sein mochten.63 Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte, und so scheint das aktuell in der Öffentlichkeit ventilierte Geschichtsbild dazu zu tendieren, den tentativen Charakter der Weimarer Republik einerseits zu betonen, das extrem schwierige Umfeld dieser Bemühungen aber andererseits nicht zu verschweigen.64

Man sollte sich in diesem Zusammenhang allerdings auch vor einem selbstinduzierten bias hüten: Denn tentativ waren in den 1920er Jahren nämlich nicht nur jene Versuche, die in der Verfassung umrissene liberale, pluralistische und »soziale« Demokratie65 zu festigen, sondern auch jene, die das genaue Gegenteil zu erreichen suchten. Im viel zitierten »Laboratorium der Moderne«66 wurde eben nicht nur mit der repräsentativen Demokratie experimentiert, sondern auch mit einer Reihe alternativer Ordnungskonzepte – ganz abgesehen davon, dass der Demokratie-Begriff der 1920er Jahre semantisch eben auch politiktheoretische Ansätze umschloss, die alles andere als liberal und pluralistisch genannt werden können.67 Genau in diesen Schwebezustand, in dem aufgrund der miteinander bisweilen auch gewaltsam rivalisierenden Ordnungsentwürfe eine Entscheidung offen gehalten wurde, ja werden musste, passt der Reichswirtschaftsrat – und aus dieser konstitutiven »Unausgetragenheit« heraus soll er im Folgenden verstanden werden.

1.3Fragestellung und Hypothesen

1.3.1Neuvermessungen

Die hier unternommene Untersuchung will weder den Reichswirtschaftsrat in demonstrativem Kontrast zur bisherigen Forschung nun zum vermeintlichen Herzstück der Weimarer Politik stilisieren, noch den Unsinn einer historiographischen Rehabilitierung unternehmen. Vielmehr geht es um die Neuvermessung der praktischen Rolle des Reichswirtschaftsrats in Wirtschaftsordnung und politischem System der Weimarer Republik; dass dies möglich und vor allem notwendig ist, soll die Arbeit auf drei Ebenen unterschiedlichen Abstraktionsgrades zeigen. Leitend ist die Annahme, dass die traditionelle Fokussierung der Forschung auf die in der Tat nur rudimentär erfolgte Implementierung der Verfassungsnorm den Blick auf Institutionalisierung und Wandel des Reichswirtschaftsrats in der politischen Praxis verstellt. Nur so erklärt sich das paradoxe Bild eines vermeintlich bedeutungslosen, gleichzeitig aber präsenten Akteurs, einer allseits bekannten, aber doch wenig greifbaren Institution. Diese letztlich undifferenzierte Erzählung über den Reichswirtschaftsrat fügt sich gleichsam suggestiv in das master narrativ einer im Kern »überforderten Republik«68, deren Substanz angesichts der Unmenge unbewältigter Probleme sukzessive erodierte. Der Selbstevidenz dieser Niedergangserzählung ist es vermutlich auch zuzuschreiben, dass sich das Bild des Reichswirtschaftsrats als eines Papiertigers derart hartnäckig und letztlich unhinterfragt über Jahrzehnte, Jubiläen und Gedenktage hinweg halten konnte.

Die Untersuchung nimmt in einem ersten, grundlegenden Schritt (Kapitel 2) Entstehung und Etablierung des Reichswirtschaftsrats unter der Leitsemantik von »Erwartung« und »Ernüchterung« in den Blick. Im Vordergrund steht dabei nicht nur eine historisch »dichte Beschreibung« der Genese des Reichswirtschaftsrats, die für ein angemessenes Verständnis seiner institutionellen Ausgestaltung wie seines institutionellen Wandels von zentraler Bedeutung ist. Der Abschnitt widmet sich darüber hinaus der bereits früh greifbaren Skepsis gegenüber den Realisierungschancen des »Räteartikels« 165 WRV, die sich dann in der aus der Not geborenen Verordnung vom 4. Mai 192069 einerseits, den akribischen, detaillierten und langwierigen Beratungen des eigens zur Vorbereitung eines »endgültigen« Reichswirtschaftsrats eingerichteten »Verfassungsausschusses« spiegelte. Auf dieser Grundlage begründet das Kapitel die Relevanz einer Neubetrachtung, die sich nicht wie bisher auf eine normativ-legislative Ebene – die Verfassung von 1919, die Verordnung von 1920 und die im Reichstag gescheiterten Gesetzentwürfe von 1927/30 – beschränkt. Sie greift damit Überlegungen der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschung auf, die die WRV nicht nur als offene und dynamische Verfassung begreift, sondern darüber hinaus deren gleichsam »stürmischen« Wandel akzentuiert, der die Beratungen und »Regelungsintentionen« der Nationalversammlung zehn Jahre später als »Irrlichter« erscheinen ließ.70 Dies scheint auch auf den Reichswirtschaftsrat zuzutreffen.

Eine Neuvermessung des Reichswirtschaftsrats wird zweitens auf der Ebene des politischen Systems (Kapitel 3) vorgenommen: Hierbei geht es vor allem darum, ein adäquates und theoretisch unterfüttertes Bild seines institutionellen Wandels als Akteur (und eben nicht als Norm) zu gewinnen. Der Institutionalisierungsprozess, so fragil er auch war, erfolgte dabei entlang der folgenden Variablen: Da ist zunächst die Kategorie »Zeit« hervorzuheben,71 von der angesichts der überwältigenden, sich rasch wandelnden und sukzessive auftürmenden ökonomischen und (reparations-)politischen Probleme72 nie ausreichend vorhanden war. Aus dieser Hast erklärt sich die von den Akteuren bewusst betriebene Abkehr von der Verfassungsnorm, um so den Reichswirtschaftsrat als handlungsfähiges und schlagkräftiges Reichsorgan positionieren zu können. Aus der Not – den inflationsbedingt massiven Einschnitten im Etat des Reichswirtschaftsrats, dem unter anderem sein quasi-parlamentarisches Plenum zum Opfer fiel – wurde so eine Tugend gemacht. Daneben hatte sich der Reichswirtschaftsrat von Beginn an in einem ihm nur bedingt freundlich gesonnenen institutionellen Umfeld zu behaupten. Insbesondere die Dauerkonflikte mit dem Reichstag, die nicht unbegründet als »Eifersüchteleien«73 beschrieben wurden, prägten seine Arbeit in der Praxis, wohl aber auch in erheblichem Maße seine retrospektive Geringschätzung. Vergleichbar, wenn auch zunächst nicht derart spannungsgeladen, war sein Verhältnis zu den unterschiedlichen Regierungen. Auch wenn diese Konflikte, die ja vor allem deshalb so relevant waren, weil der Reichwirtschaftsrat auf Grundlage der Verordnung von 1920 nur sehr bedingt unabhängig agieren konnte, seine Handlungsfähigkeit erheblich restringierten, so bildeten sie auch den Nährboden für die Ausformung seiner »institutionellen DNA«, seines institutionellen Selbstverständnisses, das von den Akteuren ostentativ gegen politisch-dogmatische Voreingenommenheit oder wirtschaftliche Eigeninteressen ins Feld geführt wurde, und in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Die Arbeit verfolgt die These, dass die Verbalisierung und Praktizierung dieses Habitus, der von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer rationalen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ausging, einen zentralen Schlüssel zum Verständnis des Reichswirtschaftsrats in seinem historischen Umfeld bereit hält. Er situierte sich damit aus der Perspektive der Akteure in einem sehr schmalen Zwischenraum zwischen expertokratischen, parlamentarischen und korporatistischen Modi politischer Kommunikation; dies bedingte seine Persistenz, aber auch seine fragile Stellung im politischen System der Weimarer Republik.

Diese Überlegungen sollen drittens anhand ausgewählter und mit Blick auf die Politik- und Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik repräsentativer Felder74 – Sozialisierungen und Übergangswirtschaft (Kapitel 4.2), Reparationsregime und »Erfüllungspolitik« (Kapitel 4.3), Kartelle, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung (Kapitel 4.4), Arbeitsbeschaffung und Konjunkturpolitik (Kapitel 4.5) – exemplifiziert, differenziert und problematisiert werden. Die empirische Analyse geht dabei von zwei zentralen Annahmen aus: Zum einen gelang es nicht, parallel zur Ausformung des institutionellen Selbstverständnisses auch einen belastbaren Modus zur Einbindung des Reichswirtschaftsrats in den Prozess der politischen Entscheidungsfindung zu etablieren. Während die Institution also im Zuge der praktischen Arbeit mehr und mehr an Form und Stabilität gewann, blieb ihre Rolle im politischen System fragil. Zum anderen verkörperte der Reichswirtschaftsrat aber aufgrund seiner ökonomischen Expertise und des durch ihn zur Verfügung gestellten kommunikativen Angebots trotzdem einen politischen Faktor, auf den Rücksicht genommen werden musste. Er schuf damit ein dynamisches Gravitationsfeld, das es empirisch zu erfassen gilt.75

Die Rekonstruktion der Rolle des Reichswirtschaftsrats im politischen System der Weimarer Republik und die Neuvermessung seiner Stellung im Spannungsfeld volkwirtschaftlicher Anforderungen, ökonomischer Interessen, politischer Prämissen und öffentlicher Erwartungen sollen darüber hinaus (Kapitel 5) einer Systematisierung zugeführt werden, die den historischen Ort des Reichswirtschaftsrats in übergreifende Bezüge einzuordnen versucht. Leitende Annahme ist, dass der Reichswirtschaftsrat als ein Symptom für die »Unausgetragenheit« der drängenden Fragen zum Verhältnis von Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik begriffen werden kann: Als eine Institution »zwischen den Stühlen«, deren politischer Geltungsanspruch durch ökonomische Sacharbeit und den Verzicht auf ideologischen Dogmatismus allein nur schwer durchsetzbar war. Die daraus erwachsenden Ambivalenzen und Dynamiken gilt es transparent zu machen und als Grundlage für weiterführende Erkenntnisse über die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu nutzen.

1.3.2Der Reichswirtschaftsrat als politischer Akteur

Grundlage der im Folgenden entfalteten Erzählung ist die Überzeugung, dass ein Perspektivwechsel Not tut, der sich der Praxis, weniger der Norm des Reichswirtschaftsrats widmet. Die auch zeitgenössisch relevante, vor allem aber nach 1945 intensivierte Fixierung auf die Weimarer Verfassung als erklärende Variable für den (erlittenen bzw. bewusst herbeigeführten) Schiffbruch der parlamentarischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit ist bekannt, zwischenzeitlich aber weitgehend als Facette eines bundesdeutschen Exkulpationsnarrativs diskreditiert.76 Anstatt den Verfassungstext von 1919 als monolithischen Block zu verstehen, dessen rechtlicher Gehalt ein für alle Mal festgestanden hätte, gilt es den Blick auf die Offenheit der Verfassung einerseits, ihre Dynamik und ihren Wandel andererseits zu lenken.77 Die intensiv und auf hohem Niveau geführten Debatten der Weimarer Staatsrechtslehre sind hierfür nur ein Beleg, die politischen Kontroversen um die aus der Verfassung abzuleitenden sozialen und ökonomischen »Grundrechte« oder die Auslegung durch die Rechtsprechung zwei weitere. All dies zeigt, dass der Schluss von der de facto nicht erfolgten Umsetzung der Verfassungsnorm auf die Praxis nicht nur zu kurz greift, sondern wesentliche Veränderungsprozesse im Verlauf der 1920er Jahre ausblendet. Es scheint die These nicht unbegründet, dass man es nicht nur hinsichtlich der Abfolge ökonomischer und politischer Krisen, sondern auch ideen- und mentalitätsgeschichtlich mit sehr unterschiedlichen Weimarer »Republiken« zu tun hat. Der hier unternommene Perspektivwechsel speist sich aus diesen Überlegungen und versucht, sie für den Reichswirtschaftrat nutzbar zu machen.

Im Kontrast zur gängigen Annahme eines spätestens mit den signifikanten Etatkürzungen seit 1923 einhergehenden Niedergangs des Reichswirtschaftsrats betont die vorliegende Studie erstens Beständigkeit und Persistenz eines Akteurs, der seinen institutionellen Wandel selbst zu gestalten suchte. Weshalb aber die unterschiedlichen Akteure an der Institution festhielten, ja dieser ein institutionelles Selbstverständnis nach innen wie außen einzuschreiben vermochten, ist eine keineswegs einfach zu beantwortende Frage. Dass der Reichswirtschaftsrat ein Forum ökonomisch-rationaler Kommunikation jenseits von Parlament, Verbänden und Öffentlichkeit bot, mag als vorläufige und im Folgenden noch eingehender zu problematisierende These genügen. Doch das Faktum der Persistenz sagt freilich nichts über die konkrete »Bedeutung« des Reichswirtschaftsrats im politischen System. Und in der Tat erscheint zweitens weniger die institutionelle Existenz als vielmehr die politische Relevanz des Reichswirtschaftsrats als prekär.78 Dabei speiste sich die Fragilität aus mehreren Quellen, die in ihrer Summe den Fortbestand des Reichswirtschaftsrats bis 1934 als das eigentlich Exklärungsbedürftige erscheinen lassen: Einerseits sind hier die im Vergleich zur Verfassungsnorm erheblich limitierten Instrumente zur Einflussnahme auf den politischen Entscheidungsprozess zu nennen, insbesondere das fehlende Gesetzesinitiativrecht. Man blieb so den Motiven und taktischen Überlegungen der Regierung ausgeliefert: wurde man nicht gebeten, hatte man auch nichts zu sagen. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, wie sich diese Einschränkung auf die Arbeit des Reichswirtschaftsrats gerade in den »großen« Fragen der Weimarer Republik auswirkte. Andererseits trugen aber auch die Akteure im Reichswirtschaftsrat sehr unterschiedliche Erwartungen und politische Vorstellungen in die Ausschüsse hinein, die nach einem Modus der Kanalisierung und des rationalen Umgangs verlangten. Hier sollten sich, und das ist besonders hervorzuheben, sehr rasch Strategien etablieren, die das Selbstbild des sachlich-rationalen Gremiums zu befestigen halfen, auch wenn das dieser Konstellation stets inhärente Paralysepotential davon unberührt und als konfrontatives Gegenmodell stets aktivierbar blieb. Trotz all der Schwierigkeiten kam dem Reichswirtschaftsrat damit drittens die spezifische Funktion im politischen System der Weimarer Republik zu, durch ökonomische Expertise und die durch das Führungspersonal verbürgte Potenz das Handeln der Regierung auf unterschiedliche Weise zu beeinflussen, wenn auch nicht direkt zu steuern. Der Reichswirtschaftsrat kann, so die These, damit als ein politischer Akteur neu gefasst werden, ohne seine konstitutiv fragile Stellung negieren zu müssen. Zusammengenommen entsteht so das Bild einer durchweg ambivalenten Institution, deren Eigenart, Praxis und Zukunft umstritten, »unausgetragen« blieb. Angesichts der Rahmenfaktoren ist dies kaum überraschend: Der Reichswirtschaftsrat – ein charakteristisches Symptom der Weimarer Republik.

2.Der Reichswirtschaftsrat: Zwischen Erwartung und Ernüchterung

2.1Erwartungen: Der Reichswirtschaftsrat in der Weimarer Reichsverfassung

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war nicht nur die Frage nach der zukünftigen politischen Ordnung des Deutschen Reiches – territorial, staatsorganisatorisch, legitimatorisch – aufgeworfen; auch das Problem wirtschaftlicher Ordnung stand im Brennpunkt ganz unterschiedlicher Deutungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die einer Klärung bedurften.79 Zum einen drehte es sich um die Frage, in welche Volkswirtschaft die Kriegswirtschaft transformiert werden sollte: Hier konkurrierte eine grelle Vielfalt verschiedenster Systementwürfe, die ganz unterschiedliche Vorstellungen davon besaßen, wie das Verhältnis von Wirtschaft und Staat buchstäblich in Ordnung gebracht werden sollte. Es ist dies ein Feld, dem in der Forschung traditionell ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zuteil wurde, und das tiefe Einblicke in theorie- und ideengeschichtliche Strömungen und politische Diskurse der Zeit erlaubt; mit Blick auf die Entstehungsbedingungen des Reichswirtschaftsrats soll dies erneut, wohl aber systematisch betrachtet werden. Zum anderen galt es, ganz handfeste ökonomische Probleme bisher ungekannter Radikalität und Tragweite zu moderieren, die überdies mit gravierenden diplomatischen, sozialen und politischen Problemen verschlungen waren. Rasch wurde deutlich, dass beide Dimensionen – die theoretische Frage nach der zukünftigen Wirtschaftsordnung und die praktische Frage nach der Bewältigung des Berges an Nachkriegsproblemen – in nicht unerheblicher Spannung zueinander standen.80 Anhand des Reichswirtschaftsrats wird dies besonders greifbar. Die ersten Monate hatten allerdings bereits insofern für teilweise Klarheit gesorgt, als einige besonders plakative Konzepte, wie etwa die »Gemeinwirtschaft« von Wichard von Moellendorff und Rudolf Wissell,81 als realistische Optionen aktiv vom Tisch genommen82 oder angesichts veränderter »Umstände« nicht weiter verfolgt wurden bzw. werden konnten.83

Vor diesem Hintergrund soll der Reichswirtschaftsrat als ein Prisma begriffen werden, das die – weniger hinsichtlich der Diagnose als der darauf anzuwendenden Therapie – divergierenden Ansätze einer Neuordnung von Wirtschaft und Staat in sich bündelte und zu einem eigenständigen, keineswegs stabilen, sukzessive aber institutionell verfestigten Gebilde entwickelte. Im Reichswirtschaftsrat kristallisierten sich nicht nur die amorphen und ideologisch umkämpften Vorstellungen über die zukünftige sozio-politische Rolle »der Wirtschaft«. Er sah sich auch mit der Erwartung konfrontiert, fundierte Lösungen für die komplexen Herausforderungen auf Basis eines Ausgleichs unterschiedlicher Interessen vorzulegen. Dieser Überschuss an Erwartungen, einerseits als Institution die ideologisch überfrachteten Konzepte einer Neuordnung der Wirtschaft in sich aufzunehmen, und dabei andererseits gleichzeitig als Akteur die Fragen der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik maßgeblich und vor allem an »objektiven« ökonomischen Erwägungen orientiert zu behandeln, war Hypothek und Existenzgarantie zugleich. Nur beides zusammen erklärt seine Persistenz als begrifflich kaum fassbarer »Hybrid« bis in die frühen 1930er Jahre. Der Rekonstruktion seiner Entstehung kommt daher besondere Bedeutung zu.

2.1.1Motive: Neuordnung des Verhältnisses von Wirtschaft und Staat

Für die maßgeblichen Akteure aus Politik und Wirtschaft lag auf der Hand, dass die Beziehungen zwischen Wirtschaft, Staat und Politik einer Neujustierung bedurften. Weder konnte und sollte die Kriegswirtschaft fortgesetzt,84 noch die als allzu frei wahrgenommene Ordnung des klassischen Wirtschaftsliberalismus revitalisiert werden.85 Was aber an die Stelle gesetzt werden sollte, war höchst umstritten – und blieb dies auch. Der Weimarer Republik sollte es zu keiner Zeit gelingen, ein kohärentes, in sich geschlossenes Paradigma wirtschaftlicher Ordnung zu etablieren; der Reichswirtschaftsrat, sein institutioneller Wandel und seine politische Praxis, stehen paradigmatisch für diese Beobachtung.86 Die Frage freilich ist, woran sich diese Umstrittenheit, ja »Unausgetragenheit« konkret manifestierte, und wie sie sich erklären lässt: Erstens geht es dabei um einen Wandel in der Wahrnehmung der Bedeutung von Wirtschaft und die daraus folgenden Veränderungen im Verhältnisses von Ökonomie und Politik als zwei aufeinander bezogene, aber grundsätzlich unterschiedliche Sphären. Zweitens um Überlegungen zur institutionellen Kanalisierung von (organisierter) Wirtschaftsmacht, und schließlich drittens um die Konzeptualisierung einer den komplexen Bedingungen der Zeit angemessenen Wirtschaftspolitik.

Die Dynamiken der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands hatten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf nahezu allen Ebenen gravierende Anpassungsprozesse provoziert, die zu signifikanten Umgruppierung und teilweisen Verschärfung gesellschaftlicher Konfliktlinien geführt hatten. Während auf der einen Seite mit Sozialdemokratie und Gewerkschaften politische Akteure sichtbar wurden, denen zwar mit Bismarckschen Mitteln (allein) nicht mehr beizukommen war, die aber selbst in weiten Teilen ihrer Mitgliedschaft alles andere als »systemfeindlich« agierten,87 so hatten sich auf der anderen Seite auch die Strukturen der Wirtschaft erheblich verschoben.88 Sichtbar wurde dies etwa anhand eines zunehmenden Konzentrationsprozesses,89 der, aus den Erfahrungen der Krisenjahre in den 1870er Jahren lernend, Unternehmenszusammenschlüsse, Marktabsprachen und die Nutzung von »Synergien« als probates Instrument in der »Not«90 (aber beileibe nicht nur) erachtete. Auch die Auswirkungen der »ersten Welle der Globalisierung« mussten ökonomisch moderiert und politisch verarbeitet werden.91

Diese und andere Veränderungen in Ökonomie und Politik, die sich auf materieller, struktureller wie ideell-theoretischer Ebene vollzogen, blieben den Zeitgenossen keineswegs verborgen – und verlangten nach einer Erklärung.92 Besondere Prägnanz und Signifikanz ist dabei Emil Lederers Arbeit über »Das ökonomische Element und die politische Idee im modernen Parteiwesen« von 1912 zu attestieren. Lederers Perspektive ist vor allem deshalb interessant, weil sie zeitdiagnostisch auf einen fundamentalen Wandel im Verhältnis von Politik und Wirtschaft aufmerksam macht, gleichwohl aber in einem weiteren ideengeschichtlichen Zusammenhang verstanden und verortet werden kann: Kernthese ist, dass infolge der wirtschaftlich bedingten »Atomisierung« der Gesellschaft der Typus der politischen Partei zusehends verdrängt würde vom neuen Typus der »Interessentenorganisationen«: Während Parteien die »Herrschaft eines Prinzips«93 bestrebten, und damit im Kern auf einem exklusiven Wahrheitsanspruch basierten, würden Letztere dagegen nur mehr (aus)tauschbare ökonomische Interessen vertreten. Dieser Prozess sei durch die Entwicklungen der kapitalistischen Wirtschaft befördert: An der Ökonomie und ihrer Sogwirkung sei kein Vorbeikommen, neue Mechanismen des politischen Entscheidungsfindungsprozesses daher nötig.94 Lederers Diagnose sollte sich hinsichtlich der Bedeutung der Wirtschaft, der Veränderungen im Verhältnis von Ökonomie und Politik und der Notwendigkeit einer institutionell fassbaren Neuordnung als besonders hellsichtig erweisen;95 sie fügte sich aber auch in einen breiteren ideengeschichtlichen Bezugsrahmen: Denn die zunehmende Diffusion von Logiken des Ökonomischen – Egalität, Tausch, Konkurrenz96 – in den Bereich des Politischen beschreibt einen in gewisser Hinsicht typisch »modernen«97 Trend, der bereits deutlich früher fassbar ist, im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aber erneut von den Zeitgenossen aufgegriffen und in die jeweils passenden politischen Botschaften transformiert wurde. Die prominent etwa in Othmar Spanns »Wahrem Staat« von 1921 propagierten ständischen Ordnungskonzepte98 rekurrierten nicht nur zufällig auf Adam Müller und sein organologisches Politik- und Ökonomieverständnis, das dieser in seinen »Elementen der Staatskunst« von 1809 stilbildend formuliert hatte.99 Vielmehr wurde damit ein Unbehagen am Status quo zum Ausdruck gebracht, das ganz unterschiedliche politische Strömungen teilten – freilich aber auch ganz unterschiedliche Lösungsansätze favorisierten. Kurz: Dass sich im Verhältnis von Wirtschaft und Staat bzw. Ökonomie und Politik100 Grundlegendes verschoben hatte, und dass darauf neue Antworten gefunden, formuliert und diskutiert werden mussten, war bereits um die Jahrhundertwende präsent, nahm aber nach dem Ersten Weltkrieg nochmals an Bedeutung zu. Die intensiven und vor allem kontroversen Diskussionen um die konkrete Form der Weimarer Wirtschaftsordnung machen unmittelbar deutlich, dass es sich dabei um eine Frage von eminenter politischer Brisanz handelte.101

Die Beobachtung einer zunehmenden »Landnahme«102 des Ökonomischen, wie sie Emil Lederer in seiner Studie präsentiert hatte, war nur eine Stimme in einem wesentlich größeren und nicht eben homophonen Chor. Das musste freilich nicht bedeuten, dass »die Wirtschaft« (oder gar einzelne Unternehmer) sich »des Staates« bemächtigt hätte(n); ganz im Gegenteil war es, und darauf zielte auch Lederer, (zunächst) der Staat, der die Wirtschaft nicht nur »regulierte«, sondern mit zunehmender Kriegsdauer immer intensiver zum Instrument der staatlichen Zwangsbewirtschaftung griff, während die Unternehmen zusehen mussten, damit ökonomisch und strukturell zurecht zu kommen. Die Unterstützung der Kriegswirtschaft durch Umstellung auf Rüstungsproduktion schloss dies freilich mit ein.103 Worum es also ging war eine Neujustierung des Verhältnisses von Wirtschaft und Staat; der im Krieg vollzogene »Strukturbruch« angesichts einer bis dato kaum für möglich gehaltenen Mobilisierung ökonomischer Ressourcen muss dabei als Trigger begriffen werden.104

Das Knäuel der Kriegswirtschaft zu entwirren war theoretische Herausforderung und praktische Aufgabe zugleich. Mit wenigen Ausnahmen – Moellendorff stellt hier eine besonders prominente dar – waren sich die maßgeblichen Akteure aus Wirtschaft und Politik weitgehend einig, dass das System der staatlichen Zwangswirtschaft aus Kriegszeiten keine Zukunft hatte;105 nur: was an dessen Stelle treten sollte, konzeptionell wie institutionell, war keineswegs klar. Für die politische Linke stellten zwar auf der einen Seite staatliche Eingriffe in privatwirtschaftliche Eigentumsrechte unter dem Schlagwort der »Sozialisierungen« kein grundsätzliches Problem, vielmehr ein Gebot der Stunde dar. Keineswegs aber war man sich zwischen Revisionisten, orthodoxen Marxisten, Gewerkschaftern, sozialdemokratischen Abgeordneten oder sozialistischen Intellektuellen darüber einig, wie man sich nun im Spannungsfeld von Theorie und Praxis bewegen sollte, ohne den Rückhalt der Basis (und diese wiederum an die linke Opposition und später die Kommunisten) zu verlieren.106 Gleichzeitig wollte man unter keinen Umständen die nun endlich erlangte Macht durch ungestüme Radikalität aufs Spiel setzen, sondern vielmehr den praktischen Beweis erbringen, den Staat solide und verantwortungsbewusst führen und dabei gleichzeitig sozialistische Politik realisieren zu können.107 Dazu kam, dass die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Elite das politische Handwerkszeug im Kaiserreich erlernt hatte; diese Sozialisation ließ sich, selbst wenn man gewollt hätte, nicht so einfach abschütteln.108 Trotz aller Gelübde schlug man so bald einen pragmatischen Weg ein, dessen Kompatibilität mit den Zielen »des Sozialismus« immer größeren (theoretischen) Begründungsaufwand – oder entsprechend kompensatorisch wirkende Sozialleistungen – erforderte.109 Die Diskussion um die Integration wie auch immer gearteter Räte in die politische Ordnungsstruktur der Republik bildete einen Kristallisationspunkt dieser durchaus schwierigen Gemengelage. Sie provozierte Klärungsbedarf, der sich in einer Fülle an politischen, juristischen und theoretischen Debatten niederschlug und in der Folge perpetuierte. Grundsatzfragen blieben somit – und das Beispiel des Reichswirtschaftsrats wird dies besonders klar zeigen – umstritten und letztlich ungeklärt: ein Charakteristikum der Weimarer Wirtschaftsordnung als Ganzes.110

Aber auch Wirtschaftsvertretern, die allen »sozialistisch« erscheinenden Experimenten ablehnend gegenüberstanden,111 war nach den Erfahrungen des Krieges klar, dass Konzessionen an die veränderten Umstände nicht nur politisch klug, sondern auch ökonomisch geboten seien.112 Nur wenige Stimmen plädierten für eine Rückkehr zur liberalen Ära des 19. Jahrhunderts, die vielen eher als minder komplexe und damit inadäquate Form kapitalistischen Wirtschaftens erschien. Sombarts klassisch-triadische Stufenfolge des »modernen Kapitalismus«113 stand hier Pate für die weit verbreitete Auffassung, in eine neue Phase wirtschaftlicher Ordnung eingetreten zu sein, in der man sich bei Strafe des Untergangs nicht mehr allein auf das Treiben Einzelner und eine dadurch vermeintlich bewirkte Aggregation des bonum commune würde verlassen können.114 Ganz unterschiedliche Stimmen artikulierten das Gefühl, dass die Wirtschaft »nicht mehr Privatsache, sondern Sache der Gemeinschaft«115 sei, dass alle Politik »Wirtschaftspolitik geworden« sei,116 und man sich in einem Prozess der »Verwirtschaftlichung«117 befinde, der eine Neuausrichtung von Politik, Staat und Wirtschaft fordere. Wenn etwa Carl Schmitt in seinem geschichtsphilosophisch maskierten Verdikt über die Weimarer Republik von einem »Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen« spricht und damit das Primat einer egalitären Logik des Tausches gegenüber der von ihm präferierten hierarchischen Logik des Entscheidens verwirft,118 dann spiegelt sich darin ungeachtet aller rhetorischen Finten und theoretischen Stilisierungen nur eine spezifische Wahrnehmung, die Schmitt nicht exklusiv besaß.119 Aus der geteilten Diagnose einer zunehmenden, gleichwohl diffusen »Macht« der Wirtschaft konnte alles Erdenkliche abgeleitet werden – und wurde es auch. Stand aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Zugriff des Staates auf die Privatwirtschaft im Zentrum der Aufmerksamkeit, war es um 1930 die scheinbar unkontrollierbare Macht der Privaten, die das Primat der Politik untergrabe.120 Die Frage, wie mit »der Wirtschaft« als Akteur und Gegenstandsbereich umzugehen sei, war damit eine politische (und juristische)121 Kernfrage der Weimarer Republik, die mit entsprechender Intensität verhandelt wurde. Dabei waren bereits mit dem Hindenburg-Programm und seiner sozialpolitischen Umsetzung im »Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst« vom Dezember 1916 Pfadabhängigkeiten begründet worden, die nach 1918 auch von den maßgeblichen Akteuren nicht mehr revidiert werden wollten: Während die Arbeitgeberseite mit der faktisch bereits 1916 erfolgten und im Stinnes-Legien-Abkommen122 bekräftigten Anerkennung der Gewerkschaften als legitime Vertreter der Arbeiterschaft auch die Gewähr dafür erwarb, von den unkontrollierbaren Dynamiken der Revolution per »Sozialisierung« nicht aus dem Spiel genommen zu werden, bedeutete Gleiches für die Gewerkschaften nicht nur die Erfüllung einer alten Forderung, sondern auch den Einstieg in einen iterativen Prozess, an dessen Ende die (Mit-)Leitung der Betriebe durch die Arbeitnehmer ohne rüde Gewaltmaßnahmen stehen sollte. Ein Elitenkompromiss, der sich mit der »Zentralarbeitsgemeinschaft« (ZAG) perpetuierte – allerdings nach kurzer Zeit bereits zerbrach.123 Ungeachtet dessen begründete vor allem Hugo Sinzheimers124 Konzeption eines Arbeits- und Tarifrechts, verstanden als Ausdruck der »Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht«125, wo »freiorganisierte gesellschaftliche Kräfte unmittelbar und planvoll objektives Recht erzeugen und selbsttätig verwalten«126, eine Pfadabhängigkeit, die in den ersten Monaten nach Kriegsende und Revolution befestigt wurde. Klar war damit aber auch, dass mit der wechselseitigen Anerkennung von Arbeitgeber(verbänden) und Gewerkschaften der Weg zu einer (wie auch immer konkret verstandenen) »sozialistischen« Umgestaltung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung schwer, wenn nicht gar unmöglich geworden war. Der »Sozialismus« blieb damit das, was er von Beginn an war: Schreckgespenst und Erwartungsbegriff zugleich.127

Sinzheimers Vorstellungen über etwas Drittes neben privatem und öffentlichem Recht, das sich als Raum der »sozialen Selbstbestimmung« konstituiere und dabei auch Recht eigener Qualität schöpfe,128 prägte nicht nur die rechtliche Formung der (industriellen) Arbeitsbeziehungen. Sie beeinflussten auch in entscheidendem Maße den normativen Gehalt des »Räteartikels« 165 WRV,129 der einerseits auf der cleavage zwischen Kapitel und Arbeit130 aufbaute, gleichzeitig aber ein gemeinsames Interesse beider Seiten an ökonomischer Prosperität und die dafür essentielle Bereitschaft zur Kooperation unterstellte.131 Gleichzeitig blieb der konkrete, praktische Gehalt der Verfassungsnormen einerseits, die Implementierung der als adäquat empfundenen policies andererseits Gegenstand notorischer politischer Kontroversen, die den Gang der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Weimarer Republik unterschwellig strukturierten, auch wenn – zumal im Reichswirtschaftsrat – die ganz handfesten und drängenden ökonomischen Fragen den Takt vorgeben sollten. Dazu kam, dass sich die unterschiedlichen Problemlagen nicht nur vielfach überlagerten und akkumulierten, sondern überdies eine Fülle an Steuerungs- und Zielkonflikten provozierten, die bei einer auch nur teilweise erfolgten Lösung des einen Problems die Verkomplizierung eines anderen mit sich brachten.132 Neben der alle übrigen Fragen überlagernden bzw. grundierenden Reparationsproblematik samt ihrer diplomatischen, ökonomischen, fiskalischen, sozialen und nicht zuletzt politisch-ideologischen Begleiterscheinungen waren dies Währungsverfall und -stabilisierung, Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung, eine negative Handelsbilanz, der Verlust ökonomisch zentraler Regionen (namentlich Lothringens und Oberschlesiens um Katowice) Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, Überkapazitäten und Absatzschwierigkeiten, Kartellierungs- und Konzentrationsprozesse – um nur einige wenige besonders augenfällige Phänomene zu nennen; von den politischen Friktionen, die damit einhergingen und die Republik schwer regierbar machten, ganz zu schweigen.133 Die Frage also war: Wie sollte in diesem Umfeld und vor dem Hintergrund der perzipierten Bedeutungszunahme »der Wirtschaft« einerseits, der greifbaren ökonomischen Problemlagen andererseits Wirtschaftspolitik betrieben werden? Welche Form versprach, die praktischen, handwerklichen Herausforderungen zu meistern? Im Rahmen welcher Wirtschaftsordnung sollte dies bewerkstelligt werden? Die Verfassung bot darauf zwar normativ eine Lösung; was das in der Praxis und unter dem Druck der Umstände dann aber konkret hieß, blieb umkämpft und damit dynamisch. Der Reichswirtschaftsrat repräsentiert mit seiner hybriden Struktur, weder reiner Sachverständigenbeirat, noch Wirtschaftsparlament, noch Berufsständegremium, noch Räteorgan zu sein, diese Unausgetragenheit, und die Vielzahl an Unklarheiten, Hemmnissen oder gezielten Obstruktionen, die seine performance, sein Bild in der zeitgenössischen Öffentlichkeit und der Forschung präg(t)en, lässt sich daraus erklären. Vor dem Hintergrund der skizzierten Kontextfaktoren sollte diese Fragilität aber nicht überraschen oder als explanans seiner vermeintlichen Irrelevanz fungieren. Er ist vielmehr als typisches Exponat der Wirtschaftsordnung nach dem Ersten Weltkrieg, als »geschichtliches Laboratorium«134 zu begreifen, das seine Form erst finden und seine Position festigen musste. Doch während erstere im Verlauf der 1920er Jahre trotz (oder gerade wegen) der zahlreichen Hürden gefunden werden sollte, blieb seine Stellung im politischen System brüchig, unsicher, ambivalent. Das hatte viele Gründe, basierte jedoch auch in entscheidendem Maße auf seiner Genese, die Bedingung seiner Möglichkeit und Ursache seiner Fragilität gleichermaßen war.

2.1.2Ideologischer Überschuss: Räte, Stände, Wirtschaftsverfassung

Kriegsende und Revolution hatten in Politik und Gesellschaft ideologische Potentiale freigesetzt, deren Beherrschung die ersten Monate der jungen Republik in Atem hielt, zwar (spätestens) mit Inkrafttreten der Verfassung kanalisiert, nie aber je befriedet werden konnten. Dass die Krise der Kriegsniederlage von den Zeitgenossen auch als »offene Entscheidungssituation«135 begriffen wurde, die einen Möglichkeitsraum politischer Gestaltung aufschloss, scheint sich nirgends deutlicher als in der Debatte um die Inkorporation von »Räten« in die Verfassung bzw. das neue politische System zu zeigen.136 Lange Zeit wurde in der Forschung die politische Positionierung und das Vorgehen des Sozialdemokratie wahlweise (und je nach Standpunkt) als »zögerlich«, als »vertane Chance« qualifiziert: Die Revolution sei nach dem Sturz der Monarchie mehr oder weniger zum Erliegen gekommen, habe sich seit dem Winter 1918/19 im Bündnis mit den alten (Funktions-)Eliten gegen ihre Fortführung gewandt und es vor allem verabsäumt, die ökonomischen Verhältnisse einer grundlegenden Umgestaltung und Neuordnung zu unterwerfen. Daran ist manches sicher nicht falsch; die im Kern normative Grundthese aber, man hätte tiefgreifendere Einschnitte vornehmen, einen radikaleren (Um-)Bruch vollziehen müssen, um eine demokratische Ordnung stabilisieren und perpetuieren zu können, ignoriert freilich die Handlungsräume der Zeitgenossen. Die Angst vor dem Abdriften des Landes in Anarchie einerseits, die ökonomischen und sozialen Herausforderungen andererseits waren die zentralen Triebfedern, die der Regierung allzu weitgehende Konzessionen an die »Räte« als inopportun erscheinen ließen.137 Umstritten war freilich, was »Räte« eigentlich genau seien, wie sie ausgestaltet und mit welchen Rechten sie ausgestattet sein sollten, in welchem Verhältnis sie zu anderen Organen des Staates bzw. Institutionen von Wirtschaft und Gesellschaft stehen und – ganz zentral – welche Kompetenzen sie im politischen Entscheidungsprozess erhalten sollten.138 Ernst Fraenkel, sozialdemokratischer Jurist und heute aufgrund seiner wegweisenden Arbeiten zur Funktionslogik des Nationalsozialismus von 1941139 und zum Problem des »Pluralismus« gemeinhin als ein »Klassiker der Politikwissenschaft« rezipiert,140 betonte in Rückschau vor allem den basisdemokratischen Anspruch der Räte als »Protest gegen den Prozeß der Bürokratisierung des gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, wie ihn Max Weber so eindrucksvoll analysiert« habe.141 Die Unterschiedlichkeit der Konzepte war freilich auffallend: Während auch die Realisierung eines reinen Rätesystems anstelle des parlamentarischen Systems als realistische Alternative ebenso rasch vom Tisch war, wie die im nicht-sozialistischen Teil der Provisorischen Regierung virulente Hoffnung, auf diese ganz verzichten zu können,142 sollte die Frage nach der konkreten »Ergänzung«143 des politischen Systems durch (wie auch immer gebildete) Räte die Diskussion innerhalb der SPD und – in der Folge – der Nationalversammlung prägen. Denn auch die Konzeption (bloß) additiver Räteorgane im Kontext eines parlamentarischen Systems oszilliert zwischen einem vor allem von Max Cohen und Julius Kaliski favorisierten Zwei-Kammer-System144 und Hugo Sinzheimers Doppelkonzept von Arbeiter- und Wirtschaftsräten, das auf seiner Idee der »sozialen Selbstbestimmung im Recht« basierte – und sich in den Verfassungsberatungen um Art. 34a, den späteren Art. 165 WRV, schließlich durchsetzen sollte.145 Sinzheimers Ordnungskonzept ist nicht nur deshalb von Interesse, weil er als Berichterstatter in der Nationalversammlung maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung des »Räteartikels« und damit auch auf Struktur, Perspektive und Deutung des Reichswirtschaftsrats hatte. Es spiegelte auch die komplexe Herausforderung, wie mit der wahrgenommenen Bedeutung der Wirtschaft einerseits, den veränderten sozio-politischen Rahmenfaktoren andererseits auch institutionell umgegangen werden sollte, ohne dabei die parlamentarische Demokratie als politischen Ordnungsrahmen und die Rechtsinstitute des Eigentums und der Vertragsfreiheit als privatrechtliche Pfeiler der zukünftigen Wirtschaftsordnung zu verwerfen.146

Für Sinzheimer stand fest, dass »die politische Demokratie notwendig einer Ergänzung bedarf«147, um die »wirtschaftlichen Interessen« angemessen »zur vollen Geltung« bringen zu können.148 Dabei ging es gerade nicht darum, das Parlament durch Räte zu ersetzen; Sinzheimer optierte vielmehr für ein Nebeneinander von »Wirtschaftsverfassung und Staatsverfassung«149, für eine »Arbeitsteilung zwischen politischer und wirtschaftlicher Demokratie«150. Die wirtschaftliche Sphäre solle einerseits ihre Angelegenheiten selbst regeln und so Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben, die Gesetze selbst aber besser nicht durch das »wirtschaftliche Fachmenschentum«151 formuliert werden.152 Im deutlichen Kontrast zu der von Cohen und Kaliski propagierten Idee einer »Kammer der Arbeit«, die in Wahrheit nichts weiter als »ein alter Bekannter aus der Werkstatt reaktionärer Gegenmittel gegen ›Parlamentarismus‹ und ›Demokratie‹«153 und deshalb zu bekämpfen sei, solle die Wirtschaftsverfassung nicht inkorporiert werden, sondern sich gemäß der Idee der »sozialen Selbstbestimmung im Recht« frei entfalten können. In den Räten würde so »der durch die Wirtschaftsverfassung herbeigeführte wirtschaftliche Gemeinwille wirksam werden«154; den vorderhand gegenläufigen, im Kern jedoch konvergenten »Tendenzen« – den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit einerseits, die gemeinsamen Produktionsinteressen andererseits – werde durch die parallele Einrichtung von Arbeiter- und Wirtschaftsräten Rechnung getragen.155 Herzstück dieses neuartigen institutionellen Arrangements solle dann ein Reichswirtschaftsrat sein, dem durch die Integration aller am Wirtschaftsgeschehen Beteiligten nicht nur eine Entlastungs-, sondern auch eine Vitalisierungsfunktion gegenüber dem »politischen Parlament« zukommen sollte.156 Aus der Perspektive der Sozialdemokratie, die das alte Ziel aus den Augen zu verlieren drohte, waren also »Räte« geboten;157 sie dienten aber auch und vor allem der institutionellen Kanalisierung einer potentiell anomischen »Wirtschaft«, die man angesichts ihrer überragenden Bedeutung für Staat und Gesellschaft zukünftig nicht mehr sich selbst überlassen wollte. Darüber hinaus erbrächten sie mit der Einbindung (der Idee nach)158 aller Wirtschaftsakteure eine historisch notwendig gewordenen Integrationsleistung, die durch das Parlament allein nicht gewährleistet werden könne. Und schließlich ergebe sich so auch die Möglichkeit, dem nur allzu oft von taktischen Erwägungen geleiteten Handeln im »politischen Parlament« die aus der Fülle des Lebens schöpfende, praktische Sachkunde des »große[n] Parlament[s] der Wirtschaft« als Korrektiv gegenüberzustellen.159 In Art. 165 WRV sollte dieser Plan seine »Verankerung«160 finden.

Es liegt auf der Hand, dass die Konzeption Hugo Sinzheimers und deren verfassungsrechtlicher Niederschlag nicht nur eine rechtstheoretische Wurzel besaß, sondern von einem erheblichen Maß an Idealismus, ja Optimismus mit Blick auf die zukünftige Entwicklung der Weimarer Republik einerseits, der Rolle der »Arbeiterschaft« in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft andererseits getragen war. Gleichzeitig implizierte ein so verstandenes Rätemodell auch eine klare Absage an die Forderungen nach einem »reinen« Rätesystem anstelle der als »bürgerlich« geschmähten parlamentarischen Ordnung; dieses konnten auch innerhalb der SPD weiterhin auf Anhänger zählen, auch wenn sich der Reichsrätekongress vom Dezember 1918 mehrheitlich für die Nationalversammlung als legitimen Ort der Verfassungsberatungen ausgesprochen hatte.161 Die Frage nach Gehalt, Zukunft und Entwicklungspotential der in der Reichsverfassung seit August 1919 verankerten »Räte« bliebt dennoch stets auf der Tagesordnung.

Dass diese Diskussionen nie abrissen, sondern eher noch an Variantenreichtum zunahmen, lag zu einem erheblichen Teil auch daran, dass die faktische Reduktion der Räte auf ihre soziale und wirtschaftliche Funktion dennoch für ganz unterschiedliche politische Spektren attraktiv blieb. Einendes Band war dabei eine links wie rechts virulente Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit und Adäquanz des parlamentarischen Systems, das die Notwendigkeit einer »Ergänzung« erst diskursiv plausibel machte.162 Dass man »der Politik« etwas an die Seite stellen müsse, das die »eigentlichen« Interessen (wahlweise) des »Volkes«, der »Werktätigen«, der »Berufsstände« oder der Verbände zu aggregieren und artikulieren vermochte, wurde kaum ernsthaft in Zweifel gezogen. Vor diesem Hintergrund boten sich vor allem dem »berufsständischen« Diskurs zahlreiche Anknüpfungspunkte,163 sollte doch der zukünftige Reichswirtschaftsrat aus Vertretern sämtlicher für volkswirtschaftlich als relevant erachteter Branchen konfiguriert werden, selbst wenn die MdRWR analog zu ihren Kollegen im Reichstag über ein freies Mandat verfügten.164 Auch lag es aus dieser Warte nahe, eine Kontinuität zu Bismarcks »Volkswirtschaftsrat« zu konstruieren, die den neuen »Reichswirtschaftsrat« seiner »sozialistischen« Genese entledigte und ihn auch für prinzipielle Gegner der demokratischen, parlamentarischen oder sozialen Umgestaltung des Staates akzeptabel machte.165 So konnten sich viele unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und politische Akteure nicht nur zähneknirschend, sondern durchaus positiv auf die verfassungsrechtliche Verankerung von »Räten« verständigen. Es ist vor diesem Hintergrund auch weder Zufall noch Kuriosität, dass einer der maßgebenden und durchaus geschätzten166 Kommentare des »Räteartikels« von Edgar Tatarin-Tarnheyden und damit einem linker Umtriebe unverdächtigen deutschnationalen Juristen und Berufsständetheoretiker verfasst worden war.167 Aber nicht nur Anhänger einer ständischen Reorganisation des Verhältnisses von Wirtschaft und Staat, die sich regelmäßig aufgrund des etatistischen Charakters gerade nicht am italienischen corporativismo orientierten, sondern unter Rekursnahme auf eine vermeintlich »deutschrechtliche« Traditionen eine »organische« Neuordnung von unten nach oben intendierten, sahen im Reichswirtschaftsrat eher Stände als Räte.168