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Rassismus ist politisch und das Politische ist geprägt von Rassismus. In vielen Teilen der deutschen Gesellschaft stehen sich Befürworter*innen der Homogenität und Vielfaltsbegeisterte unversöhnlich gegenüber. Lorenz Narku Laing analysiert die posthomogene Gesellschaft und zeigt, dass rassistische Politiken zum Kerngeschäft der Verfechter*innen der Homogenität gehören. Seine postkoloniale Kritik untersucht die tieferliegenden Gründe hierfür und liefert zugleich eine kritische Intervention in die (politik-)wissenschaftliche Forschung. Dabei wird deutlich, dass Rassismus weit mehr ist als Diskriminierung und Benachteiligung: Rassismus ist eine politische Ideologie.
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Seitenzahl: 379
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Lorenz Narku Laing (Dr. rer. soc.), geb. 1992, ist Geschäftsführer des Sozialunternehmens Vielfaltsprojekte GmbH, dessen Ziel die Bekämpfung von Diskriminierung und die Förderung von Vielfalt ist. Als Experte für Diversität und Rassismus wurde er 2020 von der Hertie-Stiftung als »30 unter 30« der Generation Grenzenlos ausgezeichnet und vom St. Gallen Symposium als »Leader of Tomorrow« geehrt. Für seine Lehre im Bereich Rassismusforschung wurde er mit dem Lehrpreis der Zeppelin Universität ausgezeichnet.
Lorenz Narku Laing
Politischer Rassismusin der post-homogenen Gesellschaft
Eine postkoloniale Kritik
Die vorliegende Schrift wurde als Inaugural-Dissertation an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität München (LMU) angenommen. Gutachter: Prof. Dr. Karsten Fischer, Prof. Dr. Christoph Demmke, Prof. Dr. Stephan Lessenich
Diese Schrift wurde im Rahmen einer Anstellung am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft an der Universität München (LMU) erstellt.
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Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Lorenz Narku Laing
Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
Print-ISBN 978-3-8376-6378-5
PDF-ISBN 978-3-8394-6378-9
EPUB-ISBN 978-3-7328-6378-5
https://doi.org/10.14361/9783839463789
Buchreihen-ISSN: 2703-1233
Buchreihen-eISSN: 2703-1241
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
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Danksagung
1Einleitung
2Postkolonialismus und Rassismuskritik als Methode
2.1Kritik an der westlichen Philosophie und Ideengeschichte
2.2(Ent)Romantisierung der Ideengeschichte
2.3Auslassung bedeutet Abkehr von Wahrheit
2.4Rassismuskritik als Zugang theoretischen Forschens
2.5Postkoloniale Theoriebildung
2.6Abgrenzung zur transkulturellen und nicht-westlichen Theorie
2.7Multiperspektivität als Notwendigkeit
3Das Ende der Homogenität
3.1Die Konsequenz des Rassenwahns
3.2Anerkennung der posthomogenen Gesellschaft
3.3Dekolonialisierung als Türöffner
3.4Migrationsprozess nach WWII
3.5Neue Sichtbarkeit von Vielfalt
3.6Das Ende der Homogenität
3.7Die posthomogene Gesellschaft
3.8Reaktionen auf die posthomogene Gesellschaft
3.9Der Rechte Aufstieg als Reaktion auf die posthomogene Gesellschaft
3.10Ethik der Migration
3.11Neue Vision von Vielfalt
4Eine postkoloniale Theorie der Nation
4.1Grundlagen zum Verhältnis von Nation und posthomogener Gesellschaft
4.2Ethnokratische Selbstdefinition, aber keine Kulturnation
4.3Der postkoloniale Charakter der deutschen Nation
5Aufbruch des politischen Rassismus
5.1Der erwartbare Aufstieg des Nationalismus
5.2Völkische Ideologie zwischen Rassismus und Nationalismus
5.3Rassistische Souveränität und exklusive Demokratie
6Der Schluss – Erneuerung des politischen Rassismus
6.1Rassismus als führende Motivation
6.2Rassismus verleugnen
6.3Der politische Rassismus von Herrschaft und Verteilung
Literaturverzeichnis
Diese Promotionsschrift ist der vorläufige Höhepunkt eines jahrelangen Bildungsweges. Ein Weg, der für einen schwarzen Jugendlichen, damals noch im Hartz-4-Bezug, sehr unwahrscheinlich anmutete. Daher möchte ich an dieser Stelle den Menschen danken, die dies, trotz all den Ausschlüssen, Hindernissen und Diskriminierungen in unserem Sozial- und Bildungssystem, möglich gemacht haben.
Zunächst danke ich meiner Familie, die mich mit Liebe, Zuversicht und Glauben dabei unterstützten meinen Bildungsweg zu gehen. Ich danke meinen Eltern für die einschneidenden Kompromisse, die sie eingingen, damit ich meine Bildung fortsetzen konnte. Meinem Bruder danke ich dafür, dass er mich schon in jungen Jahren vor rassistischen Übergriffen schützte. Meinen Onkeln Donovan, Ronald und Ken bin ich für die beratende Stimme und Begleitung zu Dank verpflichtet.
Den Lehrern Dr. Roland Hoffmann, Wolfang Wilhelm, Renate Birkmeyer, Anja Kemmerzell, Anke Ibata, Catherine Weber und Matthias Frank danke ich für ihren großen Beitrag einen nicht immer leichten Jugendlichen durch die Schulzeit gebracht zu haben. Ohne ihre Unterstützung und ihre schützenden Hände wäre das Projekt schon früh gescheitert.
Mein Bildungsweg war nur mit und durch den Sport möglich. Dort traf ich Menschen, die mir das eigene Potential aufzeigten und Ungerechtigkeiten des Sozial- und Bildungssystems ausglichen. Ich danke den Footballern Jörg Seyß, Christian Freund, Felix & Gudrun Schäffler, Philipp Hernberger und Tyrone Scott, die mich über viele Jahre stets unterstützten. Besonders möchte ich Roman Kasten und der Familie Schultze für ihre Freundschaft danken. Der klare Rat von Dr. Jörg-Martin Schultze veranlasste mich als Universitätsdozent an die Universität München zu gehen. Mein größter Dank gilt allerdings Tim Ahrberg, der mir nicht nur half meine ersten Semestergebühren zu zahlen, sondern mich über Jahre persönlich und intellektuell förderte. Zuletzt ermöglichte mir ein Footballstipendium den Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von Amerika, welcher mich vieles über Rassismus und soziale Ungleichheit lehrte.
Den Grundstein meines akademischen Weges legte ich an der Universität Frankfurt. Dort bedanke ich mich bei Prof. Dr. Gerhard Preyer, Dr. Vanessa Thompson und Dr. Thomas Casagrande, da sie mir ermöglichten den Rassismus aus einer akademischen Perspektive zu beleuchten. Prof. Dr. Epple danke ich für die Chance als Stipendiat an das King’s College London zu gehen. Der Hans-Böckler-Stiftung und der Zeppelin Universität danke ich für die ideelle sowie finanzielle Unterstützung in meinem Masterstudium. Erstmals musste ich nicht neben dem Studium arbeiten, um mich zu finanzieren. Mein Dank gilt Prof. Dr. Dietmar Schirmer, Prof. Dr. Helmut Willke und Profin. Dr. Karen van den Berg für die unersetzbaren Gespräche und die akademische Begleitung. Ich danke Prof. Dr. Stephan Lessenich, dass er die Verteidigung meiner Doktorarbeit abnahm.
Den beiden Wissenschaftlern, denen mein Dank zuerst zu gelten hat, sind meine sehr geschätzten Doktorväter Prof. Dr. Karsten Fischer und Prof. Dr. Christoph Demmke. Karsten Fischer hat mich hervorragend auf meinem intellektuellen sowie persönlichen Weg begleitet meine Rolle als Wissenschaftler und Hochschullehrer zu finden. Zudem bin ich Karsten Fischer dankbar für die hervorragenden Arbeitsbedingungen und die Freiheit über die letzten Jahre ein diskriminierungskritisches Lehrprofil zu entwickeln. Für mich ist die Lehre zu Rassismus, Nationalismus, Flucht und Ungleichheit die Verwirklichung einer historischen Verantwortung gegenüber den Namensgebern des Geschwister-Scholl-Instituts für Politikwissenschaft. Christoph Demmke danke ich für die grenzenlose Unterstützung und die Möglichkeit eine europäische Promotion zu schreiben. Mit meinem Gastaufenthalt als Dozent an der Universität Birmingham und Christoph Demmke als Betreuer aus dem fernen Finnland symbolisiert diese Schrift wissenschaftliche Kooperation über Grenzen hinweg.
Zuletzt bleibt eine Vielzahl von Menschen, die mich im Schaffensprozess mit Buchbestellungen, Rechtschreibkontrollen, Kopien, Gesprächen und Diskussionen unterstützt haben. Dazu zählen ohne eine gewichtende Reihenfolge Walid Malik, Jack Mensah, Dr. Julian Pänke, Jasmin Köhler, Walid Malik, Franco Fiore, Merlin Wassermann, Lorans el Sabee, Rahel Willmer, Svea Gross, Vitoria de Pieri, Inken Pollmann, Florian Lenner und Jan Duensing. Euch einen herzlichen Dank.
Trotz all den Menschen, denen ich für ihre Unterstützung auf meinem Bildungsweg dankbar bin, widme ich diese Schrift meiner liebenden Frau Franziska und meinen Söhnen Frederick und Oskar.
Fürstenfeldbruck,Lorenz Narku Laing
»Ich glaube, dass wir in der Vergangenheit mit der Frage nach der Identität unseres Volkes und unserer Nationalität zu leichtfertig umgangen sind« – Hans-Peter Friedrich, Vizepräsident des Deutschen Bundestages (Tagesschau 2014)
Die politische Gegenwart hat eine neue »Debatte um Identitätspolitik« (Mouffe 2019, S. 21) ergriffen und diese äußert sich vorrangig nicht, wie oftmals angenommen (Bröning 2019, S. 102), als Identitätspolitik gesellschaftlicher Minderheiten. Vielmehr bleibt die wirkmächtigste Identitätspolitik von Vergangenheit und Gegenwart, diejenige deren Vorfahren zur kolonialen Unternehmung in die Welt zogen (Arndt 2015, S. 37-43; Kimmel 2016, S. 24). Im rechten Populismus ist der identitätspolitische Einsatz für und im Interesse des Volkes ein »konstitutives Merkmal« (Hirschmann 2017, 148) und wirkt mittels eines politischen Rassismus in die gegenwärtige Gesellschaft. Die aufsteigenden rechten Bewegungen in der westlichen Welt und auch in Deutschland haben die Realisation rassistischer Politiken der »Diskriminierung« (Arendt 2018, S. 33), »Benachteiligung« (Bühl 2017, S. 214) und »inneren Kolonisation« (Spivak 2011, S. 132) erneut wirkmächtig auf die politische Agenda gesetzt. Begleitet wird diese Entwicklung durch rechten und rassistischen Terrorismus wie in München im Jahr 2016, in Halle im Jahr 2019, in Hanau im Jahr 2020 und Kassel im Jahr 2019 (Hille 2020). Davon zeugen ebenfalls die Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds«, die Serie an Brandanschlägen auf sogenannte Flüchtlingsunterkünfte in den Jahren 2015 und 2016 sowie der Messerangriff auf die Kölner Oberbürgermeisterin, der sich hasserfüllt gegen ihre Flüchtlingspolitik richtete (Hille 2020). In der rechten Bewegung manifestiert sich Rassismus erneut als politischer Auftrag. So stellte der Trumpismus beispielsweise den Rassismus gegen Mexikaner in den Mittelpunkt des politischen Wahlkampfes oder deutsche Rechtspopulisten machen den Hass auf Geflüchtete, Schwarze und Muslime zur zentralen Referenz ihrer politischen Kommunikation. Wie am eröffnenden Zitat sichtbar wird, bewegen sich diese identitätspolitischen Verhandlungen vom rechten Rand in die Mitte der Gesellschaft. Die Frage nach »der Identität unseres Volkes« (Tagesschau 2014) wird auch in der gesellschaftlichen Mitte im Zuge des Übergangs in eine posthomogene Gesellschaft verhandelt.
Diese Schrift möchte für ein besseres Verständnis und zur Begegnung dieser Entwicklung fünf aufeinander aufbauende Schwerpunkte ausarbeiten. Erstens wird diese Schrift herausarbeiten, wie eine postkoloniale und rassismuskritische Analyse vollzogen werden kann und weshalb sich die tradierte Forschung für einen rassismuskritischen Blickwinkel öffnen sollte. Dazu vollzieht diese Schrift methodische und ideengeschichtliche Überlegungen im Kapitel Postkolonialismus und Rassismuskritik als Methode. Zweitens wird im ersten Teil des Kapitels zum Ende der Homogenität erläutert, wie das Ende der Homogenität für den Übergang in eine posthomogene Gesellschaft sorgte. Drittens folgt im zweiten Teil des Kapitels zum Ende der Homogenität die Analyse aktueller Reaktionen auf das Ende der Homogenität in Deutschland, zu denen auch der Aufstieg rechter Bewegungen gehört. Viertens wird im Kapitel Eine postkoloniale Theorie der Nation der weitere Schwerpunkt der Schrift auf Nationalismus und Rassismus der rechten Bewegung gelegt. Dabei wird die in der deutschen rechten Bewegung sichtbare Verbindung vom »völkischen Nationalismus« (Vorländer et al. 2017, S. 155f.) und Rassismus (Balibar 2006, S. 232) herausgearbeitet. Der fünfte Schwerpunkt ist die Sichtbarmachung des politischen Rassismus der rechten Bewegung, der noch immer vernachlässigt und unsichtbar gemacht wird. Diesem Schluss aus den vorherigen Kapiteln widmen sich die Kapitel zum Aufbruch des politischen Rassismus und der Erneuerung des politischen Rassismus.
Seit der Jahrtausendwende verstärkt sich die Kritik an der gegenwärtigen Kanonisierung politiktheoretischen Wissens. Die Debatte vollzieht sich sichtbar vor allem in den Beiträgen zu einer »nichtwestlichen« (vgl. u.a. Zapf 2012)1, vergleichenden beziehungsweise »comparative« (vgl. u.a. March 2009) und einer »transkulturellen« (vgl. u.a. La Rosa et al. 2016) Politischen Theorie und Ideengeschichte. Das Unterkapitel wird ausgehend von den vorher genannten Bewegungen Gedanken über den gegenwärtigen Stand der Kanonisierung politiktheoretischen Wissens äußern.
Obwohl sich die im Buch weiter ausgeführte Theorie immer wieder abseits von den Pfaden der klassischen, hegemonialen Theoriebildung des vermeintlichen westlichen Kanons bewegt, möchte sie sich nicht genuin als ein Beitrag der neuen Stilrichtungen verstanden wissen. Die theoretischen Explorationen und Dialoge, die in der Gegenwart zur Öffnung des westlichen und deutschen Wissenschaftskanons unternommen werden, sind wertvoll und äußerst gewinnbringend. Erst diese Öffnungsbewegungen erschließen und ermöglichen den Zugang zu verschlossenen »Wissensarchive(n)« (Arndt 2015, S. 43) außerhalb der gegenwärtigen Wissenschaftspraxis. Dennoch ist die dichotomisierende Institutionalisierung von Wissen kritisch zu betrachten. Auf der einen Seite lagert das bekannte und tradierte Wissensarchiv vermeintlich westlicher Wissenschaftsproduktion zwischen Aristoteles, Hobbes, Koselleck sowie Hegel und auf der anderen Seite finden wir den Rest unter verschiedenen Labeln der Fremderzeugung oder regionalen Verortung, wie zum Beispiel einer »afrikanische(n) politische(n) Philosophie« (Dübgen und Skupien 2016a).
Besonders verdient um die im vorherigen Absatz eröffnete kritische Analyse machte sich der britisch-jamaikanische Kulturwissenschaftler Stuart Hall mit seiner Diskurskritik (Hall 2012). Die Diskurskritik arbeitet die Existenz zweier stabiler »Formationen« (Hall 2012, S. 179) heraus und zwar den »Westen und der Rest« (Hall 2012, S. 179). Die homogenisierende Erzählung von vor allem außerhalb des Westens liegenden kulturellen, politischen sowie wissenschaftlichen Produktionen als eine Negation des Westens »ist in der modernen Welt lebendig und wohlauf« (Hall 2012, S. 179). Am sichtbarsten verbirgt sich dieses Narrativ hinter dem Terminus einer »nicht-westlichen« (vgl. u.a. Zapf 2012) Politiktheorie. Eine solche Dichotomisierung ist weder richtig noch zielführend. Sie schreibt die Kollektive fest und erzeugt sie als undurchlässig. Gleichzeitig blockiert nicht-westliche Politiktheorie den Weg für komplexe Verschränkungen. Nichtsdestotrotz ist sie tief verankert in das Selbstverständnis des gegenwärtigen Wissenschaftskanons. Spätestens seit der Aufklärung verfestigte sich die »Idee des Westens« (Hall 2012, S. 140) als zentraler Ort intellektueller Produktion (Hall 2012). Dabei wurde ein hoch selbstbezügliches System der Wissensproduktion in den Mittelpunkt gestellt und diesem zugleich eine Geschlossenheit (Ehrmann 2012, S. 112) zugeschrieben. »Sie behandelte(n) den Westen als Ergebnis von Kräften, die größtenteils im Inneren von Europas Geschichte und Formierung lagen« (Hall 2012, S. 140). Dabei wurde in der Tradition rassistischer Wissensbildung postuliert, »dass die europäische Gesellschaft der fortschrittlichste Gesellschaftstyp der Erde und dass der europäische Mensch der Höhepunkt der menschlichen Errungenschaft war« (Hall 2012, S. 140). Damit wurzelt historisch die Überhöhung der westlichen Wissensproduktion in der Annahme einer Überlegenheit weißer Menschen und weißer Kultur gegenüber anderen Menschen und Kulturen in der Welt. Viele der Kanonkritiker von »nicht-westlicher«, über »transkultureller« bis zur »vergleichenden« Politiktheorie kritisieren gerade die Sonderstellung westlicher Wissensproduktion und suchen nach Wegen der Neuverhandlung ebendieser überhöhten Position. Sie leisten einen Beitrag zur Dekonstruktion der Vorstellung eines geschlossenen Westens. Daher richtet sich die bereits formulierte und die folgende Kritik nicht vorrangig an die Kanonkritiker selbst, sondern vielmehr gegen den gegenwärtigen Mainstream der ideengeschichtlichen Kanonisierung. Damit schließt die vorgelegte Theorie an das normative Projekt einer Abkehr vom »normativen Pol(s)« (Jullien 2018, S. 28) des Westens an. Hierin liegt die größte Überschneidung mit den Kanonkritikern.
Es gilt im Folgenden sowohl eine überlegte Kritik am Westen als »ideologischen Begriff« (Jullien 2018, S. 28) zu üben und gleichzeitig sich in der Verhandlung um das Verhältnis zwischen vermeintlich verschiedenen Wissensproduktionen zu positionieren. Jedoch will die hier erarbeitete Theorie keine vollumfängliche ideengeschichtliche Kritik formulieren, sondern anhand einer Kanonkritik das eigene methodische Vorgehen erläutern. Es soll beantwortet werden, wie das ausgelassene, ignorierte, verhasste und verschwiegene Wissen aus den ehemaligen Kolonien und von unterdrückten Subjekten seinen Weg als gleichberechtigte Errungenschaft zurück in den vorherrschenden Kanon finden kann. Dies beinhaltet auch, wie die aktive Verbannung und Ausschließung von Rassismus als Wissenschaftsgegenstand ein Ende finden kann.
Es mag kritisiert werden, dass die Beschreibungen im vorherigen Absatz zu hart gewählt seien und es sich nicht um eine absichtliche Ausschließung handele. Dem sei lediglich zu entgegnen, dass die Worte eigentlich noch zu weich gewählt sind, da sich im Angesicht der historischen Wissensproduktion viele Belege für eine Feindschaft gegenüber ehemals kolonisierten Subjekten und ihrer intellektuellen Produktion finden lassen. Wenig überraschend gibt es hierfür konkrete Belege in der Vergangenheit. Neben der Fürsprache seitens Voltaire für die Sklaverei und für eine weiße Überlegenheitstheorie, Lockes Verteidigung des Kolonialismus oder Humes Rassentheorie und Entmenschlichung schwarzer Subjekte finden sich viele historische Beispiele für eine feindliche Ablehnung kolonisierter Subjekte und ihrer Wissensbestände. Einen ersten Verweis auf die Kontinuität und auch Kulturalisierung dieser Annahmen bietet einen Blick in die Vorlesungen Hegels. Mit Kulturalisierung wird in der Rassismusforschung die Übertragung biologischer Rassismen, beispielsweise gegen die menschliche Natur des Schwarzen, auf das Spielfeld der Kultur, beispielweise die Demokratiefähigkeit der afrikanischen Kulturen, beschrieben (vgl. u.a. Kuhn 2015, S. 43). In folgenden Zeilen nimmt Hegel unter anderem Stellung zu schwarzen Menschen:
»Bei den Negern ist nämlich das Charakteristische gerade, daß ihr Bewußtsein noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott, Gesetz, bei welcher der Mensch mit seinem Willen wäre und darin die Anschauung seines Wesens hätte. Zu dieser Unterscheidung seiner als des Einzelnen und seiner wesentlichen Allgemeinheit ist der Afrikaner in seiner unterschiedslosen, gedrungenen Einheit noch nicht gekommen, wodurch das Wissen von einem absoluten Wesen, das ein anderes, höheres gegen das Selbst wäre, ganz fehlt. Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will; es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden« (Hegel 1924, S. 50).
In den Vorlesungen Hegels wird der Afrikaner reduziert auf eine »tierische Natur« und damit aus einer vernunftbegabten Menschlichkeit entlassen. Es gilt den Afrikaner »aufzufassen« und damit wird er vom Akteur wissenschaftlicher Praxis zum Objekt wissenschaftlicher Praxis. In diesen Schriften zeigt sich eine verdeckte Perspektivierung der Welt. Die Worte Hegels können sich nicht an den Afrikaner selbst als Leser richten, sondern ausschließlich an ein außerhalb des Afrikanisch-Seins stehendes Subjekt. Die Vorlesung ist nicht universell intendiert, sondern richtet sich an eine bestimmte Perspektivierung der Welt. An eine klar bestimmte Position des Welterklärens. Wie in den späteren Zitaten von Arendt, Kant, Hegel oder Plessner wird als Adressat für die Aussage eine weiße, westliche Audienz vorausgesetzt. Das Problem des historischen Kanons ist damit nicht nur der Rassismus, sondern seine auserwählte Adressatenschaft. Es wäre sehr viel verlangt, von einem schwarzen oder afrikanischen Wissenschaftler zu erwarten, dem Kanon mit der gleichen freudigen Ehrfurcht des Mainstreams zu begegnen, obwohl der Kanon ihn fortwährend dehumanisiert, beleidigt, entwürdigt und aus der Menschlichkeit ausschließt. Die im Kanon vorhandenen Rassismen behindern damit aktiv einen neutralen und objektiven Zugang für alle Menschen was für einige Gruppen deutlich weitreichender ist als für andere. Damit ist der Kanon in seiner Zugänglichkeit keinesfalls universell. Es lässt sich durchaus die Frage aufbringen, ob Werke kanonisiert werden würden die ähnlichen Zuweisungen gegenüber weißen Menschen formulieren. Weitere Herausforderungen werden anhand von Kants Schriften deutlich. So schrieb Kant in seiner dehumanisierenden Rassentheorie:
»Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften« (Kant, 316. 05-08).2
Klar erkennbar ist die bewusste Überhöhung des Weißen. Es findet nicht nur eine Abwertung des »Anderen« (Benhabib 2017) statt, sondern eine bewusste Aufwertung der Weißen. Hier wird deutlich, dass sich in der Kanonisierung besonders seit der Aufklärung ein bewusster Rassismus eingewoben hat. Dessen Kontinuität wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch geschildert und diskutiert. Weiterhin scheint die von Hall identifizierte Sonderstellung des Westens in der Aufklärung rassifizierende Züge aufzuweisen und postuliert einen definitiven Ausschluss des Anderen aus einer gleichberechtigten Wissensbildung. Zentrale Denker des Kanons vertreten rassistische Positionen in ihren Werken und es lässt vermuten, dass sich diese Ansichten auch in ihr methodisches Vorgehen einarbeitet. Es kommt nicht zu einer neutralen Auswahl des fremden Gedankens. Autoren vermeintlich anderer Völker werden nicht gleichberechtigt gelesen und wahrgenommen. Folglich entschieden die vergangenen Kanonmitglieder mit wechselseitigen Bezügen und Zitationen selbst welche Denkerinnen und Denker, als relevant angesehen und in den zukünftigen Kanon Zutritt fanden. Rückwirkend davon auszugehen, dass Kant, Hegel, Hobbes oder Hume kolonisierten Subjekten eine reelle Chance auf Mitwirkung im akademischen Apparat erlaubt hätten, ist angesichts ihrer akademischen Positionen zu den Kolonisierten äußerst unwahrscheinlich. Damit schaffen sie sukzessive die Realität selbst, die von ihnen als Evidenz für die Minderwertigkeit anderer Menschen herangezogen wird. Die genannten Kanonmitglieder schließen sie aus und bemängeln im Anschluss ihre Unfähigkeit zur Mitwirkung. Das Projekt eines organisierten Ausschlusses verfolgte Kant jedoch keineswegs in Eigenregie und allein. Kant berichtet beispielsweise in seiner Schrift über einen Vortrag von Hume:
»Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein Neger Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter den hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel empor schwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben« (Kant 1757-1777, 253. 01-12).
Wie zuvor bei Kant selbst, findet sich die Ungleichwertigkeit der Schwarzen Vernunftbegabung in Humes Worten wieder. Die Fähigkeit zum Ausüben von Talenten und der Produktion von Kunst oder Wissenschaft sei ihnen nicht eigen. Die koloniale Praxis der gewaltsamen Versklavung, Entführung, Deportation und Entwurzelung wird als »Verführung« romantisiert. Ihre vermeintliche Unfähigkeit der Mitwirkung ist bei Hume ihre eigene Schuld und hat keine strukturelle Grundlage oder einen Erklärungszusammenhang. Hier wird eine weitere Unzulänglichkeit des gegenwärtigen Kanons deutlich. Weite Teile des Kanons selbst sind nur sehr eingeschränkt geeignet für die Analyse relevanter gesellschaftlicher Phänomene. Der Rassismus, die Sklaverei und der Kolonialismus als weltumspannende Problembereiche der Menschheitsgeschichte können mit großen Teilen des historischen Kanons nur eingeschränkt kritisch analysiert und besprochen werden, da die Autoren des Kanons selbst diese Systeme komplizenhaft oder aktiv stützen. Keinesfalls soll damit behauptet werden, dass sich in den Werken nicht relevante Errungenschaften wiederfinden, die sich gegen Rassismus und Kolonialismus verkehren können. Sondern es soll verdeutlicht werden, dass zum einen diese Operationalisierung ihrer Theorien den Kernaussagen ihres Gesamtwerkes selbst entgegensteht und zum anderen es zumindest unüblich wäre, beispielsweise mit einem antidemokratischen Denker die Notwendigkeit der Demokratie schwerlich zu beweisen. Es ist zumindest ungewöhnlich mit ausdrücklichen Befürwortern von Rassismus und Kolonialismus gegen diese wirkmächtigen Phänomene zu diskutieren und sollte nicht das Verfahren der ersten Wahl sein. Letztlich lässt sich Rassismus nur schwer mit überzeugten Rassisten rationalisieren. Vor allem könnte damit ein Umstand suggeriert werden, der nicht vorliegt. So könnte man aus Kants aufklärerischen Schriften schließen, dass er der Sklaverei oder dem vermeintlich »irrationalem« Rassismus als Gegner gegenüberstehe. Obwohl Kant diesen Schluss ausdrücklich nicht aus seinen Schriften zog. Selbstverständlich gibt es dabei bedeutende und dennoch in der Minderheit verbleibende Gegenstimmen zur Frage von Sklaverei und Rassismus im historischen Kanon von Mill über Douglass bis hin zur Frankfurter Schule. Damit richtet sich diese Kanonkritik vor allem gegen den historischen Teil des Kanons und in geringerem Umfang gegen den kontemporären Anteil. Eine antirassistische Mehrheit entwickelte sich hierbei allerdings erst deutlich später als oftmals angenommen wird. Noch Heidegger, der von 1889 bis 1976 lebte, pflegte eine offene Ablehnung des Anderen. So formulierte er folgenden antisemitischen Gedanken:
»Die Verjudung unserer Kultur u. Universitäten ist allerdings schreckerregend u. ich meine die deutsche Rasse sollte noch soviel innere Kraft aufbringen um in die Höhe zu kommen« (Spät 2014).
Es ist bekannt, dass auch im 20. Jahrhundert der Hass auf das Andere im Westen nicht endete. Die großen Signalgeber hierfür sind der Nationalsozialismus, die Rassentrennung in den USA, die Apartheid in Südafrika und das Fortleben des westlichen Kolonialismus. Daher wird an dieser Stelle lediglich eine Frage aufgeworfen, die im Rahmen dieser Schrift nicht beantwortet werden kann: Wann und für wie lange gab es einen chancengleichen Zugang für Schwarze, Juden, indigene Bevölkerungen oder Roma und Sinti aktiv am gegenwärtigen Kanon mitzuarbeiten? Wann war es Ihnen in der Moderne möglich die »Wissenschaft als Beruf« (Weber 1992) in der westlichen Welt zu ergreifen? Es ist zu vermuten, dass bis auf wenige bekannte und überwiegend späte Ausnahmen wie Amo, Fanon, Douglass oder DuBois sich die westlichen Institutionen erst sehr spät dem Anderen öffneten. Damit ist eine zentrale Herausforderung der westlichen Akademien, dass sie zeitweise ambivalent zu verschiedenen Zeitpunkten, in unterschiedlichem Umfang, eine dennoch relevante Schließung gegenüber dem kolonialen Subjekt praktizierte. Heidegger erinnert uns daran, dass es sehr wohl und erwartbar auch im 20. Jahrhundert noch Rassismus und Antisemitismus im Wissenschaftssystem gab.
Doch endete der Einfluss des Rassendenkens im Kanon weder personell noch inhaltlich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Hierfür sollen zwei frühe Beispiele exemplarisch aufgegriffen werden. Ein Beispiel für die personelle und ein Beispiel für die inhaltliche Kontinuität. Helmut Plessner war Lehrstuhlinhaber in Göttingen und als einflussreicher Sozialwissenschaftler von 1955 bis 1959 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie3. Plessner verfolgt eine gewisse Form des universalistischen Rationalismus. Selbstverständlich pflegte Plessner keinen Rassismus, der mit den Schriften von Kant gleichzustellen ist, aber auch er war überzeugt von der Existenz und differenzierten Vernunftbegabung von Menschenrassen. In seiner Schrift »Grenzen der Gemeinschaft« (Plessner 2016) schrieb Plessner im Jahr 1924:
»Dabei aus den Ergebnissen der modernen Völkerpsychologie und vergleichenden Kulturwissenschaft ergibt sich unwidersprechlich eine tief bis in die Apperzeptionsformen des ganzen Geistes hinabreichende Verschiedenheit zwischen Rassen und Völkern. (…) Immerhin wird von diesem Pluralismus der Vernunftsysteme die Einheit der Geistigkeit und Vernünftigkeit nicht berührt. Mit Negern, Eskimos, Franzosen argumentiert man nicht auf gleiche Weise; dies zu glauben war vielleicht der Fehler spezifischer Aufklärerei« (Plessner 2016, S. 50-51).
Bei dem Zitat geht es nicht um die Frage, ob Plessner Rassist ist oder nicht, sondern es soll vielmehr die Kontinuität rassistischen Denkens aufgezeigt werden. Denn auch nach dem Zweiten Weltkrieg lehrten in Deutschland Denker, die von der Unterschiedlichkeit der Rassen überzeugt waren und schwarzen Menschen eine andere Form oder Natur der Vernunft zuschrieben. Ein weiteres bedeutendes Beispiel für das Fortwirken kulturalisierender Rassismen im wissenschaftlichen Kanon findet sich bei der intellektuellen Schülerin von Heidegger Hannah Arendt. In ihrer bedeutenden Schrift »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« (Arendt 1955) findet sich eine Apologetik für das gewaltvolle, koloniale Unternehmen:
»Der biblische Mythos von der Entstehung des Menschengeschlechts wurde auf eine sehr ernste Probe gestellt, als Europäer in Afrika und Australien zum ersten Male mit Menschen konfrontiert waren, die von sich aus ganz offenbar weder das, was wir menschliche Vernunft, noch was wir menschliche Empfindungen nennen, besaßen, die keinerlei Kultur, auch nicht eine primitive Kultur, hervorgebracht hatte, ja, kaum im Rahmen feststehender Volksgebräuche lebten und deren politische Organisation Formen, die wir auch aus dem tierischen Gemeinschaftsleben kennen, kaum überschritten. (…) Hier, unter dem Zwang des Zusammenlebens mit schwarzen Stämmen, verlor die Idee der Menschheit und des gemeinsamen Ursprungs des Menschengeschlechts, wie die christlich-jüdische Tradition des Abendlandes sie lehrt, zum ersten Mal ihre zwingende Überzeugungskraft, und der Wunsch nach systematischer Ausrottung ganzer Rassen setzte sich umso stärker fest« (Arendt 1955).
Damit findet sich auch in der Gegenwart noch immer eine abwertende Beschreibung des Afrikaners in der Wissenschaft. Erneut wird operiert in Semantiken der Dehumanisierung und des Tiervergleichs, erneut wird eine differenzierende Beschreibung der Kulturbegabung vollzogen und erneut kommt es zu einer Aufwertungslogik des europäischen Menschen. Damit wird bei Arendt im Nebensatz das koloniale Projekt rechtfertigt und begründet. Die Idee einer »Kulturlosigkeit«, die wiederholt in der Ideengeschichte auftaucht wird erneut aufgebracht. Die Leere ist eine notwendige, intellektuelle Vorbedingung für eine spätere Kolonisation. Der vermeintlich leere, kulturelle Raum wird im kolonialen Raum nun durch eine vermeintlich europäische und universelle Kultur sowie Vernunft gefüllt. Die westliche Kulturproduktion ist damit nicht nur universell, sondern ein Exzeptionalismus. Die westliche Kultur steht herausgehoben und einzigartig in ihrer, um es mit den Worten von Kant zu fassen, »Vollkommenheit« dar. Auf die funktionelle Erklärung des Kolonialismus wird im Laufe der Theorie noch eingegangen.
Zusammenfassend bleibt die Notwendigkeit einer Einordnung. Die Absicht der bisherigen Kritik an der vermeintlichen westlichen Ideengeschichte ist es nicht, den gesamten Kanon als rassistisch abzutun. Keinesfalls soll der Beitrag oder die Bedeutung der Denker für die Ideengeschichte oder die Wissenschaft im Allgemeinen negiert werden. Kant, Arendt oder Heidegger sollen auch nicht aus den Zirkeln anerkannter wissenschaftlicher Praxis verbannt werden. Im Mittelpunkt steht keine Verteufelung, sondern eine notwendige Differenzierung. Bisher wird der Beitrag theoretischer Wissenschaftsführung zum Projekt von Rassismus und Kolonialismus sehr deutlich. Gerade hieraus ergibt sich eine Verantwortung, eine gegen den Rassismus und Kolonialismus gerichtete Theorie zu betreiben. Es wäre ein Beitrag zur kritischen Aufarbeitung der Problemstellen des westlichen Erbes.
Der gegenwärtige Kanon inkludiert weitgehend unkritisch Texte mit Rassismen und anderen Formen der »Menschenfeindlichkeit« (Emcke 2017). Damit verweigert sich die Wissenschaftspraxis dem eigenen »aufklärerischem Ideal«. Spät spricht in seinem Beitrag in dem Onlinemagazin der Telepolis gar von dem »verschwiegenen Rassismus der Philosophen« (Spät 2014). Angesichts der rassistischen Kontinuitäten im westlichen Kanon bedarf es zudem vermeintlich außenstehender Ansätze und Denkern, um den Rassismus zu analysieren und zu entschlüsseln. Der Rassismus kann nicht, wie zuvor begründet wurde, von innen heraus aufgearbeitet werden. Es gilt sich auch von der Annahme eines natürlichen Ideenwettbewerbs oder gleichberechtigten Zugangs zur Akademie zu trennen. Es ist nicht Zufall, dass im Kanon so wenig nicht-weiße Menschen Eingang finden, sondern Ergebnis und Konsequenz von Rassismen innerhalb und außerhalb der Akademie. Überdies ist es von Bedeutung den Kanon nicht als ein wertfreies, objektives Projekt zu begreifen. Es finden sich im Kanon selbst zu viele normative Verortungen der Welt. Es hat kaum eine »reine Vernunft« zu den obigen Aussagen über schwarze Menschen geführt. Zuletzt ermöglicht eine kritische Besprechung der Problemstellen eine Immunisierung gegen zukünftigen Missbrauch. Es wäre heute noch möglich, wenn auch richtigerweise sehr verpönt, ausschließlich mit Autoren des Kanons wie Fichte, Lichtenberg, Arendt, Kant, Wagner, Hegel, Rousseau, Luther sowie Heidegger eine philosophische Schrift für die Minderwertigkeit des Schwarzen und die Notwendigkeit seiner Kolonisierung zu schreiben. Könnte es nicht sogar in einer Welt, in der sich der politische Rassismus erneut durchsetzt, wahrhaftig werden? Wo wären dann die klugen und überlegten Widerworte zu den rassistischen Überlegungen dieser Autoren? Daher sollte sich eine gegenwärtige Theoriebildung auch zur Aufgabe machen den falschen Argumenten der Vergangenheit zu widersprechen.
Im Zuge der bisherigen Argumentation wurde stets zur vermeintlich westlichen Theorieproduktion Bezug genommen. Es wird sich vom hegemonialen Begriff der westlichen Theorieproduktion distanziert. Fußend auf Hall wird die Vorstellung einer geschlossenen Theorieproduktion im Westen abgelehnt (Hall 2012, S. 178). Ohnehin führt nach Weiß (2012) die Annahme einer Geschlossenheit zu einem meines Erachtens folgenschweren ideengeschichtlichem Problem. Denn es werden nach Weiß Bezüge und Einflüsse auf die Theoriebildung innerhalb des Westens überbewertet und externe Bezüge unterbewertet (Weiß 2012, S. 69). Der Westen formierte sich nicht nur »(…) innerhalb der westlichen Gesellschaften, Geschichten und Entwicklungsgeschwindigkeiten (…)« (Hall 2012, S. 178). Der Westen vollzog Teile seiner Entwicklung innerhalb der ehemaligen Kolonien und teilweise nur durch die Kolonien. Viele bekannte Denker des Westens entwickelten und testeten ihre Ideen in den ehemaligen Kolonien (Franzki und Aikins 2010, S. 10-11). Nachweise hierfür finden ich in den unterschiedlichen Disziplinen. Besonders hiervon geprägt ist die unheilvolle Medizingeschichte. Hier ist nur beispielhaft Robert Koch zu erwähnen. Er nutzte das kolonialisierte Afrika als Labor für seine »skrupellose(n)« (Zimmerer 2020) Experimente und entwickelte damit »westliche« medizinische Innovationen auf Kosten kolonialisierter Subjekte (Zimmerer 2020).
Keinesfalls vollzog sich eine einseitige Wissensrelation in dem Wissen von Norden nach Süden floss, sondern es gab zudem eine umgekehrte Bewegung. Denn gleichzeitig produzierten auch koloniale Subjekte Wissen, das in das Wissensarchiv des Westens überging. Als Beispiele wird oftmals die dekoloniale Bewegung Haitis für die Entwicklung eines universellen Menschenrechts hervorgehoben (Ehrmann 2012; Laing 2018; Weiß 2016) oder die spezifische Protestform Mahatma Ghandis, die noch heute für den demokratischen Protest in der westlichen Welt prägend ist. Franzki und Aikins verweisen darauf, dass »(…) vorgeblich interne Grundkonflikte, wie beispielsweise die soziale Frage zu Beginn der Industrialisierung nicht ohne Einbeziehung der Migration in die europäischen Siedlungskolonien (zu) analysieren (…)« (Franzki und Aikins 2010, S. 11) sind. Der Siedlungskolonialismus und damit der Abbau vom »politischen Handlungsdruck« (Franzki und Aikins 2010, S. 11) prägten die historische Entwicklung entscheidend mit (Franzki und Aikins 2010, S. 11). Nur unter Beachtung der »kolonialen Expansion« (Plumelle-Uribe 2004, S. 129) Europas sind entscheidende historische Formationen erklärbar. Eine Geschichte Europas ohne die Geschichte des Kolonialismus ist unvollständig. Daher ist für Hall die Entwicklung des Westens, wie wir ihn heute kennen, ohne den »Rest« nicht denkbar (Hall 2012, S. 175ff.).
In vielerlei Hinsicht entwickelte sich der Westen auf Kosten der restlichen Welt. Zudem transportierten und produzierten auch aus dem Westen ausgeschlossene Subjekte Wissen in den Westen, gestalteten den Westen mit oder kämpften für die politischen Eckpfeiler des Westens. Ein Referenzpunkt kann hierbei der umfangreiche Einsatz von sogenannten Kolonialsoldaten in den Weltkriegen auf dem europäischen Kontinent sein (Arndt 2017, S. 83). Nach Arndt kämpften im Zweiten Weltkrieg nicht-weiße Menschen unter Einsatz ihres Lebens und leisteten demnach einen großen Beitrag zum Sieg über den Nationalsozialismus (Arndt 2017, S. 83). Der Einsatz kolonisierter Subjekte ist mit dem Sieg über den Nationalsozialismus tief verwoben. Dennoch findet sich in dem mit der politischen Theorie verwandten Fach der Geschichte im Kanon eine unzureichende Beleuchtung nicht-weißer Subjekte als Kämpfer gegen das Unrecht.
Eine weitere Referenz für den bedeutenden Beitrag ausgeschlossener Subjekte können das Wirken von dem schwarzen Philosophen Anton Wilhelm Amo, der in Deutschland zu Zeiten der Aufklärung lehrte und lebte, oder ebenso das Wirken vom nordamerikanischen Abolitionisten Frederick Douglass sein. Nichtsdestotrotz werden historische Formationen vielfach ohne Rückgriff auf die Realität des Kolonialismus erklärt. Es betrifft in besonderer Weise auch die politische Bildung sowie die politikwissenschaftliche Forschung. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Genese der Vereinten Nationen und ihrer internen Struktur. Ohne die Berücksichtigung des kolonialen Zustands ist die, von der Stunde Null, veranlagte Vormachtstellung weißer Nationen im Sicherheitsrat kaum zu erklären. Zu Gründungszeit vertraten unter anderem Frankreich oder das Vereinigte Königreich nicht nur sich selbst als Mitglieder der »Permanent Five«, sondern auch ihre koloniale Einflusszonen. Die Abwesenheit der dauerhaften Repräsentation des gesamten Kontinents – Afrika – in einem entscheidendem Steuerungsgremium der Global Governance ist ein Relikt der kolonialen Zeit. Übertragen lässt sich dies auch auf die Stimmverhältnisse in Kernorganisationen des UN-Systems oder der Themensetzung. Ungeachtet dessen wird weiterhin versucht das UN-System ohne die Berücksichtigung des Kolonialismus zu verstehen und zu erklären. Die Vereinten Nationen werden so oftmals zum erklärten Produkt eines ausschließlich aus Geschehnissen im Westen inspirierten und angestoßenen Projektes. Im Kontext der Nationenforschung verwendete Emcke die Begriffe »kontra-faktisch« (Emcke 2017, S. 127) und »ahistorisch« (Emcke 2017, S. 127) für eine solche fehlerhafte Realitätserzeugung. Die kontra-faktische und ahistorische Wahrnehmung von historischen Einflussfaktoren ist oftmals weder ein zufälliger noch unabsichtlicher Prozess. Sie ist begünstigt durch eine Kultur- und Geschichtsproduktion, die gezielt nicht-weiße Menschen auslässt. Dies wird beispielsweise an der fehlenden Thematisierung von Kolonialismus in Schule und Studium oder an der Abwesenheit nicht-weißer Soldaten in Filmen sowie Dokumentationen über den zweiten Weltkrieg sichtbar.
Das zentrale Argument im letzten Absatz ist: Es kann lediglich von einer »vermeintlich« westlichen Theorieproduktion oder Kulturentwicklung gesprochen werden. Der Westen ist kein geschlossener Ort, der sich über die Jahrhunderte von angeblich fremden Kulturräumen abschottete. Ganz im Gegenteil ist der Westen historisch offen und hochexpansiv gewesen. Der Westen ist kein ausschließliches Produkt des Westens, sondern ein komplexes globales Produkt. Umgekehrt finden sich auch kaum »reine(n) nicht-westliche(n) Wissenschaftsysteme(n)« (Dhawan 2009, S. 62). Daher vollzieht das vorliegende Werk keine »kulturrelativistische Anklage gegen das Erbe der Aufklärung« (Dhawan 2009, S. 62), sondern will die epistemischen Grundlagen des Westens erweitern, indem es die Leerstellen und Fehler des Westens kritisiert und vermeintlich äußere Wissenschaftssysteme einbindet. Dhawan schreibt von einer »Verwebung(en) von westlichen mit nicht-westlichen Theorieproduktionen« (Dhawan 2009, S. 62). Folglich bewegt sich diese Schrift in einer theoretischen Ambiguität. Einerseits kritisiert und diskutiert es die westliche Theorie und Ideengeschichte im Sinne ihrer allgemeinen und hegemonialen Interpretation als europäisch, weiß, geschlossen, überlegen, einzigartig, und universell. Es wird sich von der klassischen Praxis westlicher Theoriebildung und vor allem einer Romantisierung distanziert. Zugleich wird die Reinterpretation, was als westliche Theorie und Ideengeschichte verstanden wird, vollzogen. Daher ist diese Schrift selbst eine in die westliche Theorie eingewobene Praxis. Zum Umgang mit dieser Ambiguität wird weiterhin mit klaren sprachlichen Markern, wie der historischen, tradierten, kanonisierten oder vermeintlichen westlichen Theorie gearbeitet, um über diese problematische, hegemoniale Interpretation des westlichen Erbes zu diskutieren, ohne es verwerfen oder verteufeln zu wollen, sondern um es im Sinne eines aufklärerischen Ideals nach Fehlern und Irrtümern zu durchforsten.
Von zentraler Bedeutung für die hegemoniale Stellung der westlichen Theorie ist die politische Macht der weißen Nationen. Herrschafts- und Machtprozesse nahmen über die Zeit auch Einfluss auf die Wissenschaftsproduktion. Nach Huntington erleben wir derzeit einen relativen Verfall der westlichen Macht, aber dennoch bleibt die vermeintliche westliche Zivilisation die Mächtigste (Huntington 2002, S. 29). Der relative Verfall zwingt den Westen »mit anderen Kulturen zu dialogisieren« (Jullien 2018, S. 87). Die Öffnungsbewegung des Westens ist nach Jullien kein freiwilliger und gewollter Prozess, sondern eine Reaktion auf den fortwährenden Machtverfall (Jullien 2018, S. 85ff.). Historisch gesehen »hatte er nicht nötig zu dialogisieren« (Jullien 2018, S. 87). »Er kolonialisierte sie durch seine triumphierende Rationalität« (Jullien 2018, S. 87). Die unfreiwilligen Öffnungsbewegungen führen auf allen Ebenen der Gesellschaft auch zu offenen Abwehrbewegungen. Im Fachdiskurs spricht man hierbei oftmals von einem »Backlash« (Kymlicka 2014, S. 122). Ein besonderer Fokus wird in den folgenden Kapiteln auf die Verhandlungen auf der Ebene von Nationalismus, Mitgliedschaft, Demokratie und Migration gelegt. Beispielsweise verlief historisch die Migrationsbewegung des Westens aus dem westlichen »Zentrum« (Hall 2012, S. 216) in die nicht-westliche »Peripherie« (Hall 2012, S. 216). Die fortschreitende Dekolonialisierung der Welt öffnet »die globale Interdependenz nun in beide(n) Richtungen« (Hall 2012, S. 216) und eine Wanderung »aus den Peripherien in das Zentrum« (Hall 2012, S. 216) vollzieht sich. In der Gegenwart nimmt Migration als Folge der Dekolonialisierung sogar zu (Benhabib 2016, S. 171). Der vermeintliche Westen muss nun mit den ehemaligen Kolonien zu »Migrationsregimen« in Verhandlung treten (Karakayali und Mecheril 2018). Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich nun auf der Ebene gegenwärtiger Wissensproduktion. Es kommt zu einem Ende der einseitigen Beobachtung aus westlicher Perspektive. Die Wissenschaft beobachtet und theoretisiert nicht mehr einseitig aus der westlichen Position über das Nicht-Westliche. Sukzessive vollzieht sich eine Beobachtung des Westens aus den Perspektiven ehemaliger kolonisierter Subjekte (Bhabha 2012, 2011; Césaire 2017; Dhawan 2016; Hall 2012; Kendi 2018; Morrison 2018a; Thompson und Digoh-Ersoy 2016; El-Tayeb 2016). Ein Großteil dieser Bewegung findet derzeit im westlichen Zentrum statt. So beobachtet die postkoloniale Theorie aus der Perspektive des ehemals kolonisierten Subjekts den Westen und sein Handeln. Es handelt sich dabei um eine kritische Außenseiterperspektive von innen. Die fortwährend zugeschriebene Position des »Fremde(n) in unserer Mitte« (Miller 2017a) erzeugt eine produktive Beobachtungsposition. Um es mit Beispielen zu konkretisieren, ist auf Hall und Césaire zu verweisen. Hall beobachtet aus seiner ambivalenten Position als britisches Subjekt das Britische selbst (vgl. hierzu Hall 2012). Aus der normierten, britischen Identität war er allerdings zum Beobachtungszeitpunkt als schwarzer Mensch mit jamaikanischer Herkunft4 ausgeschlossen. Gleiches gilt für die ambivalente Position von Césaire in seiner Beobachtung Europas (vgl. hierzu Césaire 2017). Trotz seiner Jugend in Paris und seinem späteren Abschluss an einer französischen Elitehochschule5 wurde ihm nie eine volle Teilhabe an der französischen Normidentität zuteil. Aus dieser ambivalenten, negierten europäischen Identität kritisiert er mit der Distanz des »Fremden« (Simmel 1968, S. 63ff.) das europäische Erbe. Simmel war überzeugt das dem »Fremden« eine besondere »Objektivität« (Simmel 1968, S. 64-66) in der Bewertung von Zusammenhängen zuteilwird. Nun führt die von Huntington und Jullien beschriebene Machtverschiebung zu einem neuen Umgang mit den Beobachtungen, Kritiken und Anklagen. Sie müssen wahrgenommen und besprochen werden. Die historische Ignoranz gegenüber äußerer Theoriebildung findet sukzessive ihr Ende. Wir erleben einen neuen Dialog der Theorien.
Nach March ist eine Aufgabe des neuen Theoriedialogs die Vormachtstellung westlicher »Konzepte, Kategorien, und Wahrheitsannahmen« (March 2009, S. 540) kritisch zu betrachten (March 2009, S. 540). Westliche Konzepte sind dabei unter Umständen selbst ein »problem to be solved« (March 2009, S. 540). Mit einer solchen Argumentation wird schnell der Vorwurf des Kulturrelativismus laut, aber dies ist meines Erachtens nicht gemeint. Ein gutes Beispiel für ein kritisch zu überarbeitendes Konzept ist Rassismus oder die Vorstellung weißer Vorherrschaft. Beide sind in Teilen letztlich ein Produkt westlicher Theorie- und Ideengeschichte (Hund 2018, S. 94; Bühl 2017, S. 97). Wie die zuvor angeführten Beispiele zeigten, waren sie keine Randnotiz im wissenschaftlichen Diskurs, sondern ein wiederholt aufkommender Gegenstand der akademischen Auseinandersetzung.
Weiß spricht bezüglich des Umgangs mit westlicher Theorie deutlich kritischer von der Auflösung eines »normativen Chauvinismus, bei dem westliche Leser davon ausgehen, dass die Entwicklung des westlichen Denkens in vielerlei Hinsicht maßstabbildend sind« (Weiß 2012, S. 66). Zentrale Menschheitsfragen wurden nicht zuerst durch eine genuin klassisch westliche Ideenbildung beantwortet. Die Vorstellung, dass schwarze Menschen frei und gleichberechtigt gegenüber weißen Menschen sind, kommt im Rahmen der dekolonialen, haitianischen Revolution im Widerstand zur damaligen herrschenden westlichen, hegemonialen Tradition der französischen Revolutionäre auf (Weiß 2016, S. 209). Damit leisteten die haitianischen Revolutionäre einen zentralen Beitrag zur Entwicklung universalistischer Menschenrechte (Weiß 2016, S. 209).
Der Westen ist kein klar begrenzter geographischer Ort und wird erst durch gesellschaftliche Verhandlungen »konstruiert« (Weidner 2018, S. 37). Dabei schwankt die Vorstellung des Westens »zwischen eher globalen und eher abgrenzenden, neuerdings wieder nationalen Orientierungen« (Weidner 2018, S. 37). Daher wird in der Tat der Westen oftmals als ein »ideologischer Begriff« verwendet (Jullien 2018, S. 28). Insbesondere da vielfach ahistorisch und kontra-faktisch der Westen als ein Ort des ausschließlichen Guten und der höheren gestellten Menschen romantisiert wird. Trotz der vielen anderslautenden historischen Beispiele. Als ideologisches Produkt wird der traditionelle Westen durch oftmals unfreiwillige Austauschbeziehungen in die Welt getragen und manifestiert sich auch außerhalb seiner selbstgewählten Grenzziehungen. So wird unter anderem mittels kolonialer Praktiken eine »Verwestlichung Afrikas« (Sarr 2020, S. 37) vollzogen. Die Verwestlichung erfolgt durch den Einfluss von »Amtssprachen, Bildungssysteme(n), Verwaltung, Wirtschaftsordnung und Institutionen« (Sarr 2020, S. 37). Der Kolonialismus machte Englisch, Spanisch, Französisch und andere Sprachen zu Weltsprachen. Die dauerhaften westlichen Leitlinien sind auch in anderen Gesellschaftsbereichen zu spüren und verfestigen die historisch, westliche Tradition als hegemoniale Tradition. Nach Saar hat der Prozess in Afrika zum »Aufoktroyier(en)« (Saar 2020, S. 17) von »Interpretationsrastern« (Saar 2020, S. 17) geführt. Der Westen ist damit weder abgegrenzt noch räumlich begrenzt. In Folge des Kolonialismus und der Globalisierung findet der Westen in allen Teilen der Welt statt.
Ein zentraler Aspekt westlicher Tradition ist der universelle Anspruch, der dieser Tradition zugeschrieben ist. Jullien sieht den universellen Anspruch »europäischer Wissenschaft« (Jullien 2018, S. 14) als »singulär« (Jullien 2018, S. 14). Er findet sich nach Jullien in keiner anderen wissenschaftlichen Tradition in dieser Form wieder. Vor allem in der wiederholten Betonung, dass es eine Notwendigkeit für einen universellen Anspruch gäbe (Jullien 2018, S. 14). Allerdings ist die Vorstellung der Universalität, »das Produkt einer einzigartigen Geschichte des Denkens« (Jullien 2018, S. 19). Die Kritik am Universalitätsanspruch seitens Jullien ist nachvollziehbar, aber wird nur in dieser Theorie nur in gewisser Hinsicht geteilt. Die folgerichtige Entwicklung universeller Menschenrechte ist beispielsweise eine globalgeschichtliche Errungenschaft, hinter die nicht zurückgetreten werden sollte. Die Vorstellung einer ausschließlich im Westen verorteten Entwicklung von Menschenrechten ist ein stabiler Mythos. Die Demystifizierung kann in dem Werk nur eingeschränkt zu einem kleinen Teil vollzogen werden, da der Fokus auf anderen ideengeschichtlichen Grundbegriffen liegt. Dennoch wird globalgeschichtlichen Produkten, wie der Demokratie an sich, ein universeller Anspruch zugemessen.
Entscheidende Autoren des tradierten Kanons transportieren oder argumentieren direkt oder indirekt für die Überlegenheit weißer Menschen oder die ihrer Zivilisationen. Mit Kant, Hegel, Husserl, Arendt, Fichte, Rousseau, Hobbes, Kolumbus, Hume und vielen weiteren ist die Liste sehr lang. Hund beschreibt einen ausgeprägten Rassismus bei Kant (Hund 2018, S. 94), Hegel (Hund 2018, S. 86-87) und Schiller (Hund 2018, S. 89). Weiterhin verweist er auf den Rassismus von Bernier (Hund 2018, S. 24) und untermauert seine Kritik an Hobbes mit seiner Komplizenschaft im Sklavenhandel und dem Mitverfassen einer rassistischen Kolonialverfassung (Hund 2018, S. 24). Hobbes zeigt eindrucksvoll wie die rassistische Theorie zur Praxis wurde und nicht als wirkungslose Randnotiz in den Werken verblieb. Nach Bühl ist die »Mehrheit der Aufklärer« (Bühl 2017, S. 97) davon überzeugt, »dass der Schwarze eher dem Affen ähnele als dem weißen Europäer« (Bühl 2017, S. 97). Das Bild vom nicht-weißen Menschen als Tier ist ein grundlegender Topos der rassistischen Theoriebildung. In Anlehnung an Arendt bezüglich der Konzentrations- und Vernichtungslager schreibt Därmann vom »rassistische(n) Bild- und Gewaltperformativ der Vertierung« (Därmann 2020, S. 297) als Praxis der Dehumanisierung des Anderen (Därmann 2020, S. 297). Die Aufklärung war maßgeblich an der Erzeugung der »Gewaltpraktiken der Kommodifizierung, Verdinglichung und Animalisierung von Menschen« (Därmann 2020, S. 13) beteiligt. Die Wissenschaft gewann als Begründer des Kolonialismus an Bedeutung, nachdem die »Hegemonie des Christentums« (Boulaga 2016, S. 122) in Europa endete (Boulaga 2016, S. 122). Der Leerraum einer christlichen Unterdrückungsbegründung eröffnete die Notwendigkeit eines neuen Begründungszusammenhangs. Die »Zivilisierungsmission« (Varela und Mecheril 2016, S. 10-11), die auf dem Gedankengut der Aufklärung fußte, ist die entscheidende Begründung für den Kolonialismus geworden (Boulaga 2016, S. 122). Die christliche Mission entwickelte sich ebenso zunehmend zur Zivilisierungsmission.
Die eingebrachten Denker haben Anteil an der wirkmächtigsten und dominantesten Identitätspolitik seit der Neuzeit: Der weißen Identitätspolitik (Arndt 2015, S. 37-43; Kimmel 2016, S. 24). Eine Identitätspolitik, die im vermeintlichen Interesse für die Gemeinschaft weißer Menschen Politik betreibt und gestaltet. Diese Form der Identitätspolitik motivierte den Kolonialismus, die Rassentheorie, die Apartheid, die Rassentrennung, die Genozide an indigenen Bevölkerungen sowie weitere Schandtaten in der Geschichte und Gegenwart. Heute ist weiße Identitätspolitik Antriebsfaktor für rechtspopulistische und rassistische Bewegungen. Viele andere Formen von Identitätspolitik bildeten sich ausschließlich als Gegengewicht zur weißen Identitätspolitik. So bildete sich die schwarze Identitätspolitik der Bürgerrechtsbewegung als Gegenbewegung zu der erlebten Repression durch die diskriminierende Gesetzgebung im vermeintlichen Interesse weißer Menschen. Die weiße Identitätspolitik ist mittels ihrer zentralen Denker leider auch Teil des Kanons geworden, beispielsweise in der Terminierung ideengeschichtlicher Errungenschaften. Viele der folgenden Punkte sind beeinflusst durch andere Identitätspolitiken, wie der Männlichkeit oder der Klassenzugehörigkeit. Die USA gelten ab dem Zeitpunkt als Demokratie, als weiße Menschen wählen durften; die Idee einer allgemeinen Vernunftbegabung gilt ab dem Zeitpunkt, als sie weißen Männern zugeschrieben wurde und allgemeine Bürgerrechte gelten ab dem Zeitpunkt als errungen, als sie weißen Männern zu Teil wurden. Ein koloniales Imperium ist ab dem Zeitpunkt eine Demokratie, wenn die zentrale, weiße Kolonialmacht eine Demokratie ist. Obwohl die Mehrheit des britischen Einfluss- und Herrschaftsgebiets unter kolonialer Herrschaft stand, galt das britische Empire ab der Demokratisierung des englischen Zentrums als demokratische Ordnung. Die bestimmende Herrschaftsform in Reichweite, Einflussgebiet und in der Lebensrealität der meisten unterworfenen Menschen war der Kolonialismus und nicht die die Demokratie. Würde beispielsweise die Demokratie ausschließlich in München eingeführt werden und die Demokraten Münchens würde fortan alle Entscheidungen für die restliche Bundesrepublik, die sich in einem kolonialen Verhältnis zu ihrem Zentrum München befinden würde, treffen, dann würde der demokratische Geist der Münchner selbst, sicherlich bemängelt werden. Bei den kolonialen Regimen kommt die erwartbare Kritik nicht auf, da die Demokratiezuschreibung am Rechtsstatus einer identitätspolitischen, bestimmten Gruppe bemessen wird.