Polizeiliche Berufsethik - Ulrike Wagener - E-Book

Polizeiliche Berufsethik E-Book

Ulrike Wagener

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Beschreibung

Von Beginn an gehört es zum polizeilichen Berufsalltag, gezielt und systematisch über das eigene berufliche Handeln und die ihm zugrunde liegenden Maßstäbe nachzudenken. Dies erfordert von den Polizeibeamt:innen die Fähig­keit zur Reflexion und eine ausgebildete ethische Kompetenz. Ausgehend von Fallbeispielen leitet dieses Studienbuch zur ethischen Analyse polizeilicher Alltagspraxis und zur Reflexion des eigenen Berufsverständnisses an. Folgende Themen werden u.a. behandelt: Berufsbilder und Berufsmotivation Diensteid Achtung und Schutz der Menschenwürde als polizeiliche Aufgabe Menschenwürde von Polizeibeamt:innen Legitime und illegitime Gewalt Lebensbedrohliche Einsatzlagen (Amok, Terror) Umgang mit gesellschaftlicher und innerpolizeilicher Diversität Opferschutz und Normverdeutlichung bei häuslicher Gewalt Überbringen von Todesnachrichten, Umgang mit Hinterbliebenen Umgang mit Stress und eigener Belastung Für die dritte Auflage wurde das Kapitel "Polizeiarbeit in einer pluralistischen Gesellschaft" neu aufgenommen, das sich mit den Auswirkungen der zunehmenden gesellschaftlichen Vielfalt auf die Polizeiarbeit befasst. Außerdem wurde das Werk um neue Entwicklungen und Erkenntnisse ergänzt. Das Buch ist konzipiert für die polizeiliche Aus- und Fortbildung; insbesondere richtet es sich an Studierende im Bachelor-Studiengang für den gehobenen Polizeivollzugsdienst. Es vermittelt prüfungsrelevante Kompetenzen ethischen Denkens und Urteilens. Arbeitsaufgaben und Kontrollfragen ermöglichen es, den eigenen Lernfortschritt selbstständig zu überprüfen.

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Polizeiliche Berufsethik

Ein Studienbuch

von

Dr. Ulrike Wagener

Professorin für Berufsethik an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen

unter Mitarbeit von

Pfarrer Werner Schiewek

Lehrbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland für Ethik im Polizeiberuf an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster i.R.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

E-Book

3. Auflage 2024

© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2024

eISBN 978-3-8011-0946-2

Titelnummer 102161

Buch (Print)

3. Auflage 2024

© VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb; Hilden/Rhld., 2024

Druck und Bindung: Plump Druck und Medien GmbH, Rheinbreitbach

ISBN 978-3-8011-0923-3

Alle Rechte vorbehalten

Unbefugte Nutzungen, wie Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. Satz und E-Book: VDP GMBH Buchvertrieb, Hilden

www.vdpolizei.de

E-Mail: [email protected]

Vorwort zur dritten Auflage

Die zweite Auflage des Studienbuches Berufsethik ist seit einiger Zeit vergriffen. Ich freue mich sehr, dass das Buch so gute Resonanz gefunden hat. Es ist zu einer wichtigen Quelle für Ethik-Dozent:innen sowie Studierende und Auszubildende im Polizeiberuf geworden.

Für die dritte Auflage wurden die vorhandenen Teile des Buches gründlich revidiert. Daten und Literatur wurden aktualisiert, neuere Entwicklungen und Erkenntnisse ergänzt. Nachdem in der zweiten Auflage ein Teilkapitel zu den Herausforderungen des internationalen Terrorismus neu hinzugekommen war, ist die dritte Auflage um ein ganzes Kapitel gewachsen. Das neue vierte Kapitel „Polizeiarbeit in einer pluralistischen Gesellschaft“ setzt sich systematisch mit den Auswirkungen von zunehmender gesellschaftlicher Vielfalt auf die Polizeiarbeit in Deutschland auseinander. Insbesondere geht es um Herausforderungen, die daraus resultieren, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Angehende Polizeibeamtinnen und -beamte werden hier mit Grundkenntnissen zu Migrations- und Akkulturationsprozessen vertraut gemacht, die Bedeutsamkeit kultureller Prägungen in zwischenmenschlichen Interaktionen wird verdeutlicht und Prozesse der Stereotypisierung und Vorurteilsbildung werden aufgezeigt. Das Kapitel bietet auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen zu Ideologien menschlicher Ungleichwertigkeit („gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“), um Strukturen und Muster der Abwertung von verschiedenen Gruppen von Menschen zu verstehen und identifizieren zu können. In diesen Kontext gehört auch das in Gesellschaft und Polizei starke Emotionen auslösende Thema des „(strukturellen) Rassismus“ – hier will das Buch zu einer Versachlichung beitragen, um aus unproduktiven Polarisierungen herauszukommen.

Sprachlich verwende ich in diesem Buch zwei Formen geschlechtergerechter Sprache: Zum einen die Langform, die jeweils grammatisch maskuline und feminine Bezeichnungen nebeneinanderstellt (z.B. Polizistinnen und Polizisten); zum anderen die Kurzform mit Doppelpunkt (z.B. Polizist:innen). Mein Hauptanliegen ist es, wegzukommen vom sog. „generischen Maskulinum“, das nachweislich nicht inklusiv ist, sondern in den Köpfen männliche Bilder evoziert. Wie menschliche Pluralität angemessen zur Sprache kommen kann – diesbezüglich sind wir mitten in einem kontrovers geführten Diskussionsprozess. Bemühungen um eine geschlechtergerechte Sprache werden mit unterschiedlichen Akzentsetzungen vorgetragen, etwa um sprachlich die weibliche Mehrheit zu repräsentieren oder non-binäre Menschen sichtbar zu machen. Indem ich verschiedene Formen geschlechtergerechter Sprache nebeneinanderstelle, möchte ich das Bewusstsein dafür offenhalten, dass es wirklich um Vielfalt geht. Gerechtere Sprachformen zu erfinden ist ein offener und kreativer Prozess – insofern ist auch die hier gewählte Lösung nichts Endgültiges, sondern eine Momentaufnahme in einer weitergehenden Entwicklung.

Wie schon bei den ersten beiden Auflagen hat auch diese dritte Auflage des Studienbuches von der bewährten Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Werner Schiewek von der Deutschen Hochschule der Polizei profitiert. Seit über 20 Jahren stehen wir in engem fachlichen Austausch zu den verschiedensten Fragen und Themen der polizeilichen Berufsethik. In den letzten neun Jahren haben wir in insgesamt fünf Durchgängen neu berufene Ethik-Dozent:innen an polizeilichen Bildungseinrichtungen fortgebildet – die gemeinsam wahrgenommene Dozent:innen-Rolle hat uns immer wieder in ethische Fach-Reflexionen geführt. Ohne diesen kontinuierlichen intensiven Diskussionsprozess wäre dieses Studienbuch nicht das, was es geworden ist. Dafür bin ich sehr dankbar.

Ich hoffe, dass diese überarbeitete und ergänzte dritte Auflage des Studienbuches wiederum aufmerksame und interessierte Leserinnen und Leser findet, die sich von den ethischen Überlegungen des Buches zu eigenem ethischen Denken und Reflektieren anregen lassen.

Freiburg, im Januar 2024

Ulrike Wagener

Einführung

Das Fach Berufsethik hat die Aufgabe, Sie in die Lage zu versetzen,

•ethische Aspekte polizeilichen Handelns zu identifizieren und adäquat zu beschreiben,

•komplexe Handlungssituationen unter ethischen Aspekten differenziert zu analysieren,

•einen systematischen Weg moralischer Entscheidungsfindung zu beschreiten und

•eigene moralische Überzeugungen zu reflektieren.

Diese Aspekte greift das vorliegende Studienbuch auf, das für das Fach Polizeiliche Berufsethik insbesondere im Bachelor-Studiengang für den gehobenen Polizeivollzugsdienst konzipiert ist. In mehrfacher Hinsicht schließt es eine Lücke: Neben einem praxisorientierten Überblick über zentrale Probleme, Argumentationen und Lösungen polizeilicher Berufsethik vermittelt es durch die Bearbeitung konkreter Fallbeispiele aus der Praxis prüfungsrelevante Kompetenzen ethischen Denkens und Urteilens. Es ist also für das Selbststudium ebenso verwendbar wie im Kontaktstudium (Seminar) und zur Prüfungsvorbereitung. Darüber hinaus ist dieses Buch interdisziplinär angelegt und greift auf Erkenntnisse unterschiedlicher Fachdisziplinen wie Führungswissenschaften, Neurobiologie, Psychologie oder Soziologie zurück.

Aufbau des Studienbuchs

Im einführenden Kapitel 1 werden Grundsatzfragen polizeilicher Berufsethik behandelt. Dieses Kapitel ist die gekürzte und inzwischen mehrfach überarbeitete Fassung eines Textes von Werner Schiewek, den dieser für das Buch zur Verfügung gestellt hat. Meinen herzlichen Dank dafür.

Die Kapitel 2–6 diskutieren konkrete Bereiche der Polizeiarbeit unter ethischen Aspekten und haben weitgehend die gleiche Struktur:

Nach der Einführung in das jeweilige Thema gibt es am Beispiel von drei fiktiven Polizistinnen und Polizisten (Alexander, Bianca und Tarik) zwischen 20 und 33 Jahren, die sich in einem sozialen Netzwerk über Berufliches austauschen, persönliche Perspektiven auf praktische Fragestellungen des Themas. Die Arbeitsaufgaben schließen sich an praktische Fallbeispiele an. Diese Sachverhalte sind exemplarisch zu analysieren und ethisch zu bewerten. An dieser Stelle danke ich Jürgen Sterk, Yvonne Waldboth, Pia Winkler und den Studierenden der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen, von denen ich praktische Fallschilderungen in verfremdeter Form übernommen habe.

In den Materialteilen wird das für die Analyse der Fallbeispiele notwendige polizeiwissenschaftliche Fachwissen in komprimierter Form geboten. Ebenso wird ethisches Theorie- und Methodenwissen eingebracht, soweit es für die Bearbeitung des jeweiligen Themas notwendig ist. Querverweise zwischen den verschiedenen Materialteilen ermöglichen es außerdem, fachliche Verbindungen und Zusammenhänge zu erschließen. Wer das Buch auf diese Weise als Kompendium benutzt, wird von den Kontrollfragen profitieren, die am Ende der jeweiligen Kapitel zur selbstständigen Überprüfung des eigenen Wissensstandes einladen.

In den fortlaufenden Text der Materialteile wurden Textkästen eingebaut, die Folgendes enthalten können:

•eine pointierte Aussage, die zur Diskussion herausfordert,

•die Definition eines wichtigen Begriffes oder

•ein Zitat aus einer maßgeblichen Originalquelle.

Wird in einem Materialteil ein recht komplexer Sachverhalt argumentativ entwickelt, so wird das Ergebnis in einem ebenfalls hervorgehobenen Fazit zusammengefasst. Des Weiteren enthält jeder Teil weiterführende Literaturhinweise sowie ein komplettes Verzeichnis der in den Materialteilen verwendeten Quellen.

Das abschließende Kapitel 7 bietet vertieftes Theoriewissen der philosophischen Ethik, soweit es – nach meinem Dafürhalten – für ein gutes Verständnis berufsethischer Problemstellungen wichtig ist. Von diesem Kapitel dürften insbesondere Studierende profitieren, die eine Seminar- oder Bachelorarbeit im Bereich der Berufsethik schreiben.

Der Index am Ende des Buches ermöglicht es, gezielt nach zentralen Begriffen sowie nach Autorinnen und Autoren zu suchen.

Über Rückmeldungen – seien sie bestätigender oder kritischer Art – freue ich mich.

Freiburg, im Januar 2024

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur dritten Auflage

Einführung

Aufbau des Studienbuchs

Kapitel 1

Kein Beruf wie jeder andere!

Ein erster Zugang zu ethischen Herausforderungen der polizeilichen Arbeit

1.1Die Bedeutung von Vertrauen und das Potenzial für Misstrauen im Polizeiberuf

1.1.1Bedeutung von Vertrauen für die Polizeiarbeit

1.2Ein Versuch moralischer Orientierung: Sieben Gebote für den Polizeibeamten (1945)

1.3Moralische Normen und Werte

1.4Polizeiliche Organisationskulturen als Wertsysteme

1.5Was ist eine gute Polizistin, ein guter Polizist?

1.6Berufsmotivation und Berufsbilder

1.6.1Berufsbild „Freund und Helfer“: Vertrauen ist möglich – die Bannung der Angst vor der Polizei

1.6.2Berufsbild „Schutzmann“: Vertrauen ist nötig – die Bannung der Angst mithilfe der Polizei

1.6.3Berufsbild „Krieger“: Vertrauen in den eigenen Mut – die Überwindung von Angst in der Polizei

1.6.4Berufsbild „Jäger“: Vertrauen in das eigene Können

1.7Der Diensteid

1.7.1Versprechen – „Inseln in einem Meer der Ungewißheit“ (Arendt 1981, S. 240)

1.7.2Der Eid als moralisches „Hochleistungsversprechen“

1.7.3Das Gewissen

1.8Weiterführende Literatur

1.9Quellen zu Kapitel 1

1.10Kontrollfragen zum erlangten Wissensstand

Kapitel 2

Unantastbar? Von wegen!

Achtung und Schutz der Menschenwürde als Fundament und ständige Herausforderung polizeilicher Arbeit

2.1Wann ist die Menschenwürde verletzt? Einige Fallstudien

2.2Menschenwürde als Fundament der Menschenrechte

2.3Verschiedene Würdeverständnisse

2.4Der Würdeanspruch als Schutz der Selbstachtung

2.5Achtung der Menschenwürde als vorgängiges und unhintergehbares Prinzip

2.6Moralische Dilemmata zwischen Folterverbot und Schutz des Lebens

2.7Ist die Würde des Staatsdieners unantastbar?

2.8Weiterführende Literatur

2.9Quellen zu Kapitel 2

2.10Kontrollfragen zum erlangten Wissensstand

Kapitel 3

Wir tragen Waffen und wenn es sein muss, benutzen wir sie auch.

Polizist:innen als Vertreter:innen des staatlichen Gewaltmonopols

3.1Das staatliche Gewaltmonopol in Theorie und Praxis

3.1.1Die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in der Neuzeit

3.1.2Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Gewaltmonopols in der Bundesrepublik Deutschland

3.1.3Zwischen Durchsetzungsfähigkeit und rechtsstaatlicher Begrenzung: die grundlegende Spannung des staatlichen Gewaltmonopols

3.1.4Macht und Machtlosigkeit: Paradoxien der polizeilichen Macht und Kontrolle

3.1.5Die innere Spannung des Gewaltmonopols und die polizeiliche Organisationskultur

3.2Aggression und Gewalt in anthropologischer Sicht

3.2.1Sozialpsychologische und neurobiologische Grundlagen der Aggression

3.2.2Allgemeines Theoriemodell der Gewalt

3.2.3Grundprobleme professioneller Gewaltausübung

3.3Verantwortungsvolle Gestaltung des Gewaltmonopols: berufsethische Überlegungen und Ansätze

3.3.1Struktureller Ansatz: Maßnahmen auf der Organisationsebene

3.3.2Ansätze zur Stärkung von Professionalität und Rollenstabilität der Beamt:innen

3.4Lebensbedrohliche Einsatzlagen

3.4.1Die terroristische Bedrohung und die Reaktion westlicher Gesellschaften

3.4.2Herausforderungen für Einsatz- und Führungskräfte

3.5Weiterführende Literatur

3.6Quellen zu Kapitel 3

3.7Kontrollfragen zum erlangten Wissensstand

Kapitel 4

Die Gesellschaft wird immer vielfältiger – wie stellen wir uns darauf ein?

Polizeiarbeit in einer pluralistischen Gesellschaft

4.1Polizei und Diversität: Wie lässt sich Vielfalt mit Zusammenhalt vereinbaren?

4.2Grundlagen und Rahmenbedingungen von Polizeiarbeit in der pluralistischen Gesellschaft der heutigen Bundesrepublik Deutschland

4.2.1Die Bundesrepublik Deutschland als Einwanderungsland – einige statistische Daten

4.2.2Akkulturation: Was passiert zwischen Migrant:innen und Aufnahmegesellschaften?

4.2.3Empirische Befundlage zum gegenwärtigen Integrationsklima in Deutschland

4.2.4„Eigenes“ und „Fremdes“: Soziale Identität, Stereotypisierung und soziale Diskriminierung

4.3Interaktion zwischen Polizei und Menschen mit internationaler Geschichte bzw. People of Colour

4.3.1„Erwartungsunsicherheit“, „Herstellung von Handlungssicherheit“ und „Autoritätserhalt“ als wesentliche Faktoren des polizeilichen Umgangs mit Personen mit Migrationsgeschichte

4.3.2Situative Handlungssicherheit durch interkulturelle Kompetenz(en)?

4.3.3Interkulturelle Kompetenzen konkret: Umgang mit sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten

4.3.4Interkulturelle Kompetenzen konkret: Umgang mit dem Vorwurf von Rassismus oder Ausländerfeindlichkeit

4.3.5Institutionelle Diskriminierung wahrnehmen: „Racial“, „Ethnic“ und „Social“ Profiling

4.4Fallstudie: Versagen der Ermittlungsbehörden beim Rechtsterrorismus des „Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)“

4.4.1Der NSU im Kontext von rassistischem Rechtsterrorismus in Deutschland

4.4.2Das Scheitern der Ermittlungen zu den Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)“

4.4.3Aufarbeitung des Ermittlungsversagens: Parlamentarische Untersuchungsausschüsse

4.5Ein kurzes Fazit: Auf dem Weg zu einer Polizei für alle

4.6Weiterführende Literatur

4.7Quellen zu Kapitel 4

4.8Kontrollfragen zum erlangten Wissensstand

Kapitel 5

Wir helfen den Opfern – aber manche sind selbst schuld!

Mitgefühl und Professionalität bei Einsätzen häuslicher Gewalt

5.1Interventionskonzepte gegen häusliche Gewalt bzw. Gewalt im sozialen Nahraum

5.2Häusliche Gewalt: Mythen und Fakten zur Phänomenologie und Verbreitung

5.2.1Häusliche Gewalt – ein Unterschichtsproblem?

5.2.3Männer schlagen, Frauen üben Psychoterror aus?

5.2.4Gegenseitigkeit oder Einseitigkeit von Partnergewalt?

5.2.5Gewalt und Geschlechterverhältnisse: Verletzungsmacht und Verletzungsoffenheit

5.3Verlaufsmodelle bei Partnergewalt: die Gewaltspirale, Strategien der Gewaltopfer und Überlegungen zu einem differenzierten Prozessmodell

5.3.1Die Gewaltspirale

5.3.2Gewaltverläufe und Opferstrategien

5.4Gutes Opfer – böses Opfer: die moralische und ethische Zwiespältigkeit des Opferbegriffs

5.4.1Zwei Seiten des Opferbegriffs

5.4.2Konzepte des „idealen“ Opfers

5.4.3Auswirkungen von Opferkonzepten im Bereich häuslicher Gewalt

5.4.4Ist der Opferbegriff überhaupt noch verwendbar?

5.5Belastungen von Polizeibeamt:innen im Zusammenhang mit Einsätzen häuslicher Gewalt

5.5.1Verletzungsrisiko bei Einsätzen häuslicher Gewalt

5.5.2Emotionale Belastungen und moralische Bedenken

5.5.3Distanzierungsstrategien

5.6Berufsethische Überlegungen zum polizeilichen Umgang mit häuslicher Gewalt

5.7Weiterführende Literatur

5.8Quellen zu Kapitel 5

5.9Kontrollfragen zum erlangten Wissensstand

Kapitel 6

Wenn einem die Worte fehlen …

Polizeilicher Umgang mit Sterben, Tod und Trauer

6.1Der polizeiliche Umgang mit Sterben, Tod und Trauer

6.2Ethik der Fürsorge – Ethik der Selbstsorge. Zur Ausbalancierung von Verpflichtungen gegen sich selbst und andere

6.3Umgang mit Verletzten am Unfallort

6.3.1Notfallstress bei (Verkehrs-)Unfällen

6.3.2Betreuung von Verletzten am Unfallort

6.4Was geschieht, wenn ein Mensch trauert? Erkenntnisse moderner Trauerforschung

6.4.1Modelle des Trauerprozesses und der Trauerbegleitung

6.4.2„Schleusenzeit“: die Bedeutung der ersten Trauerphase für den gesamten Trauerprozess

6.4.3Reaktionen und Bedürfnisse der Angehörigen bei einem unvorhergesehenen Todesfall

6.5Überbringen von Todesnachrichten

6.5.1Todesbenachrichtigung als Stresssituation

6.5.2Empathie als professionelle Schlüsselkompetenz

6.5.3Todesbenachrichtigung konkret: Tipps für Überbringer:innen

6.5.4Einige in der Aus- und Weiterbildung häufig gestellte Fragen

6.6Interview Polizeiseelsorge

6.7Weiterführende Literatur

6.8Quellen zu Kapitel 6

6.9Kontrollfragen zum erlangten Wissensstand

Kapitel 7

Den Dingen auf den Grund gehen.

Zum Theoriehintergrund des Faches Polizeiliche Berufsethik

7.1Zum Profil des Faches Berufsethik

7.2Zentrale Begriffe der Ethik

7.2.1Moral, Moralität, Ethik

7.2.2Werte und Normen

7.3Theorien der menschlichen Moralentwicklung

7.3.1Ansätze von Moralerziehung bzw. ethischer Bildung

7.4Stufenmodelle der Moralentwicklung

7.4.1Lawrence Kohlbergs Stufenmodell der Entwicklung moralischen Urteilsvermögens

7.4.2Das Stufenmodell von Carol Gilligan

7.4.3Ethik der Gerechtigkeit oder Ethik der Fürsorge: die Kohlberg-Gilligan-Kontroverse

7.5Grundmodelle ethischen Nachdenkens und Argumentierens

7.5.1Ethik des Guten – Ethik des Richtigen

7.5.2Drei ethische Theoriemodelle: Tugendethik, konsequentialistische Ethik und deontologische Moraltheorie

7.6Verfahren ethisch reflektierter Urteilsfindung

7.7Eigene Deutungsmuster reflektieren

7.8Weiterführende Literatur

7.9Quellen zu Kapitel 7

7.10Kontrollfragen zum erlangten Wissensstand

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Personenverzeichnis

Zum Einstieg:Drei Stimmen – drei persönliche Perspektiven auf den Polizeiberuf

ALEX

Hallo, ich bin Alexander, genannt Alex. Ich bin 33 Jahre und bin direkt nach der Realschule zur Polizei. Ausbildung bei der BePo, dann EHU und jetzt seit Jahren Streifendienst. Bin inzwischen Hauptmeister, aber im mittleren Dienst hat man ja keine Perspektive, auch mal was anderes machen zu können. Deshalb hab ich das Fachabi nachgeholt und jetzt auch die Zulassung zum Studium an der FH bekommen! Bin mal gespannt, wie das läuft, nach 15 Jahren auf der Straße wieder zu lernen wie in der Schule. Aber das haben andere ja auch geschafft. Hoffentlich wird es nicht zu theoretisch!

Neulich habe ich bei den Polizeimeisterschaften im Handball Bianca kennengelernt. Wir haben uns über das Studium unterhalten; sie hat’s schon hinter sich und fand es sogar richtig gut. Jetzt bin ich noch mehr gespannt. Eine Auffrischung in den Rechtsfächern nach den ganzen Jahren finde ich auf jeden Fall nützlich. Ob man alles andere auch braucht, mal sehen.

BIANCA

Hi, ich bin Bianca, ich bin 25 und seit drei Jahren bei der KriPo. Bei einer Info-Veranstaltung der Polizei hatte ich erfahren, dass man über das Fachhochschul-Studium direkt Kommissarin werden kann. Das fand ich richtig spannend. Sobald ich das Fachabi hatte, habe ich mich beworben und das Bachelor-Studium gemacht. Für mich war das ein tolles Studium: interessant, vielfältig und praxisorientiert.

Als ich neulich bei den Handballmeisterschaften Alex kennengelernt habe, hat der mich über das Studium ausgefragt. Er konnte es gar nicht fassen, dass jemand richtig begeistert davon erzählt. Er hatte bisher viel Negatives gehört.

Ich habe Alex auch mit Tarik bekannt gemacht. Den habe ich über Facebook kennengelernt. Inzwischen hat er auch mit dem Studium angefangen. Alex lässt manchmal Tarik gegenüber den erfahrenen Polizeibeamten raushängen – aber eigentlich verstehen die beiden sich gut.

TARIK

Ja, Tarik, das bin ich, 20 Jahre. Habe im letzten Jahr mein Abi gemacht und dann angefangen, Mathe zu studieren, aber das war‘s nicht. Ich wollte was Praktisches machen. Jetzt studiere ich an der Polizeihochschule und finde es sehr interessant. Wir sind im Studiengang aber alles Anwärter, die relativ frisch von der Schule kommen. Früher gab es auch Aufstiegsbeamte in den Studiengruppen, das hätte ich spannend gefunden, von deren Erfahrung zu profitieren. Umso toller ist der Austausch mit Bianca. Durch sie habe ich neulich auch Alex kennengelernt, der ist noch länger dabei und hat schon so ungefähr alles mitgemacht, was es bei der Polizei zu erleben gibt. Wegen meines Namens werde immer mal wieder gefragt, wo ich herkomme. Mein Großvater väterlicherseits ist in den 60er Jahren aus der Türkei gekommen und hat eine deutsche Frau geheiratet, meine Großmutter. Aber mein Name ist eigentlich arabisch – meine Mutter ist Französin mit algerischen Wurzeln. Ganz schön international! Ich selbst sehe mich als Deutscher – hier bin ich geboren und aufgewachsen. Nur, dass ich eben auch noch Französisch und ein wenig Türkisch spreche.

Kapitel 1Kein Beruf wie jeder andere!Ein erster Zugang zu ethischen Herausforderungen der polizeilichen Arbeit

TARIK

Im Dienstrecht heute ging es um die „volle Hingabe“. Müssen wir wirklich alles geben? Das hat doch Grenzen!? Ich hab erst mal eins von diesen „What my buddies think I do“– Postern rumgeschickt – echt witzig! Kennt ihr die? War der Lacher!

ALEX

Weißt du, Tarik, worauf es als Allererstes ankommt? Dass du nach der Schicht heil nach Hause kommst. Und warum sollten wir eigentlich bessere Menschen als der Rest sein? Die Polizei ist doch einfach nur ein Querschnitt der Gesellschaft.

BIANCA

Wir haben in Berufsethik einen Satz diskutiert, „polizeilicher Imperativ“ hieß der: „Verhalte dich so, als ob von dir ganz allein und ganz persönlich das Ansehen und die Wirksamkeit der Polizei abhinge.“ Da ist was dran: Ein einziger Kollege, der Mist baut – und sofort ist das Vertrauen in die gesamte Polizei beschädigt.

Bearbeiten Sie die folgenden Aufgaben und verwenden Sie dabei die Materialien 1.1–1.7 sowie die weiterführende Literatur.

1.Analysieren Sie das Leitbild Ihrer eigenen Polizei (oder das Leitbild der Polizei Baden-Württembergs, Abb 6, s. S. 29) mithilfe des Wertevierecks von Wieland (Abb. 3, s. S. 25): Aus welchem Bereichen stammen die im jeweiligen Leitbild vertretenen Werte?

2.Vergleichen Sie das Leitbild Ihrer eigenen Polizei (oder das Leitbild der Polizei Baden-Württembergs, Abb 6, s. S. 29) mit den Handlungsmustern der Polizistenkultur nach Rafael Behr (Tab. 3, s. S. 31).

3.Sofern Sie in Ihrer bisherigen Ausbildung schon Praxiserfahrung gesammelt haben: Welche der Handlungsmuster nach Rafael Behr haben Sie in der polizeilichen Praxis wiedergefunden? Werden diese von den Kolleginnen und Kollegen in „Reinform“ oder mit Modifikationen vertreten?

4.Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Eigenschaften eines guten Polizisten oder einer guten Polizistin? Vergleichen Sie Ihre Liste mit der Ihrer Mitstudierenden sowie mit der Liste positiver Eigenschaften in Tab. 4 (s. S. 32).

5.Mit welchem der in Kap. 1.6 dargestellten Berufsbilder können Sie sich am ehesten identifizieren, mit welchem am wenigsten?

6.Darf man einen Eid brechen? Diskutieren Sie in Ihrer Studiengruppe Pro und Contra.

7.Die polizeiliche Berufsausübung kann einzelne Beamtinnen oder Beamte manchmal in einen Gewissenskonflikt führen. Überlegen Sie, in welchen (Einsatz-)Situationen das der Fall sein kann. Was tut die Organisation Polizei dafür, um Gewissenskonflikte bei den Einzelnen möglichst zu vermeiden?

8.Steht im Fall eines Gewissenskonfliktes das Gewissen über oder unter dem Gesetz? Begründen Sie Ihre Meinung.

1.1Die Bedeutung von Vertrauen und das Potenzial für Misstrauen im Polizeiberuf

Die Polizei genießt in der Bundesrepublik Deutschland ein hohes gesellschaftliches Vertrauen. Dies zeigt sich in den regelmäßig durchgeführten Umfragen zum Vertrauen der Bevölkerung in Institutionen. In der letzten Forsa-Befragung vom Jahreswechsel 2022/23 gaben 79 % von 4003 Befragten an, großes Vertrauen in die Polizei zu haben (s. Abb. 1).

Im Vergleich mit anderen Institutionen belegt die Polizei in den Vertrauensumfragen seit Jahrzehnten einen der vorderen Ränge (oder sogar den Spitzenplatz wie etwa 2018 und 2019).

Wem vertrauen die Deutschen?

Abb. 1: Vertrauen in Institutionen in Deutschland 2022/23

Dieses hohe Vertrauen lässt sich weiter regional differenzieren. Eine auf die Bundesländer bezogene Umfrage aus dem Jahr 2022 ergab folgendes Bild:

Abb. 2: Basis: Befragte aus den jeweiligen Bundesländern n=200 pro Bundesland, Saarland und Bremen nur jeweils n=100 (Einfachnennung; hier dargestellt: „sehr hoch“, „eher hoch“; nicht dargestellt: „eher gering“, „nicht vorhanden“). Quelle: PwC 2022, S.14

Bremer Einsatzerfahrungen

„Ich war erschrocken über die Gewalt, die aus der Menschenmenge hervorging“, berichtete am Dienstag ein Polizist, der am Wochenende dabei war. „Nicht linkes Klientel hat den Ärger verursacht, der normale Bürger hat uns attackiert“, sagte der Beamte, seit 32 Jahren im Polizeidienst. „Wir wurden von Menschen bespuckt und beschimpft, die eigentlich mein Papa oder mein Opa hätten sein können“, zeigte sich eine junge Polizistin noch zwei Tage nach dem Einsatz betroffen. „Es war erschreckend zu sehen, dass uns normale Bürger von 17 bis 60 Jahren gezielt attackiert haben“, sagte ein Kollege.

Gewalt gegen Polizei in Bremen, Hamburger Abendblatt 6.9.2011

Dieses der Polizei vonseiten der Gesellschaft entgegengebrachte hohe Vertrauen ist für die meisten Polizistinnen und Polizisten ein überraschender Befund. Denn das persönliche Erleben scheint eher für einen Autoritätsverlust der Polizei und für ein immenses gesellschaftliches Misstrauen zu sprechen.

Doch auch innerhalb der polizeilichen Arbeit findet sich eine vergleichbare Spannung, nämlich die zwischen einem „professionellen“ Misstrauen im Hinblick auf das „polizeiliche Gegenüber“ und dem grundsätzlich sehr hohen Vertrauen in das „polizeiliche Miteinander“, d.h. in die Kolleg:innen. Eine weitere Vertrauensebene ist schließlich das Selbstvertrauen, das für die persönliche Berufsausübung und Lebensführung wichtig ist.

Grundsätzlich scheint es ohne Vertrauen unter Menschen nicht zu gehen: „Menschliches Leben ist, wenn es nicht von Vertrauen getragen ist, schwer zu ertragen und kaum zu meistern.“ (Köhl 2001, S. 115)

1.1.1Bedeutung von Vertrauen für die Polizeiarbeit

Vertrauen ist eine Möglichkeit, mit der Unkontrollierbarkeit anderer Menschen, den Bedingungen um uns herum oder einem Zustand in uns selbst umzugehen. Derartige Unsicherheitsfaktoren können z.B. unsichere und/oder unvollständige Informationen sein, Unklarheiten über die Rahmenbedingungen des eigenen Handelns, aber auch Unsicherheiten in Bezug auf das eigene Können. Positiv kann man sagen: „Vertrauen kann ganz allgemein als ein Mittel zum Umgang mit der Freiheit anderer definiert werden.“ (Gambetta 2001, S. 213) Die Entwicklungspsychologie sieht in der grundlegenden menschlichen Hilfsbedürftigkeit in den ersten Jahren unseres Lebens die Ausgangsbasis unserer Fähigkeit zu vertrauen (vgl. Erikson 1973, S. 62–75; Krampen, Greve 2008, S. 679f.). Die Fähigkeit, anderen und sich selbst zu vertrauen, scheint so tief mit unserem Selbstverständnis verbunden zu sein, dass eine grundlegende Erschütterung dieses Vertrauens traumatisierend sein kann (Janoff-Bulman 1992, S. 18).

Was bedeutet Vertrauen?

„Einer Person zu vertrauen bedeutet zu glauben, dass sie sich nicht in einer uns schädlichen Art und Weise verhalten wird, wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bietet.“

Gambetta 2001, S. 214

Vertrauen und Misstrauen haben ihren Platz vorrangig in Interaktionen bzw. in Kooperationsbeziehungen. Die jeweils benötigte Unterstützung kann sich beziehen auf

1.Leistungen, d.h., mein Gegenüber besitzt ein Wissen und/oder Können, das ich brauche, aber selber nicht besitze (der eingeforderte Wert ist in diesem Fall Unterstützung);

2.Entgegenkommen, bei konkurrierenden Interessen oder im Falle eines Konflikts (eingeforderter Wert: Wohlwollen);

3.Abstimmung zur gemeinsamen Handlungskoordination bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele (eingeforderter Wert: Rücksichtnahme).

Diese drei Aspekte bestimmen auf vielfache Weise die Polizeiarbeit.

Leistungserwartung

Die Gesellschaft erwartet Leistungen von der Polizei in den Bereichen Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und Prävention, weil weder der oder die Einzelne noch die Gesellschaft als ganze solche Leistungen erbringen können. Nur Angehörige einer Organisation mit entsprechenden Befugnissen, ausreichender Legitimität (gesellschaftlicher Anerkennung), ausgebildetem Personal und genügend materiellen Ressourcen sind in der Lage, solche Leistungen in ausreichendem Umfang sowie mit hoher Verlässlichkeit und Qualität zu erbringen. Hier gibt es dementsprechend ein Vertrauen der Gesellschaft in die Polizei, diese Leistungen von ihr in einem gewünschten Umfang und einer gewünschten Qualität zur Verfügung gestellt zu bekommen.

Die Polizei erwartet wiederum Leistungen von der Gesellschaft, da die genannten Ressourcen, Legitimität und Befugnisse nicht von der Polizei selbst bereitgestellt werden können, sondern von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden. Hier ist wiederum ein Vertrauen der Polizei in die Gesellschaft unumgänglich.

Entgegenkommen

Die Polizei erwartet Entgegenkommen bei der ihr übertragenen Aufgabe der gesellschaftlichen Pazifizierung und Konfliktschlichtung von Seiten der Gesellschaft. Dazu gehört, dass Bürger:innen Informationen an die Polizei geben, dass andere gesellschaftliche Institutionen mit der Polizei kooperieren und ihre Arbeit unterstützen, die Bereitschaft von Bürger:innen, sich als Zeug:innen zur Verfügung zu stellen, oder die generelle Bereitschaft aller gesellschaftlichen Akteur:innen, ihre Konflikte gewaltfrei zu lösen sowie auf polizeiliche Interventionen grundsätzlich nicht mit Gewalt zu reagieren.

Die Gesellschaft wiederum erwartet von der Polizei das Entgegenkommen, die Bereitstellung ihrer Kompetenzen von jedem politischen Interesse frei zu halten (Neutralitätspflicht) und legitimen gesellschaftlichen Vorgaben auch bei fachlichen Einwänden und inneren Widerständen zu folgen (Loyalität).

Abstimmung

Die Polizei ist auf die Abstimmung ihrer Arbeit mit weiteren gesellschaftlichen Akteur:innen (Staatsanwaltschaften und Gerichte, Hilfs- und Rettungsdienste, Ambulanzen und Krankenhäuser, soziale Hilfs- und Unterstützungsagenturen, weitere kommunale Einrichtungen und Behörden u.a.) unabdingbar angewiesen. Solche Kooperationen entsprechen der zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität und nur so können nachhaltig wirksame Problemlösungen auf den Weg gebracht werden.

Die Gesellschaft wiederum ist auf die Abstimmung mit der Polizei angewiesen, um Erwartungssicherheit darüber zu gewinnen, mit welcher Art von Unterstützung von Seiten der Polizei gerechnet werden kann, mit welchen Mitteln die Polizei dabei zu Werke gehen darf und welche Grenzen sie zu respektieren hat. Und das gilt gleichermaßen für die Rahmenbedingungen der polizeilichen Arbeit wie für die Ebene konkreter Begegnungen im Alltag.

Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich für die Polizei und für die polizeiliche Arbeit ein enorm großer Vertrauensbedarf bzw. ein enorm großes Misstrauenspotenzial. Beides ist dadurch bedingt, dass die polizeiliche Arbeit nicht nur ein Kooperationsunternehmen ist, sondern für die Erfüllung ihrer Aufgaben auf eine breite wie inhaltlich vielfältige Kooperation verschiedenster gesellschaftlicher Akteur:innen angewiesen ist und bleibt. Auf die dafür nötige Kooperationsbereitschaft bei ihren Partner:innen kann die Polizei keinen unmittelbaren Einfluss ausüben, sondern muss darauf vertrauen, dass sie ihr von der Gesellschaft immer wieder entgegengebracht wird.

Weil Vertrauen und Misstrauen so eng miteinander verbunden sind, wird es das Moment des Misstrauens gegenüber der Polizei wie auch innerhalb der Polizei immer geben. Während das Misstrauen innerhalb der Polizei besonders im Bereich der polizeilichen Organisationskultur eine Rolle spielt, soll hier die Bedeutung des Misstrauens gegenüber der Polizei näher betrachtet werden.

Diese Seite des Misstrauens zeigt sich beispielsweise dann, wenn die Polizei in ihrer Rolle als normdurchsetzende Organisation auftritt. Solche Momente sind prädestiniert für die Erzeugung von Misstrauen beim Gegenüber: Was habe ich falsch gemacht? Was will man von mir? Ist es hier gefährlich? An dieser Stelle wird etwas sehr Grundsätzliches über die Reaktion der Allgemeinheit auf die Polizei deutlich, das sich immer wieder erleben lässt: Man ist froh, dass es die Polizei gibt, aber man möchte möglichst wenig mit ihr zu tun haben. Diese Einstellung findet sich z.B. auch gegenüber Ärzt:innen oder in anderer Hinsicht gegenüber Versicherungen. Aus dieser Konstellation ergeben sich verschiedene Konsequenzen für das Vertrauen, das der Polizei entgegengebracht wird.

„Die Haltung und das Verhalten jedes individuellen Akteurs ist entscheidend für das Image der ganzen Organisation. Ein negativer Vorfall kann alle positiven Erfahrungen zunichte machen, die ein ‚Kunde‘ vorher gemacht hat. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen im Zentrum jeder Dienstleistungsorganisation.“

Feltes 2006, S. 128 [Übersetzung U.W.]

Dieses Vertrauen kann man als eine Form von „Systemvertrauen“ verstehen (Luhmann 1989, S. 50–66), in unserem Fall also als ein grundsätzliches Vertrauen in das Leistungserfüllungsversprechen einer Organisation, dessen Enttäuschung stets die Ausnahme bleibt. Werden Ausnahmen bekannt (wie z.B. durch Abdul-Rahman et al. 2023; Feltes & Plank 2021; Loick 2018), müssen sie selbst erst einmal als vertrauenswürdig klassifiziert werden. Ist dies der Fall (ein Zeichen des Vertrauens in das Funktionieren einer kritischen Öffentlichkeit), dann kommt es entscheidend darauf an, ob der daraus entstandene Rechtfertigungs- und Erklärungsbedarf von der Polizei ernst genommen und aufgegriffen wird. Ob dieses Ernstnehmen und die angemessene Reaktion wiederum selbst vertrauenswürdig erscheinen, liegt erneut nicht unmittelbar in den Händen der Polizei, sondern wird von außen, d.h. von der nichtpolizeilichen Öffentlichkeit, beurteilt. Bisher haben die bekannt gewordenen Ausnahmen keine Dimension erreicht, die das Systemvertrauen grundsätzlich in Frage gestellt hätte. Auch darin zeigt sich die erstaunlich große Stabilität des Systemvertrauens, das die Polizei in Deutschland genießt. Es erweist sich, dass das Systemvertrauen „relativ unabhängig von einzelnen Erfahrungen“ ist und „deshalb nicht leicht enttäuscht“ wird (Lahno 2002, S. 358). Aber: Die zwar punktuelle, aber stetige und gegebenenfalls unbefriedigende Diskussion von Ausnahmen kann zu einem Kipppunkt im Bereich des Systemvertrauens führen (ein sog. Tipping Point, vgl. Gladwell 2002). Beim Erreichen eines Kipppunktes würde sich der Schwerpunkt zur Seite des Misstrauens hin verschieben. Bisherige Ausnahmen würden damit zur erwarteten bzw. befürchteten Regel, was bisher die Regel ist, würde zur Ausnahme. Wo immer dies weltweit geschieht, wird ein gesellschaftliches Grundvertrauen so massiv gestört, dass das gesellschaftliche Zusammenleben in größte Gefahr gerät. Diesen Fall kann man als eine gesellschaftliche „Großschadenslage“ ansehen.

Das Systemvertrauen ist nur eine Seite des der Polizei entgegengebrachten Vertrauens. Die andere Seite ist der konkrete persönliche Kontakt zwischen Polizei und Bürger:innen (vgl. Liebl 2005). Auch hier steht viel auf dem Spiel, denn wir „nehmen die Vertrauenswürdigkeit einzelner Personen als Signal der Vertrauenswürdigkeit einer Institution, deren komplexen Charakter wir im Einzelnen nicht überblicken können.“ (Lahno 2002, S. 359) Damit gewinnt das persönliche Auftreten und Handeln von Polizistinnen und Polizisten eine sehr wichtige Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Systemvertrauens in die Polizei als Organisation.

Ein besonderes Merkmal dieser „Schnittstelle“ zwischen Bürger:innen und Polizei besteht darin, dass in vielen Einsatzsituationen die Polizist:innen als Einzelne bzw. als Streifenteam den einzelnen Menschen unmittelbar gegenüber stehen und eine darüber hinausgehende hierarchische Kontrolle ihres Handelns aktuell nicht gegeben ist. Sie entscheiden in der Regel also selbst unmittelbar vor Ort, was und wie etwas zu tun ist. In diesem Setting spiegelt sich etwas von der genannten Unkontrollierbarkeit wider – die von vielen Polizist:innen auch als eine besondere Freiheit ihrer Arbeit empfunden wird.

Somit zeigt sich die Bedeutung des Vertrauens auf dreifache Weise:

•Erstens bleibt der Organisation Polizei nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass die Polizist:innen vor Ort das Richtige auf die richtige Weise tun.

•Zweitens vertrauen die Bürger:innen darauf, dass die Polizist:innen dem ihnen abstrakt entgegengebrachten Systemvertrauen auch konkret vor Ort gerecht werden.

•Drittens vertrauen die Polizist:innen darauf, dass sie unter Beachtung der genannten Erwartungen beider Seiten ihre Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten so einbringen können, dass kein weiterer Schaden entsteht und sich eine möglichst zufriedenstellende Lösung des anstehenden Problems für alle Beteiligten realisieren lässt.

Auch hier zeigt sich die Allgegenwart von Vertrauensnotwendigkeiten einerseits, aber auch das permanente Angewiesensein auf Vertrauen, selbst und gerade in Situationen, die eher Misstrauen herausfordern. Doch wie kann man ein solches Vertrauen sichern? Im Hinblick auf Polizist:innen z.B. dadurch, dass versucht wird, „die Guten“ (so der „sprechende“ Titel von Rutkowsky 2017) für den Polizeidienst zu gewinnen. Denn wem sollte man vertrauen können, wenn nicht ihnen?

1.2Ein Versuch moralischer Orientierung: Sieben Gebote für den Polizeibeamten (1945)

Die folgenden sieben Gebote für Polizeibeamt:innen wurden von der britischen Militärregierung 1945 als Richtschnur für den Wiederaufbau der deutschen Polizei in der britischen Besatzungszone formuliert. Dreißig Jahre später wurden sie in der Zeitschrift „Die Polizei“ noch einmal abgedruckt und mit dem Hinweis: „Heute so aktuell wie damals!“ versehen. Kann man das nach weiteren 50 Jahren immer noch sagen? Oder verändert sich der Polizeiberuf so schnell und so grundsätzlich, dass diese Anforderungen heute keine Rolle mehr spielen? Eine kurze Überprüfung scheint sinnvoll.

Sie können Ihre Einschätzung zu den einzelnen Forderungen auf dem folgenden Fragebogen eintragen:

Tab. 1: Fragebogen zu den sieben Geboten für Polizeibeamtinnen und -beamte, erstellt von Werner Schiewek, Text entnommen aus: Beese 2018, S. 28–29.

Die „Sieben Gebote für den Polizeibeamten“ zeigen anschaulich den normativen Erwartungshorizont, der für den Polizeiberuf in Deutschland ab 1945 (wieder) als grundlegend angesehen wurde. Das erklärt einerseits, dass sich hinter den sieben Geboten über vierzig Einzelforderungen verbergen, und andererseits die bis heute reichende Popularität solcher Beschreibungen. Sie transformieren die Forderung der Vertrauenswürdigkeit in ein moralisch imprägniertes Anforderungsprofil des Polizeiberufs.

1.3Moralische Normen und Werte

Gesellschaftliche Erwartungen an die Polizei, aber auch das polizeiliche Selbstverständnis sind stark von moralischen Vorstellungen durchsetzt und geprägt. Bilder „guter“ Polizeiarbeit beinhalten dementsprechend nicht nur Fachkompetenz und Rechtssicherheit, sondern transportieren auch moralische Normen und Werte.

Unter Normen versteht man die in einer Gesellschaft oder Gruppe gültigen Regeln für menschliches Zusammenleben. Sie haben den Sinn, Wertvorstellungen in Handlungen zu transformieren. Werte hat der Sozialpsychologe Milton Rokeach 1973 wie folgt definiert:

„Ein Wert ist eine fortdauernde Überzeugung, dass eine bestimmte Handlungsweise oder ein bestimmter zu erreichender Lebenszustand für eine Person oder eine Gemeinschaft gegenüber einer gegenteiligen Handlungsweise oder einem entgegengesetzten Zustand vorzugswürdig ist.“ (Rokeach 1973, S. 5; Übersetzung U. W.)

Ein Wert kann sich also auf die Handlungsweise einer Person (z.B. Ehrlichkeit, hilfsbereites Handeln) oder einen Zustand in der Welt beziehen (z.B. Wohlstand, gute Bildungschancen, hohes Maß an persönlicher Freiheit).

Zur Orientierung ihres Handelns verfügen Menschen über ein ganzes Bündel von Werten, die je nach Situation genutzt werden. Allerdings sind nicht alle Werte automatisch moralische Werte, vielmehr lassen sich (im Anschluss an den Wirtschaftsethiker Josef Wieland) vier verschiedene Bereiche von Werten unterscheiden:

(1) Leistungswerte

(2) Kommunikationswerte

wie z.B.

•Nutzen

•Kompetenz

•Leistungsbereitschaft

•Flexibilität

•Kreativität

•Innovationsorientierung

•Qualität

wie z.B.

•Achtung

•Zugehörigkeit

•Offenheit

•Transparenz

•Verständigung

•Risikobereitschaft

(3) Kooperationswerte

(4) Moralische Werte

wie z.B.

•Loyalität

•Teamgeist

•Konfliktfähigkeit

•Offenheit

•Kommunikationsorientierung

wie z.B.

•Integrität

•Fairness

•Ehrlichkeit

•Vertragstreue

•Verantwortung

Abb. 3: Werteviereck. Quelle: Wieland 2004, S. 23 ff.

Diese vier Bereiche können unterschieden werden, auch wenn sie alle durch Werte gesteuert werden. So geht es im Bereich der Leistungswerte um Werte, die sich z.B. auf die Beherrschung eines Handwerks, auf ein Wissen oder Können sowie auf Leistungsmotivation beziehen. Die Präferenzen dieses Bereichs werden zwar durch Werte ausgedrückt, aber diese haben keine unmittelbar moralisch-ethische Qualität. So erfüllt die Erzielung eines Weltrekords im 100-Meter-Lauf zweifellos einen Leistungswert, der sich aber unter moralisch-ethischen Aspekten gerade neutral verhält. Ein:e 100-Meter-Weltrekordhalter:in wird durch diese Leistung weder ein moralischerer Mensch noch ist die Leistung selbst eine im engeren Sinn moralisch zu würdigende. So korreliert ein hoher Grad der Erfüllung von Leistungswerten nicht automatisch auch mit einem hohen Grad der Erfüllung moralischer Werte – und umgekehrt.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass es sinnvoll ist, die vier Wertebereiche zu unterscheiden. Gleichzeitig gilt, dass für eine Organisation eine Auswahl von Werten aus allen vier Bereichen nötig ist, um kooperatives Handeln stabil und nachhaltig zu organisieren. Wäre eins der Quadrate leer, hätte dies schwerwiegende negative Folgen.

Zwischen den Werten der verschiedenen Quadrate gibt es wichtige Wechselwirkungen. Die moralischen Werte können zur ethischen Kontrolle der Werte in den nichtmoralischen Feldern dienen; durch sie kommt die moralische Komponente in die anderen Wertbereiche hinein. So kann z.B. hinsichtlich des Weltrekords im 100-Meter-Lauf gefragt werden, ob die gezeigte Leistung aufgrund des Einsatzes von Doping erzielt wurde. Damit werden die moralischen Werte von Fairness und Ehrlichkeit auf den Leistungsbereich angewandt. Es gibt aber auch folgenreiche Wirkungen in entgegengesetzter Richtung: Nicht selten erhöht z.B. ein Defizit bei den Leistungswerten die Wahrscheinlichkeit, dass Leistungsmängel durch moralisch fragwürdige Handlungen kompensiert werden – wie umgekehrt eine hohe Leistungsfähigkeit dazu führen kann, moralisch-ethische Handlungsspielräume zu vergrößern.

Nicht jeder Wert, der in einer Gesellschaft oder Gruppe Geltung hat, ist automatisch ein moralischer Wert. Nichtmoralische Werte sind zunächst moralisch neutral. Um ihre Qualität in einer konkreten Situation moralisch zu beurteilen, muss (und kann) ein moralischer Wert auf sie angewandt werden.

Viele Werte, die zunächst wie moralische Werte aussehen, sind in Wirklichkeit Kommunikations- oder Kooperationswerte. Dies gilt z.B. für den schon angesprochenen Wert des Vertrauens. Es kann nämlich nicht gesagt werden, Vertrauen sei grundsätzlich in moralischer Hinsicht „gut“ (und Misstrauen damit in moralischer Hinsicht „schlecht“).

Innerhalb der Polizei haben vor allem drei moralische Werte eine besonders hohe Bedeutung: Ehrlichkeit, das Halten von Versprechen und Gerechtigkeit. Dies sind Klassiker ethisch-moralischen Nachdenkens. In der Polizei sind sie so etwas wie die „moralische Alltagswährung“, auch wenn explizit wenig über sie gesprochen wird. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen vielmehr Werte wie Vertrauen oder Menschenwürde. Bei ihnen handelt es sich um recht komplexe Wertkonzepte, die weniger Ausgangspunkte als vielmehr Ergebnisse einer erlebten und gelebten moralischen Praxis in der Polizei darstellen. Der Zugang zum „Komplizierteren“ läuft also über das „Einfachere“: Ob die Würde des Menschen geachtet, ob jemand als vertrauenswürdig angesehen wird, zeigt sich in dieser Sichtweise am konkreten Umgang mit drei moralischen Werten Ehrlichkeit, Halten von Versprechen und Gerechtigkeit. Werden sie im Alltag nur nachrangig beachtet, beschädigt diese Entwertung die beiden zentralen Werte Vertrauen und Würde (vgl. Abb. 4).

Abb. 4: Zusammenhänge zwischen Menschenwürde und Vertrauen. Darstellung W. S.

Durch diesen Zusammenhang wird auch deutlich, dass das Vertrauen (als Kommunikations- oder Kooperationswert) auf moralischen Werten basiert, damit man „dem Vertrauen vertrauen“ kann.

Das Werteviereck ist darüber hinaus ein hilfreiches Instrument für ein persönliches oder organisationsbezogenes Wertescreening. Auch die in den „Sieben Geboten für den Polizeibeamten“ enthaltenen Forderungen lassen sich damit sortieren, ebenso Leitbilder, Einstellungs- und Stellenprofile, Prüfungsordnungen und Fallbeispiele.

1.4Polizeiliche Organisationskulturen als Wertsysteme

Das ethische Thema der Werte erhält von Sozialwissenschaftler:innen, die im Feld Polizei forschen, seit einigen Jahrzehnten vermehrt Aufmerksamkeit. Werte und Normen werden als zentrale Bestandteile der Kultur einer Organisation verstanden. Was ist damit gemeint?

Edgar H. Schein definiert Kultur wie folgt:

„Die Kultur einer Gruppe kann als die Ansammlung gemeinsamen Lernens dieser Gruppe definiert werden, die Probleme der externen Anpassung und der internen Integration; das, was gut funktioniert hat, um gültig zu sein, wird neuen Gruppenmitgliedern gelehrt, was richtig ist, und was sie in Bezug auf solche Probleme wahrnehmen, denken und fühlen sollen. Diese Summe von Gelerntem stellt ein Muster oder System von Überzeugungen dar, von Werten und Verhaltensregeln, die als so grundlegend empfunden werden, dass sie schließlich aus der Bewusstheit verschwinden.“ (Schein & Schein 2018, S. 5)

Innerhalb dieses weiten Kulturbegriffs hat sich ein engerer, auf Organisationen bezogener Kulturbegriff etabliert. Organisationskulturen bestehen demnach aus den gemeinsam geteilten

•Grundannahmen,

•Werthaltungen,

•Normen und

•Orientierungsmustern,

die sich innerhalb einer Organisation zur Bewältigung der Probleme bewährt haben und die als Erwartungen an neue Mitglieder der Organisation weitergegeben werden, damit sie „in der richtigen Weise wahrnehmen, denken, fühlen und handeln.“ (Neubauer 2003, S. 22) Wer dazugehören will, muss sich im Rahmen dieser grundlegenden Orientierungsmuster bewegen.

Dabei können drei Ebenen von Organisationskultur unterschieden werden:

Abb. 5: Drei Ebenen von Organisationskultur. Quelle: nach Schein 2003, S. 31

Den unbewussten, für selbstverständlich gehaltenen grundlegenden Annahmen kommt in diesem Modell eine besonders hohe Bedeutung zu, denn sie sind der „wirkliche Motor der Kultur (…), auf die sich das alltägliche Verhalten stützt.“ (Schein 2003, S. 39) Inhaltlich handelt es sich dabei z.B. um grundlegende Annahmen über

•die Beziehung des Menschen zur Natur,

•über das Wesen des Menschen,

•über menschliche Beziehungen,

•über das Wesen der Wirklichkeit,

•über das Wesen der Wahrheit,

•über Zeit und Raum (vgl. Schein 2003, S. 60–68).

Wie jede Organisation bildet auch die Polizei eine spezifische Organisationskultur aus. Der ehemalige Polizist und heutige Polizeiwissenschaftler Rafael Behr schlägt folgende Definition von Polizeikultur vor:

„Polizeikultur ist ein Bündel von Wertbezügen, die als transzendentaler Rahmen das Alltagshandeln von Polizeibeamten ermöglichen, begrenzen und anleiten. Wertbezüge geben darüber Auskunft, in welchen Situationen welche Werte und Tugenden in welchem Ausmaß Geltung erlangen (z.B. Selbstdisziplin, Tapferkeit, Loyalität, Zivilcourage) und auch darüber, wann und in welchem Ausmaß Gewalt angewendet werden muss, soll oder darf.“ (Behr 2006, S. 48, vgl. ebd., S. 181)

Leitbild der Polizei in Baden-Württemberg

Diese Leitbilder sind das Ergebnis intensiver Diskussionen über unsere Werthaltung und Selbstverständlichkeit.

I. Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt.

•Menschlichkeit und Gerechtigkeit sind unser Ziel.

•Das Menschenbild des Grundgesetzes ist für uns verbindlich.

•Wir achten die Würde jedes Menschen.

II. Recht und Gesetz bestimmen unser Handeln.

•Wir sind Garant für die Innere Sicherheit.

•Wir wahren die Grundrechte und gehen mit unseren Eingriffsbefugnissen verantwortungsbewußt um.

•Wir sind unbestechlich und schreiten - so weit geboten - konsequent ein.

•Unsere Aufgabenerfüllung berücksichtigt gesellschaftliche Entwicklungen; der Schutz von Menschen steht dabei im Vordergrund.

III. Nur gemeinsam erreichen wir unsere Ziele.

•In diesem Klima gedeihen Offenheit und Kreativität.

•Vertrauen und Partnerschaft prägen unseren Umgang miteinander.

•Kritikfähigkeit und Zivilcourage gehören untrennbar dazu.

•Kooperatives Führen ist Voraussetzung und verpflichtet uns zu vorbildlichem Verhalten.

IV. Bürgernähe führt uns zum Erfolg.

•Konflikte handhaben wir einfühlsam und kompetent.

•Wir treten freundlich, korrekt und hilfsbereit auf.

•Mit Dienstleistungen rund um die Uhr gewinnen wir das Vertrauen der Bürger.

•Zuverlässigkeit und Offenheit bilden die Grundlage für diese Sicherheitspartnerschaft.

V. Unser Dienst erfordert den ganzen Menschen.

•Wir sind leistungsbereit und übernehmen Verantwortung.

•Wir streben nach Professionalität und lernen aus unseren Fehlern.

•Wir fördern Kreativität und Selbstverwirklichung des Einzelnen im Rahmen unserer gemeinsamen Ziele.

VI. Die Zukunft mitgestalten – Unser Weg.

•Unsere Ressourcen setzten wir verantwortungsbewusst ein.

•Professionelles Handeln und Leistung bestimmen unser Selbstbewusstsein und unseren Stellenwert in der Gesellschaft.

•Wir begreifen den gesellschaftlichen Wandel als Herausforderung – Innovation ist unsere Stärke.

•Berufszufriedenheit, Wirtschaftlichkeit und Qualität sichern wir durch qualifizierte Aus- und Fortbildung, lebenslanges Lernen, berufliche Perspektiven und zeitgemäße Arbeitsbedingungen.

Abb. 6: Leitbild der Polizei Baden-Württemberg. Quelle: https://www.polizei-bw.de/leitbild/ [Die Reihenfolge der Einzelaussagen auf der Website wurde gegenüber früheren Fassungen verändert.]

Zwei Organisationskulturen innerhalb der Polizei sind in der internationalen Polizeiforschung immer wieder nachgewiesen worden. Dabei handelt es sich um die Polizeikultur und die Polizistenkultur (Behr 2006, 2008). In der englischsprachigen Forschung wird diese Unterscheidung durch die Begriffe „management cop culture“ vs. „street cop culture“ (vgl. Reuss-Ianni & Ianni 2005) markiert; für deutsche Polizeien hat Anja Mensching die Begriffe „Aktenpraxis“ und „Aktionspraxis“ (Mensching 2008) in die Diskussion eingeführt. Beide Kulturen unterscheiden sich nachhaltig voneinander. Während im Bereich der Polizistenkultur eine Logik zielführender Polizeiarbeit „auf der Straße“ vorherrscht, wird der Bereich der Polizeikultur durch eine bürokratische Logik dominiert. Zum Kerninhalt der bürokratischen Logik gehört, dass jede Führungskraft dafür verantwortlich ist, dass in ihrem Verantwortungsbereich die rechtlich vorgeschriebenen Regeln und Verfahren eingehalten werden (Christe-Zeyse 2006a, S. 194, vgl. ebd., S. 192–195). Die Polizistenkultur orientiert sich demgegenüber an erfolgreicher Lagebewältigung im Einsatz bzw. effektiver Sachbearbeitung (Christe-Zeyse 2006a, S. 185–191). Daraus ergibt sich auch, dass die Polizeikultur einen offiziellen Charakter trägt und nach außen darstellbar ist, während die Polizistenkultur einen informellen Status besitzt und im Wesentlichen ein geteiltes Wissen der sog. street cops darstellt, das nach außen nicht darstellbar ist.

Die Werte und Normen der Polizeikultur werden in Leitbildern festgehalten und nach innen wie außen kommuniziert (Ebene der offiziell propagierten Werte nach Schein 2003, S. 31; vgl. das Leitbild der Polizei Baden-Württemberg, S. 29).

Im Gegensatz zu den Werten und Normen der Polizeikultur finden sich die Normen der Polizistenkultur nicht auf Papier. Sie sind dem alltäglichen Handeln von Polizist:innen auf der Straße zu entnehmen.

Polizeikultur

Polizistenkultur

•offizielle Leitlinie der Polizeiarbeit

•kommt „von oben“

•ist politisch und juristisch korrekt

•orientiert sich an Verfahrensförmigkeit des Rechts

•richtet sich aus an der Gegenwart und der Zukunft (gesellschaftliche Rolle der Polizei)

•ist ein Angebot an die Außenwelten der Polizei

•mündlich tradierte Vorstellung von der Polizeiarbeit vor Ort

•repräsentiert die Erfahrung „der Straße“

•nicht notwendigerweise politisch korrekt

•konkrete Handlungsmuster „richtigen“ Polizeihandelns; Männlichkeitsnormen

•beinhaltet Wertvorstellungen zum Funktionieren der Gesellschaft (Gerechtigkeitsnormen)

•richtet sich nach innen

Tab. 2: Gegenüberstellung von Polizeikultur und Polizistenkultur. Zusammenstellung U. W.

Rafael Behr hat in seinem Buch „Cop Culture“ auf der Grundlage von Interviews und teilnehmender Beobachtung zehn zentrale handlungsleitende Normen formuliert, die seines Erachtens die Polizistenkultur prägen.

Tab. 3: Handlungsmuster der Polizistenkultur. Quelle: Behr 2008, S. 238

1.5Was ist eine gute Polizistin, ein guter Polizist?

Wenn Werte als Merkmale eines moralisch guten Charakters verstanden werden, spricht man von Tugenden. Unter Tugend versteht man die charakterliche Disposition einer Person zum moralischen Handeln, die nicht angeboren ist, sondern durch fortgesetzte Übung erworben wird (Höffe 2023, S. 341 f.). Entsprechend wird von Polizist:innen ein moralisch guter Charakter erwartet.

Tugendhafte Polizistinnen und Polizisten?

Vieles spricht dafür, „daß Vorstellungen, die ‚den Polizisten‘ als besonders ‚tugendhaften‘ Menschen charakterisieren, am Anfang der Ausbildung sehr viel häufiger anzutreffen sind als später, ja, es scheint sogar so zu sein, als ob sich derartige Vorstellungen sehr bald nach der Aufnahme des Studiums abbauten.“

Löbbecke 2004, S. 212

Eine empirische Erhebung zur Frage des „idealen Polizisten“ findet sich bei Peter Löbbecke (Löbbecke 2004, S. 206–231). Das Ergebnis sieht tabellarisch wie folgt aus:

 

Der „ideale“ Polizist/die „ideale“ Polizistin verfügt über folgende Tugenden:

Der „ideale“ Polizist/die „ideale“ Polizistin hat folgende Untugenden nicht:

1.

Idealismus

Formalismus

2.

Menschlichkeit

Zynismus

3.

Höflichkeit

Bürokratismus

4.

Kommunikationsfähigkeit

Rigidität

5.

Gelassenheit/Ausgeglichenheit

Autoritarismus

6.

Freundlichkeit

Prahlerei/Angeberei

7.

Offenheit

Sturheit

8.

Mut

Feigheit

9.

Flexibilität im Denken und Handeln (intellektuelle Beweglichkeit)

Unbeweglichkeit

10.

Hilfsbereitschaft

Egoismus

11.

Ordentlichkeit

Schlampigkeit

12.

Klarheit/Verlässlichkeit/Berechenbarkeit

Undurchsichtigkeit/Widersprüchlichkeit/Launenhaftigkeit

13.

Kreativität in der Arbeitsbewältigung

Monotonie und ‚Repetitionsneigung‘

14.

Kooperationsfähigkeit/Teamfähigkeit

Rechthaberei/Eigenbrötlerei

Tab. 4: Eigenschaften eines „idealen Polizisten“. Quelle: Behr 2006, S. 184

Rafael Behr hat einen stark tugendethisch ausgerichteten Vorschlag zur Entwicklung einer wertegebundenen Polizeikultur vorgelegt. Innerhalb dieser erweiterten Tugendlehre für die Polizei stellt er einen Tugendkatalog des:der idealtypischen Polizist:in vor (Behr 2006, S. 184). Seine Leitidee für die Einbettung dieser Tugenden ist die Entwicklung bzw. Förderung eines institutionellen Patriotismus in der Polizei.

Behr greift hier den Begriff des Patriotismus auf, bezieht ihn aber nicht auf Nationalität, sondern auf die Identifikation mit einer nationenübergreifend vorhandenen Institution: dem Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaats. Er will damit drei für die Polizeiarbeit wichtige Komponenten verbinden, nämlich

•erstens die Leidenschaft für den gewählten Beruf mit den

•zweitens vorhandenen kulturellen Verschiedenheiten und

•drittens mit einer diesen Beruf prägenden universalen Berufsethik (vgl. Behr 2006, S. 188, vgl. ebd., S. 14 f.).

Behr hält persönliche Tugend für eine unverzichtbare Voraussetzung des Polizeiberufs, denn „Tapferkeit, Mut und Zivilcourage kann nicht bürokratisch angeordnet werden.“ (Behr 2006, S. 96) Polizist:innen benötigen

„neben den kognitiven und rationalen Grundlagen auch ein intuitives Verhältnis zu ihrem Beruf: es muss sich lohnen, sich in Gefahr zu begeben, Risiken in Kauf zu nehmen, seine Gesundheit zu beschädigen. Das tun die allermeisten Polizisten nicht aus reiner Großmannssucht oder aus machistischem Imponiergehabe, sondern aus einem Gefühl der Verantwortung gegenüber den eigenen Idealen, den Kollegen, den ‚signifikanten Anderen‘, besonders den Angehörigen etc.“ (Behr 2006, S. 99)

Dreh- und Angelpunkt einer solchen Sichtweise ist für Behr „die Wertschätzung gegenüber der Institution des Gewaltmonopols, und zwar insoweit, als sie demokratisch legitimiert und völkerrechtlich akzeptiert ist.“ (Behr 2006, S. 188) Institutionspatriotismus stellt damit eine Haltung dar, die „sich mit einem gewissen Maß an Leidenschaft einem Wertesystem verschreibt, das von definierten gesellschaftlichen Institutionen vertreten wird.“ (Behr 2006, S. 185) In dieser Haltung liegt „ein Bekenntnis zu etwas, es geht ausdrücklich um Überzeugung, nicht um Rationalität.“ (Behr 2006, S. 185) Behr geht es um ein bestimmtes Selbstverständnis, das von dem grundsätzlichen Bewusstsein geprägt wird, „eine Lizenz zur Gewaltausübung zu besitzen, und zwar nach vergleichbaren juristischen und ethischen Maßstäben (…) insoweit, als sie demokratisch legitimiert und völkerrechtlich akzeptiert sind.“ (Behr 2006, S. 187 f.).

Was sind Kardinaltugenden?

Zu den Kardinaltugenden werden seit der Antike folgende vier Tugenden gezählt:

1.Klugheit

2.Gerechtigkeit

3.Tapferkeit (Mut)

4.Besonnenheit (Maß)

Während die sogenannten ethischen Tugenden im engeren Sinn (Nr. 2–4) sich dadurch auszeichnen, dass sie jeweils die Mitte zwischen zwei Extremen bilden, so gilt für Klugheit als Verstandestugend die Regel: Je mehr, desto besser.

Vgl. Höffe 2023, S. 342

Welche Tugenden entsprechen einer solchen Haltung des institutionellen Patriotismus? Behr greift auf die (klassischen) Kardinaltugenden zurück, die er als zentral und im polizeilichen Bereich als besonders förderungswürdig ansieht (Behr 2006, S. 182–184). Diese Kern- oder Primärtugenden seien allerdings für bürokratische Organisationen häufig „geradezu suspekt“ (Behr 2006, S. 183). In Organisationen werden in der Regel sog. Sekundärtugenden wie Gewissenhaftigkeit oder Leistungsbereitschaft mehr geschätzt, weil sie das Funktionieren der Mitarbeiter:innen gewährleisten und damit zum Erfolg der Organisation beitragen. Sekundärtugenden müssen aber durch Orientierung an den Primär- oder Kardinaltugenden begrenzt und kontrolliert werden.

Zur Konkretisierung seiner Idee einer polizeilichen Tugendlehre auf der Basis der Kardinaltugenden formuliert Behr eine umfangreiche Liste von 44 „Leitsätzen einer neuen Polizeikultur“ (Behr 2006, S. 188).

Prinzipien des institutionellen Patriotismus

•Wir sind stolz darauf, Polizisten zu sein. Wir definieren uns als Spezialisten

•für die Anerkennung und Durchsetzung des Gesetzes

•für die Bewältigung und Abwehr von Gefahrensituationen

•für den Umgang mit Menschen in schwierigen Situationen

•für Grenzsituationen aller Art

•für die Pazifizierung der Gesellschaft

Allgemeine Prinzipien

•Wir sind rund um die Uhr ansprechbar

•Wir schaffen Vertrauen und Akzeptanz durch kompetentes Handeln

•Wir unterstützen uns gegenseitig

•Aus Fehlern lernen wir – und wir besprechen sie gemeinsam, wenn es irgendwie geht, und mit denen, die Abhilfe schaffen können

•Wir schaffen Vertrauen, weil wir die Gesetze achten

•Wir achten auf unser Erscheinungsbild

•Wir helfen, wenn Menschen in Not sind und wenn Hilfe erforderlich ist

•Wir erklären, was wir tun, wenn dazu Zeit ist – wenn nicht, dann nach der Maßnahme

•Wir entwickeln unser polizeiliches Handeln weiter und sprechen im Kollegenkreis und mit Fachleuten darüber

Unser Berufsethos

•Wir handeln auch in unübersichtlichen Situationen mit kühlem Kopf

•Wir sind da, wenn andere noch nach ihrer Zuständigkeit suchen

•Wir ziehen uns zurück, wenn andere Institutionen ihre Zuständigkeit erklären

•Unsere Maßnahmen passen wir flexibel der Situation an

•Wir sind nicht dogmatisch – eine Maßnahme muss nicht a priori durchgezogen werden

•Wir erledigen unsere Aufgaben rechtlich und moralisch korrekt

•Unsere Kollegen betrachten wir als wichtige Unterstützung – aber nicht als das Maß aller Dinge

•Wir folgen den Idealen einer Polizei, die für verfassungskonforme Freiheit sorgt, nicht für die Dominanz einer Partei

•Im Dienst sind wir immer bereit, Verdacht zu schöpfen

•Unseren Eifer orientieren wir an den Rechtsgütern, nicht an der Zufriedenheit der Verwaltung oder der Vorgesetzten

•Wir lassen uns empathisch auf unsere Klienten ein, verbünden uns aber nicht mit ihnen

•Wir stehen denjenigen bei, die unseren Schutz benötigen, weil sie sich selbst nicht helfen können

•Wir respektieren die physische und psychische Integrität derjenigen, die uns anvertraut sind – auch wenn sie uns provozieren oder sonst Mühe machen

•Wenn wir zu konflikthaften Auseinandersetzungen gerufen werden, vertreten wir die Interessen der physisch und psychisch schwächeren und unterlegenen Partei, soweit es das Gesetz erlaubt

•Wir richten unser Handeln nicht danach aus, wer „Recht“ hat, sondern danach, wer Beistand und Schutz braucht

•Wir sichern durch unser Handeln die Wahrnehmung berechtigter Interessen aller Parteien

•Wir machen alle Parteien auf die Nutzung rechtlicher Möglichkeiten aufmerksam

Unser spezifischer Berufsauftrag

•Wir wissen, dass wir die Einzigen sind, die rechtmäßig Gewalt ausüben dürfen

•Wir betrachten uns als Experten für den staatlichen Gewalteinsatz

•Wir gehen deshalb verantwortungsvoll und maßvoll mit Gewalt um

•Wir lassen uns von niemandem provozieren

•Niemand ist in der Lage, uns zu beleidigen

•Wir erwidern eine Beleidigung nicht auf der Stelle. Als Profis verzichten wir auf Rechte, die „Jedermann“ zugestanden werden

•Wir handeln nach unseren professionellen Standards, die wir stets weiterentwickeln

•Zu unserem Gewalthandeln haben wir eine sachliche Beziehung, keine emotionale

•Unser Gewalthandeln planen und reflektieren wir und bereiten es durch Training und Besprechung vor

•Wir bereiten Einsätze nach. Nach schwierigen Einsätzen besprechen wir, was gut und was nicht gut gelaufen ist – und was wir beim nächsten Mal besser machen können

•Ziel unseres Gewalthandelns ist nicht Bestrafung, sondern Sicherung und Schutz und die Ermöglichung gewaltloser Optionen

•Mit Gewalt gehen wir so um, dass wir unser Gegenüber überwinden, aber nicht zerstören. Unser Gewalthandeln endet, wenn der Gegner fixiert ist

•Wir verhalten uns so, dass wir moralisch nicht auf einer Stufe mit unserem Gegner stehen

Abb. 7: Prinzipien des institutionellen Patriotismus. Quelle: Behr 2006, S. 189–191

Hintergrund dieser Tugendliste ist Behrs organisationssoziologische Unterscheidung zwischen Polizei- und Polizistenkultur (s. Kap. 1.4). Auf der Basis seiner organisationssoziologischen Forschungen hatte Behr sowohl die Leitbilder als auch die Handlungsmuster der Polizistenkultur kritisch gewürdigt. Dabei lautete seine Kritik an den meisten polizeilichen Leitbildern, dass sie den Gewaltaspekt in der Polizeiarbeit zu wenig thematisieren und deshalb in diesem zentralen Bereich für die Polizist:innen nicht handlungsleitend sein können. Umgekehrt kritisierte er an den Handlungsmustern der Polizistenkultur, dass diese einer abweichenden Gruppenmoral Vorschub leisten können, die nicht mehr rechtskonform ist. Mit der Formulierung seiner „Leitsätze einer neuen Polizeikultur“ lässt Behr seiner eigenen Kritik den Versuch einer Neuformulierung folgen – als Soziologe betritt er damit das Gebiet der normativen Ethik. In seinen Formulierungen nimmt er sichtlich auf die von ihm erhobenen Handlungsmuster der Polizistenkultur Bezug, präzisiert diese aber in einer Weise, dass der Gefahr eines abweichenden, subkulturellen Verständnisses dieser Handlungsmuster entgegengewirkt wird. Insofern stellen Behrs Leitsätze einen Brückenschlag zwischen Polizei- und Polizistenkultur dar.

1.6Berufsmotivation und Berufsbilder

Die Identifikation von Polizistinnen und Polizisten mit ihrem Beruf ist in der Regel hoch (Bosold 2007), was sich an der Bereitschaft ablesen lässt, diesen Beruf noch einmal zu ergreifen oder anderen zu empfehlen (Ohlemacher et al. 2002, S. 40–51). Wie Untersuchungen zu dieser Frage immer wieder belegen (Liebl 2007, S. 82–95; Groß 2015), sind es vier Motive, die bei der Entscheidung für den Polizeiberuf leitend sind:

1.Vielfalt der beruflichen Aufgaben („abwechslungsreiche Tätigkeit“, „Action“, „mit Menschen zu tun haben“),

2.soziale Absicherung (Beamtenstatus, gute Ausbildungsvergütung etc.),

3.erwartete Teamarbeit bzw. Kollegialität,

4.Bedeutung für die Gesellschaft („etwas Sinnvolles tun, Durchsetzung des Rechts“).

Wann fällt die Entscheidung für den Polizeiberuf?

„Vermutlich fällt eine Entscheidung für die Polizei schon im früheren Lebensalter, was aber weiter zu untersuchen sein wird.“

Groß & Schmidt 2010, S. 91

Die genannten Motive schließen einander nicht aus, sondern werden auch in Kombinationen genannt. Karlhans Liebl rechnet demzufolge mit „Mischtypen“ wie dem „pensionsbesorgten crime fighter“ (Liebl 2003, S. 16). Darauf bezieht sich auch sein Hinweis, „dass für die Berufswahl ‚Polizei‘ nicht die ‚allgemeine Hilfsbereitschaft‘ gegenüber den Mitmenschen im Vordergrund steht, sondern eine spezielle Ausrichtung bezogen auf die Sicherheit der Bürger und die Hilfe für die Personen, die Opfer von kriminellen Handlungen geworden sind“ (Liebl 2007, S. 98). Dieser Hinweis legt es wiederum nahe, dass das Verständnis der Polizei als „Freund und Helfer“ aus der Sicht der Polizei und aus der Sicht der Bevölkerung Unterschiede aufweist, die für manche Irritation zwischen den beiden Gruppen verantwortlich sein dürften.

Entscheidet sich ein Mensch für den Polizeiberuf, werden Alternativen anscheinend nicht mehr ernsthaft erwogen (Groß & Schmidt 2010, S. 85). Untersuchungen zur Berufswahl zeigen, dass die Polizei zu den beliebtesten Arbeitgebern in Deutschland gehört (FAZ-net 2023). In Umfragen zum Prestige von Berufen kam der Polizeiberuf 2022 auf den fünften Platz hinter Feuerwehrmann/-frau, Krankenpleger:in, Ärzt:in und Altenpfleger:in (forsa 2022, S. 13).

Einmal Polizist – immer Polizist

„Es ist richtig: Der oft mancherorts locker daher gesagte Spruch stimmt – ‚Einmal Polizist, immer Polizist!‘. Er birgt eine tiefere Wahrheit in sich.“

Dix 2006, S. 253

Das berufliche Selbstverständnis in der Polizei weist viele Facetten auf. Die verschiedenen Berufsbilder stehen dabei jeweils für ein eigenes Werteprofil. Denn die Werte, die für den „idealen Polizisten“ bzw. die „ideale Polizistin“ vorgeschlagen werden, drücken sich vor allem in Berufsbildern aus, die das berufliche Selbstverständnis organisieren und Rollensicherheit schaffen. Berufsbilder stellen auf diese Weise eine Form individueller und kollektiver Leitbilder dar, die auch als offizielle und öffentliche Leitbilder existieren können. Sie gehören zur Ebene der öffentlich propagierten Werte, existieren aber zugleich auch als innere Bilder der Einzelnen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil des inneren Berufsbildes sind die sog. impliziten bzw. psychologischen Verträge, durch die die persönliche Motivation und Haltung, Hoffnungen und Erwartungen des Berufes maßgeblich geprägt werden (Rigotti 2010, S. 163 f.; Christe-Zeyse 2006b, S. 100 f.). Berufsbilder sind zentrale Bausteine der Berufssozialisation. Mit ihrer Hilfe wird das Bedürfnis, zu einer Gemeinschaft dazuzugehören, genutzt, um Person und Beruf zusammenzuführen. Dies geschieht insbesondere dadurch, dass mit ihrer Hilfe

„auch die von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft geteilten Überzeugungen, deren Menschen-, Feind- und Weltbilder, die von ihnen verfolgten Ziele und die von ihnen entworfenen Visionen ebenso übernommen werden wie die diesen kollektiven Bildern zugrunde liegenden und zu ihrer praktischen Umsetzung erforderlichen Haltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (Hüther 2015, S. 116).

Pflichten von Beamtinnen und Beamten

„Beamtinnen und Beamte haben sich mit vollem persönlichem Einsatz ihrem Beruf zu widmen. Sie haben die übertragenen Aufgaben uneigennützig nach bestem Gewissen wahrzunehmen. Ihr Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes muss der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die ihr Beruf erfordern.“

§ 34 Abs. 1 Beamtenstatusgesetz

Ein bis heute wichtiger Bestandteil des polizeilichen Berufsbildes ist die Ausübungsberechtigung hoheitsrechtlicher Befugnisse im Status als Beamt:in. Neben den versorgungsrechtlichen Aspekten (Alimentationsprinzip) gehören die Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) zu den Grundlagen des Polizeiberufs. Viele dieser Grundsätze finden sich im 6. Abschnitt des Beamtenstatusgesetzes (§§ 33–53 BeamtStG), dessen § 34 mit seiner Trias „voller persönlicher Einsatz – nach bestem Gewissen – Vertrauen gerecht werden“ Kernforderungen mit hohen moralischen Anteilen formuliert. Diese Forderungen gelten zwar für das gesamte staatliche Verwaltungshandeln. Aber im Rahmen der Verwaltung des staatlichen Gewaltmonopols, wo Eingriffe in grundgesetzlich geschützte Bereiche von Bürger:innen notwendig und statthaft sind, gewinnen diese Forderungen an Nachdruck.

Innerhalb der Vielzahl polizeilicher Berufsbilder treten einige besonders hervor. So verstehen sich Polizeibeamt:innen z.B. als „Freund und Helfer“, „Schutzmann“, „Krieger“ oder „Jäger“.

Diese Berufsbilder und damit zusammenhängende Berufsverständnisse weisen eine moralisch-ethische Komponente auf und können als moralischer Kompass für das eigene berufliche Handeln dienen. Damit bilden sie einen Baustein dessen, was Rafael Behr als das für Polizist:innen notwendige „intuitive Verhältnis zu ihrem Beruf“ (Behr 2006, S. 99) bezeichnet.

Die verschiedenen Berufsbilder lassen sich in ihren zentralen Vorstellungen zwar relativ klar voneinander unterscheiden, aber ihre konkreten Abgrenzungen können sich überschneiden, sodass sich in Wirklichkeit nicht nur zahlreiche „Mischtypen“ finden lassen, sondern auch die Möglichkeit besteht, je nach Situation den „passenden Typ“ auszuwählen und so zwischen ihnen je nach Bedarf zu wechseln. Persönlich dominiert aber meist ein Berufsbild, das herangezogen wird, um die Frage nach der eigenen beruflichen Identität („Worin besteht für mich eigentlich der innerste Kern meines Berufs als Polizist:in?“) zu beantworten.

Im Folgenden sollen die zuvor genannten polizeilichen Berufsbilder beschrieben werden.

1.6.1Berufsbild „Freund und Helfer“: Vertrauen ist möglich – die Bannung der Angst vor der Polizei

Große Polizei-Ausstellung Berlin 1926

„Nun hatte die Polizei-Ausstellung sich auch zum Ziel gesetzt, zu beweisen, daß die Polizei im modernen Volksstaat eine Volkspolizei ist und sein will, daß sie ihre Organisation, ihren Ausbau und ihre Ausbildung bewußt stellt unter die Devise: Freund, Helfer und Kamerad der Bevölkerung zu sein.“

Grzesinski 1927, S. 5

Vielleicht das bekannteste und erfolgreichste Berufsbild der Polizei versteht Polizistinnen und Polizisten als „Freund und Helfer“. Im internen Miteinander dominiert dabei eher das Freundschaftsmoment, während im polizeilichen Außenverhältnis eher das Helfermoment im Vordergrund steht. Dieser Unterschied spiegelt wider, dass „Freund“ und „Helfer“ zwei unterschiedliche Haltungen repräsentieren. „Freund“ charakterisiert eine symmetrische Beziehung auf Augenhöhe, während „Helfer“ ein Gefälle zwischen „Helfenden“ und „Hilfsbedürftigen“ voraussetzt und betont.

Als Freund zeichnet es den Polizisten bzw. die Polizistin aus, dass sie als Personen auf Augenhöhe im sozialen Nahbereich verstanden werden. Sie sind damit in erster Linie ein Teil der Gemeinschaft, zu der eine Person selbst gehört, und kein Gegenüber, mit dem so gut wie nichts verbindet. Auf diese Weise wird die Begegnung zwischen der Polizei und den Bürger:innen personalisiert, enthierarchisiert und auf soziale Nähe hin ausgerichtet. Die moralische Basis der Interaktionen zwischen Polizei und Bürger:innen besteht in einem durch das Freundschaftsmotiv signalisierten Wohlwollen, das vonseiten der Polizei angeboten wird und eine entsprechende Reaktion auf Seiten der Bevölkerung erwartet bzw. hervorrufen möchte. Das Freundschaftsmotiv signalisiert also eine gemeinsam unterstellte Vertrauensbasis bei gleichzeitiger gegenseitiger Anerkennung der Differenz Polizei-Bürger:in. Diese Vertrauensbasis kann durch die Pflege sozialer Nähe weiter vertieft werden (z.B. durch regelmäßige Begegnungen, durch räumliche Nähe, durch die Herkunft aus vergleichbaren sozialen Schichten). Aus diesem Berufsbild folgen spezifische polizeiliche Interaktionsformen, nämlich der Rat(schlag), die Beratung, die Ermahnung sowie verschiedene Formen sozialer Unterstützung. Der präventive Aspekt der Polizeiarbeit wird damit gegenüber repressiven Aspekten deutlich bevorzugt. Neben diesem gerade für die Freundschaft wichtigen egalitären Beziehungsmuster zeichnet sich Freundschaft weiterhin dadurch aus, dass man sich auch in Not gegenseitig hilft. Insofern kann das Helfermotiv mit dem Freundschaftsmotiv bruchlos verbunden werden.

Freundschaft …

… ist „durch direkte personale Zuwendung, durch ausdrückliche u.[nd] gegenseitige Anerkennung, Achtung u.[nd] Zuneigung gekennzeichnet […].“

… „im eigentlichen Sinn versteht sich als gegenseitiges u.[nd] ausdrückliches Wollen des Guten für den Anderen um des Anderen willen […].“

Forschner 2023, S. 92

Das Helfermotiv weist ebenfalls charakteristische eigenständige Züge auf. Als Helfende