Politische Stakeholder überzeugen - Klemens Joos - E-Book

Politische Stakeholder überzeugen E-Book

Klemens Joos

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Beschreibung

Der Gründer einer der erfolgreichsten Interessenvertretungen in der Europäischen Union (EU), Prof. Dr. Klemens Joos, bündelt in der Neuauflage seines Standardwerks die Erfahrungen aus mehr als drei Jahrzehnten zu einer wissenschaftlichen Theorie der Governmental Relations. Im Mittelpunkt steht die Erkenntnis, dass angesichts der immer komplexeren Entscheidungsstrukturen der EU die möglichst genaue Kenntnis von Entscheidern und Entscheidungsprozessen mindestens genauso wichtig sind für den Erfolg wie die inhaltlichen Aspekte einer Interessenvertretung. In einem neuen Kapitel legt der Autor die von ihm aus der Praxis entwickelte Formel für eine wissenschaftsbasierte Interessenvertretung dar.
Mit dem am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon ist die EU de facto zu einem von Portugal bis Finnland und von Irland bis Zypern reichenden Staatsgebiet geworden. Das Europäische Parlament wurde neben dem Rat der Europäischen Union (Rat) zu einem gleichberechtigten Entscheider. Das Mitentscheidungsverfahren wurde zum Regelverfahren ("ordentliches Gesetzgebungsverfahren") erhoben. Im Rat wurde die sogenannte qualifizierte Mehrheit (55 Prozent der EU-Mitgliedstaaten, die gleichzeitig mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren) für alle wichtigen Bereiche eingeführt. Als Resultat ist für die Akteure auf der "Bühne der Europäischen Union" - EU-Mitgliedstaaten, EU-Regionen, Unternehmen, Verbände und Organisationen - der Ausgang von Entscheidungsprozessen weitgehend unkalkulierbar geworden.

Die zweite Auflage enthält ein neues Kapitel, in dem Prof. Dr. Klemens Joos die Variablen einer erfolgreichen Interessenvertretung anhand seiner wissenschaftlichen Formel noch greifbarer macht: Für eine erfolgreiche Interessenvertretung in der EU ist spätestens seit dem Vertrag von Lissabon eine dauerhafte und enge Verzahnung der Inhaltskompetenz des Betroffenen (der vier "klassischen Instrumente" der Interessenvertretung: Unternehmensrepräsentanzen, Verbände, Public-Affairs-Agenturen, Anwaltskanzleien) mit der Prozessstrukturkompetenz (das heißt, dem EU-weiten Vorhalten der erforderlichen räumlichen, personellen und organisatorischen Kapazitäten sowie der belastbaren institutions-, fraktions- und mitgliedstaatenübergreifenden Netzwerke) eines neutralen, objektiven Intermediärs die Grundvoraussetzung. Die Erfolgsaussichten lassen sich potenzieren, wenn es erstens gelingt, sich durch einen Perspektivenwechsel so für das Anliegen eines Betroffenen einzusetzen, dass die positiven Auswirkungen auf das Gemeinwohl für die Entscheidungsträger in der EU in den Vordergrund rücken (Perspektivenwechselkompetenz) und es zweitens gelingt, das Anliegen in die maßgeblichen Entscheidungsprozesse auf politischer Ebene erfolgreich einzubringen und fortlaufend zu begleiten (Prozessbegleitkompetenz).

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2. Auflage 2024

Alle Bücher von WILEY-VCH werden sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren, Herausgeber und Verlag in keinem Fall, einschließlich des vorliegenden Werkes, für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler irgendeine Haftung

© 2024 Wiley-VCH GmbH, Boschstraße 12, 69469 Weinheim, Germany

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige gesetzlich geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche markiert sind.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Print ISBN: 978-3-527-51137-2ePub ISBN: 978-3-527-84569-9

Covergestaltung: Schindler Parent GmbH, MeersburgCoverfoto: (c) KEEFFECT Design GmbH & Co. KG, KonstanzAbbildungen (Inhalt): Agentur zur schönen Gärtnerin, MünchenProjektmanagement und Lektorat: boos for books, Evelyn Boos-Körner, Schondorf am Ammersee

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Impressum

Vorwort

Notiz

Grußwort zur zweiten Auflage

Geleitwort zur zweiten Auflage

Einleitung

Die Welt hat sich verändert …

Überblick: Die einzelnen Teile des Buches

1 In eine Formel gegossen: Erfolgreiche Interessenvertretung in komplexen Entscheidungsprozessen

1.1 Wege aus der Komplexitätsfalle politischer Entscheidungsstrukturen

1.2 Politische Neugeburt der EU

1.3 Erfolgreiche Interessenvertretung im komplexen EU-Entscheidungssystem

1.4 Fazit

Anmerkungen

2 Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Interessenvertretung und Stakeholder

2.1 Interessendifferenzen, Stakeholder und Übersetzungskonflikte

2.2 Stakeholder-Orientierung: Perspektiven der Unternehmensführung jenseits des klassischen Shareholder-Value-Ansatzes angesichts komplexerer Rahmenbedingungen

2.3 Bedeutung des Intermediärs in der Interessenvertretung, abgeleitet von Theorien zu marktlichen Austauschbeziehungen

Anmerkungen

3 Interessenvertretung: Eine Annäherung. Grundlagen und Einführung

3.1 Einführung

3.2 Interessenvertretung als strukturierter Kommunikationsprozess

3.3 Legitimation von Interessenvertretung

3.4 Thesenartige Zusammenfassung

Anmerkungen

4 Politik als Prozess: Paradigmenwechsel von der Inhalts- zur Prozesskompetenz bei der Interessenvertretung

4.1 Einleitung und Fragestellung

4.2 Inhalte als das bestimmende Element der Politik?

4.3 Klassische Dimensionen der Politik: Polity, Policy, Politics

4.4 Prozessuale Dimension der Politik

4.5 Zeitliche Dimension der Politik

4.6 Politische Akteure

4.7 Politische Netzwerke

4.8 Gesetzmäßigkeiten von (politischen) Entscheidungen

4.9 Thesenartige Zusammenfassung

Anmerkungen

5 Europäische Union als Ziel von Interessenvertretung: Politisches System und Besonderheiten gegenüber mitgliedstaatlichen Systemen

5.1 Einleitung und Fragestellung

5.2 Kurze Geschichte der europäischen Integration

5.3 Fundamentale Änderungen durch den Vertrag von Lissabon

5.4 Integrationstheorien und das Mehrebenensystem Europäische Union

5.5 Politische Stakeholder in der Europäischen Union

5.6 Thesenartige Zusammenfassung

Anmerkungen

6 Rechtsetzungsverfahren und sonstige rechtliche Regelungen als Rahmenbedingungen von Interessenvertretung in der Europäischen Union

6.1 Einleitung und Fragestellung

6.2 Grundlagen der Rechtsetzung in der EU nach Lissabon

6.3 Zugang zu den Institutionen der Europäischen Union

6.4 Thesenartige Zusammenfassung

Anmerkungen

7 Governmental Relations: Prozessmanagement in der Praxis

7.1 Einleitung und Fragestellung

7.2 Allgemeines

7.3 Wesentlicher Bestandteil erfolgreicher Interessenvertretung: Stakeholder-Management

7.4 Instrumente der Interessenvertretung

7.5 Umsetzung in die Praxis: Gesamtmodell zur Strukturierung einer effektiven und effizienten Interessenvertretung

7.6 Thesenartige Zusammenfassung

Anmerkungen

8 Ausbildung: Wege zum Governmental-Relations-Manager

8.1 Einleitung und Fragestellung

8.2 Rahmenbedingungen und allgemeine Anforderungen an einen Interessenvertreter

8.3 Anforderungen an einen Interessenvertreter

8.4 Status quo der Aus- und Weiterbildung für Interessenvertreter

8.5 Neue Wege in der Aus- und Weiterbildung

8.6 Thesenartige Zusammenfassung

Anmerkungen

9 Fallstudien zu Interessenvertretungsprojekten mit struktureller Prozessbegleitung

9.1 Fall 1: »Werbeverbote für Spirituosen, Bier und Wein?«

9.2 Fall 2: »Verordnung zur Festlegung der Modalitäten für das Erreichen des Ziels für 2020 zur Verringerung der CO

2

-Emissionen neuer Personenkraftwagen«

Anmerkungen

10 Herausforderungen der Zukunft

10.1 Professionalität bedeutet Übersetzungskompetenz

10.2 Wissensinfrastrukturen

10.3 Open Policy – Zu einem Fundament der Interessenvertretung

Anmerkungen

11 Zusammenfassung und Ausblick

11.1 Interessenvertretung als betriebswirtschaftlicher Aktivposten für Unternehmen, Verbände und Organisationen

11.2 Ziele der Interessenvertretung (Mitwirkung bei Entscheidungsprozessen)

11.3 Rahmenbedingungen – Reform durch den Vertrag von Lissabon

11.4 Ausblick: Zwingender Reformbedarf zur Überwindung der Governance-Krise der EU

Anmerkungen

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Schrifttum

Stichwortverzeichnis

Über die Autoren

End User License Agreement

Illustrationsverzeichnis

Kapitel 1

Abbildung 1.1: Die Formel des Erfolgs

Abbildung 1.2: Bergbeispiel – Erfolgreiche Interessenvertretung in einfachen...

Abbildung 1.3: Bergbeispiel - Komplexitätsfalle nach dem Vertrag von Liss...

Abbildung 1.4: Erfolgsformel für das Management einer erfolgreichen In...

Abbildung 1.5: Beispiel OnePager zum Einsatz auf mitgliedstaatlicher Ebene (...

Abbildung 1.6: Beispiel OnePager zum Einsatz auf EU-Ebene

Abbildung 1.7: Bergbeispiel – Erfolgreiche Interessenvertretung in komplexen...

Kapitel 2

Abbildung 2.1: Hub-and-Spoke-Modell eines Unternehmens

Abbildung 2.2: Ausgewählte Beiträge zur Entwicklung von Stakeholder ...

Abbildung 2.3: Charakteristika des Stakeholder-Ansatzes...

Abbildung 2.4: Drei Aspekte der Stakeholder-Theorie und ihr Zusammenhang

Abbildung 2.5: Input-Output-Modell des Unternehmens versus Stakeholder-Model...

Abbildung 2.6: Das Unternehmen und seine Stakeholder

Abbildung 2.7: Wertbeiträge unterschiedlicher Stakeholder zum Organi...

Abbildung 2.8: Die Quellen von Organizational Wealth aus Sicht dreier versch...

Abbildung 2.9: Kernelemente der drei Lizenzen zur Operationalisierung des St...

Abbildung 2.10: Mögliche Klassifizierung von Stakeholdern...

Abbildung 2.11: Der Stakeholder-View des Unternehmens...

Abbildung 2.12: Zentral-instrumentalistischer Stakeholder-Ansatz: Das Untern...

Abbildung 2.13: Anspruchsgruppengerichtete Strategien im situativen K...

Abbildung 2.14: Portersche Wertschöpfungskette erweitert um soziale und poli...

Abbildung 2.15: Wandel der Branding-Logik induziert durch die servicedominan...

Abbildung 2.16: Herkunft und Rechtsstatus sozio-politischer Stakeholder-Grup...

Abbildung 2.17: Exemplarische Definitionen zu Intermediären

Abbildung 2.18: Intermediation zur Reduktion von Transaktionskosten

Abbildung 2.19: Vereinfachungseffekt durch Integration von Intermediären

Abbildung 2.20: Cluster innerhalb eines sozialen Netzwerks

Kapitel 3

Abbildung 3.1: Interessenvertretung als intermediäres System

Abbildung 3.2: Begriffliche Abgrenzungen

Abbildung 3.3 Interessenvertretung als Bestandteil der Unternehmenskommunika...

Abbildung 3.4: Adressaten im politischen Umfeld – Bundesrepublik Deutschland

Abbildung 3.5: Adressaten im politischen Umfeld – Europäische Union...

Abbildung 3.6 Einsatzmöglichkeiten von Interessenvertretung für Unte...

Abbildung 3.7: Das politische System in seiner Umwelt

Abbildung 3.8: Interessenvertretung als Verhandlungssystem zur Bildung kommu...

Abbildung 3.9: Verhaltenskodex (in Anhang I) der Interinstitutionellen Verei...

Kapitel 4

Abbildung 4.1 Exkurs: Der relative Wert des Inhalts

Abbildung 4.2: Die drei Dimensionen der Politik

Abbildung 4.3: Veränderung der Bedeutung von Prozess- und Inhaltsko...

Abbildung 4.4: Die idealtypischen Phasen des Policy Cycle...

Abbildung 4.5: Mathematische Gleichung einer symmetrischen Glockenk...

Abbildung 4.6: Annähernd normalverteilte empirische Verteilung der M...

Abbildung 4.7: Glockenkurve mit Standardabweichungen vom Mittel...

Abbildung 4.8: Entscheidungen nach Sektoren von »prinzipieller Ablehnung...

Abbildung 4.9: Entscheidungen eines Entscheidungsträgers aus der Poli...

Kapitel 5

Abbildung 5.1: Europarat

Abbildung 5.2: Von der EGKS zum Europa der 27 – die Geschichte der ...

Abbildung 5.3: Vertrag von Lissabon

Abbildung 5.4: Abweichungen zwischen Verfassungsvertrag und Vertrag von Liss...

Abbildung 5.5: Nach dem Vertrag von Lissabon – nur noch wenige EU-Politikfel...

Abbildung 5.6: Das Mehrebenensystem der EU

Abbildung 5.7: Das Europäische Parlament (Stand: 2.3.2023)

Abbildung 5.8: Der Rat der Europäischen Union

Abbildung 5.9: Die Europäische Kommission (Stand: 4.1.2023)

Abbildung 5.10: Interne Organisation einer Generaldirektion am Beispiel der ...

Abbildung 5.11: Politische Willensbildung im Rahmen des Institutionengef...

Abbildung 5.12: Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon

Kapitel 6

Abbildung 6.1: Handlungsermächtigungen für Rat und Parlament...

Abbildung 6.2: Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren

Kapitel 7

Abbildung 7.1 Politische Akzeptanzmärkte...

Abbildung 7.2: Klassifikationsmodell für Stakeholder

Abbildung 7.3: Auswahl von Stakeholdern mit politischem Potenzial, die auf e...

Abbildung 7.4: Key-Player-Matrix

Abbildung 7.5: Beispiel eines europäischen Dachverbands: CEFIC...

Abbildung 7.6: Mögliche strukturelle Interessenvertretungsinstrument...

Abbildung 7.7: Angaben von ausgewählten Unternehmen zu Ausgaben f...

Abbildung 7.8: Besoldung von EU-Beamten in Euro pro Monat...

Abbildung 7.9: Studie »Honorare in der Unternehmensberatung«,Tagess...

Abbildung 7.10: Externe Dienstleistungsmodelle im Vergleich

Abbildung 7.11: Prozessuale Instrumente der Interessenvertretung

Abbildung 7.12: Informationsvermittlung auf europäischer Ebe...

Abbildung 7.13: Qualitätsmaßstäbe für eine effek...

Abbildung 7.14: Koordination des Instrumentenmixes der Interessenvertretung ...

Abbildung 7.15: Strukturelle Aufstellung einer unternehmensspezifischen Inte...

Abbildung 7.16: Umsetzung eines konkreten Interessenvertretungsprojekts

Kapitel 8

Abbildung 8.1: Grundlegende Anforderungen der Interessengruppen an die Inter...

Abbildung 8.2: Grundlegende Anforderungen der Politik an die Interessenvertr...

Abbildung 8.3: Die sechs Module eines möglichen Masters in Governmental...

Kapitel 9

Abbildung 9.1: Vorläufiger Zeitplan der Richtlinie »Werbeverbot f...

Abbildung 9.2: Zeitstrahl/komplettes Gesetzgebungsverfahren (Richtlinie...

Kapitel 11

Abbildung 11.1: Klassische Instrumente der Interessenvertretung

Abbildung 11.2: Veränderung der Bedeutung von Prozess- und Inhalts...

Orientierungspunkte

Cover

Titelblatt

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Grußwort zur zweiten Auflage

Geleitwort zur zweiten Auflage

Einleitung Die Welt hat sich verändert …

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Anhang

Abbildungsverzeichnis

Schrifttum

Stichwortverzeichnis

Über die Autoren

End User License Agreement

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Vorwort

Das politische Europa hieß noch Europäische Gemeinschaft, die Europäische Union war noch nicht »geboren« und die gemeinsame Währung, den Euro, gab es auch noch nicht, als ich 1990 die EUTOP International GmbH (die heutige EUTOP Group) als Dienstleister für die strukturelle Begleitung der Interessenvertretungen auf europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene gründete – damals noch als Student der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU).

Die spannende Materie der Interessenvertretung bei den Institutionen der Europäischen Union hat mich beruflich, wissenschaftlich sowie auch als Autor und Herausgeber seither nicht mehr losgelassen. 1997 wurde ich mit dem Thema Interessenvertretung deutscher Unternehmen bei den Institutionen der Europäischen Union an der Fakultät für Betriebswirtschaft der LMU München promoviert – damals eine Pionierarbeit, gab es doch praktisch keine wissenschaftlichen Publikationen, an die man hätte anknüpfen können. Von einem organisationswissenschaftlichen Ansatz ausgehend, beschäftigte sich meine Doktorarbeit mit der Notwendigkeit einer strukturellen, prozessorientierten Interessenvertretung zu einem Zeitpunkt, als das komplexe, auf viele unterschiedliche formelle wie informelle Prozesse und Verfahren aufbauende Mehrebenensystem der Europäischen Union gerade erst im Entstehen war. Für den genauen Beobachter war aber schon damals absehbar, dass die inhaltliche Arbeit allein – d. h. unter Vernachlässigung der prozessualen Aspekte politischer Entscheidungen – bei der Interessenvertretung nicht mehr zum Erfolg führen wird. Was in meinem 2011 erschienenen Buch »Lobbying im neuen Europa« bereits angedeutet war, wurde mit der Veröffentlichung der ersten Auflage von »Politische Stakeholder überzeugen« im November 2015 umfassend analysiert und erläutert – der spätestens mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember  2009 ausgelöste Paradigmenwechsel von der Inhaltkompetenz zur Prozesskompetenz in der politischen Interessenvertretung.

Der erste Gedanke für dieses Buch kam mir während meines Masterseminars »Convincing Political Stakeholders« als Lehrbeauftragter an der Fakultät für Betriebswirtschaft der LMU München (2013–2021), als ich einen schnellen und fundierten Einstieg in das Thema bieten wollte. Die erste Auflage des Buches hat mittlerweile Eingang in über 900 Bibliotheken weltweit gefunden und damit meine Erwartungen bei Weitem übertroffen. 2015 war auch das Jahr, in dem ich über 25 Jahre wissenschaftliche Pionierarbeit zur Prozesskompetenz in einer veranschaulichenden Formel für eine erfolgreiche Interessenvertretung zusammengeführt habe. Leider konnten die mit dieser Formel einhergehenden Erkenntnisse in der ersten Auflage aus zeitlichen Gründen inhaltlich nur angedeutet werden. In den letzten Jahren konnte ich meinen wissenschaftlichen Ansatz zur Prozesskompetenz weiter ausdifferenzieren. Mit meinem Wechsel an die TUM School of Management im April 2021, und spätestens mit meiner Berufung zum Honorarprofessor für »Betriebswirtschaftslehre – Political Stakeholder Management« an der Technischen Universität München, stand mein Entschluss fest, das vorliegende Werk fortzuschreiben und die neuen Erkenntnisse in eine zweite Auflage einfließen zu lassen. So ist ein neues Kapitel entstanden, das den Leser schnell in die zentralen Themen des Buches einführt. Vor allem aber wird die »Erfolgsformel« vorgestellt und damit in dieser Form erstmalig ein umfassender Einblick in über drei Jahrzehnte Praxiserfahrung in der politischen Interessenvertretung gewährt.

Das Buch kann von seinen Lesern auf verschiedene Weise genutzt werden: Auf der einen Seite bietet es Studierenden und Lesern der interessierten Öffentlichkeit einen schnellen Einstieg in die prozessorientierte Interessenvertretung bei den Institutionen der Europäischen Union1. Auf der anderen Seite soll es für die Praktiker der Interessenvertretung, für Entscheider in Unternehmen, Verbänden und Organisationen, aber auch in der Legislative und Exekutive noch besser als die erste Auflage als Navigationswerkzeug im Arbeitsalltag dienen.

Mein Dank gilt vor allem den Co-Autoren dieses Buches, hier allen voran Professor Dr. Anton Meyer, bis März 2021 Lehrstuhlinhaber und Leiter des Instituts für Marketing an der LMU München, und Professor Dr. Armin Nassehi, Lehrstuhlinhaber am Institut für Soziologie an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der LMU, die ihre jeweiligen Kapitel für die zweite Auflage aktualisiert haben. Zudem konnte ich mit Professor Dr. Franz Waldenberger, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien, und Professor Dr. Christian Blümelhuber, Professor für strategische Organisationskommunikation und Dekan an der Universität der Künste Berlin, zwei Autoren für die zweite Auflage gewinnen, die mit ihren Beiträgen wegweisende Blicke in die Zukunft richten.

Ganz besonders freut mich das neue Grußwort von Professor Dr. Thomas Hofmann, Präsident der Technischen Universität München, und das neue Geleitwort von Professor Dr. Gunther Friedl, Dekan der TUM School of Management. In besonderer Weise werden die Leser hier thematisch in die zweite Auflage eingeführt. Dr. Christian Fackelmann und Arne Leimenstoll gilt mein besonderer Dank – sie haben die Entstehung des neuen Kapitels in vielfältiger Weise unterstützt und gaben mir wertvolle Hinweise bei der Überarbeitung des Buches für die zweite Auflage.

Zu guter Letzt danke ich Evelyn Boos-Körner für ihre hervorragende organisatorische Unterstützung. Für die Betreuung seitens des Wiley-Verlages geht mein besonderer Dank erneut an Markus Wester.

München, im Oktober 2023

Prof. Dr. Klemens Joos

Notiz

1

   Alle Leser bitte ich, sich nicht am generischen Maskulinum zu stören. Ich habe es mit Rücksicht auf Sie verwendet, um den Lesefluss zu erleichtern. Selbstverständlich sind jeweils Menschen jeden Geschlechts gemeint. Der Vollständigkeit halber möchte ich noch ergänzen, dass einige Textpassagen des Buches bereits in früheren Arbeiten von mir zur Veröffentlichung kamen. Sie wurden für dieses Buch adaptiert.

Grußwort zur zweiten Auflage

Interessenvertreter in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft bewegen sich in einem zunehmend komplexen Umfeld, dessen gekoppelte Zusammenhänge und Abhängigkeitsbeziehungen ein umfassendes Verständnis von Entscheidungssituationen erschweren. Nachhaltiges unternehmerisches Handeln setzt jedoch voraus, die Gesamtheit der Interessen primärer und sekundärer Interessenvertreter einzubeziehen und Entscheidungssituationen ganzheitlich zu erfassen, inklusive der beabsichtigten Konsequenzen sowie unerwünschten Handlungsfolgen. In Verhandlungssituationen, deren Komplexizität eine transparente Durchleuchtung der Zusammenhänge erschwert, setzen erfolgreiche Problemlösungen neben der Inhaltskompetenz auch zwingend eine Prozesskompetenz voraus.

Basierend auf über Jahrzehnte entwickelte Kompetenzen und internationalen Erfahrungen in Politik, Wirtschaft und Academia zeigen Prof. Dr. Klemens Joos und seine Co-Autoren in diesem Buch in eindrucksvoller Weise auf, wie erfolgreiche Interessenvertretungen in komplexen Entscheidungssystemen – wie beispielsweise Unternehmen im Mehrebenensystem der Europäischen Union – ihre Verhandlungsstrategie und Ablauforganisation strukturieren müssen. Dabei flexibilisieren die Autoren bisherige Vorstellungen von starren soziologischen, politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Funktionsmechanismen der Lobby-Arbeit und verbinden in geschickter Weise theoretische und methodische Grundlagen mit konkreten Orientierungshilfen für die unternehmerische Praxis.

Diesen Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis leistet Prof. Dr. Klemens Joos auch als Honorarprofessor für Political Stakeholder Management an der Technischen Universität München (TUM). An der TUM School of Management trägt er maßgeblich dazu bei, unternehmerisch denkende und nachhaltig handelnde Studierende auszubilden und unserem Nachwuchs fachübergreifende, berufspraktische Horizonte zu eröffnen. Ich danke Klemens Joos sehr herzlich dafür, dass er seine einzigartigen Kompetenzen und Erfahrungen an unsere Studierenden und mit diesem Buch an die interessierte Fachgemeinschaft weitergibt.

So wie unsere Studierenden von Klemens Joos inspiriert werden, so wünsche ich allen Leserinnen und Lesern viele neue Erkenntnisse und dass diese ihren künftigen Erfolg beflügeln mögen.

München, im September 2023

Prof. Dr. Thomas F. Hofmann

Präsident der Technischen Universität München

Geleitwort zur zweiten Auflage

Politische Interessenvertretung ist für international agierende Unternehmen von wachsender Relevanz. Politische Entscheidungen haben weitreichende Auswirkungen auf Unternehmen und häufig werden diese Auswirkungen im Rahmen des politischen Entscheidungsprozesses nicht ausreichend gewürdigt. Dies gilt insbesondere für Entscheidungen der Europäischen Union. Denn hier führt die hohe Komplexität der Institutionen mit ihren vielfachen Wechselwirkungen zu einer geringen Transparenz der tatsächlichen Entscheidungsprozesse. Die auf dieser Ebene getroffenen Entscheidungen wie beispielsweise ein Verbot für Verkäufe von Neuwagen mit Verbrennungsmotor ab dem Jahr 2035 oder die Verordnung der EU-Taxonomie, die Kriterien im Hinblick auf ökologisch nachhaltige Investitionen festlegt, setzen maßgebliche Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln und müssen von Unternehmen bei ihren Entscheidungen berücksichtigt werden.

Unternehmen müssen um diese Zusammenhänge wissen und die Interessen ihrer unterschiedlichen Stakeholder verstehen. Nur so sind sie in der Lage, eine angemessene Strategie für ihre eigene politische Interessenvertretung aufzubauen. Hier setzt das vorliegende Buch von Professor Klemens Joos und seinen Co-Autoren an. Es beschreibt in eindrücklicher Weise, wie Unternehmen ihre Interessenvertretung bei den Institutionen der Europäischen Union wahrnehmen können. Dazu entwickelt der Verfasser nicht nur ein theoretisches Modell, sondern auch einen praktischen Orientierungsleitfaden, an dem sich Unternehmen ausrichten können.

Klemens Joos gelingt es auch mit dieser zweiten Auflage seines Buches, Neuland zu betreten. Die wichtige Unterscheidung zwischen Inhaltskompetenz und Prozesskompetenz, ohne die eine erfolgreiche Interessenvertretung nicht möglich ist, wird von ihm in greifbarer Weise in eine Formel gepackt, mit der die komplexe Aufgabe der Interessenvertretung auf ihren Kern und die zentralen Zusammenhänge reduziert wird. Mit Professor Armin Nassehi, Professor Anton Meyer, Professor Franz Waldenberger und Professor Christian Blümelhuber konnte er zudem vier äußerst renommierte Wissenschaftler für die Mitwirkung an diesem Buch gewinnen, die in einzelnen Abschnitten, teilweise mit weiteren Co-Autoren, ihre Perspektive auf Interessendivergenzen, Stakeholder-Management und zukünftige Entwicklungen im Bereich der Interessenvertretung darlegen.

Die Inhalte dieses Buches wurden über viele Jahre äußerst erfolgreich nicht nur in die Praxis durch eine von Klemens Joos gegründete Firma transferiert. Sie fanden auch in die Lehre der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Technischen Universität München Eingang, wo Generationen von Studierenden die konzeptionellen und theoretischen Grundlagen des Managements von politischen Stakeholdern unter der Anleitung von Klemens Joos erlernen durften. Anhand von aktuellen Fallstudien schaffte er es immer wieder, die komplexe Materie in ein nachhaltiges Lernerlebnis zu packen.

Ich bin Klemens Joos dankbar, dass er seinen Wissensschatz mit diesem Buch abermals mit einer breiten Öffentlichkeit teilt. Ich denke, dass das Lesen dieses Buches in vielerlei Hinsicht den eigenen Horizont erweitert, nämlich wenn es um politische Institutionen und Entscheidungsprozesse geht und wenn unterschiedliche Interessen durch die Nutzung relevanter Kompetenzen zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden sollen. Ich wünsche daher auch der zweiten Auflage des Buches von Klemens Joos eine interessierte Leserschaft und eine große Verbreitung.

München, im September 2023

Prof. Dr. Gunther Friedl

Dekan der TUM School of Management

Einleitung

Die Welt hat sich verändert …

Die ersten zwei Jahrzehnte des neuen Jahrtausends haben weitreichende Umwälzungen politischer, gesellschaftlicher und technologischer Art mit sich gebracht. Die Welt ist – über alle gesellschaftlichen Erfahrungsbereiche hinweg – noch einmal um ein Vielfaches komplexer, herausfordernder und auch unsicherer geworden. Veränderungsprozesse verlaufen zunehmend dynamisch und unübersichtlich. Wenige Schlagworte wie Coronakrise, Ukraine-Krieg oder Energiekrise reichen aus, um die Tragweite der Veränderungen zu verdeutlichen. Die Politik ist angehalten, schnell und effektiv zu handeln und dabei auch die langfristigen politischen Ziele wie Digitalisierung, Klimaschutz und globale Wettbewerbsfähigkeit im Auge zu behalten.

Der Fokus des politischen Handelns verschiebt sich damit immer weiter auf die europäische Ebene, sind diese Probleme doch transnational und lassen sich nicht mehr auf der Ebene eines einzelnen Staates lösen. Damit wird zugleich die immer weiter eingeschränkte Handlungsfähigkeit des Nationalstaates erkennbar. Die Folge ist eine Veränderung der Beziehungen von Nationalstaaten untereinander, die mit einer zunehmenden Verflechtung und damit der Abnahme nationalstaatlicher Souveränität einhergeht.

Nirgends wird das deutlicher als bei der Entwicklung des politischen Europas, vom Bündnis der sechs westeuropäischen Staaten der 1950er-Jahre hin zum komplexen Mehrebenensystem der Europäischen Union, die versucht, die Interessen von heute 27 Mitgliedstaaten, ihrer Regionen und ca. 450 Mio. Bürger zu integrieren. Dies geht einher mit einer Vielzahl von Entscheidungsebenen, schwer durchschaubaren formellen und informellen Verfahrenswegen und mit einem allmählichen Bedeutungsverlust der einzelnen Mitgliedstaaten. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurde dieses komplexe politische Mehrebenensystem noch weiter zugespitzt und auf eine neue Komplexitätsstufe gehoben. Neue, komplexe Verfahrensregeln, Kompetenzgewinne für das Europäische Parlament, die Einführung der qualifizierten Mehrheit in fast allen Bereichen im Rat der Europäischen Union (Rat) und vieles mehr haben die Zahl der an einem politischen Prozess beteiligten Entscheidungsträger stark ansteigen lassen. Im Ergebnis ist der Ausgang europäischer Entscheidungsprozesse noch schwerer zu kalkulieren als zuvor, sie erscheinen undurchsichtig und unzugänglich.

Das sind die Rahmenbedingungen und Herausforderungen, vor denen die politische Interessenvertretung heute steht. Vor dem Hintergrund der komplexen politischen und rechtlichen Gegebenheiten der EU und der Vielzahl an Akteuren und Entscheidungsebenen kann sich Interessenvertretungsarbeit nicht mehr auf die Exekutive und Legislative eines einzigen Mitgliedstaates beschränken. Der Blickpunkt verlagert sich zusehends von den Hauptstädten Europas auf die »europäische Hauptstadt« Brüssel. Betroffene – Unternehmen, Verbände und Organisationen, aber auch die EU-Mitgliedstaaten und EU-Regionen selbst – haben das erkannt. Sie alle errichten Repräsentanzen, Vertretungen oder Büros in Brüssel. Mehr Büros, mehr Interessenvertreter – aber »hilft viel auch viel«?

Mit dem Anstieg der Zahl der Interessenvertreter in Brüssel geht auch eine Zunahme der »Inhaltskompetenz« (siehe Abschnitt 1.2.1 und Abschnitt 4.2) einher. Ginge man von dem Standpunkt aus, es sei das wesentliche Ziel von Interessenvertretung, im Rahmen eines Entscheidungsprozesses mit Inhalten, also Sachargumenten, auf ein bestimmtes Ergebnis hinzuwirken, so läge der Schwerpunkt der Praxis weniger auf der »Prozesskompetenz« (siehe Abschnitt 1.3) als vielmehr auf der Inhaltskompetenz. Der Kern der Tätigkeit von Verbänden und Organisationen, aber auch von wirtschaftlichen Interessenvertretern wie Unternehmensrepräsentanzen und externen Dienstleistern (z. B. Public-Affairs-Agenturen und Anwaltskanzleien) liegt auf inhaltlicher Arbeit: Teilnahme an öffentlichen Konsultationen, Verfassung ausführlicher Argumentationspapiere und Gutachten, Durchführung von Medienkampagnen. Von den wesentlichen Entwicklungstendenzen der EU scheint diese Praxis jedoch weitgehend abgekoppelt zu sein, betreffen diese doch vielmehr Verfahrensfragen (»Prozesse«) europäischer Politik: Welche Ebenen der EU sind in politische Entscheidungen einbezogen? Auf welcher Ebene (EU oder Mitgliedstaat) werden Entscheidungen letztlich getroffen? Welche Organe entscheiden mit welchen Abstimmungsmodi über welche Themen?

Hinzu kommt der stetige Kompetenzzuwachs der EU: Immer mehr Politikbereiche fallen unter die komplexen Entscheidungsverfahren dieses dynamischen Mehrebenensystems, an denen supranationale (europäische), mitgliedstaatliche und regionale Ebenen beteiligt sind. Die Akteure der jeweiligen Ebenen agieren dabei nicht isoliert voneinander. Vielmehr ist Kooperation und Kompromissbereitschaft erforderlich, will ein Akteur seine jeweils durch konstitutionelle und politische Kompetenzen, Einflussmöglichkeiten und Interessenlagen bestimmten Ziele erreichen. Um vor diesem Hintergrund an Entscheidungsprozessen in der EU erfolgreich mitwirken zu können, muss ein Interessenvertreter umfassende Prozesskompetenz besitzen – er muss also neben der Kenntnis der maßgeblichen – formellen und informellen – Entscheidungsprozesse auch EU-weit über die entsprechenden Zugangsmöglichkeiten (institutions-, fraktions- und mitgliedstaatenübergreifende Netzwerke) auf allen Entscheidungsebenen verfügen. Angesichts einer mittlerweile von Portugal bis Finnland und von Irland bis Zypern reichenden »Baustelle EU« ist das nur für sehr wenige Akteure überhaupt noch zu realisieren.

»Politische Stakeholder überzeugen« geht auf diese Fragen und Herausforderungen ein. Neben der Analyse des Mehrebenensystems EU und der mit den Reformen, insbesondere des Vertrages von Lissabon, verbundenen Veränderungen der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Interessenvertretung bietet das Buch eine praktische Orientierungshilfe für die Interessenvertretung bei den Institutionen der EU. Die Darstellung ist wie folgt aufgebaut:

Mit der zweiten Auflage erhält das vorliegende Werk ein neues Kapitel, das die vom Autor entwickelte Formel für erfolgreiche Interessenvertretung in komplexen Entscheidungssystemen vorstellt und erläutert. Das

Kapitel 1

zeigt auf, dass die bereits angesprochene Inhaltskompetenz in vielen Bereichen für die Lösung eines politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Problems nicht mehr hinreichend ist. Erforderlich ist vielmehr Prozesskompetenz, die – wie zu zeigen sein wird – aus drei Teilkomponenten besteht: Prozessstrukturkompetenz, Perspektivenwechselkompetenz und Prozessbegleitkompetenz.

In

Kapitel 2

folgen grundsätzliche Überlegungen zum Thema Interessenvertretung und Stakeholder von Nassehi und Meyer mit den Co-Autoren (in alphabetischer Reihenfolge) Meindl, Neumann, Wagner (geb. Jakić) und Wagner. Dabei geht es um Fragen der Interessendivergenz in einer modernen Gesellschaft, in der die unterschiedlichen Interessen von Stakeholdern simultan artikuliert werden und sich auf Augenhöhe begegnen. Aus Sicht der Unternehmensführung werden angesichts komplexer Rahmenbedingungen Ansätze jenseits des klassischen Shareholder Values aufgezeigt, dies unter besonderer Berücksichtigung der politischen Stakeholder. Abschließend wird die Bedeutung des Intermediärs in der Interessenvertretung behandelt, abgeleitet von Theorien zu marktlichen Austauschbeziehungen.

Kapitel 3

nimmt die notwendigen begrifflichen Definitionen vor und behandelt die Fragen nach der Funktion und Legitimation von Interessenvertretung in politischen Systemen, insbesondere den Interessen- und Informationsaustausch auf der Ebene der EU.

Die

Kapitel 4

,

5

und

6

zeigen die Komplexität der Rahmenbedingungen für Interessenvertretung in der EU auf. Sie stellen die eminente Bedeutung des Prozessualen in der Politik vor und zeigen die Komplexität des Zusammenspiels der EU-Institutionen mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren im Entscheidungsprozess auf. Hierzu werden alle relevanten Akteure und Institutionen und die bisweilen komplizierten formellen und informellen (Entscheidungs-)Verfahren und Gesetzgebungsprozesse vorgestellt.

Die

Kapitel 7

und

9

sind als »Praktiker-Kapitel« konzipiert. Sie widmen sich der konkreten Praxis der Interessenvertretung und stellen die notwendigen Instrumente für ein modernes Stakeholder-Management vor (

Kapitel 7

), deren Anwendung dann anhand von Fallstudien erläutert wird (

Kapitel 9

). Die Anwendung der Instrumente der Interessenvertretung will gelernt sein. Deshalb schildert

Kapitel 8

die Herausforderungen, vor denen die Ausbildung der Interessenvertretung heute steht, und zeigt einen Weg für eine zukünftige Ausgestaltung derselben und die Entwicklung hin zum professionellen »Governmental Relations Manager« auf. Ergänzend hierzu kann auch

Abschnitt 10.1

von Nassehi,

Abschnitt 10.2

von Waldenberger und

Abschnitt 10.3

von Blümelhuber gelesen werden.

Kapitel 11

schließlich resümiert die wesentlichen Erkenntnisse des vorliegenden Buches und ist ein Abschlussplädoyer für die herausragende Bedeutung von Prozesskompetenz für eine erfolgreiche Interessenvertretung in der EU im Licht des Vertrages von Lissabon.

Der hier im Nachgang angefügte Überblick soll dem Leser eine rasche Orientierung für die Lektüre dieses Buches bieten und die gezielte Auswahl der für ihn relevanten Teile ermöglichen. Leser mit sehr wenig Zeit seien auf das zentrale neue

Kapitel 1

der zweiten Auflage sowie die thesenartigen Zusammenfassungen der

Kapitel 3

bis

8

hingewiesen. Damit kann mit der Lektüre von nur wenigen Seiten der zentrale Inhalt des Buches zumindest im Überblick erschlossen werden.

Überblick: Die einzelnen Teile des Buches

Kapitel 1 – In eine Formel gegossen: Erfolgreiche Interessenvertretung in komplexen Entscheidungsprozessen

Kapitel 1 beginnt mit grundsätzlichen Überlegungen zur Bedeutung der Prozesskompetenz, insbesondere im komplexen Mehrebenensystem der EU. Es wird aufgezeigt, dass eine negative Korrelation besteht zwischen der Komplexität eines Entscheidungsprozesses und der Relevanz individueller inhaltlicher Erwägungen für dessen Ergebnis. Je komplexer die Situation, desto mehr ordnet sich die inhaltliche Logik in einem Entscheidungsprozess der prozessualen Logik unter. Diese zentrale Erkenntnis findet Ausdruck in einer veranschaulichenden Formel für erfolgreiche Interessenvertretung. Die Wirkungsweise dieser Formel wird anhand der Rechtsetzungsverfahren der EU veranschaulicht.

Kapitel 2 – Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Interessenvertretung und Stakeholder

Kapitel 2 ermöglicht einen allgemeinen Einstieg in das Thema Interessenvertretung und Stakeholder. Nassehi, Meyer et.al. zeigen in ihren Gastbeiträgen grundsätzliche Überlegungen und Ideen auf:

2.1 Interessendifferenzen, Stakeholder und Übersetzungskonflikte (Nassehi)

Nassehi erörtert zunächst die Interessendivergenz in einer modernen Gesellschaft, in der die unterschiedlichen Perspektiven und Interessen von Stakeholdern nicht nur simultan vorkommen, sondern sich auch auf Augenhöhe begegnen – es gibt keine Hierarchisierung von Stakeholder-Interessen mehr. Was wahr oder falsch ist, ist immer situationsabhängig. Für die Interessenvertretung bedeutet das, dass ein Anliegen auch in die Perspektive des anderen übersetzt werden muss, um es überhaupt entscheidungsfähig formulieren zu können.

2.2 Stakeholder-Orientierung: Perspektiven der Unternehmensführung jenseits des klassischen Shareholder-Value-Ansatzes angesichts komplexer Rahmenbedingungen (Meyer/Wagner/Wagner (geb. Jakić)/Neumann)

Meyer, Wagner, Wagner (geb. Jakić) und Neumann beschreiben die betriebswirtschaftliche Bedeutung der Stakeholder-Orientierung und den Stakeholder-Ansatz, die für eine moderne Unternehmensführung künftig wichtiger sein werden als der bisherige klassische Shareholder-Ansatz. Dabei wird die Relevanz der Politik als Stakeholder für Unternehmen und damit die Bedeutung einer funktionierenden Kommunikation zwischen Unternehmen und Stakeholdern verdeutlicht. Diese Kommunikation ist für Unternehmen zwingend notwendig, um ihre »licence to operate« zu erwerben und diese auch dauerhaft zu behalten.

2.3 Bedeutung des Intermediärs in der Interessenvertretung abgeleitet von Theorien zu marktlichen Austauschbeziehungen (Meyer/Meindl)

Meyer und Meindl ordnen die Interessenvertretungen in die ökonomische Theorie ein und erklären die Existenz und Bedeutung von Intermediären innerhalb von marktlichen Austauschbeziehungen, was zum Erfordernis eines unabhängigen Intermediärs in der Interessenvertretung überleitet.

Kapitel 3 – Interessenvertretung – eine Annäherung: Grundlagen und Einführung

Das dritte Kapitel grenzt die verschiedenen Bereiche der Kommunikation und Interessenvertretung – Public Relations, Public Affairs, allgemeines Lobbying und Governmental Relations – hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Adressaten, Zielsetzungen, Instrumente und Zeitfenster voneinander ab. Weiterhin beschäftigt sich Kapitel 3 mit Legitimationsfragen und dem Stellenwert von Interessenvertretung in politischen Systemen.

Kapitel 4 – Politik als Prozess: Von der Inhalts- zur Prozesskompetenz

Kapitel 4 befasst sich mit der Bedeutung von Prozessen in der Politik und der Überformung und Neuformulierung politischer Inhalte durch Prozesse. Vor diesem Hintergrund muss die prozessuale Dimension der Politik bei der Interessenvertretung stärker als bisher berücksichtigt werden. Dieser Teil der Darstellung ist insofern auch ein Plädoyer für die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Interessenvertretung, weg von rein inhaltsorientierter Argumentation (Inhaltskompetenz) hin zu mehr prozessorientierter Arbeit (Prozesskompetenz), letztlich also einer Verzahnung von Inhalts- mit Prozesskompetenz.

Kapitel 5 – Die Europäische Union als Ziel von Interessenvertretung: Politisches System und Besonderheiten gegenüber mitgliedstaatlichen Systemen

Das fünfte Kapitel stellt die institutionellen Rahmenbedingungen im Mehrebenensystem EU vor. Es zeigt, wie dieses Mehrebenensystem mit seinen zahlreichen Akteuren und Entscheidungsebenen historisch gewachsen und politiktheoretisch einzuordnen ist. Zudem bietet Kapitel 5 einen Überblick über die Funktionsweise und die rechtlichen Rahmenbedingungen des Handelns der einzelnen Organe der EU.

Kapitel 6 – Rechtsetzungsverfahren und sonstige rechtliche Regelungen als Rahmenbedingungen von Interessenvertretung in der EU

Kapitel 6 bietet einen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen der Interessenvertretung in der EU. Neben den formellen Gesetzgebungsverfahren, ergänzt um informelle Verfahren wie den Informellen Trilog zwischen EU-Kommission, Europäischem Parlament und Rat, werden auch die EU-rechtlich geregelten Zugangsmöglichkeiten für Interessenvertreter bei den Institutionen der EU dargestellt. Neben der Institutionenlehre von Kapitel 5 stellt auch Kapitel 6 damit eine wichtige Grundvoraussetzung für das Verständnis der »Komplexitätsfalle EU« dar.

Kapitel 7 – Governmental Relations: Prozessmanagement in der Praxis

Kapitel 7 erläutert die strukturellen Instrumente (wer wird tätig) und die prozessualen Instrumente (welche Mittel der Interessenvertretung werden angewandt) der Interessenvertretung. Der Leser erhält einen detaillierten Einblick in die »Toolbox« der Governmental Relations.

Kapitel 8 – Ausbildung: Wege zum Governmental Relations Manager

Der Paradigmenwechsel in der Interessenvertretung von der Inhalts- zur Prozesskompetenz fordert neue Ausbildungswege für die Interessenvertreter. Mit einer speziellen Ausbildung zum Governmental Relations Manager würden die Professionalisierung und Definierung des Berufs des Interessenvertreters ein weiteres Stück vorangetrieben und zugleich die Anforderungen aus der Politik und von Interessenvertretungsgruppen (wie Unternehmen, Verbänden, Organisationen etc.) erfüllt. Eine solch spezialisierte Ausbildung könnte zudem einen entscheidenden Beitrag leisten zu mehr Transparenz und einem besseren Image der Interessenvertretung. Kapitel 8 zeigt auf, wie die Ausbildung künftig gestaltet werden könnte.

Kapitel 9 – Fallstudien

Das neunte Kapitel befasst sich mit der praktischen Umsetzung der Inhalte des Buches und zeigt anhand zweier fiktiver Fallbeispiele, wie Interessenvertretungsprojekte durch den komplementären Einsatz der inhaltsorientierten Interessenvertretungsstrukturen des jeweiligen Auftraggebers und der externen Prozesskompetenz eines Intermediärs erfolgreich gestaltet werden können.

Kapitel 10 Herausforderungen der Zukunft

10.1 Professionalität bedeutet Übersetzungskompetenz (Nassehi)

Der Beitrag von Nassehi geht darauf ein, welche Kompetenzen neue Eliten in einer komplexen Gesellschaft entwickeln müssen. Professionalität bedeutet heute und in Zukunft vor allem die Kompetenz des Perspektivenwechsels und zwischen verschiedenen Fach- und Professionalisierungsbereichen vermitteln und »übersetzen« zu können.

10.2 Wissensinfrastrukturen (Waldenberger)

Waldenberger legt in seinem Beitrag dar, dass für gute Entscheidungen nicht nur Informationen notwendig sind, sondern auch Wissen darüber, welche Informationen relevant und verlässlich sind und wie diese Informationen in Bezug auf das jeweilige Entscheidungsproblem zu deuten und zu verwerten sind. Für die Zukunft skizziert er einen funktionsfähigen Wissenswettbewerb und dafür notwendige Wissensinfrastrukturen, die anhand einschlägiger Qualitätsmaßstäbe noch zu entwickeln sind.

10.3 Open Policy – Zu einem Fundament der Interessenvertretung (Blümelhuber)

Basierend auf Open-Policy-Prozessen versteht Blümelhuber politische Interessenvertretung als Ausdruck einer Demokratisierung und Legitimisierung der Politik, da die Grenze zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor zunehmend durchlässiger gemacht wird. Aus seiner Sicht hat der Open-Policy-Ansatz damit das Potenzial, zukünftig einen argumentativen Gegenpol zur Narration vom Demokratiedefizit der EU zu liefern.

Kapitel 11 – Zusammenfassung und Ausblick

Kapitel 11 wiederholt noch einmal die zentralen Erkenntnisse des Buches, insbesondere die Bedeutung der Prozesskompetenz und ihrer drei Teilkomponenten, des Vertrages von Lissabon, der komplexen Entscheidungsstrukturen und -verfahren der EU für die Interessenvertretung sowie des Paradigmenwechsels von der Inhalts- zur Prozesskompetenz. Abschließend wirft der Autor einen Blick in die Zukunft und verweist auf zwingend notwendige Reformen zur Überwindung der anhaltenden Governance-Krise der EU.

1In eine Formel gegossen: Erfolgreiche Interessenvertretung in komplexen Entscheidungsprozessen

1.1 Wege aus der Komplexitätsfalle politischer Entscheidungsstrukturen

1.1.1 Problemlösungen in komplexen Situationen: Prozess schlägt Inhalt

Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden zunehmend vernetzter, digitaler, globaler, heterogener und dynamischer. Die Komplexität ihrer internen und externen Zusammenhänge und Abhängigkeiten und die darin liegenden Herausforderungen für Stakeholder aller Kategorien wächst stetig. Zugleich steigen auch die mit politischem und wirtschaftlichem Handeln verbundenen Risiken für die Akteure stark an – hinsichtlich der sachlichen, räumlichen und zeitlichen Dimension der Handlungsfolgen, der damit verbundenen Schadenspotenziale und nicht zuletzt der potenziellen Irreversibilität der verursachten Schäden und des damit verbundenen sozialen Konfliktpotenzials (siehe auch Abschnitt 8.2.1).

Vor diesem Hintergrund wandeln sich die Anforderungen an nachhaltige Handlungsstrategien für betroffene Entscheidungsträger fundamental. Zwar bedurfte es seit jeher eines situativen Ansatzes, um »richtige« Lösungen zu finden und »falsche« Aktivitäten zu vermeiden. Zunehmend sind die Akteure jedoch faktisch überfordert mit der ganzheitlichen Einschätzung sowohl der Entscheidungssituation an sich als auch der Folgen – Chancen und Risiken – des eigenen Handelns, ganz gleich, ob es ihnen um gesellschaftliche Anliegen, politische Ziele oder unternehmerische Interessen geht.

Neu ist dabei nicht, dass sich Situationen fortlaufend ändern und neu einzuschätzen sein können. Fakten und Meinungen zu einer Sachfrage, über die ein Akteur entscheiden soll, sind und waren nicht stabil. Es ergeben sich neue Daten, bisher wesentliche Faktoren verlieren mit der Zeit an Gewicht, ein überraschender Stimmungswandel verschiebt politische Mehrheiten, persönliche Motive sind bei bestimmten Stakeholdern plötzlich wichtiger als sachliche Erwägungen usw. Neu ist, dass die schiere Anzahl der unterschiedlichen Ebenen und Faktoren, die aufgrund ihrer Relevanz für einen Entscheidungsprozess Eingang in unternehmerische oder politische Entscheidungen finden müssen, sehr stark angewachsen ist, ebenso deren Zusammenhänge und Abhängigkeiten.

Dafür mitverantwortlich ist die zunehmende Zahl der gesellschaftlichen Stakeholder bei zugleich immer stärker divergierenden Interessen. In heutigen Gesellschaften kommen diese unterschiedlichen Interessen und Perspektiven nicht nur gleichzeitig vor, sondern treffen sich auf Augenhöhe. Das heißt: Dieselbe Sachlage wird von einzelnen Stakeholdern meist unterschiedlich wahrgenommen – was für den einen richtig ist, erscheint dem anderen als falsch. Diese stark entgegengesetzte Betrachtungsweise desselben Problems ist nachvollziehbar und legitim. Schließlich ist das, was als wahr oder falsch wahrgenommen wird, stets abhängig von der Situation und damit auch vom Betrachter. Hier liegt ein Forschungsschwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit von Nassehi, der sich mit dem Thema »Übersetzungskonflikte« in Kapitel 2.1 dieses Buches befasst.

Zudem sind die Einschätzungen von Stakeholdern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stetem Wandel unterworfen. Was für einen Stakeholder heute richtig erscheint, kann aufgrund einer Veränderung seines Umfelds, seiner Werte und sonstiger Entscheidungsfaktoren in komplexen Situationen morgen abzulehnen sein – und vice versa. Wer sein Ziel erreichen will, muss laut Nassehi die Logik des anderen einkalkulieren. Anders gesagt: In komplexen Situationen und Entscheidungsprozessen gibt es keine einfachen Lösungswege. Es kommt also nicht nur auf inhaltliche Faktoren an, vielmehr hat die Relevanz von prozessualen Faktoren bei der Entscheidungsfindung und Problemlösung stark zugenommen. Die Erfolgsaussichten eines Lösungsweges hängen also, beeinflusst durch den Grad der Komplexität des Problemumfelds, nicht mehr allein – oft nicht einmal wesentlich – von inhaltlichen Faktoren ab (d. h. insbesondere nicht von überzeugenden inhaltlichen Argumenten zu Themen wie Arbeitsplatzsicherheit, Technologieführerschaft, Preisstabilität, Effizienz etc.). Diese sogenannte Inhaltskompetenz ist in vielen Bereichen nicht mehr als hinreichende Bedingung für die Lösung eines politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Problems zu identifizieren. Erforderlich ist vielmehr die sogenannte Prozesskompetenz, die – wie zu zeigen sein wird – aus drei Teilkomponenten besteht: Prozessstrukturkompetenz, Perspektivenwechselkompetenz und Prozessbegleitkompetenz. Die Verfügbarkeit dieser drei Teilkomponenten der Prozesskompetenz ist zur Lösung von Problemen in komplexen Entscheidungsprozessen unabdingbar.

1.1.2 Stakeholder- versus Shareholder-Ansatz

Die stark gestiegene Komplexität des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfelds bedingt aus der Perspektive eines Unternehmens eine grundlegend neue Orientierung in den eigenen Entscheidungsprozessen. Es genügt nicht mehr – anders als noch vor der Jahrtausendwende mehrheitlich propagiert –, ausschließlich die Interessen der Shareholder des Unternehmens zu berücksichtigen. Vielmehr muss ein Unternehmen, um erfolgreich zu sein, stets die Gesamtheit der Interessen seiner primären Stakeholder (also neben den Shareholdern auch Mitarbeiter, deren Interessenvertreter, Kunden, Zulieferer etc.) und seiner sekundären Stakeholder (Vertreter von Politik, Verwaltung, Medien, Wissenschaft etc.) einbeziehen. Der Paradigmenwechsel von der Shareholder-Orientierung zur Stakeholder-Orientierung ist ein Forschungsschwerpunkt von Meyer; er untersucht die Bedeutung des Stakeholder-Ansatzes für die moderne Unternehmensführung in Kapitel 2.2.

Die vorliegende Untersuchung legt ihren Fokus auf die sekundären Stakeholder. Politische Stakeholder zu überzeugen, ist für Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten immer wichtiger geworden. Die Finanzkrise, der Klimawandel, die Coronapandemie, militärische Aggressionen unterschiedlichster Art, die Krise der Energieversorgung etc. sind nur einige Themen, die bis in die kleinsten Details alltäglicher unternehmerischer Entscheidungen Relevanz entfalten. Kein Unternehmen bewegt sich allein im freien Raum, sondern ist für seinen wirtschaftlichen Erfolg auf ein günstiges, mindestens jedoch ein verlässliches regulatorisches Umfeld angewiesen.

Die vorliegende Untersuchung zeigt vor diesem Hintergrund, dass ohne Kenntnis politischer Entscheidungsprozesse und europarechtlicher Rahmenbedingungen Unternehmen – spätestens seit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon im Jahr 2009 – kaum mehr erfolgreich geführt werden können. Die Bedeutung der Prozesskompetenz ist in den Fokus der Entscheidungsträger in den Unternehmen gerückt.

1.1.3 Entscheidungen ohne Entscheider: Komplexes Mehrebenensystem der Europäischen Union (EU)

Die meisten politischen Systeme weisen seit jeher einen gewissen Grad von Vernetzung, wechselseitigen Abhängigkeiten und Vielschichtigkeit auf. Ein Paradebeispiel für die starke Zunahme ebensolcher Komplexität und den damit verbundenen Herausforderungen für Entscheidungsprozesse ist die Europäische Union (EU). Das Entscheidungssystem der EU ist einzigartig und lässt sich nur vor dem Hintergrund ihrer faktischen Zusammensetzung verstehen: Sie ist eine geografische Union aus 27 verschiedenen Mitgliedstaaten mit einheitlichen Außengrenzen, eine kulturelle Union mit 24 verschiedenen Amtssprachen, eine wirtschaftliche Union mit einem gemeinsamen Binnenmarkt und sie ist – nicht zuletzt – gerade auch eine politische Union, deren Entscheidungen auf mindestens drei Ebenen – der supranationalen, der nationalen und der regionalen – getroffen werden.

Das politische System der EU eignet sich daher im besonderen Maße, die Bedeutung der Prozesskompetenz in komplexen Systemen zu untersuchen (siehe auch Kapitel 4). Ein besonderes Forschungsinteresse kommt dem Vertrag von Lissabon zu: Er hat als gesetzliche Grundlage der Entscheidungsprozesse in der EU den Paradigmenwechsel von der Inhaltskompetenz zur Prozesskompetenz endgültig eingeleitet. Die folgenden Kapitel 1.2 und 1.4 zeigen dabei: Es besteht eine negative Korrelation zwischen der Komplexität eines Entscheidungsprozesses und der Relevanz individueller inhaltlicher Erwägungen für dessen Ergebnis. Je komplexer die Situation ist, desto mehr ordnet sich die inhaltliche Logik in einem Entscheidungsprozess der prozessualen Logik unter.

1.2 Politische Neugeburt der EU

1.2.1 Vertrag von Lissabon als Hintergrund eines Paradigmenwechsels

Am 1. Dezember 2009 endete die Europäischen Union, wie wir sie kannten: Der Vertrag von Lissabon trat in Kraft. Bildlich gesprochen, wurden aus dem bis dahin noch recht lockeren Staatenbund der Europäischen Union de facto die Vereinigten Staaten von Europa – mit einem »Staatsgebiet« von Portugal bis Finnland, von Irland bis Zypern, auch wenn sich diese Tatsache nicht mit dem Eindruck vieler Bürger deckt. Diese Diskrepanz lässt sich nicht zuletzt daraus erklären, dass sich die mitgliedstaatliche Ebene der EU alle Mühe gibt, den eigenen Gestaltungs- und Machtverlust als Folge des Vertrages von Lissabon zu verdrängen.

Mit dieser neuen politischen Realität und der ökonomisch grenzenlosen Freiheit gehen für die EU-Mitgliedstaaten, Unternehmen, Verbände und andere zivilgesellschaftliche Organisationen komplexe Strukturveränderungen einher, die im politischen Alltag zu Herausforderungen werden. Die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Wirtschaft und Politik haben sich durch den Vertrag von Lissabon entscheidend verändert. Bei den Entscheidungsträgern tatsächlich angekommen – im Sinne einer Berücksichtigung bei eigenen Entscheidungen und dem Entwurf eigener, nachhaltiger Handlungsstrategien – ist dieser Paradigmenwechsel indes häufig nicht. Bisherige Strategien, eigene Anliegen in politische Prozesse in der Europäischen Union einzubringen und dort Berücksichtigung zu finden, scheitern zunehmend – oft zum Unverständnis der Beteiligten.

Vor diesem Hintergrund ist es zwingend, sich intensiver als bisher mit den veränderten Entscheidungsprozessen und der immer unübersichtlicheren politischen Mehrheitsbildung in den EU-Institutionen zu beschäftigen. Darüber hinaus gilt es zu analysieren, was dies für die »klassischen« Instrumente der Interessenvertretung bedeutet, also insbesondere für die Tätigkeiten von Verbänden und NGOs, aber auch von wirtschaftlichen Interessenvertretern wie Unternehmensrepräsentanzen und externen Dienstleistern (z. B. Anwaltskanzleien und Public-Affairs-Agenturen). Der Fokus dieser klassischen Instrumente der Interessenvertretung liegt eindeutig auf der inhaltlichen Arbeit: Teilnahme an öffentlichen Konsultationen, Verfassen ausführlicher Argumentationspapiere und juristischer Gutachten, Durchführung von Medienkampagnen etc. Sie haben also eine stark ausgeprägte Inhaltskompetenz (siehe auch »Inhaltskompetenz« in Abschnitt 4.2 und »Strukturelle Instrumente« in Abschnitt 7.4.1).

1.2.2 Neuordnung von Entscheidungsprozessen durch den Vertrag von Lissabon

Was hat sich also durch den Vertrag von Lissabon für die Stakeholder auf der »Bühne der Europäischen Union« verändert, welche bis dahin unbekannten Probleme sind für die klassischen Instrumente der Interessenvertretung entstanden und wie lassen sich trotz dieser neuen Herausforderungen die Anliegen von Unternehmen in der Europäischen Union weiterhin erfolgreich vertreten bzw. begleiten?

Die maßgeblichen Veränderungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Zum einen erhielt das Europäische Parlament einen erheblich größeren politischen Einfluss – es wurde in fast allen Bereichen, neben dem Rat der Europäischen Union (Rat), zu einem gleichberechtigten Entscheider: Mit dem Vertrag von Lissabon wurde das frühere Mitentscheidungsverfahren zum Regelverfahren (»ordentliches Gesetzgebungsverfahren«) erhoben. An diesem Verfahren sind drei EU-Organe beteiligt: die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat. Die Bildung von Mehrheiten findet dabei quer durch alle EU-Mitgliedstaaten und Fraktionen statt. Darin liegt ein fundamentaler Unterschied zu den legislativen und exekutiven Entscheidungsverfahren der EU-Mitgliedstaaten: Es gibt keine strukturelle legislative Mehrheit, in der die Exekutive mit ihrer »Regierungsmehrheit« legislative und exekutive Vorhaben gestalten und umsetzen kann. Das aus den parlamentarischen Demokratien der EU-Mitgliedstaaten bekannte Gegenüber von Regierung und Opposition ist der EU also fremd.

Zum anderen kann der Rat seit dem Vertrag von Lissabon in vielen wichtigen Bereichen (Inneres, Justiz, Landwirtschaft, Außenhandel) mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Ein einzelner EU-Mitgliedstaat kann in diesen Bereichen, anders als zuvor, einen Beschluss nicht mehr verhindern. Damit ist ein bis dato entscheidender Hebel zur Blockade politischer Entscheidungen in den betroffenen Bereichen weggefallen.

Schließlich hat sich seit dem Vertrag von Lissabon ein neues, einflussreiches Entscheidungsforum entwickelt: der »Informelle Trilog« (siehe Abschnitt 6.2.3 und Abschnitt 6.3.4.1.3). Europäisches Parlament, Rat und EU-Kommission haben sich ohne primärrechtliche Grundlage darauf verständigt, bereits vor der ersten Lesung eines Rechtsaktes informell zu beraten, Mehrheiten zu suchen und das Ergebnis vorauszuplanen. Das Gesetzgebungsverfahren in der EU wurde auf diese Weise deutlich beschleunigt – etwa 89 Prozent1 aller Rechtsakte sind bereits nach der ersten Lesung im Parlament erfolgreich abgeschlossen und finden somit ihren Weg in das Europäische Gesetzblatt (zu den Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon siehe insbesondere Kapitel 5 und 6).

Auf all diese einschneidenden Veränderungen haben sich viele Stakeholder auf der »Bühne der Europäischen Union« bis heute nur unzureichend eingestellt. Viele EU-Mitgliedstaaten, EU-Regionen, Unternehmen, Verbände und Organisationen stehen vor dem Problem, dass der Ausgang von Entscheidungsprozessen in der Europäischen Union für sie weitgehend unkalkulierbar geworden ist: Jedes legislative und exekutive Vorhaben in der EU muss einzeln betrachtet werden. Die festen inhaltlichen Linien, die auf mitgliedstaatlicher Ebene beispielsweise in Koalitionsverträgen festgehalten werden, gibt es auf EU-Ebene nicht, ebenso wenig wie den einen (oder die wenigen) endgültigen Entscheider (siehe insbesondere Abschnitt 6.3.4.1).

Für die Stakeholder auf EU-Ebene birgt dies angesichts der Vielzahl legislativer und exekutiver Akte das Risiko eines weitgehenden Mitwirkungsverlusts: So werden z. B. die Rahmenbedingungen unternehmerischen Handelns auf EU-Ebene entscheidend bestimmt durch Richtlinien, Verordnungen, Weiß- und Grünbücher der EU-Kommission, Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte, durch Entscheidungen im Kartell- und Beihilferecht sowie durch Leitlinien, Zölle und zahlreiche andere legislative und exekutive Maßnahmen (siehe insbesondere Abschnitt 4.4.1 und Kapitel 6). Fehlt einem Stakeholder hier sowohl Überblick als auch Zugang zu den dem jeweiligen Rechtsakt zugrunde liegenden Entscheidungsprozessen, wird sein Anliegen allenfalls auf Zufallsbasis Berücksichtigung finden.

1.2.3 Auswirkungen der durch den Vertrag von Lissabon veränderten Rahmenbedingungen auf die Interessenvertretung in der EU

In einer Demokratie haben Interessengruppen das Recht, der Politik ihre individuellen Anliegen vorzutragen. Von diesem ständigen Austausch zwischen gesellschaftlich-unternehmerischer und politischer Sphäre profitieren alle Beteiligten: Nur so können die politisch Verantwortlichen beurteilen, ob und wie sie mit ihren Entscheidungen einen möglichst großen Nutzen für das Gemeinwohl erzielen.

Dieser »Grundsatz des Gehörtwerdens« gilt auch in der EU-Demokratie. Doch spätestens seit dem Vertrag von Lissabon hat ein komplexes Mehrebenensystem die bisherigen einfachen Entscheidungswege innerhalb der Europäischen Union abgelöst. Nicht nur 27 EU-Mitgliedstaaten, sondern auch zahlreiche Wechselbeziehungen zwischen den 705 Abgeordneten des Europäischen Parlaments und den 27 Europäischen Kommissaren sowie deren über 32.000 Mitarbeitern bestimmen den politischen Alltag.

Ein für die Betroffenen (Unternehmen, Verbände etc.) besonders folgenschweres Beispiel der neuen Entscheidungsfindung in der EU ist der bereits beschriebene »Informelle Trilog«: Sie oder ihre Interessenvertreter werden in einer der wichtigsten Phasen des Entscheidungsprozesses nicht formal angehört. Lediglich die Vertreter der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rates finden sich im informellen Rahmen zusammen, um gemeinsame Kompromisslinien zu bestimmen. Gerade den wenig transparenten, informellen Entscheidungsprozessen dieser Art ist die klassische Interessenvertretung mit ihrem Fokus auf inhaltliche Arbeit nicht mehr gewachsen.

Der Informelle Trilog ist dabei nur Beispiel und Synonym für eine Vielzahl informeller Vorgänge in komplexen politischen Systemen. Die klassischen Instrumente der Interessenvertretung in einem einfachen politischen System funktionieren in der komplizierten neuen Welt der EU-Demokratie nach dem Vertrag von Lissabon nicht mehr. Es ist damit erheblich schwieriger, aufwendiger und unvorhersehbarer geworden, die Interessen der Betroffenen bei den politischen Entscheidern erfolgreich zu vertreten. In vielen Fällen erreichen ihre Anliegen nicht einmal mehr die richtigen Adressaten oder scheitern aus anderen Gründen. Damit steigt die Gefahr, dass die Betroffenen mit ihren Inhalten nicht mehr zu den Entscheidungsträgern durchdringen. Erhebliche finanzielle Belastungen oder Wettbewerbsnachteile sind die Folge. Bildlich gesprochen, sind die komplexen Entscheidungsprozesse der EU mit einem Labyrinth zu vergleichen, zu dem den klassischen Instrumenten der Interessenvertretung die Landkarte – das Verständnis der komplexen Entscheidungsprozesse im Sinne der Prozesskompetenz – fehlt (siehe Abschnitt 6.3.4.1).

Ausgelöst durch einen Komplexitätssprung der Prozesse europäischer Entscheidungsfindung in einem immer heterogeneren Umfeld erleben wir damit einen Paradigmenwechsel – eine gegenüber »inhaltlicher Argumentation« stark gewachsene Bedeutung des »Prozessualen« in der Politik (siehe Kapitel 4). Zwar sind Inhalte und Argumente auch in komplexen politischen Verfahren weiterhin wichtig. Entscheidend für ihre Aufnahme und Durchsetzung ist jedoch erst ihre Kommunikation von der richtigen Person an die richtigen Adressaten, zur richtigen Zeit am richtigen Ort und auf die richtige Art und Weise unter Kenntnis von Zielsetzungen, Interessenlagen und Denkweisen der Entscheidungsträger sowie der informellen und formellen Entscheidungsregeln.

1.3 Erfolgreiche Interessenvertretung im komplexen EU-Entscheidungssystem

1.3.1 Erfolgsformel

Vor dem Hintergrund der in den vorangegangenen Abschnitten geschilderten Veränderungen und Herausforderungen im komplexen politischen Entscheidungssystem der EU lassen sich die Variablen einer erfolgreichen politischen Interessenvertretung greifbar machen. Wie lassen sich die Interessen von – beispielsweise – Unternehmen und Verbänden also weiterhin erfolgreich vertreten bzw. begleiten? Der Autor beantwortet diese Frage durch eine veranschaulichende Formel – die »Formel des Erfolgs in der Interessenvertretung« (siehe Abbildung 1.1). Hintergrund der Formel sind – neben wissenschaftlichen Untersuchungen zur Interessenvertretung des Autors der vergangenen Jahrzehnte – insbesondere auch seine praktischen Erfahrungen in mehr als 30 Jahren erfolgreicher Interessenvertretung auf EU- ebenso wie auf mitgliedstaatlicher Ebene. Die Grundlagen der Formel wurden vom Autor bereits in seiner Dissertation vor mehr als 30 Jahren gelegt und in zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten weiterentwickelt. Im Jahr 2015 wurden die Ergebnisse dieser Arbeit erstmals als vollständige »Erfolgsformel« publiziert.

Die verbale Kurzversion dieser Formel lautet wie folgt: Für eine erfolgreiche Interessenvertretung in der EU ist ein wohldosiertes Zusammenspiel aus inhaltlicher und prozessualer Kompetenz die Grundvoraussetzung. Dieser Erfolg lässt sich aber noch potenzieren, wenn es gelingt,

sich durch einen Perspektivenwechsel so für das Anliegen eines Betroffenen einzusetzen, dass die positiven Auswirkungen für das Gemeinwohl in den Vordergrund rücken, und

das Anliegen dieses Betroffenen in sorgfältiger Detailarbeit jeden Tag EU-weit voranzutreiben.

Abbildung 1.1: Die Formel des Erfolgs

In der praktischen Umsetzung dieser Formel begleitet eine Governmental-Relations-Agentur (Governmental Relations bezeichnet eine auf Prozesskompetenz spezialisierte Form der Interessenvertretung, siehe Abschnitt 3.2.2 und Abschnitt 7.4.1.3.3.3) den Stakeholder (Kunden) als unabhängiger Intermediär durch das Labyrinth der europäischen Politik – dies zusätzlich zur klassischen inhaltlichen Interessenvertretung durch Unternehmensrepräsentanzen, Verbände, Public-Affairs-Agenturen und Anwaltskanzleien. Ziel dieses komplementären Ansatzes ist es, die bisherige Perspektive auf ein Problem zu verändern und neue Lösungswege zu entdecken. Statt des früher üblichen »Was will ich – und warum?« legt dieser Ansatz den Schwerpunkt auf »Warum sollte mein Anliegen den Entscheidungsträger interessieren?«.

Die einzelnen Komponenten der Formel (siehe Abschnitt 1.3.2.4 bis 1.3.2.7) und deren Anwendung in der Praxis sind Gegenstand des Beispiels in Abschnitt 1.3.2.

1.3.2 Beispiel für die Anwendung der Erfolgsformel – das »Bergbeispiel«

Die Wirkungsweise der Erfolgsformel lässt sich anhand eines bildhaften Beispiels veranschaulichen, namentlich anhand der Überwindung eines Berges als Sinnbild für ein Problem, eine wirtschaftliche (unternehmerische) Herausforderung, die durch ein Rechtsetzungsvorhaben der EU ausgelöst wurde (»Bergbeispiel«). Im Beispiel will das von jenem Problem betroffene Unternehmen den maßgeblichen Entscheidungsträgern in der EU die potenziell negativen Folgen der geplanten Rechtsetzung verdeutlichen (Verlust von Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Weltregionen, drohende Arbeitsplatzverluste in bestimmten Märkten o. Ä.), um die Rechtsetzung zu verhindern oder – entsprechend den eigenen Interessen – zu verändern.

Dabei ist das Auftreten der Herausforderung zu Zwecken der Veranschaulichung an zwei verschiedenen Zeitpunkten zu verorten: zum einen vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon (siehe Abschnitt 1.3.2.1), zum anderen nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon (siehe Abschnitt 1.3.2.2).

1.3.2.1 Vor Lissabon: Erfolge für inhaltsorientierte Interessenvertretung

Vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon platzierte das betroffene Unternehmen – selbst oder über ein kollektives Instrument wie einen Verband – sein inhaltliches Anliegen in vielen Fällen direkt bei einem der wenigen Entscheidungsträger mit Vetorecht. War das Anliegen inhaltlich überzeugend und teilte der Entscheidungsträger die Argumente des Unternehmens, konnte schon das angesichts meist eindimensionaler Entscheidungsprozesse der EU-Rechtsetzung (insbesondere dank des damals universellen Einstimmigkeitsprinzips im Rat) zum Erfolg führen. Wenn z. B. ein Automobil-Unternehmen (oder sein Branchenverband) eine nachteilige EU-Regulierung verhindern wollte, war die Blockade im Rat eine besonders erfolgreiche Abwehr-Strategie, sei es direkt über die Regierung des eigenen Mitgliedstaates oder indirekt über die anderer EU-Mitgliedstaaten, in denen man beispielsweise über Produktionsstandorte verfügte und vor diesem Hintergrund Gehör finden konnte (siehe Abschnitt 6.3.3 und 6.3.4.1.1). In dieser »alten Welt« der EU-Rechtsetzung konnten folglich auch kleinere EU-Mitgliedstaaten zu wichtigen Veto-Playern werden.

Im Erfolgsfall hatte das betroffene Unternehmen – um im Bild zu bleiben – den Berg und damit die Herausforderung überwunden, indem es einen direkten Tunnel gebohrt hatte und durch ihn auf die andere Seite des Berges gelangt war, das Problem also gelöst hatte (siehe Abbildung 1.2). Ausschlaggebend waren – neben einer rudimentären Prozesskenntnis (Vetorecht) und einem Zugang zu einem Entscheidungsträger – vor allem Instrumente inhaltsorientierter Interessenvertretung (Inhaltskompetenz).

Diese Form der Interessenvertretung basierte auf einer erfahrungsbasierten Grundregel: Je einfacher die Struktur eines politischen Entscheidungsprozesses (geringe Zahl von Entscheidungsebenen, einfache Verfahrensregeln, wenige Entscheidungsträger) ist, desto höher ist die Relevanz inhaltlicher (argumentativer) Aspekte für den Ausgang eines konkreten Entscheidungsprozesses. In der EU vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nutzte Interessenvertretung folglich überwiegend inhaltliche Mittel. In einem ersten Schritt war der maßgebliche Entscheidungsträger zu identifizieren. Angesichts meist eindimensionaler Entscheidungsprozesse war das verhältnismäßig leicht umzusetzen, im Rat beispielsweise mit dem für das Entscheidungsdossier zuständigen mitgliedstaatlichen Minister, im Europäischen Parlament wiederum meist über die Berichterstatter der beiden großen Fraktionen EVP und S&D.

1.3.2.2 Nach Lissabon: Prozessuale Barrieren der inhaltsorientierten Interessenvertretung

Die bis dato vorwiegend inhaltsorientierte Interessenvertretung stand mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon vor einer enormen Herausforderung: Aus dem eher einfachen Entscheidungsprozess der EU mit in der Regel einfacher Identifikation der maßgeblichen Entscheidungsträger war ein komplexes Mehrebenensystem mit einer Vielzahl von teils nicht leicht oder gar nicht zu identifizierenden Entscheidungsträgern geworden – ein System von »Entscheidungen ohne Entscheider«.2

Während sich in den politischen Systemen der EU-Mitgliedstaaten oft langfristige Allianzen zwischen den Akteuren der Legislative und der Exekutive bilden lassen, scheidet das im Mehrebenensystem der EU aufgrund nicht vorhandener Regierungs- und Oppositionsfraktionen in vielen Fällen aus. Ähnlich wie eine Minderheitsregierung muss ein Interessenvertreter in der EU »nach Lissabon« für jedes neue Anliegen oder Projekt auch neue Verbündete suchen und Koalitionen schmieden. Zwangsläufige Folge davon ist die zunehmende Undurchschaubarkeit der Strukturen der europäischen Entscheidungsfindung für einzelne Unternehmen, was eine zielgerichtete, erfolgreiche Kommunikation zwischen Wirtschaft und Politik enorm erschwert. Ohne die Kenntnis und Beherrschung der neuen, komplexen Prozesse und damit auch der entsprechenden Kommunikationsmöglichkeiten droht indes der Verlust jeglicher Mitwirkungsmöglichkeiten für das Unternehmen (siehe auch Abschnitt 5.3.3 und 5.5.1.1). Im »Bergbeispiel« wird diese neue prozessuale Herausforderung durch eine Gesteinsbarriere im Inneren des Berges symbolisiert: Sie ist für die Interessenvertretung undurchdringlich, versperrt also den ursprünglichen »geraden« Weg durch den Berg. Es sind vielmehr alternative Methoden erforderlich, um auf die andere Seite des Berges – zur Lösung des Problems – zu gelangen.

Abbildung 1.2: Bergbeispiel – Erfolgreiche Interessenvertretung in einfachen Situationen

Natürlich bleiben die klassischen, inhaltsorientierten Instrumente der Interessenvertretung auch in der »neuen Welt nach Lissabon« weiterhin wichtig und erforderlich für den Erfolg von Interessenvertretung. Sie sind allerdings allein nicht mehr hinreichend. Unternehmensrepräsentanzen, Verbände, Anwaltskanzleien und Public-Affairs-Agenturen, die versuchen, ihre individuellen Anliegen in den unübersichtlichen Entscheidungsprozessen der EU allein mit inhaltlichen Argumenten vorzubringen, stecken in der Komplexitätsfalle (siehe Abschnitt 6.3.4.1.1). Sie werden ihre Ziele in der Regel nicht erreichen, weil ihnen die Prozesskompetenz fehlt.