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Eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (K-PTBS) ist weder angeboren noch charakterbedingt. Von dieser grundlegenden These ausgehend, hat der Autor und Therapeut Pete Walker seinen einzigartigen multimodalen Ansatz zur (Selbst-)Hilfe entwickelt, der ihn international bekannt machte. Geschrieben aus der Sicht eines Betroffenen und eines zugleich hoch spezialisierten Therapeuten, vereinigt Walker in diesem Buch Authentizität und fachliche Kompetenz zu einem eigenständigen methodischen Konzept, das unzähligen Betroffenen bereits neue Lebensqualität geschenkt hat. Zu den häufigsten Traumafolgestörungen zählen emotionale Flashbacks, toxische Scham, Selbstaufgabe, soziale Ängste und andere belastende Symptome. Die wichtigsten Faktoren zu deren Überwindung sieht Walker in der Stärkung eigener Ressourcen zur Selbsthilfe und in gelingenden Beziehungen. Das können Beziehungen zu Freunden, Partnern, Lehrern, Therapeuten, Therapiegruppen oder beliebige Kombinationen daraus sein. Walker nennt das gemeinschaftliches Reparenting. Mit seinem lösungs- und übungsorientierten Aufbau, zahlreichen Fallbeispielen sowie einer klaren, und präzisen Sprache ist Walkers Arbeits- und Praxisbuch sowohl für Therapeuten wie für Betroffene ein unentbehrlicher Begleiter auf dem Weg aus dem Trauma. „Pete Walkers Arbeit zu komplexen PTBS ist eines dieser Modelle, auf das sowohl Klienten als auch Praktiker sich gut verständigen können! Es ist ein wirklich kooperativer Ansatz. Wenn ich dieses Framework in Workshops verwende, finden es Teilnehmer immer hilfreich. Das Konzept ist für Behandler und Klienten leicht nachvollziehbar. Anwender gehen in Resonanz mit den praktischen Anleitungen, die Walker zur Normalisierung und Bewältigung von emotionalen Flashbacks anbietet, die die Lebensqualität beeinträchtigen.“ – Dr. Claudia J. Dewane, Associate Prof., Temple University
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Seitenzahl: 485
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Pete Walker
Posttraumatische Belastungsstörung
Vom Überleben zu neuem Leben
Ein praktischer Ratgeber zur Überwindung von Kindheitstraumata
Leserstimmen zu seinem ersten Buch „The Tao of Fully Feeling“ und zu seiner Websitewww.pete-walker.com
Als ich Ihren Artikel las, war es, als würden sich die Wolken verziehen und die Sonne herauskommen. Ich bin nicht verrückt, ich bin nicht dumm, ich bin nicht für immer kaputt. Ich habe einfach nur emotionale Flashbacks, und das ist nicht meine Schuld.
– M. L.
Sie sind ein Geschenk für mich und Tausende andere, die wie ich gelitten haben und die auf der Suche nach ihrer Wut (sie kommt jetzt!), ihrem Selbstschutz, ihrer Trauer und ihrem Wachstum sind. Ich baue mich wieder auf, »beeltere« mich neu.
– L. K. Großbritannien
Ich habe gerade Ihr Buch beendet. Es ist kraftvoll und sanft. Jetzt werde ich es noch einmal lesen und dabei einen Markierstift benutzen. Mit Ihren Worten laden Sie den Leser in eine warme therapeutische Beziehung ein. Ein wunderschönes Buch! Danke.
– A. R.
Ich glaube, es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Ihre Arbeit mir das Leben gerettet hat und das meines Verlobten gleich dazu. Wir haben beide eine Komplexe PTBS und hatten beide unser Leben schon so gut wie abgeschrieben. Ihre Texte haben uns verstehen lassen, was mit uns los ist. Das hat mir wirklich die Augen geöffnet.
– M. M.
Pete Walker
Posttraumatische Belastungsstörung – Vom Überleben zu neuem Leben
Ein praktischer Ratgeber zur Überwindung von Kindheitstraumata
1. deutsche Ausgabe 2019
ISBN 978-3-96257-092-7
© 2019, Narayana Verlag GmbH
Titel der Originalausgabe:
Complex Ptsd: From Surviving to Thriving
A Guide and Map for Recovering from Childhood Trauma
© 2014, Pete Walker
Übersetzung aus dem Englischen: Angela Nowicki
Coverlayout: Nicole Laka, www.nima-typografik.de
Coverabbildung: © mixform design – shutterstock.com
Herausgeber:
Unimedica im Narayana Verlag GmbH,
Blumenplatz 2, D-79400 Kandern
Tel.: +49 7626 974 970-0
E-Mail: [email protected]
www.unimedica.de
Erkenntnisse in der Medizin unterliegen einem laufenden Wandel durch Forschung und klinische Erfahrungen. Autor und Übersetzer dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben (insbesondere hinsichtlich Indikation, Dosierung und unerwünschten Wirkungen) dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Werkes jedoch nicht von der Verpflichtung, anhand einschlägiger Fachliteratur und weiterer schriftlicher Informationsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Werk abweichen und seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen.
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Die Empfehlungen dieses Buches wurden von Autor und Verlag nach bestem Wissen erarbeitet und überprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.
Meiner Frau, Sara WeinbergMeinem Sohn, Jaden Michael Walker
Ihr beide zeigt mir täglich, dass ich meinem elterlichenErbe der Missachtung entkommen bin, dass ich in der Lagebin, unserer Familie Liebe und Freundlichkeit zu schenken und dassich fortlaufend durch die Liebe und Freundlichkeit geheilt werde, mitder ihr mich so großzügig überhäuft.
Außerdem widme ichdieses Buch allen, die am Esstisch regelmäßig verbal und emotionalmisshandelt wurden, und ich bete, dass dieses Buch dabei helfenmag, alle Schäden zu heilen, die Ihnen und Ihrer Beziehungzum Essen angetan wurden.
Einführung
TEIL I: EIN ÜBERBLICK ÜBER DEN HEILUNGSWEG
Kapitel 1 – Der Weg zur Heilung einer K-PTBS
Definition der Komplexen PTBS
Beispiel für einen emotionalen Flashback
Toxische Scham: Die Fassade des emotionalen Flashbacks
Liste der häufigsten Symptome einer K-PTBS
Suizidgedanken
Geläufige Fehldiagnosen
Die Entstehung einer K-PTBS
Mehr über Traumata
Die vier Überlebensstrategien
Die vier Überlebensstrategien in einer traumatisierenden Familie
Pathologische Geschwisterrivalität durch erzieherisches Versagen
Kapitel 2 – Ebenen der Heilung
Die wichtigsten Entwicklungshemmungen in der K-PTBS
Kognitive Heilung
Die Entkräftung des Kritikers
Das entwicklungsgehemmte gesunde Ego
Psychoedukation und kognitive Heilung
Achtsamkeit
Emotionale Heilung
Heilung der Gefühlswelt
Emotionale Intelligenz
Toxische Scham und Seelenmord
Trauern als emotionale Intelligenz
Trauern und verbale Entlastung
Spirituelle Heilung
Linderung der Verlassenheit durch ein höheres Zugehörigkeitsgefühl
Dankbarkeit und eine ausreichend gute Erziehung
Körperliche Heilung
Körperliche Selbsthilfe
K-PTBS und Körpertherapie
Die Rolle der Medikamente
Selbstbehandlung
Essstörungen
Kapitel 3 – Beziehungsheilung
Vorwarnung:
K-PTBS als Bindungsunfähigkeit
Der Ursprung der sozialen Ängste
Ein Weg zur Beziehungsheilung
Heilung der einsam machenden Scham
Wie findet man ausreichend gute Beziehungshilfe?
»Elternektomie« und Beziehungsheilung
Umgang mit Beziehungskonflikten
Reparenting
Selbstbemutterung und Selbstbevaterung
Selbstbemutterung baut Selbstmitgefühl auf
Die Grenzen bedingungsloser Liebe
Die Arbeit mit dem inneren Kind
Reparenting-Affirmationen
Selbstbevaterung und die »Rettungsaktion Zeitmaschine«
Gemeinschaftliches Reparenting
Das Tao der Selbst- und Fremdbeziehung
Kapitel 4 – Stadien der Heilung
Anzeichen der Heilung
Phasen der Heilung
Die Rolle der Geduld
Überleben kontra Gedeihen
Anzeichen der Heilung erkennen
Heilung als lebenslanger Prozess
Therapeutische Flashbacks und zunehmende Schmerzen
Optimaler Stress
Die Lichtblicke
»Ein Leben ohne Selbsterforschung verdient es nicht, gelebt zu werden«
Der Gefühlsimperialismus des »Don’t Worry, Be Happy«
Hier zwei aufschlussreiche Referenzen zu diesem Thema:
TEIL II: DIE FEINHEITEN DER HEILUNG
Kapitel 5 – Und wenn ich nie geschlagen wurde?
Verleugnung und Minimierung
Verbaler und emotionaler Missbrauch
Die theoretische Neurobiologie des Kritikers
Emotionale Vernachlässigung: Die Kernwunde in der Komplexen PTBS
Die Gedeihstörung
Emotionaler Hunger und Sucht
Die evolutionäre Basis des Bindungsbedürfnisses
Verlassenheit lähmt emotionale Intelligenz und Beziehungsintelligenz
De-Minimierung der emotionalen Verlassenheit
Verletzlichkeit zeigen
Die Macht der Erzählung
Kapitel 6 – Welcher Trauma-Typ sind Sie?
Der gesunde Einsatz der Überlebensstrategien
Positive Eigenschaften der Überlebensstrategien
Nachteilige Eigenschaften der Überlebensstrategien
K-Ptbs Als Bindungsunfähigkeit
Entstellungen der Bindungs- und Absicherungsinstinkte der Überlebensstrategien
Der Kampftyp und die narzisstische Abwehr
Der charmante Tyrann
Andere Arten von Narzissten
Die Heilung der fixierten Kampfreaktion
Der Fluchttyp und die zwanghafte Abwehr
Linkshirndissoziation
Die Heilung der fixierten Fluchtreaktion
Der Erstarrungstyp und die dissoziative Abwehr
Rechtshirndissoziation
Die Heilung der fixierten Erstarrungsreaktion
Der Unterwerfungstyp und die co-abhängige Abwehr
Die Heilung der fixierten Unterwerfungsreaktion
Trauma-Mischtypen
Der Kampf-Unterwerfungstyp
Der Flucht-Erstarrungstyp
Der Kampf-Erstarrungstyp
Selbsteinschätzung
Kontinuen positiver und negativer Überlebensstrategien
Heilung und Selbsteinschätzung
Kampf – – Unterwerfung: Das Kontinuum gesunder Fremdbeziehungen
Flucht – – Erstarrung: Das Kontinuum gesunder Selbstbeziehungen
Kapitel 7 – Die Heilung der traumabasierten Co-Abhängigkeit
Die Ursprünge der Unterwerfung im Vergleich mit den Ursprüngen der anderen Überlebebensstrategien
Eine Definition der traumabasierten Co-Abhängigkeit
Co-abhängige Subtypen
Der Unterwerfungs-Erstarrungs-Typ: Der Sündenbock
Der Unterwerfungs-Flucht-Typ: Die Oberschwester
Der Unterwerfungs-Kampf-Typ: Die Übermutter
Weiteres zur Heilung der fixierten Unterwerfungsreaktion
Sich der Angst vor Selbstoffenbarung stellen
Co-Abhängigkeit mit Trauer auflösen
Fortgeschrittene Heilung
»Ich habe kein Problem damit, anderen zu missfallen.«
Kapitel 8 – Der Umgang mit emotionalen Flashbacks
13 Schritte für das Management emotionaler Flashbacks
Trigger und emotionale Flashbacks
»Der Blick«: ein häufiger Trigger emotionaler Flashbacks
Innere und äußere Trigger
Fortschreitende Triggererkennung
Anzeichen eines Flashbacks
Weitere Gedanken zur Selbstbehandlung
Flashbacks in der Therapie
Auflösung eines Flashbacks durch Trauern (Schritt 9)
Der Umgang mit dem inneren Kritiker (Schritt 8)
Fortgeschrittenes Flashback-Management
Aufwachen mit einer Verlassenheitsdepression
Flashbacks als Hilferuf des inneren Kindes
Flexibler Einsatz der Schritte für das Flashback-Management
Existenzielle Trigger
Fortgeschrittene Heilung
Hilfe für Kinder beim Management emotionaler Flashbacks
Kapitel 9 – Die Entkräftung des inneren Kritikers
Der Ursprung des Kritikers in der K-PTBS
Die 14 häufigsten Angriffsmethoden des inneren Kritikers
Perfektionismusprogramme
Gefährdungsprogramme
Durch den Kritiker ausgelöste Flashbacks
Gedanken als Trigger
Der Kritiker als Internalisierung demütigender Eltern
Die Hartnäckigkeit des Kritikers
Perfektionismus und emotionale Vernachlässigung
Weitere Gedanken zur Gefährdung
Wut als Gedankenstopp gegen den Kritiker
Scham als ungerechtfertigtes Schuldgefühl
Den Kritiker annehmen
Gedankensubstitution und Gedankenkorrektur
Substitution und Korrektur der Sichtweise
Substitution der Sichtweise und Dankbarkeit
Die neuronale Plastizität des Gehirns
Kapitel 10 – Die Entkräftung des äußeren Kritikers
Der äußere Kritiker als Beziehungsfeind
Die vier Überlebensstrategien und ihre Kritiker
Passiv-aggressives Verhalten und der äußere Kritiker
Dem Kritiker das Mitspracherecht verweigern
Vom äußeren Kritiker dominierte Flashbacks
Die Darstellung des äußeren Kritikers in den Medien
Der Kritiker als Produzent zweitklassiger Filme
Nachrichtensendungen als Trigger
Intimität und der äußere Kritiker
Die ausweglose Situation
Abschreckung anderer
Der Wechsel zwischen äußerem und innerem Kritiker
Ein Fallbeispiel für den Kritikerwechsel
Der Kritiker als Richter, Schöffe und Henker
Schuldzuweisungen
Achtsamkeit und die Entkräftung des äußeren Kritikers
Wenn Achtsamkeit den Kritiker zu stärken scheint
Gedankensubstitution und -korrektur: die Ausmerzung des Kritikers
Trauer schaltet den äußeren Kritiker aus
Aushungern des äußeren Kritikers durch Abbau der Übertragung
Dem äußeren Kritiker auf gesunde Weise Luft machen
Aggressivität im Straßenverkehr, Übertragung und der äußere Kritiker
Kapitel 11 – Trauerarbeit
Trauern vertieft Einsicht und Verständnis
Den Mangel an elterlicher Fürsorge betrauern
Trauern lindert Flashbacks
Wenn der innere Kritiker das Trauern behindert
Aushungern des Kritikers durch Trauern
Die vier Trauertechniken
1. Wut: verringert Angst und Scham
Wut verhilft zum Abbau des Wiederholungszwangs
2. Weinen: der ultimative Trost
Weinen und Selbstmitgefühl
Wütendes Weinen
3. Verbale Entlastung: der goldene Pfad zur Intimität
Die theoretische Neurowissenschaft der verbalen Entlastung
Gleichzeitig denken und fühlen
Verbale Entlastung im »stillen Kämmerchen«
Dissoziation als Feind der verbalen Entlastung
Die Linkshirndissoziation
Verbale Entlastung heilt Verlassenheit
Verbale Entlastung und Intimität
4. Fühlen: die passive Trauerarbeit
Fühlen als Heilmittel gegen Verdauungsstörungen
Die Beziehung zwischen Gefühlen und Körper
Die Ausgewogenheit zwischen Fühlen und emotionalem Ausdruck
Fühlen lernen
Eine Übung im Fühlen
Techniken des Trauerns
Kapitel 12 – Die Landkarte: Die Bewältigung der Verlassenheitsdepression
Die Reaktionszyklen
Die Schichten der Dissoziation im Reaktionszyklus
Im Stich gelassen zu werden, erzeugt Selbstaufgabe
Abbau der Selbstaufgabe
Depressives Denken und depressives Fühlen
Achtsamkeit verarbeitet Depressionen
Körperliche Achtsamkeit
Therapeutisches Triggern schmerzhafter Erinnerungen durch Körperwahrnehmung
Introspektive Körperarbeit
Sich durch eine Depression hindurchfühlen
Hunger als getarnte Depression
Pseudo-Zyklothymie
Unvermeidbares und vermeidbares Leiden
Heilung ist ein fortschreitender Prozess
Ein »Schweizer Taschenmesser« für den Flashback
Kapitel 13 – Die Rolle von Beziehungen bei der Heilung der Verlassenheit
Die zwischenmenschliche Dimension der Psychotherapie
Beziehungsheilung in der komplexen PTBS
1. Empathie
2. Authentische Verletzlichkeit
Therapeutische Offenbarung von Gefühlen
Richtlinien für die Selbstoffenbarung
Emotionale Selbstoffenbarung und eigene traumatische Erinnerungen
3. Dialogfähigkeit
Die Befriedigung gesunder narzisstischer Bedürfnisse
Psychoedukation als Teil der Dialogfähigkeit
Dialogfähigkeit bei den vier Überlebensstrategien
4. Gemeinschaftliche Beziehungskorrektur
Von der Verlassenheit zur Intimität: eine Fallstudie
Die verdiente sichere Bindung
Rettung vor dem Kritiker
Wie findet man einen Therapeuten?
Wie findet man eine Selbsthilfegruppe?
Co-Counselling
Kapitel 14 – Vergebung: Beginnen Sie bei sich selbst
Kapitel 15 – Bibliotherapie und die Büchergemeinschaft
Kapitel 16 – Werkzeuge für die Selbsthilfe
Zusammenfassung
Werkzeugkasten 1: Empfohlene Motivationen für die Heilung
Werkzeugkasten 2: Die Charta der Menschenrechte (Regeln für Fairness und Intimität)
Werkzeugkasten 3: Empfohlene Reaktionen auf übliche Angriffe des Kritikers
Perfektionismusprogramme
Gefährdungsprogramme
Werkzeugkasten 4: Werkzeuge zur liebevollen Konfliktlösung
ad 15) Pausen
ad 18) und 19) Übertragung
Werkzeugkasten 5: 12x12 Gründe ...
... sich selbst dankbar zu sein
... anderen dankbar zu sein
Werkzeugkasten 6: 13 Schritte für das Management emotionaler Flashbacks
Literaturverzeichnis
Register
Ich danke all meinen wunderbaren Klienten, die mich über drei Jahrzehnte hinweg mit ihrer tapferen Verletzbarkeit und Authentizität geehrt haben. Ihre Lebensgeschichten haben mir bestätigt, dass das erzieherische Versagen der Eltern zu einem Massenphänomen geworden ist, und ihre inspirierende Arbeit hat mir bewiesen, dass die Auswirkungen einer solchen Erziehung weitgehend überwunden werden können.
Ich danke auch den Lesern meines ersten Buches und allen Besuchern meiner Website, deren großzügiges Feedback mir viel von meiner Angst, noch ein Buch zu schreiben und meine Worte der Öffentlichkeit auszusetzen, genommen haben. Ihre überwältigend positive Unterstützung hat meine Furcht gelindert, dass meine Worte als Waffen gegen mich verwendet werden könnten, wie ich es als Kind so oft erlebt habe.
Ich danke meinem guten Freund Bill O’Brien, der mir bei der Bearbeitung dieses Buches eine unschätzbare Hilfe war.
Ich danke allen im Literaturverzeichnis erwähnten (und dort nicht erwähnten) Autoren, deren Ideen meinen Geist befruchtet und mir geholfen haben, dieses Buch zu schreiben.
Ich danke all meinen Weggefährten, die mit mir mitgefühlt und mit denen ich mitgefühlt habe. Wir haben auf unserem Heilungsweg einander sehr geholfen.
Ich bin kein wissenschaftlicher Experte für die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (K-PTBS). Ich habe viel gelesen und studiert, doch keinesfalls in erschöpfendem Umfang, und ich lege keinen Wert darauf, mich gewissenhaft über alle jüngsten Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Was ich hier auf den Tisch bringe, sind fast 30 Jahre, in denen ich Trauma-Überlebende in individuellen und Gruppensitzungen behandelt habe. Mein Ansatz ist pragmatisch und vielschichtig, und er stützt sich auf das, was nach meiner Erfahrung bei meinen Klienten, bei mir nahestehenden Menschen und bei mir funktioniert hat.
Wenn Sie sich in einer unmittelbaren Notlage befinden, blättern Sie bitte weiter zu Kapitel 8 und lesen Sie sich die Liste der 13 Schritte zum Abbau von K-PTBS-induzierten Ängsten und Stress durch.
Vor 40 Jahren fuhr ich im Zug von Delhi nach Kalkutta. Es war das Ende einer jahrelangen spirituellen Suche in Indien, die ich als gescheitert betrachten musste. Anstelle von Erleuchtung hatten meine Erlösungsfantasien mir unter dem Strich nur Verzweiflung und eine Amöbenruhr eingebracht. Letztere hatte mich 15 Kilo Gewicht gekostet, sodass ich jetzt aussah wie ein ausgezehrter Mönch.
Noch schlimmer war der totale Verlust der Hoffnung, die durch Walt Whitmans Gedicht »Gesang von der freien Straße« entfacht worden war. Diese Hoffnung hatte mir auf meiner fünfjährigen Weltreise Halt gegeben, nachdem meine Eltern mich kurzerhand aus dem Haus geworfen hatten.
Aber zurück zum Zug. Ich saß auf meinem beengten Zweite-Klasse-Sitz zusammen mit Unberührbaren, Hühnern und Ziegen und las die englische Version einer indischen Zeitung. In der Zeitung stand, dass mein Zielort Kalkutta gerade von 100 000 Flüchtlingen überströmt wurde, die aus ihren überschwemmten Häusern geflohen waren. Wie es aussah, nächtigten sie alle auf den Straßen der Innenstadt in den Nischen unter den ausladenden ersten Stockwerken der Häuser.
Ich kam spät nachts an, und tatsächlich waren die Straßen überall von schlafenden Leibern gesäumt. Sie lagen Schulter an Schulter, eingewickelt in Laken. Ich checkte in ein 20-Cent-pro-Nacht-Hotel ein, von dem ein Mitreisender mir erzählt hatte. Ich schlief unruhig aus Furcht vor dem Anblick, der mich am nächsten Morgen erwarten würde. Wie sollte ich den Anblick von Unmengen verzweifelter Menschen ertragen, zumal ich selbst nichts zu geben hatte? Ich zweifelte sogar, ob mein Geld bis Australien reichen würde, wo ich hoffentlich meine Geldbörse wieder aufstocken konnte.
Als ich mich am nächsten Morgen endlich dazu überwunden hatte, das Hotel zu verlassen, starrte ich entgeistert auf das gewandelte Bild, das sich mir auf der Straße darbot. Die Laken waren wie Picknickdecken ausgebreitet worden, und überall saßen glückliche Familien. Auf tragbaren Öfchen kochten Mahlzeiten und Tee vor sich hin. Lebhaft und überschwänglich scherzten die Leute miteinander, und die Kinder ... die Kinder (und das was das Detail, das sich meiner Erinnerung am tiefsten einprägte) krabbelten und turnten ausgelassen auf ihren Eltern herum, vor allem auf ihren Vätern, die das ebenso zu genießen schienen wie ihre Sprösslinge.
Ich wurde von einem Gemisch aus Gefühlen überflutet, wie ich es nie zuvor erlebt hatte – einem seltsamen Cocktail aus Erleichterung, Entzücken und Unbehagen. Das Unbehagen verstand ich erst zehn Jahre später, als mir klar wurde, dass unter der Oberfläche meines Bewusstseins Neid aufgekeimt war.
Ich war zutiefst neidisch auf dieses prächtige Fest familiärer Liebe, wie ich sie selbst nie zuvor erfahren oder auch nur gesehen hatte. Selbst die süßlichsten Familien-Sitcoms, die ich gesehen hatte, konnten nicht annähernd eine so authentische und fühlbare Verbundenheit vermitteln.
Als ich Jahre später als Student der Anthropologie und Sozialarbeit verstand, was da vor sich gegangen war, erlebte ich einen förmlichen Flashback. In anderen nicht industrialisierten Ländern hatte ich ähnliche, wenngleich weniger überwältigende Szenen gesehen: Marokko, Thailand, Bali, einem Aborigine-Reservat in Australien.
Diese Erinnerungen zeigten mir intuitiv die Art von verwandtschaftlicher Liebe, die ich in meiner Familie oder den Familien meiner Freunde nie erlebt hatte. Ich brauchte Jahre, um diese Erfahrung zu verdauen und meine Verleugnung dessen, was mir als Kind gefehlt hatte, zu überwinden. Dann jedoch begann meine jahrzehntelange Suche, die mich dazu geführt hat, dieses Buch zu schreiben, ebenso wie dessen Vorgänger »The Tao of Fully Feeling«, in dem viele der Grundprinzipien dieses Buches ausführlich dargelegt wurden.
Dieses Buch ist mein Versuch, eine Landkarte zu zeichnen, die Ihnen bei der Heilung Ihrer Wunden den Weg weist; Wunden, die Ihnen der Mangel an Liebe in Ihrer Kindheit zugefügt hat. Bei manchen Themen wiederhole ich mich gern, so etwa, wenn es um die Entkräftung des inneren Kritikers geht oder um die Trauer über die Verluste der Kindheit. Damit versuche ich, die große Bedeutung dieser Themen bei der Heilarbeit immer wieder auf verschiedene Arten zu unterstreichen. Sollten Sie sich einmal verirren und nicht wissen, wo auf der Landkarte Sie sich befinden, sind diese Themen immer die wichtigsten Markierungen, die Sie auf den Weg zurückführen.
* * *
Manchmal empfehle ich meinen Lesern, sich zuerst das Inhaltsverzeichnis anzuschauen und bei der Überschrift mit dem Lesen anzufangen, die etwas in ihnen berührt. Auch wenn dieses Buch einem mehr oder weniger linearen Aufbau folgt, ist doch jeder Heilungsweg anders und kann von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten in Angriff genommen werden.
Ein Heilungsweg kann beginnen, wenn ein Todesfall oder ein großer Verlust einen emotionalen Sturm auslöst, der ein verborgenes Reservoir an Kindheitsschmerz freilegt. Oder wenn ein Freund etwas über seinen Genesungsprozess erzählt, das eine Saite zum Klingen bringt. Wenn ein Buch oder eine Fernsehsendung zum Nachdenken darüber anregt, was in der Kindheit wirklich passiert ist. Oder wenn sich in der Paartherapie etwas »öffnet«. Wenn eine seelische Krise in Form von Panikanfällen oder einem Nervenzusammenbruch Hilfe von außen erfordert. Oder wenn unsere Selbstbehandlungsmethoden zur Linderung von Depression und Ängsten außer Kontrolle geraten und ebenfalls Hilfe von außen erfordern.
Ich hoffe, dass meine Leser dieses Buch als Leitfaden für ihre Genesung nutzen können und dass sie sich wiederholt zu bestimmten Abschnitten hingezogen fühlen, da gewisse Themen im Lauf der Zeit und der Arbeit an sich selbst immer tiefere Bedeutungen enthüllen.
Auf diese Weise werden Sie feststellen, dass das Inhaltsverzeichnis durchaus umfangreich ist, und manchmal lässt sich dieses Buch am besten nutzen, wenn Sie es durchblättern und dann die Abschnitte und Kapitel lesen, die am stärksten Ihr Interesse wecken.
Ich kann Ihnen keine universelle Formel für die innere Heilung bieten. Je nachdem, wie Ihr Kindheitstrauma gestaltet ist, werden einige hier enthaltene Ratschläge für Sie weniger oder auch gar nicht relevant sein. Bitte konzentrieren Sie sich dann auf die Inhalte, die Ihnen für Ihr spezielles Problem hilfreich und anwendbar erscheinen.
* * *
Ich hoffe, dass dieser Wegweiser Ihnen auf Ihrem Heilungsweg dazu verhilft, sich selbst unermüdlich mit ausreichend Freundlichkeit und Mitgefühl zu begegnen, und dass Sie unterwegs wenigstens einem anderen Menschen begegnen, der Ihnen seinerseits eine ebensolche Liebe entgegenbringt.
Ich habe dieses Buch mit vielen Beispielen aus dem Leben illustriert. Zum Schutz der Privatsphäre der Klienten wurden alle Namen und Erkennungsmerkmale geändert.
Ich habe dieses Buch aus der Sicht eines Menschen geschrieben, der an einer Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (K-PTBS) leidet und dessen Symptome sich im Laufe der Jahre stark reduziert haben. Ich habe es ebenso aus der Sicht eines Menschen geschrieben, der auf dem langen, gewundenen und holprigen Weg der Heilung von seiner K-PTBS schon viele Lichtblicke gesehen hat. Diese Art der Genesung habe ich auch bei vielen meiner Freunde und Langzeitklienten beobachtet.
Zuerst die gute Nachricht: Bei einer K-PTBS handelt sich um eine Reihe erlernter Reaktionen und um das Unvermögen, viele wichtige Entwicklungsaufgaben zu meistern. Das bedeutet, dass es sich nicht um eine genetisch bedingte, sondern um eine umweltbedingte Störung handelt. Mit anderen Worten: Anders als die meisten Diagnosen, mit denen sie gern verwechselt wird, ist sie weder angeboren noch charakterbedingt. Sie wurde erlernt. Sie ist nicht in Ihre DNA eingeschrieben. Es ist keine naturgegebene Störung, sondern eine, die durch die Erziehung (oder eher deren Mängel) entstanden ist.
Das ist eine besonders gute Nachricht, denn was erlernt wurde, kann auch wieder verlernt werden und umgekehrt. Was Sie von Ihren Eltern nicht erhalten haben, können Sie sich nun selbst geben oder von anderen geben lassen.
Wichtige Bestandteile für die Heilung einer K-PTBS sind Selbsthilfe und Beziehungen. Die Beziehungen können von Autoren, Freunden, Partnern, Lehrern, Therapeuten, Therapiegruppen oder einer beliebigen Kombination daraus kommen. Ich nenne das gern gemeinschaftliches Reparenting.
Ich muss jedoch betonen: Einige Überlebende K-PTBS erzeugender Familien sind so nachhaltig von ihren Eltern verraten worden, dass es lange dauern kann, bis sie einem anderen Menschen wieder genügend zu vertrauen vermögen - wenn es ihnen überhaupt je gelingt. Dann ist es undenkbar, dass sie sich auf eine Beziehungstherapie auch nur einlassen können. Wo dies der Fall ist, können Haustiere, Bücher und therapeutische Websites diesen Part übernehmen.
* * *
Dieses Buch enthält einen multimodalen Therapieansatz für die K-PTBS. Es konzentriert sich auf die am weitesten verbreitete Variante der K-PTBS, die durch schweren Missbrauch, durch Misshandlungen und/oder durch Vernachlässigung in der Herkunftsfamilie entstanden ist. In diesem Sinne beschreibt das Buch einen Weg zur Heilung von Schäden, die durch traumatische Missbrauchs-, Gewalt- und Verlassenheitserlebnisse entstanden sind. Solche Erlebnisse können auf verbaler, emotionaler, spiritueller und/oder körperlicher Ebene stattgefunden haben. Sexueller Missbrauch ist dabei besonders traumatisch.
Ich bin der Ansicht, dass wir es bei solch traumatisierenden Familien mit einem Massenphänomen zu tun haben. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass eines von drei Mädchen und einer von fünf Jungen vor Eintritt ins Erwachsenenalter sexuell missbraucht worden ist, und neueste Statistiken der KIM Foundation berichten, dass bei 26 Prozent der Amerikaner im Alter von über 18 Jahren eine psychische Störung diagnostiziert wurde.
Wenn der Missbrauch, die Misshandlung oder die Vernachlässigung schwer genug ist, kann sie bewirken, dass das Kind eine K-PTBS entwickelt. Das gilt sogar für seelische Vernachlässigung, wenn beide Eltern dabei gemeinsame Sache machen, wie wir in Kapitel 5 sehen werden. Finden Missbrauch und Vernachlässigung auf mehreren Ebenen statt, nimmt die Schwere der K-PTBS entsprechend zu.
Die K-PTBS ist eine schwerere Form der Posttraumatischen Belastungsstörung. Von diesem besser bekannten Traumasyndrom wird sie durch fünf ihrer häufigsten und beschwerlichsten Merkmale abgegrenzt: emotionale Flashbacks, toxische Scham, Selbstaufgabe, ein bösartiger innerer Kritiker und soziale Ängste.
Emotionale Flashbacks sind wohl das auffälligste und bezeichnendste Merkmal einer K-PTBS. Überlebende, die in traumatisierender Weise vernachlässigt wurden, sind äußerst anfällig für schmerzhafte emotionale Flashbacks, die, anders als bei der PTBS, normalerweise keine visuelle Komponente beinhalten.
Emotionale Flashbacks sind plötzliche und oft längere Zeit anhaltende Regressionen in die überwältigenden Gefühlszustände, die das misshandelte, missbrauchte oder verlassene Kind erlebt hat. Diese Gefühlszustände können erdrückende Furcht, Scham, Entfremdung, Wut, Kummer und Depression beinhalten. Sie können auch ohne realen Anlass unseren Kampf-oder-Flucht-Instinkt wecken.
Hier muss unbedingt angemerkt werden, dass emotionale Flashbacks, wie fast alles im Leben, keine absoluten Zustände sind. Die Intensität von Flashbacks kann von unterschwellig bis verheerend reichen. Auch ihre Dauer kann unterschiedlich sein: von einem kurzen Augenblick bis zu mehreren Wochen am Stück, wo sie in einen Zustand übergehen, der von vielen Therapeuten als Regression bezeichnet wird.
Eine eher klinische und umfangreiche Definition der K-PTBS findet sich in Judith Hermans Grundlagenwerk »Die Narben der Gewalt«.
Während ich dies schreibe, erinnere ich mich an den ersten emotionalen Flashback, den ich als solchen erkannte, wenngleich erst zehn Jahre später. Als er stattfand, lebte ich gerade mit meiner ersten festen Partnerin zusammen. Die Flitterwochenphase unserer Beziehung kam mit kreischenden Bremsen zum Stillstand, als sie mich unerwartet wegen irgendetwas anschrie. Ich weiß nicht mehr, worum es ging.
Woran ich mich am lebhaftesten erinnere, war, wie sich ihr Schreien anfühlte. Es fühlte sich an wie ein heftiger heißer Wind. Ich hatte das Gefühl, weggeblasen zu werden – als würde mein Innerstes ausgeblasen, wie man eine Kerzenflamme ausbläst.
Später, als ich zum ersten Mal etwas von Auren hörte, versetzte ich mich in diesen Zustand zurück, und das fühlte sich an, als sei meine Aura wie eine Haut von mir abgezogen worden.
Damals, als es passierte, war ich völlig desorientiert gewesen, unfähig, zu sprechen, zu reagieren oder auch nur zu denken. Ich war entsetzt, zitterte innerlich und fühlte mich sehr klein. Irgendwie gelang es mir schließlich, zur Tür zu taumeln und das Haus zu verlassen, wo ich mich langsam wieder zusammenreißen konnte.
Wie schon gesagt, brauchte ich zehn Jahre, um herauszufinden, dass dieses verwirrende und verstörende Phänomen ein intensiver emotionaler Flashback gewesen war. Einige Jahre später erkannte ich, worum es bei dieser Art Regression ging: Dieser Flashback hatte mich die Hunderte von Malen wiedererleben lassen, in denen meine Mutter, die schiere Mordlust im Gesicht, mich mit ihrer Wut in Schrecken, Scham, Dissoziation und Hilflosigkeit hineingeschleudert hatte.
* * *
Emotionale Flashbacks werden von einer starken Kampf-oder-Flucht-Reaktion begleitet, wobei es zu einer Übererregung des Sympathikus kommt, jener Hälfte des Nervensystems, das Erregung und Aktivierung steuert. Wenn die dominante Emotion in einem Flashback Furcht ist, wird der Betroffene von extremer Angst, Panik oder gar suizidalen Impulsen übermannt. Überwiegt Verzweiflung, fühlt er sich zutiefst betäubt, gelähmt und überwältigt vom Drang, sich zu verstecken.
In einer solchen Situation fühlt der Mensch sich zudem klein, jung, verletzbar, macht- und hilflos, und all diese Symptome werden typischerweise von einer demütigenden und niederschmetternden toxischen Scham überlagert.
Toxische Scham, wie sie so aufschlussreich von John Bradshaw im Buch »Wenn Scham krank macht« untersucht wurde, vernichtet das Selbstwertgefühl eines K-PTBS-Überlebenden durch das übermächtige Gefühl, er sei verabscheuenswert, hässlich, dumm oder hoffnungslos falsch. Überwältigende Selbstverachtung ist typischerweise ein Flashback zurück in das Gefühl, das er hatte, als er unter der Verachtung und den durchbohrenden Blicken seines traumatisierenden Elternteils litt. Toxische Scham kann auch durch dauerhafte Vernachlässigung und Ablehnung durch die Eltern entstehen.
Zu Beginn meiner Laufbahn arbeitete ich mit David, einem gutaussehenden, intelligenten Schauspieler. Eines Tages suchte David mich nach einem erfolglosen Vorsprechen auf. Ganz aufgelöst platzte er heraus: »Ich lasse es niemanden merken, aber ich weiß, dass ich in Wirklichkeit total hässlich bin! Ich bin so blöd, Schauspieler sein zu wollen, wo ich doch so ein abstoßender Anblick bin!« Ich werde nie vergessen, wie schockiert und ungläubig ich zunächst reagierte, dass ein so attraktiver Mann sich als hässlich empfinden konnte, doch als ich der Sache nachging, begann ich zu begreifen.
Davids Kindheit war von einem breiten Spektrum an Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung geprägt gewesen. Er war das letzte und unerwünschte Kind einer großen Familie, und sein alkoholkranker Vater schaute ihn oft angewidert an und griff ihn sogar an. Um alles noch schlimmer zu machen, ahmte der Rest seiner Familie das Verhalten des Vaters nach und demütigte ihn häufig mit heftiger Verachtung. Sein älterer Bruder fiel gern mit folgenden Worten, begleitet von einer angeekelten Grimasse, über ihn her: »Ich kann deinen Anblick nicht ertragen. Du bringst mich zum Kotzen!«
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Toxische Scham kann von einem Augenblick zum anderen das Selbstwertgefühl auslöschen. Bei einem emotionalen Flashback wird man auf der Stelle in das Gefühl zurückversetzt, so wertlos und verachtenswert zu sein, wie die eigene Familie einen wahrgenommen hat. Wenn man in einem Flashback festsitzt, versetzt einen die toxische Scham zurück in die schmerzhafte Entfremdung des Verlassenheitskomplexes – einen aufgewühlten Morast aus Scham, Furcht und Depression.
Der Verlassenheitskomplex besteht aus der Furcht und der toxischen Scham, in die die Verlassenheitsdepression eingebettet ist und mit denen sie in Wechselwirkung steht. Die Verlassenheitsdepression selbst ist das betäubende Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung, das traumatisierte Kinder heimsucht.
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Toxische Scham hindert uns daran, Trost und Hilfe zu suchen. Im Wiedererleben der kindlichen Verlassenheit bei einem Flashback isolieren wir uns oft selbst und erliegen hilflos dem überbordenden Gefühl der Demütigung.
Wenn man sich ausweglos als wertlos, fehlerhaft oder verabscheuenswert empfindet, steckt man höchstwahrscheinlich in einem emotionalen Flashback fest. Das ist normalerweise auch dann der Fall, wenn man sich in Selbsthass und aggressiver Selbstkritik verliert. Soforthilfe für das emotionale Flashback-Management finden Sie am Beginn von Kapitel 8, wo 13 praktische Schritte zur Auflösung von Flashbacks aufgelistet sind.
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Zahlreiche Klienten und Besucher meiner Website haben mir gesagt, dass das Konzept des emotionalen Flashbacks ihnen eine große Erleichterung gebracht hat. Sie erzählen, dass sie sich zum ersten Mal einen gewissen Reim auf ihr schwieriges Leben machen können. Ein üblicher Kommentar lautet: »Jetzt verstehe ich, wieso die ganzen psychologischen und spirituellen Ansätze, denen ich gefolgt bin, so wenig Antworten für mich hatten.« Viele fühlen sich auch befreit von der beschämenden Liste an Fehldiagnosen, die sie sich selbst oder andere ihnen gestellt haben. Das wiederum hat ihnen geholfen, sich von der zerstörerischen Gewohnheit zu befreien, unablässig Beweise für ihre Fehlerhaftigkeit oder Verrücktheit anzuhäufen. Viele berichten auch von einem Quantensprung in ihrer Motivation, den erlernten Selbsthass und Selbstekel abzubauen.
Ein Überlebender muss nicht alle der folgenden Symptome aufweisen. Sie treten häufig in unterschiedlichen Kombinationen auf. Entscheidend sind die persönliche Überlebensstrategie und die Art des Missbrauchs bzw. der Misshandlungen und/oder der Vernachlässigung in der Kindheit.
■ emotionale Flashbacks
■ tyrannischer innerer und/oder äußerer Kritiker
■ toxische Scham
■ Selbstaufgabe
■ soziale Ängste
■ klägliches Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühl
■ fragiles Selbstwertgefühl
■ Bindungsunfähigkeit
■ Entwicklungshemmungen
■ Beziehungsprobleme
■ drastische Stimmungsschwankungen (z. B. Pseudo-Zyklothymie: s. Kapitel 12)
■ Dissoziation durch ablenkende Tätigkeiten oder Gedankengänge
■ leicht erregbare Kampf-oder-Flucht-Reaktion
■ Überempfindlichkeit gegen Belastungen
■ Suizidgedanken
Suizidgedanken sind ein verbreitetes Phänomen der K-PTBS, insbesondere während intensiver oder langanhaltender Flashbacks. Die Betroffenen werden von depressiven Gedanken und Fantasien verfolgt, die den eigenen Todeswunsch zum Inhalt haben. Das Ganze kann von aktiver bis zu passiver Suizidalität reichen.
Passive Suizidalität ist bei den K-PTBS-Überlebenden, die ich kennengelernt habe, das weitaus häufigere Phänomen. Es reicht vom Wunsch, tot zu sein, bis hin zu Fantasien über Selbstmordtechniken. Wer in Suizidgedanken feststeckt, wünscht sich oft aus ganzem Herzen, vom Leben erlöst zu werden, oder er träumt davon, von einem Schicksalsschlag aus dem Leben geholt zu werden. Er kann sich sogar zwanghaft vorstellen – ohne es wirklich zu tun –, in ein Auto zu laufen oder von einem Gebäude zu springen.
Die Fantasien enden jedoch normalerweise ohne die ernsthafte Absicht, sich selbst zu töten. Das steht im Gegensatz zur aktiven Suizidalität, bei der der Betroffene aktive Schritte zur Selbsttötung unternimmt.
Ich spreche hier über die passive Suizidalität, weil sie längst nicht so alarmierend ist wie die aktive. Die passive Selbstmordneigung ist normalerweise ein Flashback in die frühe Kindheit, als unsere Verlassenheit so tief ging, dass es nur natürlich war, uns zu wünschen, Gott oder jemand oder etwas anderes möge das Ganze einfach beenden.
Wenn ein Überlebender sich bei Selbstmordfantasien ertappt, tut er gut daran, sie als Zeichen zu betrachten: Sie zeigen ihm einerseits, wie viel Schmerz in ihm steckt, und weisen andererseits darauf hin, dass er gerade einen besonders heftigen Flashback hat. Daraufhin kann er dann die Schritte für das Management von Flashbacks in Kapitel 8 anwenden.
Sollte das Flashback-Management jedoch nicht helfen, und schlagen die Selbstmordgedanken zunehmend in aktive Suizidalität um, rufen Sie bitte die kostenfreie Notfall-Seelsorge an (Deutschland: 0800 111 0 111 [evangelisch], 0800 111 0 222 [römisch-katholisch], 0800 116 123, 0800 111 0 333 [für Kinder und Jugendliche]; Österreich: 142 [ökumenisch]; Schweiz: 143) an oder besuchen Sie die Website der für Ihr Land zuständigen Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de, www.telefonseelsorge.at, www.143.ch), denn hier handelt es sich um einen Flashback, bei dessen Management Sie Hilfe brauchen, und die werden Sie dort bekommen.
Qualifizierte Therapeuten und Fürsorger lernen, zwischen aktiven und passiven Suizidgedanken zu unterscheiden, und geraten nicht gleich in Panik und Katastrophenstimmung, wenn sie es mit letzteren zu tun bekommen. Der Berater lädt den Überlebenden vielmehr dazu ein, sich seine Suizidgedanken und -gefühle genauer anzuschauen, weil er weiß, dass eine verbale Entlastung von dem Schmerz, der dem Flashback zugrunde liegt, die Suizidneigung abbauen wird.
Auch im Fall der viel weniger häufigen aktiven Suizidalität wird solch eine verbale Entlastung dem Therapeuten oder Helfer die Entscheidung erleichtern, ob ein reales Risiko besteht und Sofortmaßnahmen ergriffen werden müssen, um den Überlebenden zu schützen.
Einst hörte ich den bekannten Traumatologen John Briere scherzen, dass, würde der K-PTBS Gerechtigkeit widerfahren, das DSM, das von allen Fachkräften zur Diagnose psychischer Störungen benutzt wird, vom Umfang eines Lexikons auf den Umfang eines dünnen Merkblattes schrumpfen würde. Mit anderen Worten: Kindheitstraumata spielen bei den meisten psychischen Störungen im Erwachsenenalter eine große Rolle.
Ich bin vielen Klienten mit einer K-PTBS begegnet, bei denen fälschlicherweise eine Angststörung oder Depression diagnostiziert wurde. Vielen wird ebenso ungerechtfertigt und inkorrekt das Etikett einer bipolaren, narzisstischen, dependenten, autistischen oder Borderline-Persönlichkeitsstörung aufgedrückt. (Das bedeutet nicht, dass die K-PTBS nicht gelegentlich von solchen Störungen begleitet wird.)
Für weitere Verwirrung sorgen die Diagnosen ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) oder Zwangsstörung, die beide zuweilen korrekter als fixierte Fluchtreaktion auf ein Trauma beschrieben werden könnten (s. Überlebensstrategien). Das gilt auch für das ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) sowie einige depressive und dissoziative Störungen, die besser als fixierte Erstarrungsreaktion auf ein Trauma beschrieben werden könnten.
All das bedeutet ebenso wenig, dass die Opfer einer solchen Fehldiagnose keine Probleme hätten, die den genannten Störungen ähnlich oder entsprechend wären. Der Haken ist, dass diese Etiketten das, worunter der Überlebende tatsächlich leidet, nur unvollständig und unnötig beschämend beschreiben.
Eine K-PTBS auf eine »Panikstörung« zu reduzieren, ist so, als würde man eine Nahrungsmittelallergie »chronisch juckende Augen« nennen. Eine Behandlung, die sich übermäßig auf die Symptome (wie im ersteren Fall) oder die Augen (wie im letzteren) konzentriert, kann kaum bis zur Wurzel vordringen. Panikgefühle oder juckende Augen können mit Medikamenten kaschiert werden, doch all die Probleme, die diese Symptome erst hervorrufen, bleiben dabei unbehandelt.
Zudem werden die meisten der oben genannten Diagnosen normalerweise als angeborene Charakterfehler behandelt und nicht als erlernte Fehlanpassung an Stress – eine Fehlanpassung, zu der die Überlebenden als traumatisierte Kinder gezwungen wurden. Am wichtigsten aber ist, dass diese Fehlanpassung, da sie erlernt wurde, oftmals auch wieder verlernt oder wenigstens deutlich abgebaut und durch zweckmäßigere Anpassungsreaktionen auf Stress ersetzt werden kann.
In diesem Sinne bin ich der Ansicht, dass viele substanzgebundene und substanzungebundene Abhängigkeiten ebenfalls als irregeleitete Fehlanpassungen auf Misshandlungen, Missbrauch und Vernachlässigung durch die Eltern beginnen. Es ist der frühe Versuch, von den seelischen und körperlichen Schmerzen der K-PTBS abzulenken und sie so zu lindern.
Wie entwickeln traumatisch misshandelte, missbrauchte und/oder verlassene Kinder eine K-PTBS? In den meisten Fällen wird die Entstehung dieser Störung mit längeren Perioden physischer Misshandlung und/oder sexuellen Missbrauchs in der Kindheit in Zusammenhang gebracht. Meine Beobachtungen jedoch haben mich davon überzeugt, dass sie auch durch ständigen verbalen und emotionalen Missbrauch ausgelöst werden kann.
Viele Eltern mit dysfunktionalen Verhaltensweisen reagieren abwertend auf den klagenden Ruf ihres Säuglings oder Kleinkindes nach Zuwendung. Für einen Erwachsenen ist Missachtung bestenfalls schädlich – für ein Kind ist es eine traumatische Erfahrung.
Missachtung ist ein giftiger Cocktail aus verbalem und emotionalem Missbrauch, eine tödliche Mischung aus Abwertung, Wut und Ekel. Wut erzeugt im Kind Furcht, und Ekel erzeugt Scham, und beides lehrt es schon bald, vom Schreien Abstand zu nehmen und nie mehr um Aufmerksamkeit zu bitten. Binnen Kurzem hört das Kind auf, überhaupt nach Hilfe oder Bindung zu suchen. Sein Werben um Verbundenheit und Akzeptanz wird durchkreuzt, und es wird dem Leiden in der angsterfüllten Verzweiflung seiner Verlassenheit ausgeliefert.
Besonders übergriffige Eltern vertiefen das Verlassenheitstrauma noch, indem sie ihre Verachtung mit körperlicher Züchtigung verknüpfen. Sklavenhalter und Gefängniswärter nutzen in der Regel Verachtung und Hohn, um das Selbstwertgefühl ihrer Opfer zu zerstören. Sklaven, Häftlinge und Kinder, die sich wert- und machtlos fühlen, verfallen in eine erlernte Hilflosigkeit und können mit weitaus weniger Energie und Aufmerksamkeit unter Kontrolle gehalten werden. Auch Sektenführer bringen ihre Jünger mit Verachtung zur totalen Unterwerfung, nachdem sie sie kurzzeitig mit vorgetäuschter bedingungsloser Liebe angelockt haben.
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Eine K-PTBS kann aber auch allein durch emotionale Vernachlässigung entstehen. Dieses wichtige Thema wird ausführlich in Kapitel 5 behandelt. Sollten Sie sich dabrtappen, dass Sie sich selbst schelten, weil Ihr Trauma im Vergleich mit anderen so bedeutungslos erscheint, dann springen Sie bitte zu diesem Kapitel und lesen Sie hier erst anschließend weiter.
Emotionale Vernachlässigung liegt normalerweise auch den meisten Traumata zugrunde, die offenkundiger sichtbar sind. Eltern, die den Ruf ihres Kindes nach Aufmerksamkeit, Zuwendung oder Hilfe regelmäßig ignorieren oder sich davon abwenden, verlassen ihr Kind und stürzen es in unbändige Angst, sodass das Kind schließlich aufgibt und in deprimierender, todesähnlicher Hilflosigkeit und Verzweiflung versinkt.
Diese Art der Ablehnung vergrößert gleichzeitig die Furcht des Kindes und umgibt sie mit Scham. Mit der Zeit bringen Furcht und Scham einen toxischen inneren Kritiker hervor, der das Kind und später den Erwachsenen ausnahmslos für die Vernachlässigung durch die Eltern verantwortlich macht, bis der Betroffene zu seinem eigenen schlimmsten Feind wird und in die Tiefen der K-PTBS abrutscht.
Ein Trauma entsteht, wenn ein Angriff oder ein Verlust eine Kampf- oder Fluchtreaktion hervorruft, die so stark ist, dass der Betroffene sie nach Verschwinden der bedrohlichen Situation nicht wieder abschalten kann. Sein Adrenalinspiegel bleibt unverändert hoch. Sein Sympathikus bleibt »eingerastet«, und er kann nicht mehr in den entspannten Modus des Parasympathikus umschalten.
Ein geläufiges Beispiel dafür wäre ein Kind, das nach der Schule von einem Rüpel angegriffen wird. Es wird von nun an immer übertrieben wachsam und ängstlich umhergehen, bis jemand dafür sorgt, dass es nicht wieder Schikanen zum Opfer fällt, und bis ihm jemand hilft, sein hyperaktives Nervensystem zu beruhigen.
Hat das Kind aus Erfahrung gelernt, dass es immer, wenn ihm etwas wehtut, wenn es Angst hat oder Hilfe braucht, zu wenigstens einem Elternteil kommen kann, wird es Mama oder Papa davon erzählen. Dann wird es mit ihm oder ihr zusammen den zeitweiligen Tod seines Sicherheitsgefühls in der Welt betrauern, indem es darüber spricht, weint und seine Wut herauslässt (Kapitel 11 geht näher auf die Trauerarbeit ein).
Überdies wird der jeweilige Elternteil den Rüpel anzeigen und Schritte einleiten, dass das nicht noch einmal passiert, und das Kind wird von seinem Trauma befreit. Es wird sich wieder entspannt in die Sicherheit seines funktionierenden Parasympathikus fallen lassen.
»Einfache« Traumata, die auf nur einem Ereignis beruhen, können oftmals relativ leicht wieder gelöst werden, solange noch keine K-PTBS präsent ist.
Wenn das Kind jedoch wiederholt schikaniert wird und keine Hilfe sucht oder in einem so gefährlichen Umfeld lebt, dass es nicht in der Macht der Eltern steht, ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten, wird es mehr brauchen als den Trost der Eltern, um das Trauma aufzulösen. Wird das Trauma nicht kontinuierlich über einen sehr langen Zeitraum erneuert, mag eine kurze Therapie alles sein, was es zur Auflösung braucht – natürlich unter der Voraussetzung, dass die Gefahr im Umfeld effektiv beseitigt werden kann.
Wiederholt sich das Trauma jedoch periodisch, ist es anhaltend und keine Hilfe verfügbar, dann erstarrt das Kind darin und entwickelt die Symptome einer »einfachen« PTBS. Das kann auch durch andauernde traumatisierende Kämpfe oder Gefangensein in einer gewalttätigen Sekte oder Familie passieren.
Leidet eine Person jedoch unter anhaltenden familiären Misshandlungen oder tief reichender emotionaler Verlassenheit, wird sich das Trauma in Form von schweren emotionalen Flashbacks manifestieren, weil die Person bereits eine K-PTBS hat. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sie auch noch von einem Elternteil schikaniert wird.
Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion wurde bereits erwähnt. Das ist eine allen Menschen angeborene automatische Reaktion auf Gefahrensituationen. Eine vollständigere und korrektere Beschreibung dieses Instinkts lautet Kampf-, Flucht-, Erstarrungs- oder Unterwerfungsreaktion. Die an dieses Reaktionsmuster gekoppelten komplexen Nervenverbindungen ermöglichen es dem Menschen, auf vier verschiedene Arten zu reagieren.
Eine Kampfreaktion wird ausgelöst, wenn ein Mensch plötzlich aggressiv auf eine Bedrohung reagiert. Eine Fluchtreaktion wird ausgelöst, wenn ein Mensch vor einer vermeintlichen Bedrohung davonläuft oder, im übertragenen Sinn, in Hyperaktivität verfällt. Eine Erstarrungsreaktion wird ausgelöst, wenn ein Mensch, sobald er erkennt, dass Widerstand zwecklos ist, aufgibt, sich mit Dissoziation betäubt und/oder zusammenbricht, so als akzeptiere er die unausweichliche Verletzung. Eine Unterwerfungsreaktion wird ausgelöst, wenn ein Mensch auf eine Bedrohung mit dem Versuch reagiert, gefällig oder hilfreich zu sein, um den Aggressor zu beschwichtigen und die Aggression von sich abzulenken. Dieses vierfache Reaktionspotenzial werden wir ab jetzt als Überlebensstrategie bezeichnen.
Traumatisierte Kinder werden oft zu einem dieser Reaktionsmuster übermäßig hingezogen, und im Lauf der Zeit bilden diese vier Modi fest verwurzelte Abwehrstrukturen, die den narzisstischen (Kampf), zwanghaften (Flucht), dissoziativen (Erstarrung) oder co-abhängigen (Unterwerfung) Abwehrmechanismen ähneln.
Diese Strukturen helfen Kindern, ihre schreckliche Kindheit zu überleben, engen jedoch ihre Reaktionsmöglichkeiten auf das Leben ein. Schlimmer noch, sie bleiben selbst als Erwachsene in ihr Reaktionsmuster eingesperrt, obwohl sie schon längst nicht mehr so stark auf einen einzigen Abwehrmechanismus angewiesen sind.
Es ist wichtig zu wissen, dass die Fixierung auf eine bestimmte Überlebensstrategie von der Art des Missbrauchs bzw. der Misshandlungen oder der Vernachlässigung in der Kindheit, von der Geburtenfolge und von der genetischen Prädisposition abhängt.
Im nächsten Abschnitt werden wir anhand von Beispielen untersuchen, wie Kinder von traumatisierenden Eltern in diese Abwehrmechanismen hineingetrieben werden. Die vier Kinder in der folgenden Charakterskizze repräsentieren die vier Grundtypen eines Trauma-Überlebenden:
Carol war der Sündenbock der Familie. Eltern mit einer narzisstischen und einer Borderline-Persönlichkeitsstörung suchen sich typischerweise mindestens ein Kind aus, das sie zum Sündenbock der Familie machen.
Sündenbockverhalten ist der Prozess, mit dessen Hilfe ein Peiniger seinen Schmerz, seinen Stress und seine Frustration externalisiert und auf andere ablädt, indem er eine schwächere Person angreift. Dieses Verhalten verschafft ihm normalerweise eine gewisse vorübergehende Erleichterung. Es ist jedoch nicht geeignet, um seinen Schmerz zu verarbeiten und aufzulösen, und wird deshalb schon bald wieder aufgenommen, sobald der innere Druck erneut ein gewisses Level erreicht.
In seinem brillanten Buch »Die Massenpsychologie des Faschismus« zeigt Wilhelm Reich auf, dass das Sündenbockverhalten in einem Kontinuum auftritt, welches sich von der Verfolgung des anvisierten Kindes durch einen schikanierenden Elternteil bis hin zur verheerenden Zuweisung der Sündenbockrolle an die Juden durch die Nazis erstreckt. In besonders dysfunktionalen Familien wie der von Carol richtet der Elternteil, der dieses Sündenbockverhalten zeigt, oft den Rest der Familie darauf aus, sich mit ihm gegen den Sündenbock zu verbünden.
Carol erfuhr viel über ihre frühe Kindheit, als sie alte Heimvideos anschaute. Ihre Eltern waren sich ihres narzisstischen Verhaltens derart unbewusst, dass sie ganz unverfroren viele Vorfälle gefilmt hatten, in denen sie Carol verbal und emotional missbrauchten. Dies geschah gewöhnlich im Hintergrund von Auftritten ihres Lieblingskindes, Carols älteren Bruders. Schwer narzisstisch gestörte Eltern genieren sich nur selten für ihr aggressives Verhalten. Sie fühlen sich berechtigt, ein Kind für alles zu bestrafen, was ihnen missfällt, ganz gleich wie unvernünftig dies einem unbeteiligten Beobachter erscheinen mag.
Carols Eltern fingen schon früh damit an, als sie ihr, noch bevor sie ein Jahr alt war, naserümpfend die Schuld dafür gaben, dass sie ihre Windeln vollgemacht hatte. Als sie drei war, war sie schon so oft bestraft worden, weil sie beim Reden und bei der spielerischen Erkundung des Hauses angeblich zu laut war, dass ihr anhaltender Angstzustand bei ihr ein ADHS-ähnliches Leiden erzeugt hatte.
Der große Garten hinterm Haus war Carols Zuflucht. Dort spielte sie mit großer Begeisterung: Sie kletterte, rannte, tollte umher, baute und erforschte die Dörfer, die sie aus ihren Spielsachen, aus Blättern, Gräsern, Stöcken und Steinen gebaut hatte. Sie war dort vom Frühstück bis zum Abendessen beschäftigt, wobei sie häufig ganz vergaß, zum Mittagessen ins Haus zu gehen, was, wie sie rückblickend meinte, ihrer Mutter sogar das Leben erleichtert haben musste, denn die rief sie nie zum Essen herein.
Ein Familienvideo aus dieser Zeit war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, sodass Carol das missbräuchliche Verhalten ihrer Familie nicht mehr leugnen konnte. Es zeigte sie, wie sie ein Spiel spielte, bei dem sie sich wiederholt derb auf die Hand schlug und sich selbst ein böses Mädchen nannte, während sie durchs Wohnzimmer taumelte und dabei verschiedene Nippsachen berührte. Es gab eine ganze Menge Filmmaterial, das zeigte, wie Eltern und Geschwister im Hintergrund vor Schadenfreude grölten.
Wenn die Milch menschlicher Güte schon in frühem Alter durch Verachtung ersetzt wird, fühlt sich das Kind gedemütigt und überfordert. Zu hilflos, um zu protestieren oder die Ungerechtigkeit der Misshandlung auch nur zu begreifen, gelangt es schließlich zu der Überzeugung, dass es mit verheerenden Mängeln und Fehlern behaftet sei. Solche Kinder sind häufig überzeugt, die Strafen der Eltern verdient zu haben.
Als Carol vier war, stürzte sie »zufällig« aus einem Fenster im ersten Stock. Ein paar Jahre später lief sie hinaus auf die Straße und vor ein Auto, von dem sie zu Boden geworfen wurde. Als Erwachsene war sie überzeugt, dass beide Verletzungen zu ihrer äußerst schmerzhaften, frühmanifesten Skoliose beigetragen hätten. Sie glaubte auch, solche Schmerzen gehabt zu haben, dass sie unbewusst versucht hatte, sich umzubringen.
Zu Carols Glück verschaffte ihr die Schule schließlich ein klein wenig Erleichterung. Ein wohlgesinnter Lehrer in der dritten Klasse wurde auf ihre Intelligenz aufmerksam und lobte sie so oft, dass aus ihr binnen kurzem eine hervorragende Schülerin wurde. Leider verwandelte sich die furchtbare Angst, unter der sie rund um die Uhr litt, schon bald in eine zwanghafte Einstellung gegenüber den Schulaufgaben. Das wiederum manifestierte sich später als Perfektionismus und Arbeitssucht, die ihr Leben zerstörten.
Carols älterer Bruder Bob, der Liebling und Held ihrer Eltern, wurde nicht wie Carol von Furcht und Ablehnung geprägt. Aus dem Adressaten der narzisstischen Erwartungen der Eltern wurde ein vielseitiger Erfolgsmensch, weil die Eltern ihm stets die Anerkennung entzogen hatten, wenn er keine perfekten Leistungen erbrachte. Sie hatten Lob verabreicht wie Zuckerstückchen, wenn er etwas Hervorragendes leistete, was positiv auf die Eltern zurückstrahlte. Auch er wurde von ihnen in das Sündenbockverhalten gegenüber Carol einbezogen, und im Laufe der Zeit übertraf er seine Eltern sogar noch in den Quälereien.
Ich bin überzeugt, dass es in vielen dysfunktionalen Familien massenhaft zu Gewalt unter Geschwistern kommt. In solchen Familien können die Geschwister das zum Sündenbock erklärte Opfer ebenso stark traumatisieren wie die Eltern. In Familien, in denen die Eltern kein Interesse an ihren Kindern zeigen, können Geschwister zum Hauptverursacher von Traumata werden. Das gilt besonders für unsere Kultur, in der die emotionale Vernachlässigung von Kindern um sich greift und in der es Eltern routinemäßig empfohlen wird, die Kinder »das unter sich ausmachen« zu lassen. Wie soll denn ein Kind, das nur halb so stark ist wie sein älteres Geschwister, dieses ohne die Hilfe eines stärkeren Verbündeten davon abhalten, es zu quälen?
Bob ist dem krank machenden Einfluss seiner Eltern nicht entkommen. Das Sündenbockverhalten ist ihm zur Gewohnheit geworden, und er hat den sechsten Sinn eines Narzissten für Menschen entwickelt, die in ihrer Familie drangsaliert und zur Zielscheibe gemacht wurden. Bob, verletzt durch den Missbrauch seiner Eltern, die ihn auf ihre perfektionistischen Ansprüche hin getrimmt haben, ist heute ein ausgeprägter Narzisst und »Kontrollfreak«. Er versucht auf aggressive Weise, seine Nächsten zu formen, wie er einst geformt wurde, und arbeitete in der Zeit von Carols Therapie gerade daran, seine vierte Ehefrau »auf Vordermann zu bringen«.
Doch kehren wir zu Carol zurück. In ihrer Jugend wurde ihr Trauma schmerzhaft durch das soziale Umfeld verstärkt, welches die Leistungen ihres Bruders so sehr bewunderte, dass es sich der Familie in Carols Abwertung als »fauler Apfel« anschloss.
Leider verschlimmerte die Lage sich für Carol noch, als sie erwachsen wurde, und das geschah, obwohl sie ihrer Familie scheinbar entkommen war. Im übertragenen Sinne blieb Carol in der »Verhexung« durch ihre Familie stecken, da sie immer wieder von Narzissten umgarnt wurde, die sie genauso misshandelten und vernachlässigten wie ihre Eltern. Dieses bekannte psychologische Phänomen nennt sich Wiederholungszwang oder Reenactment, und Trauma-Überlebende sind dafür äußerst anfällig. Wir werden das in diesem Buch noch ausführlich untersuchen.
Das dritte Kind, Maude, wurde zwei Jahre nach Carol geboren. Zu dieser Zeit hatte die ständige »Erziehung« der ersten beiden Kinder ihre Eltern schon erschöpft. Sie hatten die beiden in die Formen des Helden und des Sündenbocks gepresst und wussten nun nicht mehr, was sie mit Maude anfangen sollten. Sie hatten nicht mehr genügend Energie oder Interesse, um sie in irgendeine Form zu pressen.
Maude wurde zum klassischen verlorenen Kind, das sich selbst überlassen wurde. Schon bald fand sie im Essen und in Tagträumen ihren einzigen Trost. Da Bob jedoch Gefallen daran fand, auch sie als Zielscheibe zu benutzen, blieb sie so oft wie möglich in ihrem Zimmer.
Im Rückblick glaubte auch Carol, dass Bob Maude gequält hatte. Sie vermutete, dass diese beiden Faktoren dazu beigetragen hatten, dass Maude die diversen Kindertagesstätten und Vorschulen, in die ihre Mutter sie abschieben wollte, nicht ertrug. Im Laufe der Zeit versackte Maude in einer dissoziativen Störung niedrigen Grades und in einer Depression und wurde in Gesellschaft anderer Menschen extrem ängstlich und unsicher.
Als sie vier war, schenkte eine exzentrische Tante Maude ein Fernsehgerät für ihr Zimmer, und die war sofort davon gebannt. Es war unvermeidlich, dass sie eine Bindungsunfähigkeit entwickelte, denn anstatt an einen anderen Menschen band sie sich an das Fernsehgerät. Traurigerweise steckt sie noch immer in dieser Beziehung fest und lebt von Behindertenbeihilfe in einer Wohnung, die mit Unmengen nutzloser, gehorteter Sachen vollgestopft ist.
Wie so viele Kinder aus K-PTBS-induzierenden Familien konnte Maude sich nicht um Hilfe an ihre Geschwister wenden, da ihre Eltern unbewusst dem Prinzip »Teile und herrsche« huldigten. Sie hatten ihre Kinder zu Sarkasmus und ständiger Fehlersuche untereinander erzogen und ermutigt. Gemeinschaftliches Handeln und zwischenmenschliche Wärme wurden regelmäßig lächerlich gemacht.
Geschwisterrivalität wird in dysfunktionalen Familien noch dadurch verstärkt, dass alle Kinder nur ein Minimum an Zuwendung erfahren und daher gar keine Reserven haben, um einander zu stützen. Im Gegenteil, der Wettkampf um das Wenige, das die Eltern zu geben haben, verschärft die Rivalität zusätzlich.
Zwei Jahre später wurde Sean geboren. Zunächst hatte es den Anschein, als sei ihm das gleiche verlorene und einsame Schicksal bestimmt wie Maude, doch als er älter wurde, schlüpfte er in die Rolle des »begabten Kindes«, wie es von Alice Miller in »Das Drama des begabten Kindes« beschrieben wird.
Seans angeborene Begabung waren sein Einfühlungsvermögen und das Gefühl, er müsse seine Mutter nur eingehend beobachten und herausfinden, was sie brauchte, um ihre Bedürfnisse befriedigen zu können. Das würde sie von Zeit zu Zeit beruhigen und sie weniger gefährlich, verbittert und sarkastisch machen.
Über die Jahre hinweg verfeinerte Sean diese Begabung und konnte schließlich geradezu hellsichtig die wunden Stellen, Launen und Vorlieben seiner Mutter voraussehen. Manchmal schien er schon zu wissen, was sie brauchte, bevor sie selbst es wusste, und mit etwas Übung wurde er sehr geschickt darin, ihre Wut zu entschärfen und manchmal sogar ein Bröckchen Lob von ihr einzuheimsen.
Gleichzeitig bemerkte seine Mutter, dass sie alt wurde und dass ihr vom Alkohol zerrütteter Ehemann voraussichtlich vor ihr sterben würde. Da sie nicht allein bleiben wollte, beutete sie Seans Einfühlungsvermögen aus und richtete ihn zum Gesindedienst ab, solange sie ihn brauchen würde. Sean blieb zu Hause wohnen, bis der Tod seiner Mutter ihn im Alter von 29 Jahren aus der emotionalen Gefangenschaft erlöste. Das war die co-abhängige Versklavung, der wir in Kapitel 7 weiter nachgehen werden.
Ein Freund von Sean, der alle Geschwister als Erwachsene kennengelernt hatte, bemerkte erstaunt, dass es den Eindruck mache, als habe jedes der Kinder andere Eltern gehabt.
Allerdings muss angemerkt werden, dass die Sündenbockrolle nicht ausschließlich dem Fluchttyp vorbehalten ist, wie es bei Carol der Fall war. Je nach Familiensituation kann sie jeder der vier Überlebensstrategien zuteilwerden. Sie kann auch im Laufe der Zeit von einer Person zur anderen wechseln, und jeder Elternteil und jedes Geschwister kann sich einen anderen Sündenbock suchen.
In den Kapiteln 6 und 7 werden jede der vier Überlebensstrategien und deren entsprechende Abwehrstrukturen eingehend behandelt. Diese Kapitel werden Ihnen helfen, Ihre eigene dominante Konfliktabwehr zu bestimmen und sich mit den Problemen zu beschäftigen, die für Ihren K-PTBS-Typ spezifisch sind.
Die Heilung einer Komplexen PTBS ist vor allem eine komplexe Angelegenheit. Das muss unbedingt betont werden, da es zahlreiche eindimensionale Herangehensweisen an Traumata gibt, die sich selbst als Allheilmittel anpreisen. Nach meiner Erfahrung jedoch sind einseitige Methoden einfach nicht in der Lage, alle Ebenen der Verletzung anzusprechen, die in ihrem Zusammenwirken zu einer K-PTBS geführt haben.
Überdies können allzu simple Ansätze die toxische Scham verfestigen, wenn man die angepriesenen Erfolge nicht erreicht. Ich wurde zu einem großen Teil deshalb motiviert, dieses Buch zu schreiben, weil ich selbst so oft in immer neue Tiefen der Selbstverachtung versunken war, wenn die neueste Wundertherapie mich wieder nicht geheilt hatte.
Ich werde wiederholt das Wort »Schlüssel« verwenden, um die verschiedenen Arbeitsschritte zu beschreiben, von denen die Genesung abhängig ist. Dieses Buch bietet Ihnen einen ganzen Schlüsselbund an Perspektiven und Techniken, die Ihnen helfen werden, sich aus dem, was Alice Miller das »Gefängnis der Kindheit« nennt, zu befreien.
Eltern, die ihre Kinder misshandeln, missbrauchen und vernachlässigen, können sie auf vielen Ebenen verletzen und verlassen: auf der kognitiven Ebene, der emotionalen, der geistigen, der physischen und der Beziehungsebene. Um zu genesen, muss man lernen, sich selbst Halt zu geben – die eigenen unbefriedigten Entwicklungsbedürfnisse zu befriedigen, und zwar auf jeder für das Kindheitstrauma relevanten Ebene.
Dieses Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die vielen Arbeitsschritte, aus denen sich die Heilung der K-PTBS zusammensetzt. Die Arbeitsschritte selbst werden in Teil 2 ausführlicher besprochen. Das umfangreiche Inhaltsverzeichnis am Anfang des Buches wird Sie zu weiteren Informationen zu jedem in diesem Kapitel besprochenen Thema führen. Nutzen Sie dieses Inhaltsverzeichnis ruhig auch, um Abschnitte zu erkunden, die Ihr Interesse wecken.
Hier folgt eine Liste der häufigsten Entwicklungshemmungen, die bei einer K-PTBS auftreten können. Es kann sein, dass diese Charakteristika gesunder Menschen bei Ihnen mangelhaft ausgebildet sind oder ganz fehlen. Normalerweise unterscheiden sich Überlebende in der Art und Anzahl der sie betreffenden Entwicklungshemmungen. Das hängt unter anderem von der Überlebensstrategie, der Art des Missbrauchs, der Misshandlung oder der Vernachlässigung in der Kindheit und von der therapeutischen Arbeit ab, die bereits geleistet wurde.
■ Selbstannahme
■ klares Identitätsgefühl
■ Selbstmitgefühl, Selbstliebe
■ Selbstschutz
■ Fähigkeit, sich in Beziehungen wohlzufühlen
■ Entspannungsfähigkeit
■ Fähigkeit, sich selbst vollständig auszudrücken
■ Willenskraft und Motivation
■ Seelenfrieden
■ Selbstfürsorge
■ Empfindung des Lebens als Geschenk
■ Selbstwertgefühl
■ Selbstvertrauen
Meine Bemühungen, mich in diesen gehemmten Bereichen wiederaufzubauen, wurden zu Beginn meiner Heilung durch Groll eingeschränkt und vereitelt. »Wieso muss ich das tun?« war der übliche innere Refrain. Der Groll, der sich gegen meine Eltern hätte richten sollen, kam oft wie ein Bumerang zu mir zurück und verdarb oder vereitelte meine Bemühungen, mich weiterzuentwickeln.
Zum Glück half der laufende Genesungsprozess, diesen Groll zu heilen. Er lehrte mich, mich selbst so zu umsorgen, wie man es für ein Kind tun würde, das Hilfe braucht und verdient.
* * *
Ich finde es hilfreich, Entwicklungshemmungen aus der Perspektive des Schriftstellers David Mitchell anzugehen, der geistreich vermerkte: »... Feuer ist die Sonne, die langsam aus dem Wald aufsteigt.« Auf die gleiche Weise lässt eine erfolgreiche Genesung das Ihnen angeborene natürliche Potenzial aus dem Unbewussten aufsteigen. Es ist das jedem innewohnende Potenzial, das vielleicht bislang infolge eines Kindheitstraumas brachgelegen hat.
Eine besonders tragische Entwicklungshemmung, die viele Überlebende heimsucht, ist der Verlust der Willenskraft und Selbstmotivation. Viele Eltern mit dysfunktionalen Verhaltensweisen reagieren destruktiv auf die aufkeimende Eigeninitiative ihres Kindes. Wenn dies sich durch die ganze Kindheit hinzieht, fühlt sich der Überlebende im späteren Leben oft halt- und ziellos. Dieser Mensch wird steuerlos und ohne Motor durch sein ganzes Leben treiben.
Doch selbst wenn es ihm gelingt, sich selbst ein Ziel zu setzen, wird es ihm schwerfallen, es über längere Zeit konzentriert zu verfolgen. Diese Entwicklungshemmung zu heilen, ist unerlässlich, denn mittlerweile haben viele neue psychologische Studien gezeigt, dass Beharrlichkeit – mehr noch als Intelligenz oder Begabung – die wichtigste psychologische Voraussetzung für ein erfülltes Leben ist.
Ich habe mit vielen Überlebenden gearbeitet, die als Erwachsene in einer solchen Hilflosigkeit festsaßen. Diejenigen, denen es gelungen ist, sich daraus zu befreien, haben dies vor allem deshalb geschafft, weil sie sich ganz auf die Wutarbeit beim Trauern eingelassen haben, mit der dieses Buch sich beschäftigt. Die Fähigkeit, Willenskraft aufzubringen, scheint mit der Fähigkeit zusammenzuhängen, seine Wut auf gesunde Weise auszudrücken. Bei hinreichender Genesung werden Sie auch lernen, selbst Willenskraft hervorzubringen, und zu Beginn können Sie sie vortäuschen, bis sie wirklich verfügbar ist. Stephen Johnson nennt das »das Wunder der harten Arbeit«.
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Hier noch ein abschließender Kommentar zu Entwicklungshemmungen. Manche Überlebende haben Selbstvertrauen, aber kein Selbstwertgefühl. In meiner Jugend wurde meine Fluchtreaktion in das Erlangen akademischer Kompetenzen kanalisiert, für die ich von der Außenwelt belohnt wurde. Doch der Genuss dieser Belohnungen konnte meine toxische Scham nie so weit verdrängen, dass er mir das Gefühl gegeben hätte, ein wertvoller Mensch zu sein.
Mein innerer Kritiker fand ganz wie meine Eltern immer wieder Mängel an mir, um dem Feedback, das ich bekam, widersprechen zu können. 99 Prozent in einem Test waren für mich niemals ein Anlass dafür, stolz zu sein. Eher war es der Anstoß zu einer unaufhörlichen Selbstkritik wegen des fehlenden einen Prozents. Wie viele andere Überlebende, mit denen ich gearbeitet habe, entwickelte ich das Hochstapler-Syndrom. Dieses Syndrom widersprach dem positiven Feedback, das ich von der Außenwelt erhielt. Es behauptete stur, wenn mich die Leute wirklich kennen würden, würden sie sehen, was für ein Versager ich bin. Am Ende jedoch vertraute ich meiner Intelligenz, auch wenn mein Selbstwertgefühl nach wie vor miserabel war.
Die erste Ebene der Heilung besteht in der Regel darin, den Schaden zu beheben, den die K-PTBS unserem Denken und unseren Glaubenssätzen über uns selbst zugefügt hat.
Die kognitive Heilarbeit zielt darauf ab, Ihr Gehirn anwenderfreundlich zu machen. Sie konzentriert sich darauf, die destruktiven Gedanken und Denkprozesse zu erkennen und zu eliminieren, mit denen Sie von klein auf indoktriniert wurden.
Kognitive Heilung hängt auch davon ab, dass Sie lernen, gesünder und genauer über sich selbst zu sprechen und zu denken. Im weitesten Sinne beinhaltet das eine positive Neubewertung der Geschichte, die Sie sich selbst über Ihr Leiden erzählen.
Wir müssen genau verstehen, auf welche Weise unsere haarsträubende Erziehung das sich inzwischen selbst verstärkende Trauma erzeugt hat, in dem wir leben. Wir können lernen, dies so zu tun, dass es unserer ungerechtfertigten Selbstbeschuldigung die Spitze nimmt. Diese Beschuldigungen können wir auf die schrecklichen »Aufzuchtspraktiken« unserer Eltern umlenken. Und wir können das so tun, dass es uns dazu motiviert, die Einflüsse unserer Eltern zurückzuweisen, damit wir unseren Heilungsweg selbst frei gestalten können.
Diese Arbeit verlangt von uns somit, dass wir eine unerschütterliche Treue zu uns selbst aufbauen. Eine solche Loyalität stärkt uns für die kognitive Arbeit, mit der wir unseren Kopf von der Konditionierung befreien, so viele normale Anteile unserer selbst zu verunglimpfen.