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»Du findest erst heraus, wer du bist, wenn niemand dir zusieht ...«
Der neue Roman der Bestsellerautorin von »Die Bestimmung«.
Noch vor zehn Jahren strahlte Sonya Kantors Gesicht auf Propagandaplakaten in der ganzen Megalopolis. Sie war die Vorzeigefigur der Delegation – des Regimes, das die Menschen auf Schritt und Tritt überwachte. Doch eine Revolution brachte die Delegation zu Fall, und seitdem fristet Sonya – gemeinsam mit jenen, die dem Regime treu ergeben waren – ein trostloses Dasein in Gefangenschaft. Bis ein einstiger Feind sie aufsucht und ihr ein Angebot macht, das auszuschlagen fast unmöglich ist. Was er ihr nämlich bietet, ist ein Freifahrtschein zurück in die Welt. Doch dafür muss Sonya ein Kind finden – und ein dunkles Kapitel ihrer eigenen Familie ergründen ...
Verpassen Sie auch nicht den spektakulären Urban-Fantasy-Standalone »Die Erwählten. Tödliche Bestimmung« von Veronica Roth!
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Seitenzahl: 475
Veronica Roth ist die Autorin des Nr.-1-»New York Times«- und SPIEGEL-Bestsellers »Rat der Neun« und der Trilogie »Die Bestimmung«, von der sich weltweit über 35 Millionen Exemplare verkauft haben und die in drei Teilen mit hochkarätiger Besetzung verfilmt wurde. Veronica Roth lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Chicago.
Rat der Neun
Rat der Neun. Gegen das Schicksal
Die Erwählten. Tödliche Bestimmung
Poster Girl. Wer bist du, wenn dir niemand zusieht?
Noch vor zehn Jahren strahlte Sonya Kantors Gesicht auf Propagandaplakaten in der ganzen Megalopolis. Sie war die Vorzeigefigur der Delegation – des Regimes, das die Menschen auf Schritt und Tritt überwachte. Doch eine Revolution brachte die Delegation zu Fall, und seitdem fristet Sonya – gemeinsam mit jenen, die dem Regime treu ergeben waren – ein trostloses Dasein in Gefangenschaft. Bis ein einstiger Feind sie aufsucht und ihr ein Angebot macht, das auszuschlagen fast unmöglich ist. Was er ihr nämlich bietet, ist ein Freifahrtschein zurück in die Welt. Doch dafür muss Sonya ein verschwundenes Kind finden – und ein dunkles Kapitel ihrer eigenen Familie ergründen …
Veronica Roth
Wer bist du, wenn dir niemand zusieht?
Roman
Deutsch von Petra Koob-Pawis
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Poster Girl« bei Houghton Mifflin Harcourt, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2022 by Veronica Roth
Published by Arrangement with Veronica Roth
c/o New Leaf Literary Agency & Media, Inc., 110 West 40th Street, Suite 2201, New York, NY 10018 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Hamburg
nach einer Originalvorlage von Hachette UK
Coverillustration: © Peter Strain
Coverdesign: © Lydia Blagden
SH · Herstellung: mar
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-27496-2V001
www.penhaligon.de
Für Tera und Trevor,
Gastgeber meiner Pandemie-Oase,in der ich dieses Buch geschrieben habe,und lieb gewonnene Freunde
Wenn sie an die Zeit davor denkt, denkt sie an das Fotoshooting. Die Frau, die Sonya schminkte, roch nach Maiglöckchen und Haarspray. Wenn sie sich zu Sonya beugte, um Rouge auf ihre Wangen zu pinseln oder mit der Fingerspitze beigen Concealer auf eine kleine Hautunreinheit zu tupfen, hatte Sonya die Sommersprossen auf ihrem Schlüsselbein vor Augen.
Anschließend hielt sie Sonya einen Spiegel hin, damit sie sich darin betrachten konnte. Aber Sonyas Blick fiel zuerst auf das Gesicht der Frau, das halb durch den Spiegel verdeckt war, und dann auf den blassen Schein ihres Insights, des Lichtkreises um ihre rechte Iris. Er leuchtete auf, wenn der Blick der Frau auf Sonyas eigenes Insight traf.
Jetzt, ein Jahrzehnt später, versucht sie sich daran zu erinnern, wie ihr Spiegelbild in diesem Moment ausgesehen hatte, aber ihr Gedächtnis hat nur das Endprodukt gespeichert: das Poster. Darauf ist ihr junges Gesicht zu sehen, wie es zu einem unsichtbaren Horizont blickt. Ein Slogan der Delegation umrahmt ihr Porträt. Oben steht:
WASRECHTIST
Und unten:
ISTRICHTIG.
Sie erinnert sich an das Blitzlicht der Kamera, an die Hand des Fotografen, mit der er ihr die Richtung anzeigte, in die sie blicken sollte, an die sanfte Klaviermusik im Hintergrund. An das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein.
Sie zupft eine Kirschtomate vom Stiel und legt sie zu den anderen in den Korb.
»Gelbe Blätter bedeuten zu viel Wasser«, erklärt Nikhil. Stirnrunzelnd blickt er auf das Buch in seinem Schoß. »Nein, warte – oder zu wenig. Was denn nun?«
Sonya kniet auf dem Kiesdach von Wohnblock 4, inmitten von Pflanzenbeeten. Nikhil hat sie angelegt. Jedes Mal, wenn jemand im Gebäude stirbt, nimmt er die marodesten Möbelstücke auseinander, sammelt Nägel und Schrauben ein und verwertet das Holz, so gut er kann. Daher sind die Pflanzenrabatten wie ein Flickenteppich aus Hölzern und Farben, hier ein Stück poliertes Mahagoni, dort ein Brett unlackierte Eiche.
Jenseits des Dachs liegt die Stadt. Aber Sonya hat keinen Blick für sie übrig. Die Stadt könnte ebenso gut die gemalte Kulisse eines Schultheaters sein.
»Ich habe dir doch gesagt, dass dieses Buch nutzlos ist«, seufzt sie. »Bei Pflanzen kann man nur durch Ausprobieren etwas lernen.«
»Vielleicht hast du recht.«
Das ist die letzte Ernte in diesem Jahr. Bald werden sie die Beete von den abgestorbenen Pflanzenresten befreien und sie mit Planen abdecken, um den Boden zu schützen. Sie werden alle Werkzeuge in den Schuppen bringen, wo sie trocken bleiben, und die Töpfe mit Minze in Sonyas Wohnung tragen, damit sie die Blätter den ganzen Winter über kauen können. Im Januar, nach monatelangem Essen aus der Dose, werden sie verzweifelt nach etwas Grünem verlangen.
Er klappt das Buch zu. Sonya nimmt den Korb in die Hand.
»Wir sollten besser gehen«, sagt sie. »Sonst ist alles Gute weg.«
Es ist Samstag. Markttag.
»Ich liebäugle schon seit zwei Monaten mit dem kaputten Radio, und bisher hat niemand Interesse gezeigt. Das holt sich keiner.«
»Das kann man nie wissen. Weißt du noch, wie ich drei Wochen lang um den alten Pullover herumgeschlichen bin und Mr Nadir ihn mir in letzter Sekunde weggeschnappt hat?«
»Am Ende hast du ihn doch bekommen.«
»Aber nur, weil Mr Nadir gestorben ist.«
Nikhil zwinkert. »Jedes Ende ist ein neuer Anfang.«
Gemeinsam gehen sie zur oberen Treppe. Sonya passt sich Nikhils Tempo an – seine Knie sind nicht mehr das, was sie mal waren, und der Abstieg in den Innenhof ist lang. Sie nimmt eine Tomate aus dem Korb und schnuppert daran.
Als Kind hat sie nie gegärtnert. Alles, was sie heute weiß, hat sie durch Misserfolge erlernt – und aus Langeweile. Aber den süßen, staubigen Geruch verbindet sie immer noch mit dem Sommer, ebenso wie die flirrende Hitze über den Gehwegen, die gespannten Saiten ihres Badmintonschlägers und das Purpurrot der von ihrer Mutter zubereiteten Sangria – schon damals ein viel zu seltener Genuss.
»Nasch nicht von unserer Ernte«, sagt Nikhil.
»Hatte ich gar nicht vor.«
Sie erreichen die unterste Stufe und überqueren den Innenhof. Er ist grün und ungepflegt, die Bäume strecken ihre Äste nach den Mauern aus und kratzen an den Fenstern jener Glücklichen, die tatsächlich freie Aussicht haben. Sonya ist neidisch auf diese Leute. Sie können so tun als ob. Die anderen, wie Sonya, deren Fenster den Blick auf die Stadt jenseits der Apertur freigeben, müssen sich täglich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sie Gefangene sind. Drei Stockwerke unter Sonyas Fenster befindet sich gewundener Stacheldraht. Gegenüber, in einem verfallenen Gebäude, ist ein Eckladen, in dem man gegen eine geringe Gebühr fünf Minuten mit einem Fernglas in die Ferne sehen kann. Vor zehn Jahren hat Sonya ein Laken vor das Fenster gespannt und es seitdem nicht mehr abgenommen.
Am Ende des Gartenwegs kniet Mrs Pritchard. Sie hat ihr ergrautes Haar zu einem Dutt hochgesteckt und gräbt einen Löwenzahn an der Wurzel aus, mit einer kleinen Schaufel, die aus zusammengebundenen Kochlöffeln besteht. Sie trägt keine Handschuhe, ihr Ehering glänzt noch an ihrem Finger, obwohl Mr Pritchard schon vor langer Zeit hingerichtet wurde. Sie lehnt sich auf die Fersen zurück.
»Guten Morgen«, sagt sie. Das Insight in ihrem rechten Auge leuchtet auf, als sie Sonya ansieht, und noch einmal, als sie sich Nikhil zuwendet. Eine stete Erinnerung daran, dass die Delegation zwar gestürzt wurde, sie aber immer noch unter Beobachtung stehen könnten.
»Ist heute schon Markttag?«, fragt sie. »Ich verliere ständig den Überblick.«
Obwohl sie in der Erde kniet, sieht Mrs Pritchard perfekt aus, ihr Hemd ist faltenfrei und steckt ordentlich in der Hose. Sie hat auch schon mal Kleidung für Sonya geändert, nachdem Lainey Newman gestorben war und ihre Sachen innerhalb der Apertur umverteilt wurden.
»Guten Morgen«, erwidert Nikhil.
»Guten Morgen«, sagt Sonya. »Ja, Nikhil ist aus irgendeinem Grund ganz wild auf ein kaputtes Radio.«
»Ein kaputtes Radio, das Sonya reparieren wird«, fügt Nikhil hinzu.
»Ich habe keine Ahnung von Radios.«
»Du kriegst das schon hin. Das tust du immer.«
Mrs Pritchard stößt einen gepressten Laut aus und sagt: »Diese Tomaten sind wertvoller als ein Radio. Was willst du schon hören von …« Sie deutet auf die äußere Mauer der Apertur. »Da draußen?«
»Das weiß ich noch nicht«, sagt er. »Das werde ich erst herausfinden, wenn ich ein Funkgerät habe.«
Mrs Pritchard hebt eine Augenbraue und wechselt das Thema. »Hast du mit den Verantwortlichen von Block 1 über das Aufstellen von Patrouillen für die Visitation gesprochen?«
»Anna hat mir versichert, dass sie sich darum kümmert.«
»Wir dürfen keinen weiteren Vorfall wie den von vor drei Jahren haben.«
»Natürlich nicht.«
»Wir können nicht zulassen, dass sie uns für einen Haufen wilder Tiere halten …«
Vor drei Jahren, als die drei Regierungsführer von draußen gekommen waren und der Apertur einen Besuch abgestattet hatten, waren sie von einigen betrunkenen Bewohnern aus Block 2 mit Flaschen beworfen worden. Danach gab es wochenlang keine Lieferungen mehr. Einige Leute hatten nichts mehr zu essen gehabt. Es ist in jedermanns Interesse, den Frieden zu wahren, wenn Besucher von außen kommen – aber da die Wachen eine Politik der Nichteinmischung verfolgen, ist es die Aufgabe der Gefangenen, sich selbst darum zu kümmern.
»Mary«, sagt Sonya. »Bitte lass dich von uns nicht bei der Arbeit stören.«
Sie lächelt. Mrs Pritchard schnieft und nimmt ihre behelfsmäßige Schaufel in die Hand.
Sonya und Nikhil gehen weiter.
Sie laufen durch den Ziegelsteintunnel, der auf die andere Seite der Straße führt. In die Ziegelsteine sind Namen eingeritzt, und Sonya lässt im Gehen ihre Finger über die Buchstaben gleiten. Es gibt keine Gräber für die Angehörigen, die die Menschen hier verloren haben; ihre Namen sind alles, was von ihnen übrig ist. Der Boden des Tunnels ist voller Wachs, Überreste der vielen von Trauernden aufgestellten Kerzen. Sonya hat schon oft darüber nachgedacht, dass man das Wachs vom Boden abkratzen und zu neuen Kerzen schmelzen sollte, aber sie tut es nicht. In der Apertur sind sie alle daran gewöhnt, dass jeder Anflug von Sentimentalität dem Praktischen weichen muss, aber diese Wände sind unantastbar.
»Danke«, sagt Nikhil. »Sie nervt mich schon seit Wochen damit.«
»Irgendetwas ist immer. Letzte Woche hat sie sich über die Abfallsäcke aufgeregt, die sich neben der Mülltonne stapeln. Als ob irgendjemand von uns Einfluss darauf hätte, wie oft der Müll abgeholt wird.«
Bevor sie den Tunnel verlässt, greift Sonya nach oben, um den Namen zu ertasten, den sie selbst dort eingeritzt hat, auf einem klapprigen Hocker stehend, mit einem Schraubenzieher in der Hand. David. An ihren Fingerspitzen haftet feinkörniger Staub.
Es gibt zwei Straßen in der Apertur: die Grüne Straße und die Graue Straße, benannt nach den Farben der Delegation. Sie unterteilen die Apertur in Quadranten, und in jedem Quadrant steht ein identischer Wohnblock. Ihr Haus ist Block 4, hier wohnen Witwen, Witwer und Sonya.
Der Markt befindet sich genau dort, wo sich die beiden Straßen kreuzen. Sonya weiß noch, wie echte Märkte ausgesehen haben: Reihen von Holzbuden mit Planen zum Schutz vor dem Wetter. Hier in der Apertur bringt jeder mit, was er zum Tauschen hat, einige legen ihre Waren auf Decken aus, während andere herumlaufen und sie feilbieten. Fast alles ist Schrott, aber Schrott kann nützlich sein, ein Bündel Löffel wird zu einer Pflanzschaufel, ein klappriger Tisch zu einem Gartenbeet.
Sie hat nicht vergessen, wie sich schöne Dinge anfühlen. Kühle Seide auf ihren nackten Armen. Das Klackern neuer Schuhe auf Holzdielen. Wie ihre Fingernägel an Weihnachten das Geschenkpapier zerknittern. Ihre Mutter kaufte immer Papier in Gold und Grün.
Wie sich herausstellt, macht die Zeit doch nicht alle Kanten stumpf.
Sonya rückt etwas näher an Nikhil heran, als sie an vier Männern in ihrem Alter vorbeikommen. Sie kennt alle beim Namen – Logan, Gabe, Seby und Dylan –, aber sie tut so, als würde sie sie nicht bemerken. Sie haben sich verteilt, einer lehnt an der Mauer von Block 2, einer steht mitten auf der Straße, einer hockt auf dem Bordstein, und einer stützt sich mit der Hand an einem Laternenpfosten ab.
»Poster Girl«, singt Logan, während er um den Laternenpfosten schwingt und sich am Mast festhält.
Schon bevor Sonya in die Apertur kam, haben die Leute sie so genannt. Sie taten es, weil sie ihr Gesicht erkannten, aber ihren Namen nicht wussten. Damals, als sie sechzehn war und endlich aus dem Schatten ihrer älteren Schwester trat, kam ihr das wie ein Kompliment vor. Jetzt nicht mehr.
»Du kannst nicht so tun, als würdest du uns nicht kennen, Sonya. Es ist ja nicht so, als gäbe es unendlich viele Fische in diesem verdammten Fischglas«, sagt Gabe und kommt zu ihr. Er legt seinen Arm um ihre Schultern. »Warum hängst du nicht mehr mit uns ab?«
»Sie hält sich für was Besseres«, sagt Seby. Er puhlt mit dem Fingernagel zwischen seinen Zähnen.
»Bist du es denn?« Gabe grinst. Er riecht nach Schwarzgebranntem und Lavendelseife. »Ich habe dich ganz anders in Erinnerung.«
Sonya schüttelt seinen Arm ab und versetzt ihm einen kleinen Schubs. »Geh, und such dir jemand anderen, den du ärgern kannst, Gabe.«
Alle vier fangen an zu lachen.
»Guten Tag, Jungs«, mischt sich Nikhil ein. »Ich hoffe, ihr wollt hier keinen Ärger machen.«
»Natürlich nicht, Mr Price. Wir plaudern nur mit einer alten Freundin.«
»Verstehe«, sagt Nikhil. »Nun, wie es der Zufall will, haben wir etwas zu erledigen und müssen jetzt weiter.«
»Aber sicher doch, Mr Price.« Gabe wackelt mit den Fingern und wirft Sonya einen Blick zu, folgt ihnen aber nicht.
Block 2, in dem die meisten der jüngeren Leute untergekommen sind, nachdem sie alle eingeschlossen wurden, ist der chaotischste Ort in der Apertur. Logan ist mit Sonya zur Schule gegangen, war allerdings ein paar Klassen über ihr. Letztes Jahr hat er fast den ganzen Block abgefackelt, als er eine Droge aus Erkältungsmitteln gekocht hat. Und im Innenhof des Gebäudes wabern immer Dämpfe von selbst gebranntem Fusel. Es gab eine Zeit, da konnte sie den Hersteller jeder Charge daran erkennen, wie das Zeug in Nase und Hals brannte. In Block 2 geht es nur darum, die Zeit abzuschleifen wie einen Backenzahn.
Die Graue Straße trifft auf die Grüne Straße, und auf dem rissigen Pflaster liegen jetzt alte Steppdecken mit jeder Menge Zeug darauf: stapelweise fleckige oder zerrissene Kleidung, Konservendosen mit abgekratzten Etiketten, Schnüre mit ausgefransten Enden, Klappstühle, fadenscheinige Kissen, verbeulte Töpfe. Größtenteils handelt es sich um weggeworfene Gegenstände, die von Menschen außerhalb der Apertur gespendet wurden. Die Wohlfahrtsorganisation Barmherzige Hände hat sie gesammelt und kommt jeden Monat mit einer neuen Lieferung und einem entschuldigenden Lächeln.
Manchmal verkaufen die Leute die neuen Dinge, die sie aus den alten gemacht haben: einen kleinen Besen aus einem Bündel Draht, aus Stoffresten zusammengenähte Bettlaken, Esstabletts aus Hardcover-Büchern. Das sind Sonyas Lieblingsstücke. Sie wirken, als wären sie neu, und Neues gibt es hier kaum.
»Schau, genau wie ich es dir gesagt habe.« Nikhil nimmt einen alten Radiowecker in die Hand. Er hat einen Bildschirm als Anzeige mit zwei Lautsprechern an den Seiten. Schwarz und klobig, mit abgeplatzten Ecken. Auf der Rückseite ragen Drähte heraus. Georgia, eine Bewohnerin von Block 1, hockt auf einer alten Kiste hinter ihrem Friedhof für ausrangierte Elektronik.
»Funktioniert nicht«, sagt sie. Das ist nicht gerade ein Verkaufsargument.
Sonya nimmt Nikhil das Radio ab und wirft einen betont vielsagenden Blick auf die Rückseite, um das Innenleben des Apparats zu inspizieren.
»Ich weiß nicht«, sagt sie zu Nikhil. »Vielleicht ist es nicht mehr zu reparieren.«
Sie hat nie gelernt, alte Radios zu reparieren. Und auch nicht, auf dem Dach eines verfallenen Gebäudes Tomaten zu züchten oder herumlungernde Männer abzuwehren, die schon mittags betrunken sind. Sie hat hier in der Apertur viele Lektionen gelernt, die sie nie lernen wollte. Aber Nikhil sieht hoffnungsvoll aus, und er möchte, dass sie etwas zu tun hat, also lächelt sie.
»Einen Versuch ist es wert«, sagt sie.
»Das ist die richtige Einstellung.«
Er verhandelt mit Georgia. Drei Tomaten für ein kaputtes Radio. »Nein«, sagt Georgia. »Sieben.«
Ein paar Schritte weiter winkt Charlotte Carter Sonya zu sich.
Sie sieht aus wie aus einem Märchen, in ihrem karierten Kleid, mit dem langen Zopf und ihrer mit Sommersprossen und Altersflecken gesprenkelten Haut. Sie hat kleine Fältchen an den Augenwinkeln, als sie Sonya anlächelt.
»Sonya, Liebes«, sagt sie. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Vielleicht. Worum geht’s?«
»Mein Bruder Graham, drüben in Block 1 … du kennst ihn?«
Eine alberne Frage. In der Apertur kennt jeder jeden. »Wir sind uns schon begegnet.«
»Jaja. Also, seine einzige Herdplatte hat gestern den Geist aufgegeben, und seitdem kann er nichts mehr kochen.« Sie schürzt die Lippen. »Er benutzt jetzt den Herd in meiner Wohnung.«
»Ich muss erst nachsehen, ob wir Ersatzapparate haben«, sagt Sonya.
»Heute Abend?«, fragt Charlotte sofort. Die Sehnen an ihrem Hals treten hervor. »Ich will dich nicht drängen, es ist nur so, dass er kommt, um zu kochen, und dann … dableibt.«
Sonya unterdrückt ein Lachen. »Ich gehe heute Abend auf eine Party. Aber morgen früh kümmere ich mich darum.«
»Ach ja«, sagt Charlotte. »Die Abschiedsparty, die habe ich glatt vergessen.«
Sonya reagiert nicht auf Charlottes traurig heruntergezogene Mundwinkel. »Morgen früh?«
»Ja, das wäre prima.«
Nikhil und Georgia verhandeln immer noch. Als Sonya zu ihnen tritt, hört sie gerade noch, wie Georgia Nikhil vorwirft, ihr beim letzten Kauf schlechte Tomaten angedreht zu haben.
Sonya räuspert sich. »Fünf Tomaten. Das ist ein großzügiges Angebot, und ich werde es nicht wiederholen.«
Georgia willigt seufzend ein. Sonya drückt ihr die Tomaten in die Hand.
Nikhil bleibt manchmal den ganzen Tag auf dem Markt und redet mit jedem. Sonya nicht. Mit dem Radiowecker unter dem Arm geht sie allein zurück zu Block 4.
Sie zieht die kleine Tomate, die sie stibitzt hat, hervor und beißt hinein. Der Geschmack von Sommer kitzelt ihren Gaumen.
Sonya besitzt nur ein einziges schönes Kleid. Vor zwei Jahren hat sie es in einem von den Barmherzigen Händen gespendeten Kleiderstapel entdeckt, das strahlende Buttergelb stach ihr förmlich in die Augen. Auch andere hätten das Kleid nur allzu gern gehabt, und Sonya wusste, dass es großzügig von ihr gewesen wäre, es einem der jüngeren Mädchen zu überlassen – ein Akt, der ihr zu Zeiten der Delegation einige DesCoin eingebracht hätte. Aber sie brachte es nicht über sich. Sie legte es über ihren Arm und trug es nach Hause, wo es wochenlang vor dem Wandbehang hing, wie eine gemalte Sonne.
Seither bewahrt sie es unter ihrem Bett auf, in einem Pappkarton mit der restlichen Kleidung. Sie nimmt es heraus, schüttelt es und wirbelt Staub in die Luft. Es ist an der Taille zerknittert, wo sie es gefaltet hat, aber das lässt sich jetzt nicht ändern. Mrs Pritchard ist die Einzige im Haus, die ein Bügeleisen hat.
Als sie das Kleid anzieht, denkt sie an ihre Mutter. Julia Kantor ging ständig auf Partys. Um sich schön zu machen, setzte sie sich immer auf den Plüschhocker an ihrem Schminktisch und steckte ihr Haar zu einer Hochfrisur auf. Dann tupfte sie mit dem Finger Parfum hinters Ohr und kramte in ihrer Schmuckschublade nach passenden Ohrringen – die Perlen oder die mit Diamanten oder die kleinen Kreolen. Ihre Handbewegungen waren so elegant, dass alles aussah wie eine kunstvolle Pantomime.
Sonya streicht sich über den Nacken – der rasiert ist, weil sie ihr Haar jetzt mit einer Schermaschine schneidet, aber sie tut es dennoch, aus reiner Gewohnheit. Mit der Hand greift sie sich an den Rücken, um den Reißverschluss hochzuziehen. Das Kleid passt nicht ganz, an der Taille ist es zu weit, an den Schultern zu eng. Der Saum umspielt ihre Knie.
Die Party findet im Innenhof von Block 3 statt. Um dorthin zu gelangen, muss sie an Block 2 vorbei, daher steckt sie ein kleines Messer in ihre Tasche.
Aber diesmal ist die Graue Straße leer. Sie hört Lachen und Rufe aus einer der Wohnungen, begleitet von wummernder Musik, dem Klirren eines zerspringenden Glases – und dem Knirschen ihrer eigenen Schritte. Sie geht durch das Zentrum der Apertur, über den freigeräumten Marktplatz. Sie hüpft über eine Ritze und biegt in den Durchgang ein, der zum Innenhof von Block 3 führt.
Wenn Block 4 ein Ort der Erinnerung und Block 2 einer des Chaos ist, dann ist Block 3 ein Ort der Vortäuschung. Ein Ort, an dem man sich verstellt – nicht um so zu tun, als gäbe es keine Außenwelt, sondern um so zu tun, als könne das Leben in der Apertur genauso gut sein wie die Welt da draußen. In Block 3 finden Hochzeiten, Dinnerpartys und Pokerabende statt; es werden Kurse abgehalten. Kleine Gruppen betreiben Gymnastik, rennen die Grüne Straße und die Graue Straße auf und ab, stapfen Treppen hinauf und hinunter.
Aber Sonya kann sich nur schlecht verstellen.
Der Innenhof ist nicht so gepflegt wie der von Block 4, aber es gibt kaum Unkraut, und jemand hat die Bäume zurückgeschnitten, damit die Äste nicht an den Fenstern klopfen. Quer über den Hof hängt eine Lichterkette; einige Lichter haben inzwischen den Geist aufgegeben, aber die meisten funktionieren noch. Auf der rechten Seite ist ein kleiner Tisch aufgestellt, auf dem Wachsstummel in Glasgefäßen ein flackerndes Kerzenlicht spenden.
»Sonya!« Eine junge Frau stellt einen Korb mit Brot vor den Kerzen ab, wischt sich die Hände sauber und streckt sie nach Sonya aus. Ihr Name ist Nicole.
Sonya umarmt sie und spürt, wie die Konservendose, die sie mitgebracht hat, gegen ihre Rippen drückt.
»Oh«, sagt Nicole. »Was hast du denn da?«
»Deine Lieblingssorte«, sagt Sonya und hält die Dose hoch. Das Etikett ist abgewetzt, aber das Bild darauf ist noch deutlich zu erkennen: Pfirsichscheiben.
»Wow.« Nicole umfasst die Dose mit beiden Händen, und Sonya muss spontan daran denken, wie sie als Kind Schmetterlinge gefangen hat, wie sie in den Spalt zwischen ihren Händen gespäht hat, um ihre Flügel zu betrachten. »Das kann ich nicht annehmen! Die gibt es doch höchstens einmal im Jahr.«
»Ich habe sie genau für diese Gelegenheit aufbewahrt«, sagt Sonya. »Seitdem das Gesetz verabschiedet wurde.«
Nicole lächelt schief, halb erfreut, halb traurig. Das Gesetz über die Kinder der Delegation wurde vor Monaten verabschiedet. Es sieht vor, dass die Bewohner der Apertur, die bei ihrem Einzug noch Kinder waren, wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden. Nicole ist eine der Ältesten, die in die Freiheit entlassen werden. Sie war sechzehn, als sie weggesperrt wurde.
Sonya war siebzehn. Sie wird nirgendwo hingehen.
»Ich hole einen Dosenöffner«, sagt Nicole, aber Sonya zieht ihr Messer heraus, ritzt einen sauberen Kreis in den Deckel der Dose und drückt fest dagegen, bis er auf einer Seite aufklappt. Andere Gäste treffen ein, aber für einen Moment sind Sonya und Nicole ganz unter sich, stehen Schulter an Schulter beieinander und tauchen ihre Finger in den Obstsaft. Sonya schlürft an einer Pfirsichscheibe, die süß, faserig und auch ein bisschen herb schmeckt. Sie leckt sich den Saft von den Fingern. Nicole schließt die Augen.
»Da draußen werden sie nicht mehr so köstlich schmecken, oder?«, fragt sie. »Ich werde sie jederzeit kaufen können, aber sie werden nie mehr so gut schmecken.«
»Mag sein«, sagt Sonya. »Aber du kannst viele andere Dinge kaufen. Bessere Dinge.«
»Genau das meine ich ja.« Nicole angelt ein weiteres Pfirsichstück aus der Dose. »Egal, was ich haben werde, nichts wird jemals so gut schmecken wie das hier.«
Sonya sieht über Nicoles Schulter zu einer kleinen Gruppe, die gerade eingetroffen ist: Nicoles Mutter Winnie, eine rehäugige Frau aus Block 1, dazu Winnies Freundinnen Sylvia und Karen, die ihre Haare mithilfe von Getränkedosen zu Locken gedreht haben. Außerdem ein paar Leute aus Block 3, darunter auch jene, die zu alt sind, um noch unter das Gesetz zu fallen. Renee und Douglas, die vor zwei Jahren in diesem Innenhof geheiratet haben, und Kevin und Marie, die sich kürzlich verlobt haben. Marie trägt Kevins alten Absolventenring, der mit Wachs ausgegossen wurde, damit er an ihren rechten Finger passt.
»Das ist ein wunderschönes Kleid, Miss Kantor«, sagt Douglas zu ihr. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hat, waren seine Haare bereits dünn geworden, jetzt ist sein Kopf kahl rasiert, dafür hat er einen dichten Bart. »Hast du das von einer Witwe geklaut?«
»Nein.«
»War nur ein Scherz«, sagt er.
»Das ist mir klar.«
»Okay.« Douglas sieht Renee mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Humorloses Publikum.«
»Hast du das noch immer nicht begriffen? Poster Girl ist jetzt eine üble Spielverderberin«, sagt Marie. Sie kommt an den Tisch und steckt ihre Finger in die Dose mit den Pfirsichen. Auch sie trägt ein Kleid, genauer gesagt ein Oberteil und einen Rock, die an der Taille zusammengenäht sind. Auf ihrem Handgelenk ist das verschwommene Tattoo einer Sonne. »Block 4 ist der Ort, an dem der Spaß stirbt. Manchmal sogar wortwörtlich.«
»Marie«, sagt Kevin mit gedämpfter Stimme. »Hör auf …«
»Ja, echt schade, dass ich den ganzen Spaß in Block 3 verpasse«, sagt Sonya. »Dieser morgendliche Fitnessclub, den du ins Leben gerufen hast, scheint ja eine echte Wucht zu sein.«
Marie verzieht die Lippen, aber Renee lacht.
Nicole blickt auf und zeigt dann nach oben, wo ein Flugzeug über sie hinwegfliegt. Alle bleiben stehen, um es zu beobachten. Es ist ein so seltenes Ereignis, dass selbst diejenigen, denen es egal ist, ob sie die Apertur verlassen oder nicht, es unweigerlich zur Kenntnis nehmen. Es sind Beweise für andere Sektoren, andere Welten jenseits ihrer eigenen. Reisen zwischen den Sektoren waren unter der Herrschaft der Delegation so gut wie ausgeschlossen, und unter dem Triumvirat scheinen sie auch nicht viel häufiger vorzukommen.
»Gehst du morgen auf Patrouille?«, fragt Winnie Douglas. Ihre Augen sind dunkel vor Sorge. »Ich meine, deinen Namen auf der Freiwilligenliste gelesen zu haben.«
»Ich will die ganze Aufregung nicht verpassen«, antwortet Douglas.
»Hoffen wir, dass es keine Aufregung gibt«, erwidert Winnie. »Ich finde es nicht gut, dass ihr Jungs diese Verantwortung übernehmen müsst.«
»Nichteinmischungspolitik«, sagt Douglas achselzuckend. »Die Wachen sind hier, damit wir nicht abhauen, und nicht, damit wir schön brav sind.«
»Es scheint, als wollten sie, dass wir uns hier drin gegenseitig an die Gurgel gehen.«
»Besser so als die Alternative«, sagt Sonya ein wenig zu laut. Alle sehen sie an, und sie richtet sich auf. »Ich habe keine Lust, mir von denen vorschreiben zu lassen, was Wohlverhalten ist und was nicht. Ihr etwa?«
Einige in der Apertur setzen immer noch darauf, dass ihr altes Regime, die Delegation, der Maßstab des Guten ist. Andere machen sich überhaupt keine Gedanken über derartige Dinge. Aber alle teilen die unausgesprochene Überzeugung, dass man der Regierung außerhalb der Apertur, dem sogenannten Triumvirat, nicht trauen kann. Niemand, der so viele Menschen gefangen hält, der an der Hinrichtung so vieler Angehöriger beteiligt war, kann zu den Guten gehören. Schon zu Zeiten, als Sonya sich nicht um die Regeln der Delegation scherte, hat sie das Triumvirat gehasst – die vermeintlich Gerechten, die ihre Familie, ihre Freunde und Aaron getötet haben.
»Tja«, schnieft Winnie. »Das will keiner.«
Ein Windstoß fährt durch den Innenhof. Der Himmel verdunkelt sich, und die Lichter über ihnen blinken. Sonya nascht noch einen Pfirsich, fragt Sylvia nach ihrem kaputten Knie und erklärt Douglas, wie er seinen defekten Ventilator reparieren kann. Nicole wandert von einem zum anderen und berichtet von der neuen Identität, die die Regierung ihr zugewiesen hat, und von all den Dingen, die sie in ihrer ersten Woche draußen zu tun gedenkt. Sie wird nicht in der Nähe wohnen, sondern mit dem Zug nach Portland reisen und unter einem anderen Namen neu anfangen. Eine Flasche Milch kaufen und am Flussufer sitzen und sie bis auf den letzten Tropfen austrinken. Tanzen gehen. Die ganze Nacht herumlaufen, einfach so, nur weil sie es kann.
Irgendwann stupst Renee Sonya mit dem Ellbogen an. »Ein paar von uns gehen aufs Dach, um eine Zigarette zu rauchen. Kommst du mit?«
»Ich möchte heute früh ins Bett gehen«, sagt Sonya.
Renee zuckt mit den Schultern und schließt sich den anderen an. Sylvia und Karen verabschieden sich. Die Kerzen sind alle niedergebrannt. Nicoles Wangen glänzen vor Tränen. Sonya umarmt sie erneut.
»Ich kann nicht glauben, dass sie dich nicht rauslassen«, sagt Nicole, ihr Atem streicht heiß und heftig über Sonyas Ohr.
Sonya hält Nicole auf Armeslänge von sich und findet, dass dies eine gute Art ist, sich an sie zu erinnern: schummriges Licht, vom Wind zerzaustes Haar, feuchte Augen, wütend aus Sorge um eine Freundin.
»Ich werde dich vermissen«, sagt sie.
Nicole überlässt ihr den Pfirsichsirup, und Sonya nippt genüsslich daran, während sie langsam zurück zu Block 4 geht.
In der Nacht wird sie von einem scharfen, lauten Geräusch wach, das wie das Knallen einer Peitsche klingt. Sie schreckt im Bett hoch, und im Schein ihres Insights erkennt sie, dass der Koffer, den sie über den Türpfosten geklemmt hat – als eine Art improvisiertes »Schloss«, in Ermangelung von etwas anderem –, noch an seinem Platz ist.
Barfuß geht sie zum Fenster und zieht den Wandbehang zurück. Die Straße darunter ist leer. Der Wind weht eine Zeitung über den aufgesprungenen Gehweg. Die Metalljalousie verdeckt das Fenster des Eckladens wie ein gesenktes Augenlid.
Sie denkt an das Video, das ihr Vater ihr gezeigt hat, als sie noch ein Kind war, und das er von seinem Insight auf ihres übertragen hat. Aufnahmen von einer rauchverhangenen Straße, in der Kämpfe stattfanden. Achtlos geparkte Autos, umgestürzte Straßenlaternen. Und aus allen Richtungen das dunkle, scharfe Geräusch von Schüssen.
Er saß neben ihr auf der Couch, während sie es mit dem Implantat wieder und wieder abspielte. So war die Welt, erklärte er ihr, als es die Delegation noch nicht gab. Es kostete ihn zweihundert DesCoin, ihr das zu zeigen – Kinder sollten sich so etwas nicht ansehen. Aber das Opfer war es ihm wert, um ihre Fragen beantworten zu können.
Der zunehmende Mond steht hoch und ist fast voll. Ein weiterer Monat liegt hinter ihr. Die Zeit schreitet voran.
Sie schläft wieder ein.
Wenn jemand in der Apertur starb, war es anfangs wie bei den Bienen, die aus dem Bienenstock fliehen und Wachs und Honig zurücklassen – niemand rührte das an, was zurückblieb. Doch schon bald änderten sich die Regeln des Anstands, aus der schieren Not heraus. Wenn nun jemand stirbt, wimmelt es in dem Gebäude von Schatzsuchern, die sich an den Besitztümern vergreifen, bis nur noch die grauen Waben übrig sind. Jedes Mal, wenn Sonya ein neues Teil braucht, zieht sie den Gebäudeplan im südlichen Treppenhaus zurate, wo die leer stehenden Wohnungen mit einem roten X markiert sind, um zu entscheiden, in welcher Wohnung sie nach Überresten suchen soll.
Diese hier – Apartment 2C, die ehemalige Wohnung von Mr Nadir – riecht nach Küchenrauch und Katze. Es gibt keine Katzen in der Apertur, also muss es ein Geruch sein, den Mr Nadir hineingetragen hat. Sonya kennt die Wohnung. Ein paar Mal war sie hergekommen, um die Deckenlampen zu reparieren – die Verkabelung war schon immer fehlerhaft gewesen. Einmal kam sie zum Abendessen. Und ein anderes Mal, nachdem er gestorben war, kam sie, um seinen kleinen Kühlschrank zu holen und ihn dann ganz allein vier Stockwerke hochzuschleppen.
Sein Ofen ist kaputt, aber die Herdplatten, vier kalte Metallspulen, funktionieren noch. Sie nimmt eine heraus und steckt sie in ihre Umhängetasche, dann geht sie in sein Badezimmer. Niemand hat es nach seinem Tod geputzt, die eingetrockneten Zahnpastaspritzer im Waschbecken und die Fingerabdrücke auf dem Spiegel sind noch da. Sie beugt sich näher heran, um einen Fleck auf dem Spiegel zu betrachten – vielleicht ist es der Abdruck seines Daumens mit den Kringeln und Rillen, die ihn einzigartig machen.
Dann geht sie die Treppe hinunter in den Hof, um Charlotte zu treffen.
Heute trägt Charlotte nichts Kariertes, sondern braunes Leinen, das in der Taille gerafft ist. Der Himmel ist klar, die Luft hat noch etwas von der Wärme des Sommers bewahrt. Charlotte streicht ihren langen Zopf über die Schulter und lächelt Sonya an.
»Guten Morgen«, sagt sie. »Wie hast du geschlafen?«
»Guten Morgen«, sagt Sonya. »Hast du letzte Nacht das Geräusch gehört?«
»Ja, hab ich«, sagt Charlotte. Gemeinsam gehen sie in Richtung Tunnel. »Ich weiß nicht, aus welchem Grund sie um diese Jahreszeit Feuerwerkskörper zünden, aber man sollte doch meinen, dass sie genug Anstand haben, es nicht in der Nacht zu tun.«
»Für mich klang es nicht nach einem Feuerwerk«, sagt Sonya.
»Was hätte es denn sonst sein können?«
Sonya schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Irgendetwas anderes.«
»Wer weiß, was es da draußen jetzt so alles gibt«, sagt Charlotte.
Aus Gewohnheit sieht Sonya im Tunnel zu Davids Namen hoch. Es ist der vierte Name, den sie in der Apertur in Stein gemeißelt hat; die Namen ihrer Familie sieht sie nie, denn sie stehen in dem Tunnel, der zu Block 2 führt, wo sie früher gewohnt hat. August Kantor. Julia Kantor. Susanna Kantor. Alle tot und verschwunden.
»Graham war in der Leichenhalle der Delegation angestellt«, sagt Charlotte. »Er war dort der Manager – deine kleine Freundin Marie hat für ihn gearbeitet. Aber er war immer ein bisschen … seltsam. Schon, als wir noch Kinder waren.«
»Ihr beiden steht euch nicht sehr nahe?«, fragt Sonya.
»Nicht besonders«, sagt Charlotte. »Das hört sich bestimmt schrecklich an. Ich weiß, dass ich froh sein kann, ihn überhaupt noch zu haben.«
Manchmal fragt sich Sonya, wie es wohl wäre, ihre Schwester hier bei sich zu haben. Susanna war vier Jahre älter als Sonya und hatte ein Leben geführt, als gäbe es die kleine Schwester nicht – ein Einzelkind, das zufällig ein Geschwisterchen hat. Nicht unbedingt aus bösem Willen, eher aus Gedankenlosigkeit. Susanna brauchte niemanden. Von allen Eigenschaften, um die Sonya ihre Schwester beneidete, wünschte sie sich am meisten diese eine.
Als Sonya und Charlotte die Grüne Straße überqueren, schweift Sonyas Blick zum Eingang der Apertur. Das Tor hat dem Ort seinen Namen gegeben. Wenn es sich öffnet, gleiten ineinandergreifende Platten von einem zentralen Punkt zurück, und das erinnert an eine Pupille, die sich in der Dunkelheit weitet.
Genau vor dieser Pupille stehen Nicole und Winnie und umarmen sich. Nicoles Tasche liegt neben ihr auf dem Boden. Der Wachmann am Tor, ein stämmiger Mann in grauer Uniform, wartet nur wenige Schritte entfernt darauf, dass sich die beiden voneinander lösen.
Nicole wischt sich das Gesicht ab, nimmt ihre Tasche und winkt ihrer Mutter noch einmal zum Abschied. Dann geht sie durch die Mitte des Tors, und die Pupille zieht sich hinter ihr wieder zusammen. Winnie schlägt die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken.
Charlotte wirft Sonya einen Blick zu.
»Lassen wir ihr etwas Zeit für sich«, sagt sie, und Sonya wendet sich ab.
Sie hat drei Freundinnen durch das Tor gehen sehen: Ashley, Shona und Nicole. Ashley und Shona waren beide vierzehn Jahre alt, als sie eingesperrt wurden – gleich nach Gründung der Apertur und kurz nach dem Aufstand vor einem Jahrzehnt. Sie stammten aus Portland, daher war sie ihnen nie zuvor begegnet, und sie freundete sich erst mit ihnen an, als sie älter waren, alt genug, um aus den Apertur-Wohnungen ihrer Eltern in den Block 2 zu ziehen. Sonya weiß nicht, wie sie ihre ersten Jahre dort verbracht haben, sie hat nie gefragt. Man muss vorsichtig sein, welche Fragen man hier stellt. Jeder schleppt eine Vergangenheit mit sich herum, in der Tragödien ihre hässlichen Narben hinterlassen haben.
Jetzt kann Sonya eine weitere zu ihrer Liste hinzufügen: Sie ist die Jüngste, die noch in der Apertur lebt.
Sie und Charlotte betreten den Innenhof von Block 1. In all den Jahren, in denen Sonya nun schon hier wohnt, ist sie noch nicht oft in Block 1 gewesen. Die Bewohner von Block 3 leben in einem Zustand der Verleugnung, aber die Bewohner von Block 1 befinden sich in einem Zustand der Akzeptanz. Der Kapitulation. Es ist der Teil der Apertur, der am meisten einem Gefängnis ähnelt.
Sonya trampelt über wucherndes Unkraut, das unter ihren Füßen platt gedrückt wird, um zum Eingang zu gelangen. Die Tür quietscht, als Charlotte sie öffnet. Schweigend gehen sie in den dritten Stock, wo es im Flur nach Zigaretten riecht. Vor einer Tür stapeln sich Müllsäcke, vor einer anderen liegen zusammengefallene Kartons. Der Teppichboden ist an einer Seite ausgefranst und löst sich von den Fußleisten.
Charlotte klopft an Apartment 3B. Irgendwo schreit jemand. Jemand anderes hört wehmütige Gitarrenmusik.
Graham macht die Tür auf. Er ist ein unauffälliger Mann: kaum größer als Sonya, mit kurzen grauen Haaren, die seinen Scheitel wie ein Kranz umgeben, und einem verschleierten Blick. Die Haut an seinem Hals ist mit dem Alter weich und faltig geworden.
»Sonya Kantor!«, begrüßt er sie. »Es ist eine Weile her. Hallo, Charlotte. Kommt rein, kommt rein.«
Die Wohnung ist der reinste Schrottplatz. An den Wänden stehen Kisten mit Krimskrams: eine mit Türklinken und Griffen, eine andere mit kleinen Pappschachteln, eine dritte mit leeren Glasflaschen. Jede Woche legt er auf dem Markt eine Decke mit einer Auswahl ausrangierter Gegenstände aus, erinnert sich Sonya. Die Bewohner von Block 2 können froh sein, jemanden wie ihn zu haben, denn sie brauchen ständig leere Behältnisse. Für Schnaps natürlich.
»Wie ich sehe, muss ich euch nicht erst vorstellen«, sagt Charlotte.
»Ich kannte Sonyas Vater«, erklärt Graham ihr. »Erinnerst du dich nicht an August? Er war in meinem Jahrgang. Wir waren zusammen in der Schwimmmannschaft.«
»Ich fürchte, mein Gedächtnis reicht nicht so weit zurück«, sagt Charlotte.
»Er hat manchmal mit mir im Leichenschauhaus zu Mittag gegessen. Na ja, nicht direkt in der Leichenhalle. Dein Vater hatte schon immer einen schwachen Magen. Er hat sich die Nase zugehalten, wenn wir an den Müllcontainern hinter dem Markt vorbeigegangen sind – alle Jungs haben sich über ihn lustig gemacht, August Kantor, der Empfindliche …« Er reckt die Nase und kneift sie mit Daumen und Zeigefinger zusammen, um es ihr zu demonstrieren.
Sie lächelt.
»Er selbst hätte sich als anspruchsvoll bezeichnet«, sagt sie. »Aber das klingt ganz nach ihm.«
»Wie ist er verstorben? Wurde er hingerichtet?«, fragt Graham, und Sonyas Lächeln erlischt.
»Graham!« Charlotte gibt ihm einen Klaps auf den Arm. »Frag doch so was nicht.«
»Ich habe es nicht böse gemeint, ich wollte nur …«
»Nein, das wurde er nicht«, antwortet Sonya knapp. »Charlotte hat etwas von einem kaputten Herd gesagt?«
Graham führt sie in die Küche, und Charlotte folgt ihm mit roten Wangen. Er zeigt ihr nacheinander die defekten Heizplatten, deren Spulen dunkel und kalt bleiben, egal, wie sehr man an den Schaltknöpfen herumdreht. Sonya stellt ihre Tasche ab und geht zur Rückwand, wo sich hinter einer grauen Abdeckung der Sicherungskasten befindet. Sie sucht den Schalter für die Küche und legt ihn um.
»Woher weißt du, wie man das macht?«, fragt Graham. »Ein braves Delegationsmädchen wie du hat das nicht in der Schule gelernt, das weiß ich.«
»Sie wären überrascht, was man mit einem Handbuch und ein bisschen Ausprobieren alles lernen kann«, sagt Sonya.
»Sie ist jung«, sagt Charlotte. »Junge Leute sind immer gut darin, solche Dinge herauszufinden. Besonders in einem Gebäude voll alter Leute, wo keiner mehr weiß, wie man etwas macht.«
»Du bist nicht alt«, protestiert Sonya.
»Genau das habe ich ihr erklärt, als sie sich entschlossen hat, in Block 4 zu ziehen«, erwidert Graham. »Aber sie wollte sich nicht umstimmen lassen.«
»Ich bin vielleicht nicht alt, aber ich bin Witwe«, sagt Charlotte. »Ich fühle mich dort zu Hause. Genauso wie Sonya, nachdem …«
Sie räuspert sich.
»Nun«, sagt sie. »Wir in Block 4 wissen alle, was Verlust bedeutet.«
Sonya hört nur mit halbem Ohr zu. Das Auswechseln einer Heizspule ist nicht schwer – die alte wird herausgenommen und durch eine neue ersetzt. Sie hat es schon ein Dutzend Mal gemacht, aber sie mag immer noch das Gefühl, zu wissen, wo etwas hingehört, und sie mag es, diejenige zu sein, die etwas wieder in Ordnung bringt.
In ihrer Kindheit war sie in vielen Dingen nicht gut, zumindest nicht im Vergleich zu Susanna. Susanna war witzig, sie konnte tanzen, sie war musikalisch, und sie bekam gute Noten, ohne sich anstrengen zu müssen. Sonya war hübscher, und es hatte eine Zeit gegeben, in der das für sie alles war, was zählte. Aber Schönheit war in der Apertur nicht von Nutzen, daher hatte sie nach einem Ersatz gesucht. Sie kannte sich weder mit Verkabelungen aus noch mit anderen technischen Dingen oder Werkzeugen oder all dem anderen, was die Bewohner von Block 4 regelmäßig von ihr verlangten – aber sie war willig, und manchmal reichte das schon aus.
Es gefiel ihr, nützlich zu sein.
»Wen hast du verloren, Sonya?«, fragt Graham sie, als Charlotte im Badezimmer verschwindet. Er ist ein einsamer Mann. Und das war er schon immer, deshalb kreisen seine Gedanken um den Verlust. Denn man muss erst einmal etwas gehabt haben, um wirklich zu wissen, wie es ist, es zu verlieren.
Sonya schaltet den Strom ein und dreht dann am Herdknopf. Sie hält ihre Hand über die Platte, um zu spüren, wie sie sich erhitzt.
Sie weiß nicht, warum sie ihm antwortet. Sie hatte es nicht vor, bis sie es tat.
»Alle«, sagt sie zu ihm.
Sie schaltet den Herd wieder aus.
»Alles erledigt. Danke für die Geschichte über meinen Vater.«
»Gern geschehen«, sagt er.
An dem Tag, an dem sie alle verloren hat:
Sie sitzen am Tisch in der Hütte an ihren üblichen Plätzen: August an dem einen Ende, Julia am anderen, Susanna rechts neben ihrem Vater, Sonya links von ihm. August schenkt jedem von ihnen ein Glas Wasser ein. Julia summt, während sie die Pillen aus der Flasche kippt: eins, zwei, drei, vier.
Sonya rezitiert den Text in ihrem Kopf.
Achte du auf mich
So wie ich auf dich
Fünf, sechs, sieben, acht. Julia gibt eine Pille an Susanna, eine an August und eine an Sonya weiter und behält eine für sich.
Schritt für Schritt …
Kommen wir ans Ziel.
Die Pille leuchtet gelb in Sonyas ausgestreckter Hand.
Da ist ein Mann in ihrer Wohnung.
Sonyas Hand wandert zu dem Messer in ihrer Tasche. Sie weiß, wie es ist, unvorbereitet erwischt und mit den Folgen konfrontiert zu werden, wenn man allein unter Menschen ist, die nichts zu verlieren haben.
Aber in der Apertur gibt es keine Schlösser, sie kann nichts tun, um ihre kleine Wohnung zu sichern, wenn sie außer Haus ist. Was nicht allzu schlimm ist, denn es gibt hier nichts zu stehlen. Der Mann ist auch nicht gekommen, um etwas zu stehlen.
Er sitzt an ihrem kleinen Tisch, auf einem ihrer Klappstühle. Es ist ein richtiger Tisch, den die früheren Bewohner des Apartments nach dem Aufstand gegen die Delegation einfach zurückgelassen haben. Vorne ist ein Name eingeritzt: BABS, in kindlichen Großbuchstaben. Sonya hat sich eine Geschichte zu Babs ausgedacht – ein Mädchen, vielleicht elf Jahre alt und ein bisschen widerspenstig. Bei Tisch schlenkert es mit den Beinen und wird gescholten, weil es nie still sitzen kann. Aber es hat den Drang, etwas Dauerhaftes zu schaffen, und so ritzt es die Buchstaben mit dem Steakmesser ein, wenn die Eltern nicht hinsehen.
Sonya kennt den Mann. Sein Name ist Alexander Price. Er ist groß, seine Knie stoßen an die Unterseite des niedrigen Tischs. Seine Augen sind so dunkel, dass sie fast schwarz aussehen. Er hat einen Bart, gepflegt, aber nicht getrimmt und an einigen Stellen ungleichmäßig bis zum Hals hinunter.
»Raus«, sagt Sonya knapp.
Sie hält Grahams defekte Herdplatte wie einen Schutzschild vor sich.
»Das«, sagt der Mann, »ist nicht die Gastfreundschaft der Delegation, wie ich sie gewohnt bin.«
»Die ist für Gäste reserviert, und du bist ein Eindringling«, sagt sie. »Verschwinde.«
»Nein.«
»Du glaubst wohl, nur weil ich hier gefangen bin, kannst du reinschneien, wann immer du willst?« Sie legt die Herdplatte auf das kleine Quadrat ihrer Anrichte, auf dem sie immer ihr Essen zubereitet. Sein Blick wandert zu ihren geballten Händen und dann zu ihrem Gesicht. Er wirkt ungerührt.
Sie rechnet damit, den Lichtkreis um seine rechte Iris aufleuchten zu sehen. Aber da ist nichts.
Jeder, den sie vor dem Aufstand kannte – und bis auf wenige Ausnahmen auch danach –, hatte ein Insight. Wenn es nicht da ist, dann ist das wie ein fehlender Finger oder ein fehlendes Ohr; ohne das Irisimplantat sieht er irgendwie falsch aus. Oder unvollendet, als hätte jemand zu früh aufgehört, ihn zu zeichnen.
»Du hast dich kaum verändert«, sagt er. »Abgesehen von deinen Haaren. Ich bin überrascht, dass die alten Knacker hier dir erlaubt haben, sie so kurz zu schneiden. Mit diesem Haarschnitt würdest du dir keinen einzigen DesCoin verdienen.«
Sie geht zur Wohnungstür und reißt sie weit auf. Kühle Luft aus dem Flur weht herein. Ihre Nachbarin Irene ist nicht zu Hause, sie verbringt die meiste Zeit unten mit Mrs Pritchard und drei anderen Witwen, alles sehr ehrenwerte Damen. Aber Sonya will ihn wissen lassen, dass, falls sie schreien würde, ihre Stimme nicht von der Tür gedämpft wird.
Als sie sich wieder zu ihm umdreht, betrachtet er sie stirnrunzelnd. »Ich habe nicht vor, dir wehzutun. Würdest du mir ernsthaft zutrauen, dass ich mich an dir vergreife?«
»Ich traue dir jetzt vieles zu«, sagt sie.
Das ist der Mann, der den Aufständischen den Aufenthaltsort ihrer Familie verraten hat, als sie gemeinsam versuchten, aus der Stadt zu fliehen. Ohne ihn hätten sie vielleicht entkommen können. Ohne ihn hätten sie vielleicht überlebt. Sie ist nicht bereit, mit diesem Wiedersehen auch den Schmerz erneut zu durchleben.
Sie schweigt, weil sie nicht weiß, was aus ihrem Mund kommen würde, wenn sie ihn aufmacht.
»Tja«, sagt er, als sich die Stille zwischen ihnen immer mehr verfestigt. »Dann komme ich einfach mal zur Sache.«
Er holt etwas aus seiner Tasche. Es ist ein Gerät, rechteckig, genau die richtige Form für eine Handfläche. Ein Elicit. Sie erkennt es, nicht weil sie Erfahrung damit hat, sondern aus den Lektionen über die Entwicklung des Insights – es ist eine veraltete Technologie und in gewisser Weise der Vorgänger des Irisimplantats. Wie das Insight wurde auch das Elicit als eine Art ständiger Begleiter entwickelt; es dient dazu, die Realität zu erweitern, mit einem Netzwerk zu kommunizieren und Verhaltensweisen zu bewerten.
Das ganze System kommt ihr ziemlich unpraktisch vor – warum sollte man etwas mit sich herumtragen, wenn man es stattdessen im Kopf haben kann? Wenn man ohnehin die ganze Zeit damit verbringt, etwas in der Hand zu halten, darauf zu achten und seine Wärme zu spüren, kann es genauso gut Teil des eigenen Körpers sein, integriert wie das eigene Auge.
Er hält das Elicit achtlos an der rechten unteren Ecke fest, wie einen x-beliebigen Gegenstand. Auch wenn sie nicht weiß, wie man das Gerät benutzt, so weiß sie doch, dass es wertvoll ist; wenn sie es ihm wegnehmen würde, könnte sie es gegen alles eintauschen, was die Apertur zu bieten hat, allein schon, weil es so selten ist.
Aber die Apertur hat nichts zu bieten.
Das Elicit leuchtet auf, und die Reflexion in seinen Augen erweckt den Eindruck, als hätte er doch einen Iriskranz. In diesem Moment sieht er fast so aus wie früher, brav, ordentlich, mit einem zurückhaltenden Lächeln. Alexander, der ältere Bruder, der sich stets im Kielwasser des jüngeren befand.
Als Teenager hatten Sonya und sein kleiner Bruder Aaron sich verlobt. Sie waren das perfekte Paar für die Delegation, mit der perfekten Zukunft. Doch dann war Aaron bei dem Aufstand auf der Straße getötet worden, zusammen mit Hunderten anderen.
Alexander hält ihr das Gerät hin und deutet auf das Display. Dort ist ein Artikel zu lesen, den sie kennt. Zu Zeiten der Delegation gab es nur eine Nachrichtenquelle, die bei Bedarf Informationen an alle Insights sandte; man konnte sie lesen, indem man im Zug einfach aus dem Fenster blickte. Seit dem Sturz der Delegation scheinen Zeitungen wieder modern zu sein – es gibt ein halbes Dutzend von ihnen, die miteinander konkurrieren, und jede liefert eine andere Interpretation derselben Fakten. Alexander hat den Chronicle aufgerufen, das erkennt sie an dem kunstvollen C am oberen Rand, und diese spezielle Ausgabe hat schon vor Monaten in der Apertur die Runde gemacht. KINDERDERDELEGATION, so steht es in fetten schwarzen Buchstaben über dem Artikel. Und darunter der Name der Verfasserin, Rose Parker.
»Ich kenne ihn«, sagt Sonya. »Und?«
»Du kennst ihn?« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Ich nehme an, Rose hat einige Exemplare hereingeschmuggelt. Damit ihre großartige Arbeit nur ja genug Beachtung findet.«
Er legt das Elicit auf den Tisch, wo der Bildschirm weiter leuchtet.
»Dann weißt du also, dass wir diesem Artikel das Gesetz über die Kinder der Delegation zu verdanken haben? Jeder, der als Kind in die Apertur verbracht wurde, um für die Verbrechen seiner Familie zur Rechenschaft gezogen zu werden, hat nun das Recht auf Freilassung. Menschen wie du.« Er legt den Kopf schief. »Na ja, nicht ganz so wie du. Du warst schon etwas älter, nicht wahr?«
»Wie interessant, dass du jetzt so tust, als wüsstest du es nicht«, erwidert sie.
Schließlich waren sie und Aaron im gleichen Alter gewesen.
Alexander verzieht den Mund.
»Wie du vielleicht bemerkt hast, sind viele Jüngere bereits entlassen worden. Sie haben neue Identitäten erhalten und die Chance, ein lebenswertes Leben zu führen, statt …« Er macht eine abschätzige Handbewegung. »Das hier.«
Sie sieht ihre heruntergekommene, winzig kleine Wohnung zum ersten Mal mit fremden Augen. Das Bett mit den geflickten Laken, die ausgefranste Decke. Die zerkratzte Bratpfanne, die neben dem Waschbecken auf einem zerlumpten, fleckigen Handtuch trocknet. All die Dinge, mit denen sie den Raum dekoriert hat: Pflanzen, die auf der Fensterbank über der Spüle in Blechdosen wachsen; die Muster, die sie mit schwarzer Farbe auf den Wandbehang gemalt hat, der ihr Wohnzimmerfenster bedeckt und sie vor neugierigen Blicken abschirmt; die kleinen Lampen mit den schummrigen Glühbirnen, die sie auf einer Kiste neben dem Bett arrangiert hat. Aber Alexander weiß noch sehr gut, wo sie früher gewohnt hat.
Fick dich, denkt sie, einer von vielen Ausdrücken, die sie noch nie laut ausgesprochen hat – früher, weil es sie DesCoin gekostet hätte, und jetzt, weil es ein Zeichen dafür wäre, dass sie einen Rückschritt macht und wieder zu dem Mädchen wird, das sich dem Kummer hingibt und den Geschmack von Schwarzgebranntem kennt. Aber sie denkt es trotzdem: Fick dich, ich hasse dich, ich hoffe, du erstickst und stirbst …
Alexander scheint auf eine Reaktion zu warten. Als diese ausbleibt, fährt er fort: »Du warst ein einzigartiger Problemfall. Nicht jung genug, um bedenkenlos entlassen zu werden, aber auch nicht alt genug, um einfach in Vergessenheit zu geraten.«
»Ist es das, was ihr hier mit uns macht? Uns vergessen?«
»Größtenteils, ja. Und du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Erleichterung das ist.«
»Tja, wenn du glaubst, dass ich auch nur einen einzigen Gedanken an dich verschwendet habe«, sagt sie, »dann irrst du dich.«
»Ich bin untröstlich.« Er greift in seine Tasche und holt ein doppelt gefaltetes Stück Papier heraus. »Wie ich schon sagte. Wir möchten dir einen Vorschlag unterbreiten …«
»Wir?«
»Wir geben dir die Möglichkeit, einen Fehler der Delegation zu korrigieren. Wenn du Erfolg hast, winkt dir die Freiheit. Wenn du versagst, wirst du hier drin verrotten.«
Bei dem Wort verrotten zuckt sie zusammen. So hatte David gegen Ende über sich gesprochen – als wäre er ein verdorbenes Stück Fleisch, das jemand an der Theke liegen gelassen hat. Ihr waren nie die richtigen Worte eingefallen, um ihm zu widersprechen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm überhaupt hätte widersprechen wollen.
»Ich bin keine Ameise, die man mit einem Vergrößerungsglas röstet«, sagt sie. »Ich werde nicht zu deinem Vergnügen herumzappeln.«
Er zögert, den Zettel immer noch halb gefaltet. »Willst du denn gar nicht hören, was wir von dir wollen?«
Sie klammert sich so fest an die Kante der Anrichte, dass ihre Finger taub werden.
»Nein«, sagt sie. »Raus hier.«
Alexander steckt sein Elicit zurück in die Tasche und steht auf. Obwohl zwischen ihnen so viel Platz ist wie nur möglich, ist er ihr dennoch viel zu nah.
»Ganz, wie du willst«, sagt er. »Vorerst. Aber ich werde in ein paar Tagen wieder da sein. Hoffentlich bist du bis dahin zur Vernunft gekommen.«
Die drei Vertreter des Triumvirats besuchen die Apertur einmal im Jahr, begleitet von einer kleinen Heerschar von Journalisten und Friedenspolizisten. Der erklärte Zweck ihres Besuchs ist ein Treffen mit den Sprechern der Apertur – jeder Wohnblock entsendet zwei –, aber Sonya weiß es besser. Das Triumvirat ist hier, um zu beweisen, dass die Bewohner nicht in Vergessenheit geraten sind. Die drei wollen ein Zeichen der Barmherzigkeit setzen – und die Öffentlichkeit zugleich beruhigen, dass die bevorzugten Söhne und Töchter der Delegation immer noch sicher weggesperrt sind.
David meinte stets, dass die Besucher der Apertur ihm das Gefühl gäben, ein Tier im Zoo zu sein. Vor seinem Tod verbrachten er und Sonya die Besuchstage damit, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Manchmal legten sie alte Propagandalieder auf und sangen aus voller Kehle mit, in der Hoffnung, dass das Triumvirat sie durch die Wände hören würde. Meistens aber schliefen sie einfach mitten am Nachmittag in Davids Bett ein.
Diesmal stöbert eine aufgeregte Mrs Pritchard Sonya kurz vor der Ankunft des Triumvirats auf und bittet sie, die defekten Glühbirnen im Wartungsflur auszuwechseln. Die Vertreter werden das Erdgeschoss besichtigen, und wie Mrs Pritchard sagt: »Wir wollen doch nicht, dass sie den Eindruck gewinnen, wir würden uns um nichts kümmern.« Mrs Pritchard fällt von einer Verlegenheit in die nächste, weil sie angeblich von einer Norm abweicht, die nur sie selbst befolgt. Es ist einfacher, zu tun, was sie sagt, als mit ihr zu streiten.
Sonya trägt eine Trittleiter und eine Tasche mit Glühbirnen in den Wartungsflur. Eine nach der anderen schraubt sie die dunkel gewordenen Glühbirnen aus ihren Fassungen und ersetzt sie, dann trägt sie die Leiter ein paar Schritte weiter, um das Ganze zu wiederholen. Sie hat das Ende des Flurs erreicht, als sich die Tür auf der anderen Seite öffnet und die Repräsentanten des Triumvirats erscheinen.
Sonya sind ihre Gesichter fremd, aber so, wie sie gekleidet sind, können sie niemand anderes sein. Eine von ihnen trägt ein knielanges rotes Kleid, ihr Haar ist glatt und fast so kurz wie das von Sonya. Die zweite schwebt in einem blauen Hosenanzug heran, an den Fingern glitzern grüne Steine. Es sind Petra Novak und Amy Archer, auch wenn Sonya nicht sagen kann, wer von beiden wer ist.
Der Dritte, ein großer Mann in einem taubengrauen Anzug, ist Sonya hingegen bekannt. Sein Name ist Easton Turner. Er wurde irgendwann in den letzten Jahren gewählt. David hat davon im Radio gehört.
»Meine Güte«, sagt er. »Wenn das keine Überraschung ist.«
Sonya schraubt die letzte Glühbirne ein und steigt von der Leiter. Nikhil und Mrs Pritchard folgen den dreien auf dem Fuß, und ein paar Schritte dahinter versammeln sich die Journalisten mit ausgestreckten Mikrofonen und erhobenen Elicits, vermutlich, um Videoaufnahmen zu machen. Sonya richtet sich auf. Sie wünschte, sie hätte etwas Ordentlicheres an als eine weite Hose und ein altes T-Shirt mit ausgefranstem Saum. Sie wünschte, sie sähe nicht so sehr wie das junge Mädchen aus, an das sich alle erinnern.
Easton sagt: »Erkennst du sie nicht, Petra? Sie ist das Mädchen von den Propagandapostern.«
»Sieh einer an«, sagt die Frau im roten Kleid. Ihre Fingernägel sind lang und extrem spitz und scharf gefeilt. »Das ist sie also. Wie heißt du?«
»Kantor«, sagt Sonya. »Sonya.«
»Ich hatte vergessen, dass du hier bist, Sonya«, sagt Easton. Er sieht auf eine Art gut aus, die vermuten lässt, dass er in seiner Jugend sehr weiche, kindliche Gesichtszüge hatte, die erst im Lauf der Zeit Konturen angenommen haben. Sein grau meliertes Haar ist sehr dicht, aber kurz geschnitten und im Nacken gestutzt.
»Und warum bist du hier?«, fragt die Frau im blauen Hosenanzug. Amy Archer klingt wie eine Security-Frau, die einen Eindringling erwischt hat. »Hat das Gesetz über die Kinder der Delegation denn nicht zu deiner Freilassung geführt?«
»Nein«, antwortet Sonya. »Ich liege knapp über der Altersgrenze.«
»Aber wir haben doch eine Sondergenehmigung erteilt, nicht wahr?«, fragt Easton. Er tippt sich an die Nase und zeigt auf Sonya. »Ja, ja. Eine Ausnahmeregelung, wenn du für uns eine spezielle Aufgabe erfüllst.«
»Davon habe ich gehört«, sagt Sonya.
Petra lächelt.
»Ach, hast du das?« Sie lacht. »Und?«
»Und«, sagt Sonya und schultert ihre Tasche mit den Glühbirnen, »ich war mir nicht sicher, was ich davon halten soll.«
»Wie darf ich das verstehen?«, fragt Petra.
»Ich habe es jedenfalls so verstanden, dass kein Zwang besteht«, sagt Sonya. »Dass es allein meine Entscheidung ist.«
»Natürlich«, erwidert Amy Archer. »Wir sind davon ausgegangen, dass du dir diese Chance nicht entgehen lassen würdest.«
»Es sei denn, du bist …« Petras Blick fällt auf Sonyas Tasche mit den Glühbirnen. »Zufrieden mit deiner derzeitigen Situation.«
Sonya presst ihren Kiefer so fest zusammen, dass die Zähne knirschen.
»Nun«, sagt Easton. »Ich hoffe, du triffst die richtige Entscheidung.«
Petra grinst Easton an. »Ja, denn was Recht ist, ist richtig.«
Alle – Easton, Petra, Amy, die Journalisten und Sicherheitsleute, ja sogar Mrs Pritchard – lachen.
Sonya sucht nach einer Antwort und findet nur Leere. Sie geht mit ihrer Leiter einen Schritt zur Seite, und als der Pulk an ihr vorbeizieht, drückt Nikhil ihr im Vorbeigehen die Schulter. Die Journalisten halten ihre Elicits direkt vor Sonyas Nase. Unter ihnen ist auch Rose Parker, die den Artikel über die Kinder der Delegation geschrieben hat.
Als alle weg sind, herrscht wieder Stille im Flur, nur Sonyas schnelle Atemzüge sind noch zu hören.
Abends geht sie zum Essen in Nikhils Wohnung. Nikhil steht in Bademantel und Hausschuhen da und hält eine Tasse Tee in der Hand. Mary Pritchard baut in ihrer Wohnung Kamille an und trocknet sie auf der Küchentheke. Er muss Tomaten gegen den Tee getauscht haben, oder grüne Bohnen.