Post Mortem - Mark Roderick - E-Book

Post Mortem E-Book

Mark Roderick

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Beschreibung

***Der große spannende Mehrteiler von Mark Roderick: schockierend, aufwühlend und mega-spannend.*** »Tränen aus Blut«: Der erste Band des großen Mehrteilers von Mark Roderick. Sie heißt Emilia Ness und arbeitet bei Interpol. Er heißt Avram Kuyper und ist Profikiller. Gemeinsam jagen sie einen bestialischen Mörder. Jeder auf seine Weise. »Zeit der Asche«: Es ist noch nicht vorbei – das Morden geht weiter… Nach dem ersten Band "Tränen aus Blut" verfolgen Profikiller Avram Kuyper und Interpol-Ermittlerin Emilia Ness noch immer die Fährte eines Mannes, der keine Grenzen und kein Gewissen kennt: machthungrig, erfolgsverwöhnt und unberechenbar aggressiv. »Tage des Zorns«: Emilia Ness ermittelt noch in einem aktuellen Interpol-Fall, als sie ein grausiges Päckchen erhält – mit einem abgeschnittenen Ohr darin. Kurz darauf erreicht sie eine Videobotschaft: Ihre Tochter Becky wurde entführt. Und alles deutet darauf hin, dass das Ohr von ihr stammt. Es gibt nur einen Menschen, der ihr jetzt helfen kann: Profikiller Avram Kuyper.

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Seitenzahl: 1617

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Mark Roderick

Post Mortem

Die ersten drei Fälle für Interpol-Agentin Emilia Ness und Profikiller Avram Kuyper in einem E-Book

FISCHER digiBook

Inhalt

Buch 1 - Post Mortem, Tränen aus BlutPrologSONNTAG12345678910111213MONTAG141516171819202122232425262728DIENSTAG29303132333435363738394041424344454647484950515253545556MITTWOCH575859606162636465666768697071727374DREI TAGE SPÄTER75EpilogDanksagungBuch 2 - Post Mortem, Zeit der AscheProlog1Freitag2345678910111213Samstag1415161718192021222324Sonntag25262728293031323334Montag3536373839404142434445464748495051525354Dienstag555657585960616263Mittwoch646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101DanksagungBuch 3 - Post Mortem, Tage des Zorns12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758596061626364656667686970717273747576777879808182838485868788899091929394959697DanksagungLesen Sie in der [...]Prolog

Prolog

Der fensterlose, weiß gekachelte Raum hatte etwas von einer Leichenhalle – das empfand Leon Bruckner jedes Mal so, wenn er hierherkam. Alles war sauber und glänzte im kühlen Neonlicht. Alles war aufgeräumt, alles ordentlich. Und dennoch konnte man ahnen, dass hier unten der Tod hauste.

Ein wohliger Schauder überkam Bruckner, und ein dünnes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Er hatte diesen Raum in jahrelanger Arbeit zu dem gemacht, was er heute war, ohne jede fremde Hilfe. Er hatte die Fliesen verlegt, er hatte die Wände gekachelt, er hatte alle Schränke eigenhändig aufgebaut und die Ausrüstung hierhergeschleppt. Es war eine Knochenarbeit gewesen. Aber wenn er heute all das von seinem weißen Couchsessel aus betrachtete, hatte sich jede Minute davon gelohnt.

Es gab nur eines, was Leon Bruckner störte: der Geruch von Ammoniak, der ihm beißend in die Nase stieg. Das gehörte zwar auch zu einer Leichenhalle, aber das war der Teil, der ihm weniger gefiel. Der ätzende Gestank hielt sich hartnäckig in dem Raum, weil es keine Lüftung gab. Und eine Lüftung konnte er nicht einbauen, weil man draußen sonst die Schreie hätte hören können. Ein Teufelskreis.

Nein, dann doch lieber der Ammoniakgeruch. Irgendwie musste er all das Blut schließlich wegwaschen. Blut war das Einzige, das nach ein paar Tagen noch schrecklicher stank als Ammoniak.

Bruckners Blick wanderte durch den etwa sieben auf zehn Meter messenden Raum. Weiße Schränke. Weiße Regale. Ein weißer Lacktisch. Weiße Kacheln und Fliesen. Aber es gab auch Dinge, die aus all dem Weiß herausstachen: die Studioecke mit der Filmausrüstung natürlich. Die Computerausstattung. Der gynäkologische Stuhl. Der Seziertisch. Ein hüfthoher Käfig mit fingerdicken Eisenstangen. Polierte Ketten, die an verschiedenen Stellen von der Decke herabhingen. An einem davon baumelte ein Fleischerhaken.

Aber auch diese Dinge waren sauber. Beinahe wie neu. Das war Leon Bruckner wichtig.

Dieses geheime Reich war sein ganzer Stolz. Sein Refugium, seine Inspiration. Ein Paradies des Schmerzes, in dem er von Zeit zu Zeit seinen inneren Dämon entfesseln und ganz er selbst sein konnte.

Er schloss einen Moment lang die Augen, genoss die Stille und wartete auf eine Eingebung. Es gab viele Möglichkeiten – eine verlockender als die andere –, und es dauerte oft eine Weile, bis Belial in ihm erwachte und ihm seine Befehle erteilte. Heute ließ er sich damit besonders viel Zeit. Aber als Leon Bruckner die Augen wieder öffnete, hatte er eine klare Vorstellung davon, was in der nächsten Stunde geschehen würde.

Pures Adrenalin jagte durch seinen Körper. Er war jetzt nicht mehr Leon Bruckner, sondern das Werkzeug einer Macht, die stärker war als er und vollständig von ihm Besitz ergriffen hatte. Nicht, dass ihm dieser Zustand nicht gefiel. In gewisser Weise war es sogar befreiend, die Kontrolle über sich abzugeben und damit auch die Verantwortung für das eigene Handeln – an jemanden, der keine Grenzen kannte und keinem Gewissen unterlag. Aber es war auch schockierend, zu welchen Taten die Bestie in ihm fähig war.

Er erhob sich von seinem bequemen Ledersessel und ging hinüber zum Studioset – einer geräumigen Ecke, die für seine Filmaufnahmen reserviert war. Mehrere Digitalkameras standen an unterschiedlichen Positionen, teils auf Dreibeinstativen, teils fest installiert, um das Leid seiner Opfer in allen Details festzuhalten. Drei leistungsstarke LED-Videoleuchten und ein Doppelreflektor sorgten für eine ausgewogene Beleuchtung. An einer Kette, die von der Decke herabhing, baumelten Handschellen aus Metall.

Ein wohliges Kribbeln durchflutete Leon Bruckner alias Belial. Er ging zu dem CD-Player, der auf einem hüfthohen weißen Konsolenschrank neben dem Set stand, und schaltete ihn an. Als die ersten Takte von Black Sabbaths »Master of Reality« ertönten, drehte Bruckner die Lautstärke noch ein bisschen weiter auf, dann holte er aus einer Schublade eine aufgerollte Lederhülle und breitete sie mit genussvoller Langsamkeit vor sich auf der Konsole aus. Zum Vorschein kam eine beachtliche Palette von Folterinstrumenten, dutzendfach erprobt, manche von ihnen in liebevoller Detailarbeit selbst gefertigt: glänzende Messer mit verzierten Klingen, Flach- und Spitzzangen, fingerlange Stahlnägel mit Widerhaken, Brenneisen, Kabel mit Elektroden und vieles mehr.

Die Arbeitsgeräte eines Künstlers.

Belial überprüfte ein letztes Mal die Positionen der Kameras und schaltete sie ein. Dann ging er zu dem schwarzen Sack in der Mitte des Sets und öffnete den Reißverschluss. Er blickte in ein tränenverschmiertes Gesicht, das ihm zitternd vor Angst entgegenstarrte.

SONNTAG

1

Unweit von München

Der Morgen dämmerte, düster und bedrohlich wie in einem Gemälde von Hieronymus Bosch. Schwarzgraue Wolken bedeckten den Himmel, so weit das Auge reichte. Nur in der Ferne, am östlichen Horizont, deutete ein schwacher Schimmer den anbrechenden Tag an.

Im Moment regnete es nicht mehr, aber in der Nacht hatte es geschüttet. Die Straßen waren noch nass und glänzten im Scheinwerferlicht. Aus den Feldern und Wiesen links und rechts der Fahrbahn stieg Nebel auf. Der Anblick hatte etwas Geisterhaftes.

Avram Kuyper saß hinter dem Steuer seines anthrazitfarbenen 5er BMWs und zwang sich, das Tempolimit von hundert Stundenkilometern nicht wesentlich zu überschreiten. Er hatte es eilig. Genau genommen hatte er es noch nie so eilig gehabt wie jetzt. Aber er wollte nicht riskieren, so kurz vor dem Ziel von einer Polizeikontrolle angehalten zu werden. Das hätte ihn noch mehr Zeit gekostet.

Er warf einen Blick auf das Armaturenbrett. 5.32 Uhr. Die Fahrt von Amsterdam nach München hatte länger gedauert als erhofft. Ein Unfall bei Köln und eine Nachtbaustelle auf der A8 hatten ihn über eine Stunde gekostet. Avram Kuyper trommelte nervös mit den Fingern auf das Lenkrad.

Er durchquerte ein kleines Waldstück, fuhr eine Anhöhe hinauf und erreichte nach einer Kurve wieder freies Feld. Hier war die Straße kerzengerade, und er hatte gute Sicht. Von Polizei keine Spur. Überhaupt war an diesem frühen Sonntagmorgen weit und breit kein einziges anderes Auto zu sehen.

Vor zwanzig Minuten hatte er die A8 kurz vor München verlassen und war bei Fürstenfeldbruck in südlicher Richtung abgebogen. Bei Tag und bei schönem Wetter hatte man von hier aus schon einen wundervollen Blick auf die Alpen, aber im Moment betrug die Sicht nur ein paar hundert Meter.

Es begann wieder zu nieseln, und Avram Kuyper schaltete die Scheibenwischer ein. Die stahlgrauen Augen hinter seiner Hornbrille waren starr auf den Lichtkegel gerichtet, den die Xenonscheinwerfer auf die Straße warfen. Die meisten Menschen fürchteten sich vor diesen Augen, weil sie Härte, Kälte und vor allem bedingungslose Entschlossenheit ausstrahlten. Heute lag in ihnen aber noch etwas anderes. Ein Gefühl, das Avram Kuyper in den letzten Jahren beinahe fremd geworden war: Angst. Und je näher er seiner alten Heimat kam, desto größer wurde sie.

Was würde ihn dort erwarten? Die Nachricht, die sein Bruder Goran ihm auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte, war mehr als beunruhigend gewesen. Avrams Magen zog sich zusammen, wenn er daran dachte, wie er vor gerade mal sieben Stunden die Nachricht abgehört hatte. Er hatte sofort versucht, Goran zurückzurufen, aber am Festnetzanschluss meldete sich wiederum nur sein Anrufbeantworter, und beim Handy kam die Bandansage, dass zurzeit kein Empfang bestand. Danach war Avram sofort aus Amsterdam aufgebrochen.

Noch von Holland aus hatte er bei der bayerischen Polizei angerufen und darum gebeten, eine Streife bei Goran vorbeizuschicken. Eine Stunde später hatte man ihn auf dem Handy zurückgerufen und berichtet, dass niemand zu Hause sei. Es seien aber auch keine Auffälligkeiten festzustellen.

Die Meldung hatte Avrams Sorgen nicht vertreiben können.

Er war jetzt seit über sechsunddreißig Stunden auf den Beinen, und die Müdigkeit forderte allmählich ihren Tribut. Nur die Angst um Goran, Nadja und die beiden Kinder hielt ihn wach. Nicht auszudenken, wenn ihnen etwas zugestoßen war.

Seine Augen brannten, und er musste gähnen. Um die Müdigkeit zu vertreiben, fuhr er sich mit der Hand durch das kurzgeschorene, angegraute Haar und über das von dichten grauen Bartstoppeln überzogene Kinn mit der Kerbe in der Mitte. Tiefe, wie in Stein gemeißelte Falten hatten sich in seine hohlen Wangen und in seine Stirn eingegraben. Die etwa fünf Zentimeter lange Narbe über dem linken Auge – ein Andenken aus Bolivien – fiel da kaum mehr auf.

Sein Magen knurrte. Es war mindestens zehn Stunden her, seit er zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Beim Tanken auf der A 61 hatte er noch keinen Appetit gehabt. Jetzt dafür umso mehr. Aber er war seinem Ziel bereits so nah, dass sich ein weiterer Zwischenstopp nicht mehr lohnte.

Hunger und Müdigkeit ignorierend, fuhr er weiter. Ohne Unterlass kreisten seine Gedanken um Gorans Nachricht. Goran war niemand, der andere gerne um etwas bat, schon gar nicht seinen älteren Bruder. In den letzten zehn Jahren war das nicht ein einziges Mal vorgekommen. Und jetzt das!

Avram Kuyper erreichte ein Ortsschild mit der Aufschrift Oberaiching und drosselte sein Tempo. Während er die ersten Bauernhöfe und Häuser passierte, stiegen längst vergessen geglaubte Erinnerungen in ihm auf. Er hatte den Großteil seiner Kindheit in Oberaiching verbracht, war hier zur Schule gegangen und hatte hinter der Scheune des Berglerhofs zum ersten Mal ein Mädchen geküsst. Das war über vierzig Jahre her. Seitdem war der Ort zwar gewachsen, aber er verströmte immer noch denselben ländlichen Charme wie damals.

Avram überlegte, wann er zum letzten Mal hier gewesen war. Das musste schon sieben oder acht Jahre her sein. Seitdem hatte er kaum mehr Kontakt zu Goran und dessen Familie gehabt. Umso sonderbarer, dass sein Bruder sich plötzlich bei ihm gemeldet hatte.

Der Ort war zu dieser frühen Stunde nahezu verwaist, nur beim Bäcker brannte schon Licht. Avram fragte sich, ob der alte Wiedmüller immer noch in seiner Backküche stand, oder ob er den Laden inzwischen an seinen Sohn übergeben hatte. Einen Moment überlegte er auch, ob er anhalten und sich ein Frühstück kaufen solle. Aber er entschied sich dagegen. Die Zeit drängte.

Er verließ Oberaiching in östlicher Richtung. Weiße Nebelschwaden hingen wie dünne Leichentücher über den Äckern zu beiden Seiten der Fahrbahn. Er hatte das Gefühl, als ob Ameisen in seinem Magen krabbelten.

Fünfhundert Meter weiter bog eine kleine asphaltierte Straße nach rechts ab, die hangaufwärts führte – die reguläre Zufahrt zum Gutshof. Von der Hauptstraße aus konnte man allerdings nur den Viehhof der Botts mit seinen beiden Rinderställen sehen. Der Kuyperhof lag in der Senke auf der anderen Seite der Anhöhe.

Avram blieb auf der Landstraße. Erst einen Kilometer weiter bog er ab. Die Fahrbahn schlängelte sich ein Stück durch Felder und Obstwiesen und mündete schließlich in einen Wald, wo er seinen BMW auf einem Parkplatz parkte und ausstieg.

Er trug Gummistiefel, Baumwollhosen und einen dicken Strickpullover – es war ein kühler Junimorgen. Im Kofferraum löste er die Seitenverkleidung und holte ein Schulterholster und eine Glock 22 heraus. Er streifte sich das Holster über, vergewisserte sich, dass die Pistole geladen war, und steckte sie weg. Dann zog er die ärmellose Daunenweste an, die im Kofferraum lag, schob sein Fernglas in die Tasche und machte sich auf den Weg.

Es war so kalt, dass der Atem vor seinem Gesicht kondensierte, aber die frische Luft rüttelte ihn wach, und er bekam wieder einen klaren Kopf. Vermutlich würde er den auch schon bald dringend brauchen.

Der Waldweg war vom nächtlichen Regen aufgeweicht. In der matschigen Erde verursachte jeder Schritt ein schmatzendes Geräusch. Avram musste seinen Gang zügeln, um nicht auszurutschen.

Im Wald war es so dunkel, dass man kaum etwas erkennen konnte. Das erschwerte das Vorankommen zusätzlich, aber andererseits hieß das, dass man auch ihn nicht sehen konnte. Das war der Grund, warum er nicht den direkten Weg über die Hofzufahrt genommen, sondern den Fußmarsch durch den Wald gewählt hatte.

Zehn Minuten später verließ er den Waldweg und ging querfeldein durch dichtes Gehölz. Die aufkommende Dämmerung durchdrang allmählich den schwarzgrauen Wolkenteppich und sickerte immer mehr durch die Wipfel der Kiefern und Lärchen, so dass die Schemen der Bäume sich wie düstere Skulpturen vom frühen Morgenlicht abhoben. Nebelschlieren hingen zwischen den Ästen wie Totengeister. Das hatten Goran und Avram sich zumindest so vorgestellt, als sie noch Kinder gewesen waren. Sie hatten oft hier gespielt, auch bei Wetter wie diesem. Und sie hatten sich vor diesem geisterhaften Gruselwald gefürchtet, vor allem der fünf Jahre jüngere Goran, der Avram eine Zeitlang wie ein Schatten gefolgt war. Manchmal hatte Avram ihn in den Arm genommen, um ihn zu trösten. Aber meistens hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, seinem kleineren Bruder noch mehr Angst einzujagen, indem er schnell davonlief und sich hinter den Bäumen oder im Unterholz versteckte. Beinahe schien es ihm, als könne er Gorans dünne Stimme noch heute hören: »Avram? Wo bist du? Komm zurück! Bitte!« Einmal hatte Goran sich sogar vor Angst in die Hosen gemacht.

Und jetzt war er vielleicht tot, ebenso wie Nadja und die Kinder. Die Vorstellung schnürte Avram beinahe den Hals zu.

Er näherte sich dem Waldrand und zog seine Pistole aus dem Holster. Vorsichtig schlich er bis zur letzten Baumreihe, wo er sich hinter dem Stamm einer mächtigen Kiefer und ein paar mannshohen Tannen versteckte. Von hier aus hatte er freie Sicht auf den Gutshof, der in der Mitte einer langgezogenen Senke wie in einem Wellental lag: Vom Waldrand führte eine saftige, mit kniehohem Nebel überzogene Wiese bis zu den Apfelbäumen. Dahinter kam der Pferdestall. Links vom Stall befand sich die Scheune, rechts der Geräteschuppen und ein paar alte Futtersilos. Dem Pferdestall gegenüber, auf der anderen Seite des Hofs, stand das Wohnhaus, ein zweistöckiges Fachwerkgebäude aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, mit dunklem Gebälk und weißem Putz. Ein fünfstufiger Steinsockel vor dem Haus führte zur Eingangstür. Vor den kleinen Kreuzfenstern im Erdgeschoss und im Obergeschoss hingen Geranienkästen. Die Ziegel des Satteldachs zeigten aufgrund vielfältiger Reparaturarbeiten unterschiedliche Rottöne, auch wenn sie im Nebel beinahe grau wirkten. Links neben dem Wohnhaus befand sich wie ein missratener Anbau die Garage – ein unschöner weißer Kasten, der erst in den 1960er Jahren errichtet worden war. Das Garagentor war geschlossen. An der Außenwand lehnte ein Fahrrad.

Alle Gebäude standen um einen zentralen Innenhof. Von rechts führte die Zufahrtstraße aus Oberaiching über eine Hügelkuppe zum Anwesen. Nur wenige Meter hinter den Gebäuden floss der Waidbach. Über eine kleine Brücke führte die schmale Zubringerstraße weiter zum Wolfhammerhof. Bei gutem Wetter hätte man von Avrams erhöhter Position aus die Dächer des Wolfhammeranwesens erkennen können. Im Moment verhüllte jedoch der Nebel die Sicht.

Avram konzentrierte sich wieder auf den Kuyperhof. Aus der Entfernung sah er einsam und unbewohnt aus. Hinter den Fenstern brannte kein Licht, niemand war zu sehen. Aus dem Kamin stieg kein Rauch auf. Das Haus wirkte verlassen. Doch der Eindruck konnte täuschen. Immerhin war es noch früh am Sonntagmorgen.

Avrams Blick wanderte über die Wiese zur angrenzenden Koppel, wo ein schwarzer Wallach und zwei Fuchsstuten grasten. Ihre Leiber dampften in der morgendlichen Kälte, aus ihren Nüstern stoben weiße Kondenswolken. Sie sahen kräftig und gesund aus. Agamemnon, den Wallach, erkannte Avram an seiner auffälligen weißen Blesse auf der Nase. Auf ihm hatte er schon ein paar Ausritte in die nähere Umgebung gemacht. Eine der beiden Fuchsstuten kam ihm ebenfalls bekannt vor, aber er erinnerte sich nicht an ihren Namen. Die andere Stute hatte er noch nie gesehen. Goran musste sie nach seinem letzten Besuch angeschafft haben.

Dass die Pferde im Freien waren, schien Avram kein gutes Zeichen zu sein. Normalerweise kamen die Tiere über Nacht in den Stall, zumindest war das früher immer so gewesen. Und so früh am Morgen hatte sie bestimmt noch niemand auf die Koppel gelassen.

Avram zog das Fernglas aus seiner Westentasche und beobachtete das Wohnhaus. Der Nebel wirkte in der Vergrößerung wie ein Weichzeichner, aber die Sicht auf die Fenster war recht gut. Niemand war zu erkennen, weder im Erdgeschoss noch in der oberen Etage. Keine sich bewegende Silhouette. Kein Schatten. Keine glimmende Zigarette. Dasselbe galt für die anderen Gebäude, soweit er sie einsehen konnte.

War das da unten nur ein friedliches, schlafendes Gehöft? Oder war es eine Falle? Solange er es nicht genau wusste, musste er vorsichtig bleiben.

Ein Stück weiter plätscherte die Dräu, die nur wenige hundert Meter links des Kuyperhofs in den Waidbach mündete. Die Dräu bildete die natürliche Grenze zwischen dem Kuyper-Anwesen und den Äckern des alten Josef Wolfhammers. Obwohl sie kaum mehr als ein Rinnsal war, wuchs an ihren Ufern dichtes Gebüsch und eine Reihe ausladender Ulmen, die Avram ausreichend Blickschutz bieten würden, um vom Haus aus nicht gesehen werden zu können.

Er steckte das Fernglas in die Tasche und machte sich auf den Weg. In geduckter Haltung pirschte er sich hinter dem Gebüsch hangabwärts. Weiter unten, dort, wo die Dräu in den Waidbach floss, endete das Gebüsch. Von hier aus watete Avram im Bachlauf unter der kleinen Brücke hindurch bis zur Rückseite des Hauses, geschützt von der abfallenden Uferböschung.

Hinter der verrosteten Karosserie des ausgeschlachteten MAN-Traktors, der schon seit mindestens zehn Jahren hinter dem Haus stand, schlich er die Böschung hinauf. Er verharrte einen Moment an dem mannshohen Hinterrad und beobachtete die Fenster, aber auch hier war niemand hinter den Scheiben zu erkennen.

Von seinem Versteck aus waren es nur ein paar Schritte bis zur Garage. Mit der Waffe im Anschlag rannte er zur Hinterwand, wo der aufgeschichtete Brennholzvorrat lagerte. Von dort aus schlich er seitlich an der Garage entlang, um einen Blick auf den Innenhof zu werfen.

Rechts von ihm, keine zehn Meter entfernt, stand auf der anderen Straßenseite die Scheune, ein Stück weiter links der Pferdestall und daneben wiederum, auf der anderen Seite des Hofs, der Geräteschuppen und die ausgedienten Silos. Als Avrams Eltern in den fünfziger Jahren von Holland nach Deutschland eingewandert waren, hatten sie das Anwesen als Getreidebauernhof übernommen und ihn mit harter Arbeit zu einem gewinnbringenden Betrieb gemacht. Aber weder Avram noch Goran hatten nach dem Tod ihrer Eltern Lust gehabt, das harte Leben als Bauern weiterzuführen. Zuerst hatten sie die Ackerflächen an die Nachbarn verpachtet, später – in Zeiten der Geldnot – sogar verkauft. So war das einst 150 Hektar umfassende Anwesen auf den Hof, ein paar Obstwiesen und die Pferdekoppel zusammengeschrumpft.

Avram hatte irgendwann erkannt, dass es hier keine Perspektive für ihn gab, und war ins Ausland gegangen. Der bodenständigere Goran hatte es nicht übers Herz gebracht, von hier wegzuziehen, und irgendwie war es ihm tatsächlich gelungen, die Reste des elterlichen Besitzes zusammenzuhalten. Heute war der Kuyperhof ein malerisches kleines Anwesen ohne wirtschaftlichen Nutzen. Die drei Pferde waren reine Liebhaberei. Sein Geld verdiente Goran seit zwanzig Jahren als Reporter.

Avram wandte sich wieder den Gebäuden rund um den Innenhof zu. Er konnte nichts Auffälliges an ihnen entdecken, dennoch barg der Weg über den Vordereingang zu viele Risiken.

Er schlich an der Garage entlang zurück, am Holzvorrat vorbei zur Hinterseite des Wohnhauses, wo ein paar Stufen zum Kellereingang hinabführten. Die Tür war abgesperrt, aber Avram konnte das alte Schloss problemlos mit seinem Taschenmesser öffnen.

Vorsichtig drückte er gegen die Tür. Als sie zu knarren begann, hielt er inne. Ein paar Sekunden lang lauschte er, ob im Innern des Hauses etwas zu hören war. Aber alles blieb ruhig.

Was jetzt? Die Tür mit Schwung öffnen, um das Knarren zu umgehen? Aber falls dahinter etwas stand – angelehnte Bretter, ein alter Eimer, ein Werkzeugkasten … irgendetwas –, würde er einen Höllenlärm verursachen.

Er entschied sich für die langsame Variante und drückte wieder sanft gegen die Tür. Zentimeter für Zentimeter wurde der Spalt größer, bis er schließlich breit genug war, um hindurchschlüpfen zu können.

Drinnen war es staubig und dunkel, und es roch nach altem Holz. Es dauerte einen Moment, bis Avrams Augen sich an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, aber dann schälten sich aus der Düsternis konkrete Konturen: zwei Bauernschränke, die einmal im Schlafzimmer seiner Eltern gestanden hatten, Regale mit Holzkisten, in denen sich Kinderspielzeug, Bücher und altes Geschirr türmten, gestapelte Umzugskartons, die schon seit mindestens fünfzehn Jahren unberührt so dastanden, ein eingestaubter Geigenkasten, ein Puppenwagen … Es war wie eine Reise in die Vergangenheit. An jedem Stück, das hier unten lagerte, hingen Erinnerungen an eine bessere, sorglosere Zeit.

Aber im Moment hatte er keinen Sinn für Nostalgie.

Er schlich durch den dunklen Raum, die Pistole immer geradeaus gerichtet. Falls jemand im Haus war und ihn gehört hatte, würde er jetzt vielleicht an der Tür zum Flur warten. Aber die Luft war rein.

Avram schlich weiter. Im Kellerflur war es heller, und es roch auch nicht mehr so muffig. Nach wenigen Schritten erreichte er den Vorratsraum, aber außer einer Regalwand mit Lebensmitteln und ein paar Getränkekästen befand sich darin nichts. Auch im daneben liegenden Wäschekeller lauerte keine Gefahr. Ein paar Kleidungsstücke hingen auf dem Wäscheständer. Die Waschmaschine blinkte, weil sie durchgelaufen war.

Avram beschloss, die anderen Kellerräume vorerst unbeachtet zu lassen, weil er nicht glaubte, dass sich dort jemand versteckte. Wenn, dann lauerten sie oben. Also nahm er die Steintreppe, die an der Innenwand nach oben führte. Eine Tür gab es hier nicht. Die Treppe mündete unweit der Eingangstür in einen offenen Wohnbereich: Im vorderen Teil stand, der Kellertreppe gegenüber, eine Garderobe, an der ein paar Jacken hingen. Danach kam ein großer Esstisch aus Massivholz, umringt von einer Eckbank und drei Stühlen. Links davon schloss sich das Wohnzimmer an, mit einer wuchtigen Couchgarnitur und einer weißen Regalwand, in der Bücher, Musik-CDs, ein paar Dekorationsgegenstände und vor allem der große LED-Fernseher Platz fanden. Links neben dem Wohnzimmer gab es die Küchenecke, die nur durch einen Anrichteblock vom Rest des großen Raums abgetrennt war. Sie war ebenfalls vorwiegend in Weiß gehalten. Blumige Bauernmalereien auf den Schranktüren gaben ihr etwas Heimeliges.

Niemand war hier. Allerdings fiel Avram auf, dass die Fernsehecke und der Esstisch sauber hergerichtet waren – ganz im Gegensatz zur Küche. Auf dem Herd standen zwei offene Töpfe mit Essensresten. Auf der Anrichte lagen zwei benutzte Teller und zwei Gläser, eins davon umgekippt und zerbrochen. Die rötliche Flüssigkeit – Kirsch- oder Traubensaft, möglicherweise auch Wein – war teilweise auf den Boden getropft und bereits eingetrocknet. Einige Scherben lagen ebenfalls dort. Das Spülbecken war mit Wasser gefüllt, aber es schäumte nicht mehr. Darin lagen ein paar Gabeln und Messer und die Spülbürste.

Es sah so aus, als sei die Küche ziemlich überstürzt verlassen worden.

Avram ging an der Kellertreppe vorbei in den schmalen Flur, der in den anderen Gebäudetrakt führte. Hier befanden sich die Toiletten, das Bügelzimmer und ein Raum, in dem zwei Kleiderschränke sowie ein Gästebett standen. Der Flur selbst war mit ein paar alten Massivholzkommoden ausgestattet. An den Wänden hingen eingerahmte Landschaftsaquarelle und ein mannshoher Spiegel. Durch die Fenster behielt Avram den Innenhof im Auge, aber dort rührte sich immer noch nichts.

Als er am Fuß der Treppe zum Obergeschoss ankam, hörte er etwas – ein leises Kratzen, als würde jemand mit Fingernägeln über den Holzbohlenboden fahren. Es kam eindeutig von oben. Mit ausgestreckten Armen zielte Avram auf das Ende der Treppe, bereit zu schießen, falls es nötig sein sollte. Adrenalin durchströmte seinen Körper, vergessen waren Erschöpfung und Müdigkeit.

Langsam stieg er die Stufen hinauf. Er wusste genau, welche Stellen knarrten, und versuchte, sie zu vermeiden. Dennoch ächzte das alte Holz zweimal verräterisch.

Aber niemand schoss oder stürzte sich auf ihn.

Am oberen Rand der Treppe wurde das Kratzen lauter. Es kam aus Gorans Arbeitszimmer. Außerdem war von dort jetzt ein leises Wimmern zu hören.

Bevor er der Ursache der Geräusche nachging, überprüfte er das Schlafzimmer, die beiden Kinderzimmer und das Bad, um nicht aus einem Hinterhalt heraus überrumpelt zu werden. Überall standen die Türen offen. Im Schlafzimmer waren die Betten gemacht, und alles sah aufgeräumt aus. Die beiden Kinderzimmer waren ebenfalls ziemlich ordentlich, nur in einem davon stand das Fenster weit offen. Avram warf einen raschen Blick hinaus auf das Garagendach. Nichts. Das Bad war so sauber, wie man es in einem Haushalt mit zwei Kindern erwarten konnte.

Niemand hatte sich irgendwo versteckt.

Jetzt richtete Avram seine Aufmerksamkeit wieder auf Gorans Büro – der einzige Raum mit zugezogener Tür. Er riskierte einen Blick durchs Schlüsselloch, konnte aber nichts Ungewöhnliches erkennen.

Wieder das Kratzen, es kam eindeutig von da drinnen. Und das unterdrückte Wimmern, wie bei jemandem, der der Verzweiflung nahe war und innerlich längst aufgegeben hatte.

Mit der Waffe im Anschlag, riss Avram die Tür auf, aber das einzige Ziel, das sich ihm bot, war eine dicke, schwarze Katze, die erschreckt vom Boden aufsprang und auf den Schreibtisch hüpfte. Mit gesträubtem Fell machte sie einen Buckel und fauchte.

Avram beachtete die Katze nicht weiter, sondern nahm sich die Schränke vor. Vielleicht war dort jemand eingesperrt. Aber in dem einen Schrank befanden sich nur Akten, im anderen Bücher, Schreibzeug und Computerzubehör.

Avram blieb stehen und lauschte. Jetzt war nichts mehr zu hören, nur Vogelgezwitscher, das von draußen durch das gekippte Fenster hereindrang.

Die Katze hatte sich mittlerweile wieder beruhigt. Sie schien zu erkennen, dass sie von Avram nichts zu befürchten hatte, und hüpfte vom Schreibtisch. An einer nassen Stelle auf dem Boden blieb sie stehen und schnupperte daran. Dann versuchte sie, die Lache mit einer Pfote zuzuscharren. Als das nach einigen Versuchen nicht gelang, stieß sie ein herzerweichendes Wimmern aus.

Avram verstand. Die Katze war in diesem Zimmer eingesperrt gewesen und hatte auf den Boden gemacht. Allmählich begann er, sich ein wenig zu entspannen. Im Haus schien niemand auf ihn zu lauern, und er hatte auch nicht das befürchtete Blutbad vorgefunden. Gleichzeitig wusste er, dass es draußen noch die Scheune, den Pferdestall und jede Menge Gebüsche gab, die eine unangenehme Überraschung für ihn bereithalten konnten. Er musste nach wie vor wachsam sein.

2

Frankfurt am Main, Hotel Estoria

Die Kopfschmerzen brachten sie noch um. In der Nacht hatte sie schon drei Tabletten geschluckt, aber das Stechen hinter den Augäpfeln ließ einfach nicht nach. Es war eine schreckliche Woche gewesen. Jetzt musste sie dafür büßen.

Emilia Ness stand im Bad ihres Hotelzimmers und betupfte mit einem feuchten Handtuch die Stirn. Die Kühlung tat gut, vermochte den Schmerz jedoch kaum zu lindern. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Kopf kurz davor war zu platzen.

Außerdem war Emilia hundemüde. Die ganze Nacht hatte sie kaum ein Auge zugetan, weil ihre Gedanken unaufhörlich um den Gerichtsprozess kreisten, in dem sie diese Woche als Zeugin ausgesagt hatte.

Habe ich alles richtig gemacht, fragte sie sich. Wird Robert Madukas verurteilt?

An seiner Schuld zweifelte sie keine Sekunde. Dennoch hatte sie ein ungutes Gefühl, was den Ausgang des Prozesses betraf. Madukas’ Anwälte waren mit allen Wassern gewaschen, und im Kreuzverhör hatten sie es immer wieder geschafft, Zweifel an seiner Schuld zu säen. Wenn sie es schafften, eine Bewährungsstrafe oder gar einen Freispruch zu erwirken, wäre monatelange Arbeit umsonst gewesen.

Emilia seufzte und massierte sich die pochenden Schläfen, aber es half nichts. Ihr war, als würde ihr jemand einen Dolch durch den Kopf jagen. Verdammt!

Nicht nur der Prozessmarathon der vergangenen Woche saß ihr im Nacken, auch der Stress mit ihrer Tochter. Emilia hatte Becky ursprünglich versprochen, sie am Samstagmorgen vom Internat abzuholen und mit ihr übers Wochenende in den Europapark zu fahren. Aber dann war die Gerichtsverhandlung am Freitag unerwartet abgebrochen und die Fortführung auf den gestrigen Samstag verlegt worden. Becky hatte für das geplatzte Mutter-Tochter-Wochenende nicht viel Verständnis aufgebracht. Zuerst hatte sie darauf beharrt, alleine nach Rust zu fahren – sie sei schließlich schon vierzehn und kein Kind mehr, hatte sie gesagt. Aber für Emilia war das nicht in Frage gekommen. Sie hatte versucht, Becky damit zu trösten, dass sie sie am Sonntag besuchen kommen würde. »Wir machen uns einen schönen Tag«, hatte sie gesagt. »Lass uns ins Freibad oder ins Kino gehen.«

Aber im Vergleich zu einem Wochenende im Europapark klangen »Freibad« und »Kino« wie Nieten, das war auch Emilia klar. Kein Wunder also, dass Becky das komplette psychologische Arsenal eines pubertierenden Teenagers aufgefahren hatte, um ihr zu zeigen, dass sie als Mutter eine Versagerin war. Becky hatte geschmollt, sie hatte geweint, sie hatte Emilia beschimpft und ihr vorgehalten, sie nur der Karriere zuliebe ins Internat abgeschoben zu haben. Und natürlich hatte sie ein Dutzend weiterer Situationen angeführt, in denen Emilia ihr leere Versprechungen gemacht hatte.

Auch wenn Becky vieles dramatisierte, musste Emilia sich doch eingestehen, dass sie in einigen Punkten recht hatte. Genau deshalb hatten die Worte ihrer Tochter sie wie schallende Ohrfeigen getroffen. Eine Stunde lang hatte sie mit Engelszungen versucht, den entfesselten Teenagerzorn zu besänftigen, aber schließlich hatte sie aufgegeben. Seit dem Telefonat plagten sie Gewissensbisse, und sie fühlte sich wie die schlechteste Mutter der Welt.

Sie legte die Hände in den Nacken und begann, sich die verspannten Muskeln zu massieren. Ohne Erfolg, es war zum Verrücktwerden. Genervt ließ sie die Hände wieder sinken.

Mit kritischem Blick betrachtete sie sich im Badezimmerspiegel. Im Allgemeinen war sie mit ihrem Äußeren recht zufrieden. Paul, einer ihrer Kollegen in Lyon, hatte ihr auf der letzten Weihnachtsfeier gesagt, sie sehe aus wie Winona Ryder, und Emilia fand, dass es sogar tatsächlich ein bisschen stimmte. Aber im Moment fühlte sie sich eher wie Winona Ryders ältere, hässliche Schwester. Ihr schulterlanges, braunes Haar kam ihr kraftlos und spröde vor, ihr Gesicht rundlicher als sonst, wie aufgedunsen. Die Ringe unter ihren Augen waren überdeutliche Zeichen des Schlafmangels der letzten Tage. Und bei genauerer Betrachtung waren auch schon kleine Fältchen an ihren Augen- und Mundwinkeln zu sehen – nicht besonders attraktiv, aber wohl unvermeidlich bei einer Frau Mitte dreißig. Vor allem bei ihrem Lebenswandel. Die regelmäßigen Siebzig-Stunden-Wochen hinterließen allmählich ihre Spuren.

Erste Anzeichen von körperlichem Verfall. Ich sehe aus wie ein Zombie.

Vielleicht werden die Schmerzen erträglicher, wenn ich gefrühstückt habe, dachte sie. Wie viel Uhr ist es?

Sie ging ins Zimmer zurück, setzte sich aufs Bett und griff nach dem Handy auf dem Nachttisch. Kurz vor halb sieben. Mit etwas Glück hatte das Hotelrestaurant schon geöffnet. Nach einer Tasse Kaffee würde sie sich vielleicht besser fühlen.

Als sie das Handy gerade zurücklegen wollte, fiel ihr auf, dass das Display einen eingegangenen Anruf anzeigte. Es war die Nummer ihres Chefs bei Interpol – Frédérique Tréville. Er hatte es vor wenigen Minuten bei ihr versucht.

Was will der denn schon so früh von mir?

Emilia hatte nicht die geringste Lust, mit ihrem Chef zu telefonieren. Sie wollte jetzt nur einen Kaffee trinken, ein Croissant essen und dann endlich ihre Kopfschmerzen loswerden. Aber sie wusste auch, dass er nicht ohne triftigen Grund so früh am Sonntagmorgen bei ihr angerufen hatte.

Sie drückte die Rückruftaste.

»Es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten, noch eine Weile in Frankfurt zu bleiben«, begann er ohne Umschweife.

»Sie meinen wegen des Prozesses?«

Einen Moment lang schien Tréville nicht zu wissen, wovon sie sprach. »Nein, nicht wegen Madukas«, sagte er schließlich. »Es geht um einen Toten in einem Frankfurter Hotel.«

Emilia stöhnte auf – so laut, dass Tréville es auch ganz bestimmt hören konnte. Sollte er ruhig wissen, was sie von seinem Anliegen hielt. »Frédérique, ich habe eine wirklich anstrengende Woche hinter mir. Der Prozess steckt mir in den Knochen, meine Tochter hasst mich, und mir platzt gleich der Kopf.«

»Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn ich es nicht für wichtig halten würde.«

»Das weiß ich. Aber ich habe Becky ein Wochenende im Europapark versprochen. Dann ist daraus ein Sonntagmittag im Kino geworden. Und jetzt soll ich ihr ganz absagen?«

»Sie können das alles am kommenden Wochenende nachholen«, erwiderte Tréville unbeirrt. »Die Frankfurter Polizei benötigt Ihre Hilfe.«

»Was ist mit Louis? Kann der nicht für mich einspringen?« Sie meinte damit Louis Verbier, ihre rechte Hand im Madukas-Fall. Am Freitag und Samstag hatte auch er vor dem Frankfurter Gericht seine Aussage gemacht. Er schlief zwei Zimmer weiter, und er schuldete Emilia noch einen Gefallen.

»Die Frankfurter Polizei hat ausdrücklich Sie angefordert, Emilia«, sagte Tréville ruhig.

Das erstaunte Emilia nun doch. So etwas war ganz und gar unüblich. »Mich? Warum denn das?«, fragte sie.

»Weil der Tote eine Nachricht hinterlassen hat«, antwortete Tréville. »Für Sie persönlich.«

3

Avram Kuyper hatte die noch fehlenden Räume des Hauses durchsucht, aber niemanden gefunden. Weder Goran noch Nadja, noch die Kinder versteckten sich hier. Feinde auch nicht. Das Haus war sicher.

Jetzt nahm er denselben Weg zurück, den er gekommen war – durch den Keller bis hinters Haus zum alten MAN-Traktor und von dort die Böschung hinab in den Waidbach. Durch die Gummistiefel konnte er das kalte Wasser spüren. Als Kinder hatten er und Goran sich hier im Sommer gerne Abkühlung verschafft. Es kam ihm vor wie gestern und doch auch wie in einem anderen Leben.

Draußen war es inzwischen heller geworden, und der Nebel begann sich zu lichten. Die Sonne stand als matte Scheibe über dem Horizont, aber noch war es frisch und feucht.

Avram watete ein paar Schritte durch das plätschernde Wasser, schlich unter der Brücke hindurch und kroch auf der anderen Seite wieder nach oben. Hier war das Gras nicht gemäht, so dass er sich problemlos an die Scheune heranpirschen konnte, ohne gesehen zu werden.

Komm nach Hause und räche dich an denen,

die uns getötet haben

– so lautete die Nachricht, die Goran ihm auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte.

Avram schluckte trocken. Wenn er den Anrufbeantworter doch nur schon von unterwegs aus abgehört hätte! Aus Marseille kommend, wäre er dann nicht erst nach Amsterdam zurückgefahren, sondern bei Basel oder Straßburg direkt nach Deutschland abgebogen. Das hätte ein paar wertvolle Stunden gespart – Stunden, die den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnten.

Was zum Teufel war hier los? Wo steckten Goran, Nadja und die Kinder? War ihnen tatsächlich etwas zugestoßen? Aber wie hatte Goran wissen können, dass sie sterben würden?

Vielleicht waren sie auch nur verschleppt worden. In diesem Fall bestand Hoffnung, vorausgesetzt, Avram fand Spuren, die er verfolgen konnte – irgendetwas, das ihm einen Hinweis auf den oder die Entführer gab.

Natürlich war es im besten Fall auch möglich, dass die Familie seines Bruders noch rechtzeitig hatte fliehen können. Wenn Goran eine Morddrohung erhalten hatte – hätte er dann nicht versucht, sich und die anderen rechtzeitig in Sicherheit zu bringen? Doch aus irgendeinem Grund glaubte Avram nicht, dass Goran die Flucht geglückt war. Seine Stimme auf dem Anrufbeantworter hatte so verzweifelt geklungen, so resigniert. Wie bei jemandem, der sich mit seinem Schicksal längst abgefunden hatte.

Komm nach Hause und räche dich an denen,

die uns getötet haben.

Mit einer Handbewegung verscheuchte Avram eine Fliege vor seinem Gesicht und konzentrierte sich wieder auf die Scheune. Zum Hof hin hatte sie einen großen Eingang ohne Tür, so dass sie an dieser Seite fast ganz offen war. Die Wände bestanden aus grob gezimmerten Holzlatten, die Wind und Wetter dunkel gefärbt hatten.

Im hohen Gras schlich Avram hinter das Gebäude. Schnell fand er eine Stelle, wo zwischen den Latten eine Lücke klaffte. Von hier aus hatte er gute Sicht ins Innere, aber wieder konnte er nichts Verdächtiges feststellen.

Er beschloss, die Scheune genauer zu inspizieren, und lief um sie herum – in geduckter Haltung, um kein klares Ziel abzugeben, falls ihn jemand vom Hof aus ins Visier nahm. Er huschte in den Eingang, verschwand hinter der Wand und ging hinter den Strohballen in Deckung, die wie riesige Bauklötze zu einer mannshohen Mauer aufgetürmt worden waren. Niemand schoss auf ihn, aber das musste nichts zu bedeuten haben.

Sein Blick wanderte durch die Scheune, die sich seit seinem letzten Besuch vor einigen Jahren kaum verändert hatte. Immer noch stand der alte Mähdrescher darin, auch wenn er längst nicht mehr funktionierte. Daneben lagerten andere ausgediente Gerätschaften – ein Ladewagen, eine Drillmaschine und die alte Egge – Reliquien aus einer Zeit, in denen der Kuyperhof noch ein intakter Betrieb gewesen war und Getreide produziert hatte. Heute nagte der Rost an den Geräten, und sie besaßen allenfalls noch Schrottwert.

Im anderen Teil der Scheune stapelten sich die tischgroßen Heuballen, hinter denen Avram sich versteckt hielt, bis zur Wand. Hinter ihm lag in einer dunklen Ecke alles, was auf dem Hof irgendwann einmal ausrangiert worden war und entsorgt werden sollte – und dann aus irgendeinem Grund in Vergessenheit geraten war. Avram erkannte den alten Couchsessel seines Vaters, Mutters Fahrrad, ein paar alte Lampen und den klobigen Röhrenfernseher, der früher im Wohnzimmer gestanden hatte. In dieser hässlichen dunklen Ecke lagerte ein Teil seiner Vergangenheit. Seiner und Gorans.

Er unterdrückte einen Anflug von Sentimentalität und richtete seinen Blick wieder auf den Hof. Noch immer war weder am Pferdestall noch bei den Silos jemand zu sehen. Und noch immer traute Avram dem Frieden nicht. Jahrelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, stets auf der Hut zu sein.

Der Stall lag etwa dreißig Meter entfernt. Es war ein weiß verputzter Steinbau mit Fachwerkelementen und ein paar kleinen Fenstern. Avram sprintete los. Das große, doppelflügelige Holztor war verschlossen, aber die Eingangstür daneben stand offen. Avram huschte hindurch. Früher war hier ein Teil des Maschinenparks untergebracht gewesen, bis Goran nach dem Tod der Eltern die Getreidewirtschaft endgültig aufgegeben und dafür seine Liebe zu den Pferden entdeckt hatte. Es befanden sich fünf geräumige Boxen darin. In zweien lagerten die Futtervorräte, das Zaumzeug und alles, was für die Tierpflege notwendig war. Daran schlossen die Boxen für die drei Pferde an.

Hier gab es mehr als genug Versteckmöglichkeiten, um jemanden aus dem Hinterhalt anzugreifen.

Mit der Pistole im Anschlag kontrollierte Avram zuerst die beiden Nischen mit den Vorräten. Danach nahm er die Pferdeboxen ins Visier. Am Gatter der ersten Box hing ein Schild mit dem Aufdruck Agamemnon. Das war also der Unterstellplatz für den Rappen, der draußen auf der Koppel graste. Die Box war mit frischem Heu ausgelegt, an der Wand hingen zwei Eimer – einer mit Wasser, der andere mit einem Rest Futter. Abgesehen davon war die Box leer.

Auch an der nächsten Box konnte Avram keine Auffälligkeiten feststellen. Sie gehörte Sunflower – offenbar eine der beiden Fuchsstuten. Erst an der letzten Box stieß er auf etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Auf dem Schild am Gatter stand der Name Cascada, und auf den ersten Blick unterschied sich die Box nicht von den beiden anderen. Doch dann erkannte Avram das Blut. Es war nicht viel, nur ein Spritzer im Stroh, ganz hinten in der Ecke.

Avram öffnete das Gatter und betrat die Box. Als er sich dem Fleck näherte, stellte er fest, dass er größer war, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Avram war, als würde jemand ein Feuer in seinem Magen entzünden. Seine Zunge klebte plötzlich trocken am Gaumen, und obwohl er in gewissen Kreisen den Ruf genoss, stets einen kühlen Kopf zu bewahren, spürte er, wie ihm die Nerven in diesem Moment einen Streich zu spielen drohten.

Denk nicht daran, dass es um deinen Bruder, um Nadja und um die Kinder geht, mahnte er sich. Stell dir vor, es handelt sich um einen ganz normalen Einsatz. Um Menschen, die dir nichts bedeuten.

Aber es half nicht.

Er wischte das Stroh beiseite und erkannte ein Einschussloch im Boden. Die Kugel steckte noch im Holz. Als er sich umsah, fand er ein zweites Einschussloch in der Seitenwand der Box, ziemlich weit hinten. Es war ein glatter Einschlag ohne Absplitterungen und ohne Blut drum herum. Also kein weiterer Treffer. Vom Gatter aus war das Loch kaum zu sehen. Der Polizeistreife, die in der Nacht hier gewesen war, konnte er also keinen Vorwurf machen, zumal es im Stall kein elektrisches Licht gab.

Die Seitenwand der Box war nur etwa brusthoch. Bei genauerer Betrachtung bemerkte Avram am oberen Rand eine weitere Blutspur, verwischt, als habe jemand versucht, sich auf die andere Seite zu retten, wo eine Hintertür nach draußen führte.

Avram eilte zurück zum offenen Boxengatter und folgte dem abknickenden Gang zur Hintertür. Sie war nicht abgeschlossen, sondern hing lose in den Angeln. Mit einem gedehnten Quietschen schwang sie nach außen auf.

Der würzige Geruch von Heu und Pferdedung wich der klaren Morgenluft, obwohl der Misthaufen nur wenige Meter entfernt war. Daneben stand Gorans Schubkarre, an der Außenwand lehnte eine Mistgabel. Hinter dem Misthaufen wuchsen die Apfelbäume. Dahinter kam die Koppel, ein grasbewachsener Hang, an dessen oberem Ende der Wald begann, von wo aus Avram vorhin den Hof beobachtet hatte.

Jetzt suchte er nach weiteren Blutspuren. Sein Blick wanderte rastlos über den Boden, bemüht, in dem ausgetretenen, vom nächtlichen Regen durchnässten Morast etwas erkennen zu können. Aber es war hoffnungslos.

Er versuchte, sich vorzustellen, was im Stall vorgefallen war. Zwei Schüsse. Einer davon hatte getroffen. Keine tödliche Verletzung – dafür gab es in Cascadas Box zu wenig Blut. Nur ein Streifschuss. Der Angeschossene war groß und sportlich genug gewesen, um sich auf der Flucht über die Boxenwand schwingen zu können. Damit schieden Nadja und die Kinder aus. Blieb nur noch Goran. Er hatte es also bis hierher, ins Freie, geschafft. Wohin war er dann geflüchtet?

Rechts von ihm gab es entlang der Stallwand keinerlei Deckung, nur kniehohes Gras und Gestrüpp – ein denkbar ungeeigneter Fluchtweg. Nach vorne boten nur der Misthaufen und die Apfelbäume ein wenig Schutz – ebenfalls keine besonders gute Wahl. Wenn Goran seine Sinne einigermaßen beieinandergehabt hatte, musste er den Weg nach links eingeschlagen haben. Dort wucherte ein gewaltiger Forsythienstrauch. Dahinter parkte Gorans alter Wohnwagen neben dem Stall, ein paar Meter weiter stand der Geräteschuppen. Das alles taugte als Deckung zwar ebenfalls nicht viel, aber zumindest verhinderte es die freie Sicht, womit ein weiterer gezielter Schuss deutlich erschwert wurde.

Avram folgte dem Weg und ging um das Gebüsch herum. Blutspuren gab es zwar auch hier keine mehr, aber irgendwo musste er mit seiner Suche ja fortfahren.

Zuerst nahm er sich den Geräteschuppen vor. Vielleicht hatte Goran versucht, dort so etwas wie eine Waffe zu finden. Eine Axt, eine Hacke, ein Stemmeisen – irgendetwas, womit er sich verteidigen konnte. Aber die Tür wurde durch ein Vorhängeschloss verschlossen.

Avram ging zum Wohnwagen. Vorsichtig spähte er durch ein Seitenfenster, aber es schien niemand drinnen zu sein – weder Goran noch sonst jemand. Bei genauerer Betrachtung fand er jedoch ein Einschussloch, knapp neben dem Radkasten. Ziemlich tief, fand Avram, was für ihn nur einen Schluss zuließ: Goran hatte sich zum Zeitpunkt des Schusses schon nicht mehr aufrecht halten können. Er musste neben dem Wohnwagen auf die Knie gefallen sein, oder er hatte sich schon vom Stall aus auf allen vieren hierhergeschleppt.

Avram ging in die Hocke. Unter dem Wohnwagen, geschützt vor dem nächtlichen Regen, fand er jetzt tatsächlich noch mehr Blut – eine grausige, dunkle Lache, die ahnen ließ, wie schwer Goran verletzt gewesen sein musste.

Avram biss die Zähne zusammen. Wo bist du?, fragte er Goran in Gedanken. Wohin bist du von hier aus weitergelaufen?

Er stand auf, ging zur Vorderseite des Wohnwagens und ließ seinen Blick über den Hof schweifen. Bis zum Haus waren es dreißig Meter, bis zur Scheune noch weiter – eine unüberbrückbare Distanz für einen Schwerverletzten, der verfolgt wurde.

Nach rechts kam nur die ansteigende Straße nach Oberaiching, flankiert von Kuhweiden und freiem Feld. Die Kuppe war drei- oder vierhundert Meter entfernt, dahinter lag, außer Sichtweite, der Bott’sche Hof. Hätte Goran versucht, dorthin zu fliehen, wäre er wie auf dem Präsentierteller gewesen.

Nein, Goran musste sein Glück bei den beiden Silos auf der anderen Straßenseite gesucht haben – silberne Säulen, die wie haushohe Zigarren in den Himmel ragten. Sie standen seit Jahren leer und dienten nur noch als Versteck für die Kinder.

Ob auch Goran gestern Nacht versucht hatte, sich dort zu verstecken?

Aber bei den Silos fanden sich keine weiteren Spuren. Kein Blut, weder außen noch innen, keine Einschusslöcher, keinerlei Anzeichen eines Kampfs. Hatte Goran es womöglich nicht mehr bis hierher geschafft? War er irgendwo zwischen dem Wohnwagen und den Silos von einer weiteren Kugel tödlich getroffen worden? Aber wo war dann seine Leiche? Und was war mit Nadja und den Kindern geschehen?

Avrams Kinn bebte, während die stahlgrauen Augen hinter der Hornbrille vergeblich nach weiteren Hinweisen auf dem Hof suchten.

4

Emilia Ness saß im Taxi und sah geistesabwesend aus dem Fenster, während sie durch die endlos scheinenden grauen Häuserschluchten Frankfurts gefahren wurde. Im Hotel hatte sie noch auf die Schnelle gefrühstückt und eine Tablette genommen. Tatsächlich war der stechende Schmerz hinter den Augen inzwischen zu einem dumpfen Pochen verebbt. Emilia war dankbar dafür. So wie jetzt war der Schmerz erträglich, und mit etwas Glück würde sich das Pochen vielleicht auch noch legen.

Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Aber im Moment beschäftigten sie zu viele Fragen, um wirklich abschalten zu können.

Da war zum einen der Prozess gegen Robert Madukas, der in ihrem Kopf herumgeisterte. Madukas – die Bestie von Hanau. Sieben Säureanschläge in vier verschiedenen europäischen Ländern wurden ihm zur Last gelegt. Seine Opfer hatten schwerste Verletzungen davongetragen, sechs waren daran gestorben. Würde er seine gerechte Strafe dafür erhalten?

Die Säureattentate waren Emilias neunter eigenständiger Fall bei Interpol. In monatelanger Kleinarbeit hatten sie und ihr Team in Zusammenarbeit mit Dutzenden von Polizeibehörden in Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien Spuren verfolgt und Beweise gesichert. Dann, Mitte Januar, hatte man das überlebende Opfer aus dem künstlichen Koma erweckt – eine junge Frau namens Meike Trasser. Die Säure hatte ihr das halbe Gesicht und die linke Brust weggeätzt – Entstellungen, die kein plastischer Chirurg auf diesem Planeten jemals würde beheben können. Aber sie hatte eine sehr exakte Täterbeschreibung und einige weitere wertvolle Hinweise geben können. Vier Tage später konnte Robert Madukas verhaftet werden.

Emilia schauderte. Der Prozess in Frankfurt hatte all die schrecklichen Bilder wieder hochkommen lassen, mit denen sie im Lauf ihrer Ermittlungen konfrontiert worden war. Grausame Verätzungen. Offenes Fleisch, zerfressen bis auf die Knochen. Jetzt wollte sie nur noch vergessen.

Sie öffnete die Augen, um die Schreckensbilder zu vertreiben. Nicht mehr daran denken, sagte sie sich. Einfach nicht mehr daran denken. Wenn du es nicht schaffst, loszulassen, wird die Arbeit dich eines Tages auffressen.

Während die grauen Häuserreihen Frankfurts weiter an Emilia vorbeizogen, seufzte sie in sich hinein. Ihre Karriere konnte sich sehen lassen. Mit fünfundzwanzig Jahren war sie zur jüngsten Polizeikommissarin Hamburgs befördert worden. Mit siebenundzwanzig war sie zu Interpol gewechselt, wo man ihr drei Jahre später, kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag, die Leitung eines zehnköpfigen Ermittlerteams übertragen hatte. Es war ständig bergauf gegangen. Nur einmal war sie kurz gestrauchelt. Als man ihr in der Fabiani-Affäre vorgeworfen hatte, von einem römischen Mafiaboss Bestechungsgelder in Millionenhöhe angenommen zu haben. Es waren harte Wochen mit vielen Anfeindungen seitens der Öffentlichkeit gewesen, aber letztlich hatte Emilia ihre Unschuld beweisen können, und sie war aus der Fabiani-Affäre gestärkt herausgekommen. Ness, die Unbestechliche. So hatte Le Monde einen ihr gewidmeten Leitartikel tituliert, in Anspielung auf ihren berühmten Namensvetter Elliott Ness aus der Zeit der amerikanischen Prohibition. Ihr Vater –  früher selbst Polizist und für Emilia ein leuchtendes Vorbild in Sachen Ehrenhaftigkeit und Integrität – wäre stolz auf sie gewesen.

Aber kein Licht ohne Schatten. Die Arbeit forderte vollen Einsatz und raubte ihr oft genug den Schlaf. Außerdem hatte sie nach der Scheidung von Mark ihren Beruf nur dadurch weiter ausüben können, dass sie Becky in ein Internat gesteckt hatte. Es war eine notwendige, aber schwere Entscheidung gewesen, die Becky ihr bis heute nachtrug.

Das Taxi hielt an einer Ampel. Emilias Blick wanderte an den Häusern entlang in Richtung Himmel. Dunkles Grau, so weit das Auge reichte. Gott, wie sie dieses Wetter hasste!

Das Taxi fuhr weiter, und Emilias Gedanken schweiften wieder ab, diesmal zu dem toten Mann, zu dem sie gerade unterwegs war. Warum hatte er ihr eine Nachricht hinterlassen? Auch Tréville, ihr Chef, hatte darauf keine Antwort gewusst. Aber angesichts der Tatsache, dass Emilia sich ohnehin in Frankfurt aufhielt, hatte er schnelle Amtshilfe zugesagt.

Wer war der Tote? Ein Bekannter? Ein ehemaliger Schulfreund vielleicht, oder jemand, mit dem sie einmal zusammengearbeitet hatte? Der Name, den Tréville genannt hatte – Georg Kleinert – sagte Emilia nichts.

Das Taxi verließ die Innenstadt in nördlicher Richtung und erreichte schließlich ein ziemlich heruntergekommenes Gebiet, das von alten Ziegelsteinbauten beherrscht wurde. Hier und da gab es ein paar leerstehende Fabrikgebäude. Dazwischen lagen weite Flächen Brachland, auf denen früher einmal Wohnhäuser für die Arbeiter oder andere, längst abgerissene Fabrikbauten gestanden haben mussten. Alles wirkte trist und grau und ziemlich verlassen. Der bewölkte Himmel und der aufkommende Regen verstärkten diesen Eindruck noch.

Der Wagen hielt vor einem fünfstöckigen Bau, von dem an unzähligen Stellen der Putz bröckelte. Die Fenster zum Keller und im Erdgeschoss waren vergittert. Über der Eingangstür hing ein verwittertes Schild mit der Aufschrift Hotel Postmeister. Nichts an dem Gebäude hätte Emilia dazu veranlassen können, hier als Übernachtungsgast einzuchecken.

Beim Haus rechts daneben waren ein paar Fenster eingeschlagen und die Tür mit Holzlatten zugenagelt worden. Offenbar war es unbewohnt. Das Areal links neben dem Postmeister war von einem übermannshohen Lattenzaun umgeben, an dem zerrissene Werbeplakate hingen. Dahinter konnte Emilia einen Bagger erkennen. Gearbeitet wurde sonntags natürlich nicht.

Zwei Streifenwagen, ein Polizeitransporter und ein schwarzer A6 parkten vor dem Hotel. Emilia bezahlte den Taxifahrer, stieg aus und blickte sich um. Auf dem Gehweg war niemand zu sehen. Vielleicht lag es daran, dass es ein früher Sonntagmorgen war. Autos fuhren hier ebenfalls keine. Emilia kam sich vor wie in einer Geisterstadt.

Auf der anderen Straßenseite stand ein halbfertiger Rohbau. Ein Schild auf dem Bauzaun verriet, dass hier ein Einkaufszentrum entstehen sollte.

Wer um alles in der Welt will denn hierher zum Einkaufen kommen?

Emilia kehrte dem Rohbau den Rücken zu und ging auf das Hotel Postmeister zu. Vor der Eingangstür stand ein junger Polizist, Anfang zwanzig, mit einer Zigarette in der Hand. Er sah aus wie ein Südländer, hatte dichtes schwarzes Haar und bronzefarbene Haut. Im Moment war er ziemlich bleich um die Nase und wirkte beinahe apathisch. Die Zigarette zwischen seinen Fingern zitterte.

Wahrscheinlich sein erster Mordfall, dachte Emilia. Ihr selbst war es beim Anblick ihrer ersten Leiche so schlecht gegangen, dass sie sich übergeben hatte. Das war jetzt vierzehn Jahre her.

Sie ging zu dem Polizisten und wies sich aus.

Er nahm einen Beruhigungszug von seiner Zigarette, stieß den Rauch durch die Nase aus und nickte. »Zimmer 207. Im zweiten Stock. Ich kann Sie hinbringen, wenn Sie wollen.«

Emilia sah ihm an, wie viel Überwindung ihn dieses Angebot gekostet hatte. »Ich werde mich schon allein zurechtfinden«, sagte sie und bedankte sich.

Die Tür quietschte, als sie eintrat. Drinnen war es düster wie in einem Spukschloss, und sofort stieg Emilia der für alte Häuser typische modrige Geruch in die Nase. Fünf Stufen führten über einen schmalen Treppenaufgang zu einer Eichenholztheke, die mehr an einen Bartresen als an eine Rezeption erinnerte. Dahinter saß eine grauhaarige, dürre Frau, die Emilia gar nicht beachtete, weil sie vollauf damit beschäftigt war, in ein Stofftaschentuch zu schluchzen. Dabei murmelte sie immer wieder etwas in einer Sprache, die Emilia nicht verstand. Polnisch vielleicht oder Russisch.

Über das Treppenhaus ging sie weiter nach oben. Im zweiten Stock traf sie auf einen Querkorridor mit ausgeblichener Tapete und fadenscheinigem Teppich. Am Ende des linken Korridorflügels standen zwei Männer, beide in Zivil und in eine Unterhaltung vertieft. Einer der beiden trug einen offenen beigefarbenen Trenchcoat und darunter einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Fliege. In seinem Revers steckte eine weiße Rose. Er war schlank, etwa 1,85 Meter groß und glattrasiert. Sein dichtes schwarzes Haar war für Emilias Geschmack etwas zu lang, aber sehr gepflegt und perfekt gestylt – ein kunstvoll choreographiertes Durcheinander, das mit viel Sinn für Mode und noch mehr Haargel zurechtgezupft worden war. Emilia fragte sich, wie lange der Mann heute Morgen vor dem Spiegel gebraucht hatte. Aber irgendwie fand sie ihn sympathisch.

Er stellte sich als Hauptkommissar Mikka Kessler vor und begrüßte Emilia mit einem gewinnenden Lächeln. »Bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug«, sagte er, »aber ich komme direkt von einer Hochzeitsfeier hierher.«

Der andere Mann hieß Paul Bragon und war ebenfalls Hauptkommissar. Er hatte einen untersetzten Körperbau, war kaum größer als Emilia und trug eine Bomberjacke zu seinen Bluejeans. Das Auffälligste an ihm war sein mächtiger, grauweißer Schnauzbart wie aus der Kaiserzeit. Emilia schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Er wirkte gemütlich, ja sogar ein bisschen träge, aber in seinen kleinen, schlauen Augen funkelte ein Feuer, das verriet, dass er sich innerlich noch längst nicht auf den Ruhestand vorbereitete.

»Ich bin gespannt, was mich hier erwartet«, sagte Emilia, nachdem sie sich vorgestellt hatte. »Wo ist der Tote?«

Bragon deutete mit einer Kopfbewegung auf eine offene Zimmertür, ein paar Meter weiter den Gang entlang. »Da drinnen. Nummer 207. Aber das Spurensicherungsteam ist noch bei der Arbeit.«

»Kann ich mal reinsehen?«

Bragon zuckte mit den Schultern. »Nur zu.«

Mit wachsendem Unbehagen ging Emilia zu dem Zimmer und warf einen Blick durch die offene Tür. Die Vorhänge waren geöffnet, aber durch das kleine Fenster drang wegen der frühen Morgenstunde und des schlechten Wetters nur wenig Licht. Alles wirkte grau und düster. Den Toten konnte Emilia vom Eingang aus nicht sehen, dafür aber ein paar Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen, die mit Pinzetten und durchsichtigen Verschlussbeuteln das Zimmer absuchten. Einer von ihnen schoss Fotos an Stellen, die mit Nummernkärtchen markiert worden waren – die Fundstellen der Beweisstücke.

Emilia konnte ihre Neugier kaum zügeln. Wer war der Tote? Woher kannte sie ihn? Wie war er gestorben?

Sie gesellte sich wieder zu den anderen. »Wie lange wird die Spurensicherung noch dauern?«, fragte sie.

Hauptkommissar Bragon zog die Mundwinkel nach unten. »Die sind schon eine Ewigkeit da drin«, sagte er. »Müssten bald fertig sein. Noch zehn Minuten, schätze ich. Vielleicht zwanzig.«

Tatsächlich dauerte es nicht einmal mehr fünf Minuten, bis eine zierliche Frau mit Vogelgesicht aus Zimmer 207 kam, den Reißverschluss ihres weißen Tyvek-Schutzanzugs öffnete und sich die Kapuze vom Kopf streifte. Darunter kam eine orangerote Ananasfrisur zum Vorschein.

»Judith Claasen«, flötete sie fröhlich und reichte Emilia die Hand. »Ich bin die Leiterin des Spurensicherungsteams. Wir packen nur noch unsere Sachen zusammen, dann sind wir fertig. Und Sie sind von Interpol?«

Emilia nickte. »Man hat mir gesagt, dass der Tote eine Nachricht für mich hinterlassen hat«, sagte sie.

»Der Brief.« Judith Claasen schien einen Moment nachzudenken. »Wollen Sie ihn gleich sehen?«

»Ja, gerne. Wenn das geht.«

Die Leiterin des Spurensicherungsteams ging mit schnellen Tippelschritten ins Hotelzimmer zurück und kehrte mit zwei in Plastikhüllen verpackten Papierstücken zurück. In der einen Hülle befand sich ein Kuvert, in der anderen ein DIN-A5-Blatt.

Als Erstes nahm Emilia die Hülle mit dem Kuvert entgegen – allem Anschein nach ein handelsüblicher C6-Umschlag. Die Rückseite des Kuverts war leer, die Vorderseite mit Kugelschreiber beschrieben. EMILIANESS – INTERPOL stand in Druckbuchstaben darauf. Daneben befanden sich ein paar rotbraune Sprenkel, vermutlich Blut.

Emilia spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, als sie von Judith Claasen die andere Plastikhülle in Empfang nahm. Das Blatt darin war kariert. Auch hier war nur eine Seite beschrieben, ebenfalls mit Kugelschreiber. Die Handschrift wirkte ziemlich krakelig. Blutspuren gab es keine.

Emilia las: Helfen Sie mir! BITTE! Ich weiß nicht, wem ich noch trauen kann. G. K.

Das war alles.

»G. K. – Georg Kleinert«, murmelte sie und fragte sich, wer dieser Mann war. Sosehr sie in ihrem Gedächtnis auch forschte, sie kannte niemanden, der so hieß.

»Zumindest ist das der Name, unter dem er hier eingecheckt hat«, sagte Judith Claasen. »Papiere haben wir leider keine bei ihm gefunden. Der Geldbeutel fehlt. Der Autoschlüssel auch, falls er einen dabeihatte. Ich gehe davon aus, dass der Mörder beides gestohlen hat.«

Emilia nickte. Der Name Georg Kleinert konnte also auch falsch sein, aber fürs Erste gab sie sich damit zufrieden.

Sie betrachtete den Brief noch einmal genauer. »Die Schrift ist ziemlich schlampig«, bemerkte sie. »An dieser Stelle ist der Text kaum lesbar.« Sie deutete mit dem Finger auf die Worte »wem ich noch trauen kann«.

»Es fehlen zwar noch die konkreten Blutwerte«, sagte Judith Claasen, »aber so wie es aussieht, hat er sich kurz vor seinem Tod richtig volllaufen lassen. Ein Wunder, dass er überhaupt noch schreiben konnte.«

Emilia betrachtete die beiden Hüllen noch einmal eingehend, konnte aber keine weiteren Auffälligkeiten daran feststellen.

Als sie Bragon die Beweisstücke reichte, gab er sie gleich an Judith Claasen weiter. »Hauptkommissar Kessler und ich kennen den Brief schon«, erklärte er. »Wir waren die Ersten am Tatort und haben ihn gefunden.«

Der Rest des Spurensicherungsteams kam aus dem Hotelzimmer, zwei Männer und zwei Frauen in weißen Schutzanzügen. Eine der beiden Frauen trug eine Klappbox wie einen Bauchladen vor sich. Darin befanden sich der Fotoapparat sowie Dutzende von durchsichtigen Plastikbeuteln und Probenbehältern, alle sauber beschriftet. Die andere Frau hatte einen großen, schwarzen Plastiksack über die Schulter geworfen, dessen Inhalt nicht erkennbar war. Die beiden Männer trugen vier glänzende, klobige Metallkoffer mit der Ausrüstung des Teams.

»Bringt die Sachen runter und fahrt schon mal aufs Revier«, sagte Judith Claasen, während sie die beiden Beutel in die Klappbox legte. »Ich bleibe noch hier und zeige Frau Ness den Tatort.«

»Ein paar Sachen sind noch im Zimmer«, sagte die Frau mit der Klappbox.

»Kein Problem. Die bringe ich später mit.«

Das Spurensicherungsteam setzte sich im Gänsemarsch in Bewegung und verschwand im Treppenhaus.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles«, sagte Judith Claasen und ging voraus.

Emilia kam nach, dicht gefolgt von den beiden Hauptkommissaren. Trotz des aufgezogenen Vorhangs wirkte das Zimmer dunkel wie eine Höhle. Es gab nur ein einziges Fenster, klein und milchig. Dicke Regentropfen prasselten von draußen gegen die Scheibe. Das fahle Licht der Deckenlampe erreichte kaum den Boden.