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Vergebung praktizieren und traumatische Kindheitserinnerungen hinter sich lassen
Mit dem inneren Kind die Seele heilen – auf dem Weg zu einem neuen Gefühlsleben
Mit seinem Erstlingswerk „Das Tao der Gefühle“ hat Pete Walker, Autor des Bestsellers „Posttraumatische Belastungsstörung“, die Messlatte sehr hoch gehängt. Wie gravierend missbräuchliche Kindheitserfahrungen nachhallen können, erlebte Walker als Kind einer zutiefst dysfunktionalen Familie.
Ganzheitliche Traumatherapie
Walkers eigener hürdenreicher Weg zur Heilung sowie seine langjährigen Erfahrungen als Therapeut versetzten ihn in die Lage, mit diesem empathischen Ratgeber wesentliche Kernelemente ganzheitlicher Traumatherapie mit spirituellen Weisheiten zu verbinden. Die tief greifende Heilung von Traumata ist möglich, wenn Gefühle wie Schuld, Wut, Trauer und Scham zugelassen werden. Gegensätze in unserem Gefühlsleben unterliegen Yin-Yang-Prozessen und bilden eine Einheit, wenn wir negative Gefühle erlauben.
Ein zentrales Element der Therapie ist die Rückverbindung mit dem inneren Kind (Reparenting), um sich wieder vertrauensvoll auf Beziehungen und das Leben einzulassen.
Stationen erfolgreicher Heilung:
Bildkräftige Formulierungen und Schilderungen aus Walkers Leben und seiner Praxis vermitteln das Gefühl, den Weg der Heilung mit einem verständigen Freund Hand in Hand zu gehen.
„Walkers detailliertes Konzept des Reparenting wird Ihnen helfen, den Heilungsprozess zu durchlaufen.“
– Alice Miller, weltberühmte Autorin & Psychologin,
spezialisiert auf Eltern-Kind-Beziehungen
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Seitenzahl: 605
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PeteWalker
Das Tao der Gefühle
Vergebung praktizieren und traumatische Kindheitserinnerungen hinter sich lassen
Pete Walker Das Tao der Gefühle: Vergebung praktizieren undtraumatische Kindheitserinnerungen hinter sich lassen
1. deutsche Ausgabe 2021 ISBN 978-3-96257-229-7 © 2021, Narayana Verlag GmbH
Titel der Originalausgabe: The Tao of fully Feeling: Harvesting Forgiveness out of Blame © 1995, Pete Walker
Übersetzung aus dem Englischen: Elisabeth Möller-Giesen Coverlayout: Nicole Laka, www.Nicole-Laka.deCoverabbildung: shutterstock 503896363, © HstrongART
Herausgeber: Unimedica im Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2, D-79400 Kandern Tel.: +49 7626 974 970-0 E-Mail: [email protected]
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Für meine beste Freundin, Sat Ferren, die wie eine Mutter für mich war.
Für Jim Dowe, »Walt Whitman in a Buick«, meine wichtigste Vaterfigur.
Für meine Schwestern Pat, Diane und Sharon durch deren Liebe in der Kindheit mein Herz am Leben blieb.
Ich weiß, es gibt kein Gefängnis, außer dem, das ich mir selbst schaffe, um mich davor zu schützen, meinen Schmerz zu spüren. – Sheldon Kopp
Den Schmerz einzuladen, Teil meiner Erfahrung zu werden, und mein Leben nicht kontrollieren zu müssen, um den Schmerz zu kontrollieren,
Begriffe
Einleitung
Kapitel 1 – Die Bedeutung der Wiedererlangung des ganzen Spektrums der Gefühle
Schluss mit der Flucht vor den Gefühlen
Wie Schuldzuweisungen zur Vergebung führen
Trauer geht der Erlösung voraus
Wie kann ich dir verzeihen, wenn du keine Schuld hast?
Vergeben, aber nicht vergessen
Der Lohn der emotionalen Genesung
Kapitel 2 – Vergebung als Verleugnung
Verleugnung verschleiert Selbstschädigung
Vorschnelle Vergebung und Schuld
Vorschnelle Vergebung und der Verlust der fundamentalen Menschenrechte
Falsche Vergebung und Perfektionismus
Verleugnung des Perfektionismus
Perfektionismus tötet das Selbstwertgefühl, so wie Falschheit die Liebe tötet
Es gibt nicht den perfekten Menschen
Wunderliche Vorstellungen von Perfektionismus
Inselbegabte der emotionalen Art
Kapitel 3 – Das Tao der Gefühle
Grundlegende Dynamik der emotionalen Natur
Ganzheitlichkeit
Polarität
Polarität zu verstehen hilft uns mit normaler Einsamkeit umzugehen
Ambivalenz
Ambivalenz und Spaltung
Ambivalenz und Spiritualität
Im Fluss
Kapitel 4 – Die Gaben des Trauerns
Die Verluste der Kindheit betrauern und zurückfordern
Die durchs Trauern zurückgewonnenen Emotionen bereichern die Lebenserfahrung
Mögliche Ziele der Genesung
Trauern weckt das Selbstmitgefühl
Trauern aktiviert den Selbstschutzinstinkt
Trauern mildert emotionale Flashbacks
Die dysfunktionale Familie als Kriegsgebiet
Trauern verringert Somatisierung
Trauern öffnet die Tür zu Frieden und Entlastung
Trauern befähigt das Herz, wieder zu lieben
Umschiffung meiner Einsamkeit
Geführte Meditation
Trauern vermindert die Verleugnung und Verharmlosung
Trauern lindert Furcht und Scham
Kapitel 5 – Die vier wesentlichen Trauerprozesse
Weinen
Selbstmitleid in Selbstmitgefühl umwandeln
Weinen heilt Katastrophisieren und Dramatisieren
Weinen und positive Nostalgie
Wütend sein
Techniken, um seiner Wut Ausdruck zu verleihen
Wut ablassen schafft Vertrauen
Vorübergehende Abspaltung der Wut hilft bei der Genesung
Verbale Entlastung
Gefühle ganzheitlich zum Ausdruck bringen
Fühlen
Technik zur Verbesserung des Fühlens
Fühlen als spirituelle Praxis
Wie die Vernunft das Trauern umgeht
Trauern ist nicht immer eine schnelle Lösung
Die Dunkle Nacht der Seele
Unvorhersehbare Stürme der Trauer
Wenn Trauern keine Erleichterung bringt
Kapitel 6 – Trauern fördert die Lebenskraft, indem selbstzerstörerisches Verhalten abgebaut wird
Dissoziation
Alles in Maßen, einschließlich der Abwehrhaltung
Hypervigilanz
Nach außen schauen, um nicht nach innen schauen zu müssen
Gesunde Hypervigilanz
Schwanken zwischen Hypervigilanz und Dissoziation
Zwangsgedanken
Gesunde Zwangsgedanken
Die therapeutische Sackgasse der Überanalyse von Zwangsgedanken
Verhaltenszwänge
Zwänge zehren unseren Körper aus
Zwangsgedanken und Verhaltenszwänge
Busyholismus
Busyholismus und Co-Abhängigkeit
Gesunde Verhaltenszwänge
Der gesunde Einsatz von Abwehrmechanismen beim Rückzug von der Trauer
Wenn Genesung zwanghaft wird
Kapitel 7 – Schuld und Vergebung Schuldzuweisungen sind nicht verwerflich
Erlernte Hilflosigkeit und toxische Schuldzuweisungen
Schuldzuweisung als gesunder Selbstschutz
Keine Genesung vs. Wiederherstellung des »Nein-Sagens«
Zu beschämt, um Vorwürfe zu machen
Schuldzuweisungen emotional ausagieren
Wiederholungszwang, Schuldzuweisung und vorzeitige Vergebung
Die heilende Ambivalenz von Vergebung und Schuldzuweisung
Schuldzuweisung als fortlaufender Prozess
Schuldzuweisungen und Scham
Der innere Kritiker
Kriegserklärung an den inneren Kritiker
Sich gegen die toxische Scham wehren
Das Zusammenspiel von Schuldzuweisung und Vergebung
Kapitel 8 – Ganzheitliches Fühlen nicht ohne vollständiges Erinnern
Rekonstruktion eines detaillierten Bildes der Misshandlung und der Vernachlässigung in der Kindheit
Verbale Gewalt
Emotionale Gewalt
Das tödliche Duo von verbaler und emotionaler Gewalt
Sarkasmus und Spott: Versteckte Gewalt
Merkmale des destruktiven Sarkasmus
Verletzender Sarkasmus
Sarkasmus: Das Ventil für unterdrückte Wut
Fernsehen und Sarkasmus
Sarkasmus macht den Mann zur Insel
Sarkasmus zerstört Beziehungen
Gesunde Grenzen bei Sarkasmus und Hänseleien
Konstruktives Feedback entschärft Sarkasmus
Vernachlässigung: Unsichtbares Vergehen
Verbale Vernachlässigung
Verbale Zuwendung
Genesung von verbaler Vernachlässigung
Wiederbelebung des Selbstausdrucks durch Psychotherapie
Emotionale Vernachlässigung
Spiegelung
Gedeihstörung
Genesung von emotionaler Vernachlässigung
Seelischer Missbrauch
Seelische Vernachlässigung
Genesung von seelischer Vernachlässigung
Trauern als spirituelle Praxis
Kapitel 9 – Selbstmitfühlendes Reparenting
Reparenting beginnt mit der Vergebung gegenüber dem inneren Kind
Gespräche mit und im Sinne des inneren Kindes
Selbstbemutterung
Selbstbevaterung
Kapitel 10 – Vergebung und mildernde Umstände
Wie sich die ungeweinten Tränen unserer Eltern in Wut verwandelten
Unseren Eltern vergeben
Das emotionale und seelische Massaker der industriellen Revolution
Die imaginative Rekonstruktion der Kindheit unserer Eltern
Gott: Der ultimative mildernde Umstand
Das Verständnis mildernder Umstände lindert die Scham
Kapitel 11 – Grenzen der Vergebung, Mildernde Umstände sind manchmal irrelevant
Der andauernde Tanz zwischen Vergebung und Schuldzuweisung
Grade der Vergebung
Vergebung aus der Distanz
Reale Gefühle der Vergebung können die Verleugnung erneut heraufbeschwören
Vergebung kann emotionale Ausbeutung verdecken
Meine persönliche Geschichte der Vergebung aus der Distanz
Einschränkung des Kontakts mit weiterhin dysfunktionalen Eltern
Vergebung und Spiritualität
Kapitel 12 – Suche nach Vergebung für die eigene dysfunktionale Elternschaft
Beispiel für eine ausgewogene Entschuldigung
Vergebung, Reparenting und das innere Kind
Suche nach Vergebung für unser eigenes schlechtes Reparenting
Vergebung, Schuldzuweisung und das innere Kind
Kapitel 13 – Selbstvergebung
Selbstvergebung und Vergebung gegenüber anderen
Selbstvergebung für frühere Fehler und eingefahrene Angewohnheiten
Selbstvergebung und tief verwurzelter Selbsthass
Selbstvergebung und existenzielles Leid
Selbstvergebung, Vergebung anderen gegenüber und mildernde Umstände
Gegenseitige Vergebung
Entschlüsselung der Vermengung aus vergangenem und gegenwärtigem Leid
Kapitel 14 – Den Eltern echte Vergebung entgegenbringen
Dynamische Vergebung
Vergebung als Teil der Liebe
Anhang A – Eine Übersicht zur Bewertung von elterlicher Misshandlung und Vernachlässigung
Misshandlung
Vernachlässigung
Überblick über gesunde elterliche Erziehungspraktiken und -fähigkeiten
Anhang B – Die Menschheitscharta des Rechts auf Selbstausdruck
Anhang C – Affirmationen für das Reparenting des inneren Kindes
Baby
Kleinkind
Vorschulkind
Schulkind
Danksagung
Bibliografie
Index
Dysfunktionale Familie bezieht sich auf jede Familie, die das natürliche Selbstwertgefühl eines Kindes durch jegliche Konstellation von verbaler, seelischer, emotionaler oder körperlicher Misshandlung und Vernachlässigung beschädigt, wie in Anhang A und Kapitel 8 definiert.
Die Begriffe erwachsenes Kind, Überlebender und Genesender werden austauschbar für jegliche Person verwendet, die durch missbräuchliche oder vernachlässigende Erziehung in der Kindheit verletzt wurde. Erwachsenes Kind bedeutet nicht, dass erwachsene Überlebende von dysfunktionalen Familien sich kindisch verhalten. Es bezieht sich auf die Tatsache, dass sie erwachsen geworden sind, ohne dass viele ihrer entwicklungsgemäßen Bedürfnisse befriedigt wurden. Viele erwachsene Kinder müssen erst noch das volle emotionale Potenzial eines reifen Erwachsenen entwickeln – sowie die Fähigkeit, entsprechende Beziehungen zu führen und sich selbst auszudrücken.
Inneres Kind bezieht sich auf den Teil des Selbst, der entwicklungsmäßig gefangen ist, weil in der Kindheit wichtige Formen der Fürsorge fehlten. Für einige Überlebende ist dieser Begriff lediglich ein nützlicher Ansatz, um diese Bedürfnisse zu identifizieren. Für andere, wie mich selbst, scheint es im Unterbewusstsein ein »altes« Kind-Selbst zu geben, das immer noch auf das Sicherheitsgefühl und die Fürsorge wartet, um ein vollwertiges, funktionierendes Erwachsen-Selbst entwickeln zu können.
Der Begriff Genesung wird auf zwei Arten verwendet: erstens als übergreifender Begriff zur Beschreibung des allgemeinen Heilungsprozesses von Traumata, die durch Kindesmisshandlung und Vernachlässigung entstanden sind. Viele Genesende beschreiben dies mit dem Satz »Ich bin in Genesung«. Genesung wird auch verwendet, um spezifische Entwicklungsziele zu benennen, z.B.: »Ich arbeite an der Wiederherstellung meiner Gefühle« oder »Meine Therapie hilft mir, mein Selbstbewusstsein wiederzuerlangen«. Genesung muss man sich als einen fortlaufenden Prozess vorstellen – einen Prozess der Wiederherstellung, nicht die erfolgte Genesung. Dies hilft, die Fallstricke einer Alles-oder-nichts-Bewertung und eines Schwarz-Weiß-Denkens zu vermeiden, die ein gemeinsames Erbe der dysfunktionalen Familie sind.
Der Begriff Co-Abhängigkeit wird im engeren Sinne bei einem erwachsenen Kind verwendet, das gewöhnlich seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche im Übermaß zugunsten eines anderen Menschen opfert. Co-Abhängigkeit ist häufig das Ergebnis einer Kindheit, in der die Bedürfnisse der Eltern in der Regel über die des Kindes gestellt wurden.
Der Begriff toxische Scham beschreibt einen verzerrten mentalen und emotionalen Zustand, der viele erwachsene Kinder über längere Phasen quält, in denen sie sich von Selbsthass überwältigt und außer Gefecht gesetzt fühlen. Toxische Scham entsteht, wenn die Betroffenen in ihrer Kindheit fortlaufend elterlicher Missbilligung und Abscheu ausgesetzt waren. (Kapitel 7 untersucht die durch nichts zu ersetzende Rolle der Schuldzuweisung bei der Heilung von toxischer Scham.)
Der Begriff effektives Trauern bezieht sich auf die Tatsache, dass die meisten Überlebenden nicht in der Lage sind, sich ihrer Trauer voll und ganz hinzugeben, um das wertvolle Gefühl der Erleichterung zu erleben, das sich dadurch ergibt. (In Kapitel 5 werden die häufigsten Ursachen für »gescheiterte« Trauerarbeit untersucht.)
Während die Substantive Gefühl und Emotion in diesem Buch im gleichen Sinne verwendet werden, unterscheiden sich die Worte fühlen und emotional sein voneinander. Fühlen bezeichnet den Prozess, wenn wir uns inneren, gefühlsmäßigen Erfahrungen hingeben und diese akzeptieren, ohne sie ändern zu wollen. Emotional sein ist der Prozess des aktiven Ausdrucks innerer gefühlsbezogener Erfahrungen, wie z.B. weinen, »sich ärgern« oder lachen.
weil fühlen zuerst kommt
wer sich kümmert
um die syntax der dinge
wird nie voll dich küssen;
— E.E. Cummings
Die Industriegesellschaften werden so seelenlos wie ihre maschinellen Idole, die sie über die Menschlichkeit stellen. Industriegesellschaften behandeln Gefühle, als wären sie veraltete Teile. Das Tao der Gefühle ist eine Anleitung zur Rückgewinnung des emotionalen Reichtums, dessen wir in der Kindheit beraubt wurden, so wie in unserem Land Holz und Kohle abgeschafft wurden.
Das Tao der Gefühle entstand aus meinem persönlichen Kampf und dem meiner Klienten und Freunde, unsere Gefühle zurückzugewinnen. Das Buch ist eine Einladung, zu erfahren, wie Fühlen und das Zeigen von Gefühlen unsere Werte auf natürliche Weise beeinflussen, sodass Liebe und Vertrautheit wieder über materielle Güter und Konsum gestellt werden.
Das Tao der Gefühle konzentriert sich stark auf die dysfunktionale Familie, denn dort wird das gesellschaftliche Diktum gegen das Fühlen am strengsten durchgesetzt. Ich stimme mit John Bradshaw überein, dass unsere Kultur von einer Epidemie des Versagens elterlicher Erziehung befallen ist.
Meine Aussagen über familiäre Dysfunktionalität stimmen mit einer Reihe aktueller Bücher überein, deren Titel allein schon den Zusammenbruch der Institution der Elternschaft in unserer Kultur widerspiegeln: Das Drama des begabten Kindes; Betrayal of Innocence [Verrat der Unschuld]; The Secret Everyone Knows [Das Geheimnis, das jeder kennt]; Hearts That We Broke A Long Time Ago [Herzen, die wir vor langer Zeit gebrochen haben]; Soul Murder: Persecution in the Family [Seelenmord: Schikane in der Familie]; After The Tears: Reclaiming the Personal Losses of Childhood [Nach den Tränen: Die persönlichen Verluste der Kindheit zurückgewinnen]; Getting Divorced From Mother And Dad [Trennung von Mutter und Vater]; Wenn Scham krank macht; My Name Is Chellis, I’m in Recovery from Western Civilization [Mein Name ist Chellis, Ich befinde mich im Genesungsprozess von der westlichen Zivilisation]. Familiäre Dysfunktionalität ist in unserer Gesellschaft so alltäglich und normal, dass sie nicht leicht zu erkennen ist. Paradoxerweise ignorieren diejenigen, die in ihrer Kindheit nicht unter massiver körperlicher Gewalt gelitten haben, am ehesten die schädlichen Auswirkungen ihrer Kindheit. Dennoch wurzeln die meisten Leiden von Erwachsenen, die mir als Psychotherapeut begegnet sind, auf nicht-physischen Formen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung.
Die häufigste Form des Leids von Erwachsenen ist Selbsthass, und der Gegenstand dieses Hasses sind in der Regel unsere Gefühle. Die meisten von uns wurden in sehr jungen Jahren attackiert, beschämt oder abgelehnt, weil sie Emotionen gezeigt haben. Vor der Zeit unserer Erinnerung waren die meisten von uns schon gezwungen, auf unsere Gefühle zu verzichten und uns dafür zu hassen, dass sie hatten. Dieses Buch bietet praktische Ratschläge, um diese unbewusste, selbstzerstörerische Angewohnheit zu durchbrechen.
Die Perspektiven und Ratschläge, die ich hier anbiete, basieren auf vielfältigen Lebenserfahrungen und Studien. Mein persönlicher Weg der emotionalen Genesung ist damit verwoben. An den Anfang möchte ich eine irritierende Beobachtung stellen, nämlich dass die US-Armee auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges für mich ein wärmeres, fürsorglicheres Zuhause war als mein Elternhaus.
Diese überraschende Erkenntnis gewann ich durch eine Reihe von wiederkehrenden Träumen, in denen ich mich wiederholt freiwillig zur Armee gemeldet habe und in denen ich glücklicher und erfüllter war als jemals im echten Leben.
Diese Träume verwirrten mich all die zehn Jahre, in denen sie auftraten. Wenn sie Albträume gewesen wären, hätten sie vollkommen Sinn für mich gemacht, denn ich wollte nie in die Armee. Jegliche Vorstellung, dass die Armee für mich von irgendeinem Nutzen sein könnte, war undenkbar. In der Zeit, als ich dort festsaß, sehnte ich mich unendlich nach dem Ende meiner Dienstzeit.
Diese Träume haben mich so konfus gemacht, dass ich gelegentlich betete: »Bitte, Gott, sag mir, dass es nicht bedeutet, dass ich mich wieder verpflichten soll!«
Schließlich begann ich diese Träume zu verstehen, indem ich meine Erfahrungen in der Armee mit dem Leben in meiner Familie verglich. Die Ausbilder und Offiziere, die mich zu einem Kampfzugführer schulten, waren verbal und emotional auf gleiche Weise missbräuchlich wie meine Eltern. Auch die drohende Gefahr von körperlicher Gewalt war mir bekannt, wenngleich mein Kriegsdienst entlang der koreanischen entmilitarisierten Zone (EMZ) wesentlich weniger gefährlich war als in Vietnam.
In der Armee war es jedoch anders als in meiner Familie, denn ich bin nie wirklich körperlich angegriffen wurde, wohingegen körperliche Misshandlungen bis zu meinem Teenageralter zu Hause andauernd vorkamen.
Während ich über diese Differenzierung nachdachte, entdeckte ich weitere wichtige Unterschiede zwischen der Armee und meiner Familie. Sobald die relativ kurze erniedrigende Anfangsphase der Ausbildung abgeschlossen war, erwies sich die Armee als deutlich angenehmer als meine Familie. Im Gegensatz zu meiner Familie boten mir klar definierte Regeln die Möglichkeit, »es richtig zu machen«, mich einzufügen sowie Wertschätzung und Respekt zu erlangen.
Das Leben in der Armee war kein ständiger Irrgarten von Doppelbotschaften und No-win-Situationen. Und obwohl es im Dienst zahlreiche unangenehme und gefährliche Situationen gab, erlebte ich viele Phasen, die sicher und frei von drohenden Angriffen waren. Selbst die berüchtigte stressige Grundausbildung bot für mich insgesamt mehr Sicherheit als meine Familie! Welch glückliche und erleichternde Erfahrung war es, in der Messe zu essen, ohne von der Person neben mir plötzlich angeschrien oder geschlagen zu werden, wie es so oft bei Mahlzeiten in meiner Familie geschehen war! Ich entspannte mich so weit, dass ich mein Essen besser verwerten konnte, und ich nahm in den ersten sechs Monaten gesunde dreißig Pfund zu.
Ich habe dort auch viele Freunde gefunden, die mich schätzten. Ich glänzte bei der Erfüllung von Aufgaben, die mir zugewiesen wurden, und wurde für meine Leistung belohnt. Mein Selbstvertrauen und meine Durchsetzungskraft wuchsen sprunghaft an und ich begann zu glauben, dass ich vielleicht doch noch ein bisschen Wert habe. (Das bedeutet nicht, dass ich sofort von dem Glauben geheilt wurde, der bei vielen erwachsenen Kindern verbreitet ist, dass mein Erfolg nur ein Zufall war. Die meiste Zeit dachte ich, ich würde meine Vorgesetzten nur täuschen und dass sie, wenn sie mein wahres Ich entdeckten – das fehlerbehaftete, das meine Eltern ohne große Schwierigkeiten erkannt hatten –, mich schnell in eine niedrigere Position degradieren würden. Ich war immer noch mit dem berüchtigten »Hochstapler-Syndrom« behaftet, das die Erfolge vieler erwachsener Kinder verdirbt.)
Als ich diese Träume verstand, hörten sie auf. Ihre Funktion war erfüllt, sobald sie den allmählichen Zerfall meiner »idyllischen Kindheit«-Illusion einleiteten.
Zu dieser Zeit studierte ich Psychologie, Soziologie und Anthropologie an der Universität. Meine Studien beschleunigten die Auflösung meiner Illusion von meiner »perfekten« Familie. Ich entdeckte eklatante Beweise dafür, dass westliche Erziehungspraktiken seit der Industriellen Revolution kontinuierlich weitergegeben wurden. Schließlich kam ich zu der Überzeugung, dass die meisten amerikanischen Familien das Ideal der perfekten Familie aus der beliebten Fernsehserie The Brady Bunch Lügen strafen.
Meine Ansicht, dass wir unter einer Erziehungskrise leiden, gründet auch auf den Erfahrungen der sechs Jahre, die ich mit oder in der Nähe von Menschen aus nicht industrialisierten Gesellschaften verbracht habe: drei Jahre in Afrika und Asien sowie drei Jahre in der Nähe eines Aborigines-Reservats im Norden Australiens.
Beim Vergleich der vor- und nachindustriellen elterlichen Erziehungspraktiken scheint es offensichtlich, dass westliche Eltern den Kontakt zu ihren emotional geprägten elterlichen Instinkten verloren haben. Allein dieser Faktor verursacht bei den meisten unserer Kinder eine Menge unnötiger und unbeabsichtigter Verletzungen und Entbehrungen. Diese Beobachtung zeigt sich deutlich in der Reaktion der kalifornischen Ureinwohner auf die ersten westlichen Siedler. Sie waren vom mangelnden Mitgefühl der Europäer ihren Kindern gegenüber so sehr betroffen, dass Sie sie verächtlich als »die Leute, die ihre Kinder schlagen« bezeichneten.
Unzählige Erlebnisse machten mich neidisch auf die Beziehungen der Eltern und Kinder in »primitiven« Kulturen. Eltern dieser Kulturen leiten ihre Kinder an und betreuen sie nach dem gesunden Menschenverstand, den wir schon lange aufgegeben haben, so wie viele unserer Gefühle und Instinkte. Alice Miller beschreibt den Erziehungsprozess, der uns unserer Gefühle beraubt, bevor wir uns ihrer bewusst sind und sie zu schätzen wissen:
… (Wir) haben alle die Kunst entwickelt, keine Gefühle zu empfinden, denn ein Kind kann seine Gefühle nur dann erleben, wenn es jemanden gibt, der es voll akzeptiert, versteht und unterstützt. Wenn das nicht gegeben ist und das Kind riskieren muss, die Liebe der Mutter oder ihres Stellvertreters zu verlieren, dann kann es diese Gefühle nicht heimlich »nur für sich selbst« empfinden, sondern überhaupt nicht.
Als ich eines Tages über die Betrachtung von Alice Miller nachdachte, kam mir dieses Gedicht in den Sinn:
Sie stumpfen meine Gefühle ab
Um die Blutung meiner Tränen zu stoppen
Und nun ertrinke ich allein in
Einem Pool, der seit Jahren verblutet ist.
Eltern in nichtindustrialisierten Gesellschaften lieben ihre Kinder auf eine Art und Weise, die jenseits der Fähigkeit der meisten westlichen Eltern liegt. So sehr wir uns auch aufrichtig bemühen, unsere Kinder zu lieben, wir scheitern gewöhnlich kläglich, weil wir von unserer emotionalen Natur getrennt sind. Ängstlich und beschämt über unsere Gefühle und unsere inneren Erfahrungen, haben wir keinen Zugang zu dem Teil unseres Selbst, wo liebevolle Gefühle entstehen.
Es gibt eine Geschichte der amerikanischen Ureinwohner, die den Mangel an Liebe in unserer Kultur hervorhebt. Ein westlicher Anthropologe, der bei den Hopi-Indianern lebte und sie studierte, bemerkte im Laufe der Zeit, dass die meisten Hopi-Lieder vom Wasser handelten. Eines Tages fragte er den Schamanen:
Wie kommt es, dass ihr so viel über Wasser singt? In meiner Kultur ist die Liebe das Thema, das am häufigsten in unseren Liedern zum Ausdruck kommt. Schätzt dein Volk die Liebe nicht?
Der Schamane dieser Wüstenkultur antwortete:
In meiner Kultur sind die Lieder häufig Gebete, und wir singen und beten für die wertvollen Dinge im Leben, von denen wir nicht genug haben. Liebe gehört nicht dazu.
Das Tao der Gefühe skizziert eine Reise zurück zu den Gefühlen und zurück zu authentischen, gefühlsbasierten Liebeserfahrungen. Wenn wir jemals wieder unsere natürliche Fähigkeit, unsere Kinder wirklich zu lieben, wiedererlangen wollen, müssen wir zuerst lernen, uns in all unseren emotionalen Zuständen selbst zu lieben. Wir beginnen damit, so absurd es auch erscheinen mag, indem wir uns selbst und anderen verzeihen, Gefühle zu haben! Wir erreichen dies, indem wir uns weigern, unseren Eltern nachzueifern – und zwar indem wir mit der von ihnen übernommenen Angewohnheit brechen, uns schuldig zu fühlen und uns für die meisten unserer Gefühle, mit denen wir dem Leben begegnen, zu schämen.
Ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch helfen wird zu verstehen, dass Sie in der Kindheit schwere Verluste erlitten haben, falls auch Ihre Eltern sich an die Normen und Praktiken der modernen Erziehung gehalten und diese befolgt haben. Ich möchte Sie auf Anhang A hinweisen, der Ihnen helfen soll, eine sachkundigere Bewertung dieser Behauptung vorzunehmen.
Bei meinen Versuchen, mit meinen Emotionen zurechtzukommen, bin ich in vielen Sackgassen gelandet. Ich habe sie verdrängt, runtergeschluckt, in Alkohol ertränkt, bin abgehoben in Hanf-Schwaden, hungerte sie aus, begrub sie unter Nahrung, transzendierte sie in der Meditation, bin ihnen davongelaufen, überlistete sie durch Rationalisierung, exorzierte sie, übergab sie an höhere Wesen, verwandelte sie in etwas, das man nicht ernst zu nehmen hatte, und spürte sie sogar kurz, bevor ich sie in einer dramatischen Katharsis löschte, damit sie endgültig verschwanden.
Ich wurde bei meinen Bemühungen, dauerhafte Linderung von dem mich erdrückenden emotionalen Schmerz zu erreichen, durch eine Fülle von Selbsthilfebüchern, Workshops, praktischen Kuren, psychologischen Lehren und spirituellen Praktiken in die Irre geführt. Die meisten Sackgassen, die ich auf der Flucht vor meinen Gefühlen erforscht habe, hatten eine gemeinsame Eigenschaft: das Versprechen einer ewigen Transzendenz normaler emotionaler Zustände wie Wut, Trauer, und Angst.
Die schädlichsten waren jene, die versprachen, man könne dauerhaft »wünschenswerte« emotionale Zustände wie Glück, Liebe und Frieden erreichen. Ich erinnere mich lebhaft an die klägliche Enttäuschung, die ich erlebte, wenn die kurzlebigen positiven Wirkungen des einen oder anderen Ansatzes so hinfällig wurden, dass ich nicht mehr so tun konnte, als würde ich sie tatsächlich erleben. Immer wieder wurden Versprechungen von dauerhafter Zufriedenheit gebrochen, denn die negativen Emotionen, die eigentlich dauerhaft beseitigt werden sollten, kehrten unweigerlich zurück. Da es mir wieder einmal nicht gelungen war, mein Leiden zu überwinden (wie es anderen zu gelingen schien), begab ich mich – überwältigt von toxischer Scham –, unweigerlich auf eine weitere verzweifelte Suche nach einem neuen Allheilmittel für meine Gefühle.
Wie ungewöhnlich und überraschend, dass ich jetzt meine Gefühle nur noch akzeptieren muss! Manchmal kann ich kaum glauben, wie leicht es ist, sie einfach wahrzunehmen oder ihnen einen liebevollen Ausdruck zu verleihen. Bin ich wirklich die gleiche Person, die vor zwanzig Jahren zu diesen unzähligen Männern gehörte, die keine Ahnung von Gefühlen haben?
Ich möchte nicht behaupten, dass alle oben genannten Ansätze völlig wertlos sind. Einige davon sind nützliche Werkzeuge, sofern sie nicht dazu benutzt werden, Gefühle zu verbannen, und sie werden auch in mein vielschichtiges Konzept der emotionalen Genesung mit einbezogen.
Ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch hilft, sich nicht zu schaden, wie ich es getan habe, indem ich mich naiv Lehren und Praktiken verschrieben habe, die dauerhaftes Glück garantierten. Es ist eine Sisyphusarbeit, wenn man auf diese Weise versucht »oben« zu bleiben, und man wird unweigerlich und unnötig unzufrieden mit sich selbst, egal, wie gut gemeint diese Ansätze sind oder wie hilfreich sie für den Moment sein mögen.
Thomas Moore bezeichnet in seinem Buch Der Seele Raum geben: Wie Leben gelingen kann das Streben nach dem Glück als »Erlösungsfantasie«. Sie ist ein verführerischer, nutzloser Umweg in unserer persönlichen Entwicklung. Sheldon Kopp betitelte sein Buch Triffst du Buddha unterwegs, um uns zu ermutigen, diesen Umweg zu vermeiden und uns vor der unnötigen Selbstsabotage des emotionalen Perfektionismus zu retten.
Die motivierenden, emotionalen Auswirkungen jeder Technik oder Lehre im Hinblick auf die persönliche Entwicklung, ganz gleich, wie gesund und gut gemeint sie sind, weichen zwangsläufig normalen, ebenso gesunden Erfahrungen von weniger erhabenen Gefühlen. In solchen Momenten kann es geschehen, dass sich diejenigen, die glauben, sie sollten unerschütterlich fröhlich und transzendent sein, für diese normale Fluktuation der Empfindungen von Glück und Gelassenheit schuldig fühlen, da sie vermeintlich von Natur aus fehlerhaft sind.
Der Mensch wurde nicht geschaffen, um sich im Dauerzustand einer bestimmten Empfindung zu befinden. Niemand wird uns weiter auf die Folterbank des emotionalen Perfektionismus binden. Wir können heruntersteigen und stattdessen realistischere emotionale Ziele anstreben. Ein unerschütterliches Selbstvertrauen, das nicht durch emotionale Schwankungen beeinträchtigt wird, ist etwas, das wir alle auf gesunde Weise anstreben und nach und nach erreichen können.
Es gibt viel zu viele spirituelle Führer und kognitive Verhaltenspsychologen, die uns den Weg in die falsche Richtung weisen, indem sie darauf bestehen, dass wir unangenehme Gefühle beseitigen können und sollten. Viele New-Age-Führer kredenzen fälschlicherweise das Konzept der Erleuchtung, als ob es ein dauerhaft erreichbarer schmerzfreier Zustand wäre. Während meiner fünfundzwanzigjährigen spirituellen Praxis und der zwanzig Jahre, die ich mit psychologischen Studien verbrachte habe, ist mir jedoch noch kein Guru, Therapeut, Lehrer oder Anhänger begegnet, der sich in einem dauerhaft glückseligen Zustand befand und der nicht gelegentlich emotionalen Schmerzen ausgesetzt war. Wie traurig, dass so viele immer noch dieser illusorischen Verheißung nachjagen, und sich weiterhin dafür verachten, dass sie sie nicht erreichen.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich möchte in keiner Weise die wunderbaren Möglichkeiten einer effektiven spirituellen Praktik abwerten. Vielmehr versuche ich den Trugschluss deutlich zu machen, eine spirituelle Praktik könne die Notwendigkeiten einer »emotionalen Praktik« aufheben. Wenn wir nicht die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle akzeptieren und erleben, können wir keine gesunden Menschen sein.
Vielleicht bin ich schlecht informiert und vielleicht gibt es einige seltene Seelen, die wirklich permanente Erleuchtung oder unerschütterliches Glück verkörpern. Vielleicht hat der neueste Avatar eines Abkömmlings des EST-Trainings eine Formel entwickelt, um eine wirklich vollständige Beherrschung der emotionalen Natur zu erreichen. Vielleicht beweist das Gehen auf heißen Kohlen ohne Schmerzempfindung, wie es die Teilnehmer in den aktuell populären Wochenendseminaren tun, dass wir in der Lage sein »sollten«, andere, weniger intensive, emotionale Formen des Schmerzes zu transzendieren. Da ich jedoch diejenigen, die für sich behaupten, den Himmel hier auf Erden gefunden zu haben, bisher nur als anmaßend erlebt habe, scheint es mir, dass die Chancen, unerschütterliche Glückseligkeit zu erlangen, extrem gering sind.
Daher bin ich so dankbar, dass ich R.D. Laings weise Äußerung schließlich verstanden habe: »Der einzige Schmerz, der vermieden werden kann, ist der Schmerz, der entsteht, wenn unvermeidlicher Schmerz vermieden wird.« Ich weiß jetzt, dass der Löwenanteil meiner bisherigen emotionalen Schmerzen, über neunzig Prozent, daher rührte, dass ich gelernt hatte, meine Gefühle zu hassen, zu betäuben und vor ihnen wegzulaufen.
Der größte Wendepunkt in meinem Leben geschah, als ich mein Streben nach dauerhaftem Glück und Transzendenz mit der unbeugsamen Bereitschaft ersetzte, für mich selbst in jedem Gefühlszustand da zu sein. Die Belohnung dafür war wundersam. Manchmal sind meine Tränen wie Juwelen, die durch Brechung strahlende Farbigkeit in mein Leben lenken. Meine Wut erlebe ich jetzt als eine sanfte Flamme, die mich mit einer immer größer werdenden Leidenschaft für das Leben wärmt. Meine Angst ist manchmal ein Leuchtfeuer, das mir neue Wege aufzeigt, um eine größere Wertschätzung des Lebens zu erlangen. Mein Neid zeigt mir, was ich in mir noch entwickeln möchte.
Ich habe sogar in Phasen der Depression Wunderbares erlebt. Depressionen führen mich manchmal in die Stille, die mich vom Joch der Zeit befreit; sie laden mich ein zu einem zunehmend intensiver erlebten Ort des Friedens in mir selbst und sie erlauben mir, mich in meinem Körper wohlzufühlen, als wäre er der luxuriöseste Sessel, den man sich vorstellen kann.
Außerdem versetzt mich das Trauern, besonders wenn es intensiv ist, in einen so tiefen Schlaf, dass ich mich wie ein ruhender Samen fühle, der sicher im fruchtbaren Lehm von Mutter Erde geborgen ist und nichts anderes zu tun hat, als darauf zu warten, dass die Sonnenstrahlen ihn wecken.
Die Bereitschaft, ganzheitlich zu fühlen, verleiht uns eine befreiende emotionale Flexibilität. Ich staune immer wieder darüber, wie das Zulassen unangenehmer Gefühle diese Wirkung auslöst und mir viel schneller wieder ein gutes Gefühl verleiht, als es eine Abwehr jemals getan hat.
Unsere Gefühle beleben und bereichern uns in dem Maße, wie wir sie in ihrer Vielfalt zulassen. Jetzt ist es an der Zeit, uns von der lähmenden Treue zu den TV-Helden zu befreien, die uns einzelne monotone Melodien von Härte, Coolness, Nettigkeit oder gekünstelter Leichtsinnigkeit summen lassen. Unsere Emotionen sind unsere eigene Musik, und kein monotones oder Drei-Noten-Liedchen kann in uns die Leidenschaft für das Leben erzeugen. Wir werden zu Sinfonien, wenn wir uns alle Töne der emotionalen Skala zurückerobern.
Ich selbst war auf einer langen Reise zurück zu meinen Gefühlen, ohne die Orientierung einer Karte, und ich hoffe, dass die Karte, die ich Ihnen hier anbiete, Ihnen eine Abkürzung zu Ihrer emotionalen Genesung ermöglicht. Ich hoffe, dass Sie einige der hier beschriebenen Schätze entdecken werden und dass Sie durch eine umfangreichere emotionale Erfahrung des Lebens beseelt werden. Ich bete, dass Sie das Gefühl der Zugehörigkeit und Erfüllung erleben, das durch die emotionale Freiheit Ihrer selbst und mit Ihren Vertrauten entsteht.
Das Gefühl sagt uns, wie und wie sehr eine Sache für uns wichtig ist.
— Carl Gustav Jung
Amerika ist eine Nation emotionaler Waisenkinder … erwachsene Kinder sind ohne wirkliche Eltern aufgewachsen. Unzählige unserer Freunde, Nachbarn, Ehepartner und Liebhaber hatten eine Kindheit, in der ihre Eltern emotional nicht für sie da waren.
— Dennis Wholey
Gefühle und Emotionen sind energetische Zustände, die sich nicht auf magische Weise auflösen, wenn sie ignoriert werden. Ein großer Teil unseres unnützen emotionalen Schmerzes ist der verzweifelte Druck, der dadurch entsteht, dass die emotionale Energie nicht freigesetzt wird. Wenn wir uns nicht um unsere Gefühle kümmern, sammeln sie sich in uns an und erzeugen wachsende Angst, die wir häufig als Stress abtun.
Stress ist nicht nur eine schädliche physiologische Reaktion auf belastende äußere Anreize wie Lärm, Umweltverschmutzung, Pendeln zum Arbeitsplatz, lange Arbeitszeiten oder viel Trubel. Stress ist auch der schmerzhafte innere Druck der angesammelten emotionalen Energie.
Das Trauern, das hier ausführlich untersucht wird, ist der effektivste Mechanismus zur Stressbewältigung, über den die Menschen verfügen. Trauern ist ein sicheres, gesundes Ventil für unsere inneren Druckkochtöpfe der Emotionen. Oft habe ich Gefühle erlebt, bei denen ich glaubte, gleich zu explodieren, und die sich durch ein ausgiebiges Weinen sofort lösten. Fast täglich erlebe ich in meiner Privatpraxis, wie andere dieselbe wunderbare Erleichterung erfahren.
Wenn wir uns nicht auf unsere Gefühle einlassen, hat das viele furchtbare Konsequenzen. Der Preis der Unterdrückung der Gefühle ist eine konstante, verheerende Energieverschwendung, die viele von uns deprimiert und schweigsam macht. Wenn wir auf diese Weise ständig geschwächt werden, versinken wir zunehmend in Apathie und im Gefühl des Überdrusses, »alles schon mal gesehen zu haben, überall schon mal gewesen zu sein und alles schon mal gemacht zu haben«. Wenn dies eintritt, geben wir unsere Bestimmung auf, ausdrucksstarke, das Leben feiernde Wesen zu sein, zu denen wir geboren wurden.
Der Kampf gegen unsere Gefühle zwingt diese, sich gegen uns zu wenden. Ein Großteil unseres überflüssigen Leidens wird durch die Geister unserer getöteten Emotionen verursacht, die durch unser Bewusstsein wehen und uns in Form von verletzenden Gedanken verfolgen. Verleugnete Emotionen trüben unsere Gedanken durch ängstliche Sorge, mürrische Selbstzweifel und wütende Selbstkritik.
Wir riskieren auch, unsere Emotionen unbewusst »auszuleben«, wenn wir nicht bereit sind, sie zu spüren. Sarkasmus, der Hang zum Kritisieren, gewohnheitsmäßiges Zuspätkommen und »vergessene« Verpflichtungen sind häufige unbewusste Äußerungen von Wut. Paradoxerweise lassen uns diese passiv-aggressiven Verhaltensweisen in noch größerem emotionalen Schmerz zurück, weil sie andere dazu bringen, uns zu misstrauen und uns nicht zu mögen.
Die gravierenden Probleme des maßlosen Essens, der Übermedikation und des übermäßigen Arbeitens, die Amerika plagen, wurzeln ebenfalls in der massenhaften Entfremdung von unseren Gefühlen. Wenn wir Angst vor unseren Gefühlen haben, sind wir gezwungen, uns durch stimmungsverändernde Substanzen, Arbeitssucht oder ständige Geschäftigkeit von unseren Emotionen abzulenken. Wie Anne Wilson Schaef in ihrem Buch Im Zeitalter der Sucht: Wege aus der Abhängigkeit zeigt, sind viele von mindestens einer selbstzerstörerischen Substanz oder einem entsprechenden Verhalten abhängig.
Ironischerweise tragen unsere Ablenkungen in der Regel zu dem zugrunde liegenden Schmerz bei, den wir versuchen zu vermeiden. Wenn es zur Gewohnheit wird, fügen sie unserem Körper schließlich schwere Schäden zu. Unser rasendes Lebenstempo und die Verwendung von chemischen Substanzen (verschriebene, illegale oder rezeptfreie) betäuben uns so gründlich, dass wir ihre lähmenden Auswirkungen oft erst dann spüren, wenn wir schwer erkranken.
Wir sind so abwehrend gegenüber unseren Schmerzen geworden, dass wir immer wieder auf der Suche nach neuen Wegen sind, um nicht zu fühlen. Die weit verbreitete Narkotisierung der Hausfrauen mit Valium in den Fünfziger- und Sechzigerjahren war ein Präzedenzfall für die gegenwärtige explosionsartige Betäubung beider Geschlechter mit modernen Antidepressiva. Medikamente wie Prozac, Zoloft und Paxil werden derzeit als »Designerdrogen« verwendet, und viele Allgemeinmediziner mit geringer psychiatrischer Ausbildung verschreiben sie großzügig jedem, der sich schlecht fühlt.
1995 wurde in einer TV-Sondersendung von Frontline über entsprechende Zustände berichtet. Dieses Programm dokumentierte den damals weitverbreiteten Trend zum übermäßigen Gebrauch von Prozac und richtete den Fokus auf einen Psychologen aus dem Bundesstaat Washington, der Prozac allen seinen Klienten verschrieb und neue Klienten nur behandelte, wenn sie bereit waren, Prozac zu nehmen. Vor laufender Kamera sagte er einem potenziellen Klienten: »Sie haben keinen Zugang zu Ihrem wahren Selbst ohne dieses Medikament.« Leider begegne ich immer mehr Therapeuten, die ihren Klienten sofort Prozac verschreiben, ohne zuerst das Trauern als Mittel gegen Depressionen und Stress auszuloten.
In dem Krieg, den unsere Kultur gegen das Fühlen führt, werden Emotionen zu einer gefährdeten Art. Überall werden wir von familiären und gesellschaftlichen Erwartungen bedrängt, »cool« zu sein. Die Haltung, so zu tun, als könne uns nichts verletzen oder beeinträchtigen, ist schleichend zu unserem Vorbild für Gesundheit und Entfaltung geworden. Viele von uns sind so cool, dass sie emotional kalt und abschreckend distanziert geworden sind. Mit den Worten von Robert Bly:
… die Vertuschung schmerzhafter Emotionen in uns … ist in unserem Land zu einer Frage des nationalen und privaten Stils geworden. Wir haben mit überwältigendem Elan das Tier der Verleugnung zum Leittier des Lebens in unserem Land gemacht.
Nirgendwo, weder in unseren privatesten Momenten, noch in der Gesellschaft unserer engsten Freunde, fühlen wir uns sicher, unsere Gefühle zu erkunden. Wut, Depression, Neid, Traurigkeit, Angst, Misstrauen usw. sind alle genauso wichtig für das Leben wie Brot, Blumen und Straßen. Doch diese Gefühle rufen bei uns – sobald sie aufkommen – gewöhnlich Scham und Furcht hervor, selbst bei denjenigen, die allen anderen unvorhergesehenen Lebensereignissen tapfer begegnen.
Wer es wagt, Gefühle auszudrücken, die nicht positiv sind, wird als bemitleidenswert und unreif betrachtet, weil er sich nicht für eine würdevollere Haltung entschieden hat. Welch schrecklicher Verlust der natürlichen menschlichen Neigung, einem verzweifelten Freund Mitgefühl zu erweisen – eine Reaktion, die es in nichtindustrialisierten Ländern immer noch gibt.
Eine Schulter zum Ausweinen und die Erlaubnis, zu jammern und zu klagen, sind in den Industriegesellschaften verschwindende Sakramente. In unserer Kultur bedeutet Empathie, unseren bedrückten Freunden – in bester Absicht – zu raten, »das Positive zu sehen« und daran zu denken, dass »es schlimmer sein könnte«.
Dies steht im Gegensatz zur Stammeskultur von Neuguinea, wo Männer und Frauen gleichermaßen von ganzem Herzen an den jährlichen Trauerfeierlichkeiten beteiligt sind. Den ganzen Tag lang halten sie sich in den Armen und trösten sich gegenseitig über den Verlust ihrer in der Tat glücklichen Kindheitstage.
Uns fehlt die normale menschliche Güte, aus der heraus wir unsere engen Freunde ermutigen, ihre Gefühle zu zeigen, damit sich ihr Schmerz nicht einkapselt und in Angst, Sorge und Selbstverachtung verwandelt.
Von Jahr zu Jahr offenbart sich immer mehr die 1969 vom Psychoanalytiker Rollo May geäußerte Vorhersage:
Ich glaube, dass es in unserer Gesellschaft einen eindeutigen Trend zu einem Zustand der Gefühllosigkeit als Lebenseinstellung, als Charakterzustand gibt.
Hat Gott einen schrecklichen Fehler begangen, als er uns mit der Eigenschaft zu fühlen ausgestattet hat, um uns von Robotern und Androiden zu unterscheiden, denen wir scheinbar nacheifern?
Vielleicht ist Gott dabei, ein neues Gebot zu erlassen: »Du sollst keinen emotionalen Schmerz fühlen oder ausdrücken!« Wenn dem so ist, könnten wir alle in einer Welt enden, die frostig und ohne Gefühl ist. Lesley Hazelton beschreibt in ihrem Buch Dein Recht, dich schlecht zu fühlen. Mit Alltags-Depressionen leben solch eine Welt:
Schizophrene kennen diese Welt. Sie haben sich in sie zurückgezogen, abseits des gesamten Bereichs menschlicher Interaktionen und Beziehungen – in extremen Fällen sogar von der Fähigkeit, physischen sowie psychischen Schmerz zu empfinden. Dies ist ein Zustand schwerer emotionaler Störung. Dennoch kommt er dem derzeitigen Idealzustand, keine »negativen« Gefühle zu haben, sehr nahe.
Menschen greifen nicht millionenfach zu Drogen und Alkohol, um einen Schmerz zu betäuben, den sie erkannt haben und benennen können.
— Dennis Wholey
Wenn ein Kind Gefühle der Traurigkeit, der Wut, des Verlustes und der Frustration nicht ausleben darf, werden seine wahren Gefühle neurotisch und verzerrt. Im Erwachsenenalter wird dieses Kind unbewusst sein Leben so gestalten, dass es dieselben Gefühle wieder verdrängt. Der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim beklagt, dass Kindern berechtigtes Leiden nicht zugestanden wird. Er stellt fest, dass sogar die Bücher, die Kinder in der Schule lesen, das Leben als eine Abfolge von Freuden zeigen. Niemand ist wirklich wütend, niemand leidet wirklich, es gibt keine echten Emotionen.
— Susanne Short
Die Krankheit der emotionalen Auszehrung ist eine Epidemie. Millionen von Menschen in den Industrieländern sind emotional verarmt und abgestumpft. Unser breites Angebot von vermeintlich kultivierten Ablenkungen macht uns emotional verletzter und verlorener, als es Menschen jemals zuvor waren. Da wir immer getriebener sind und unter Zwängen leiden, vermögen wir keinen wirklichen Frieden zu finden. Ständige Geschäftigkeit in der Tretmühle des Leitsatzes »es ist nie genug« stresst und erschöpft uns. Wir haben unbewusst Angst davor innezuhalten oder unverplante Zeit zu haben, damit die Gefühle, vor denen wir fliehen, uns nicht erreichen und in unser Bewusstsein dringen.
Einige der schönsten Dinge des Lebens – Sex, Essen, Sport, Gespräche, Lernen und Arbeiten – verlieren ihre Qualität, weil unser rasendes Tempo es unmöglich macht, sie zu genießen. Selten nehmen wir uns genügend Zeit, um diese Aktivitäten in ihrer ganzen Fülle zu genießen.
Wie traurig ist es, dass wir unseren Frieden opfern, weil wir noch nicht zur Ruhe gekommen sind, um die unverdauten Emotionen, die uns antreiben, zu fühlen, zu erleben und zu verarbeiten, die als Angst in unseren Bäuchen rumoren, die unsere Gedanken als ständige Sorge »vergiften«, die uns rennen lassen, als ob wir die ganze Zeit beim Ausbruch aus unserem eigenen Gefängnis feststecken würden!
Wir können das geistlose Rennen stoppen. Erfahrungen von Frieden und Zufriedenheit liegen unter unseren unverdauten Gefühlen. Wir können lernen, alle unsere Emotionen gefahrlos zu fühlen und auszudrücken und den tiefen Trost erleben, wenn wir unseren Körper ungestört und ganzheitlich bewohnen. Wir können uns wieder von »menschlich Handelnden«, einem von Johannes Bradshaw geprägten Begriff, zurück zu »menschlich Seienden« verwandeln.
Die Anthropologen Eli und Beth Halpern erinnern uns daran, dass Friedlichkeit eine natürliche Eigenschaft des Menschen ist. Sie berichten: Auf Mikronesisch gibt es das Wort kukaro, das kein entsprechendes Wort im Englischen hat. Wenn Leute sagen, sie werden kukaro, meinen sie, dass sie sich entspannen, herumsitzen, abhängen wollen. Sie wollen sein, sie wollen nichts tun.
Viele von uns können sich nicht an das letzte Mal erinnern, als sie unproduktiv waren bzw. nicht getrieben waren, produktiv zu sein. Viele haben vergessen, wie sehr wir uns früher durch solche alltäglichen Wunder wie das Bestaunen eines Spinnennetzes, das Entdecken einer Tierform in den Wolken oder das Erforschen der zarten Komplexität der Stempel und Staubgefäße einer Blume bezaubern lassen konnten.
Es ist an der Zeit, die emotionale Vitalität des Kindes in uns wiederzuentdecken. Unser inneres Kind vermag in einfachen Vergnügungen dauerhafte Befriedigung finden, weil es diese nicht dazu nutzt, einem inneren Gefühlschaos zu entfliehen. Vielleicht motiviert Sie die Vision des emotional vitalen Dichters Walt Whitman, sich wieder mit der Begeisterungsfähigkeit Ihres verlassenen inneren Kindes zu verbinden:
Ich glaube, ein Grashalm ist nicht geringer als die Flugbahn der Sterne,
Und Brombeerranken könnten die Vorhallen des Himmels schmücken,
Und eine Maus ist Wunder genug, um Trilliarden von Ungläubigen
Ins Wanken zu bringen …
Und ich oder du, ohne einen einzigen Cent in der Tasche, können das Kostbarste der Erde erwerben
Und einen Blick aus den Augen zu tun oder eine Bohne in ihrer Hülse zu zeigen bringt die Gelehrsamkeit aller Zeiten durcheinander …
Viele von uns schrecken vor der Idee zurück, ihre Gefühle willkommen zu heißen, weil sie selten gesunde Gefühlsäußerungen erlebt haben. Der kleine Prozentsatz an Menschen, der in unserer Kultur Gefühle zeigt, tut dies oft auf abstoßende Weise, und viele, die »unter Drogeneinfluss« stehen, sind in ihrer ungezügelten Emotionalität mitleiderregend oder verletzend.
Es gibt auch eine kleine, unübersehbare Gruppe in unserer Bevölkerung, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet. Betroffene drücken ihre Emotionen in der Regel strafend und aufbrausend aus. Sie wüten und schluchzen krampfhaft ohne Vorbereitung, oft in einer Weise, die uns das Gefühl gibt, kontrolliert und manipuliert zu werden. Ihre extremen emotionalen Verhaltensweisen überzeugen uns ebenfalls davon, dass wir gut daran tun, unsere Gefühle zu verbergen.
Es gibt einen dritten Typus von Menschen, der Gefühle ins schlechte Licht rückt, indem er hartnäckig an ihnen festhält, bis sie zu verbitterten Haltungen werden. Menschen, die sich ständig hinter Reizbarkeit oder Selbstmitleid verschanzen, lassen uns davon Abstand nehmen, Ärger, Traurigkeit oder was auch immer zu fühlen oder zu zeigen.
Wir müssen uns nicht durch den unverantwortlichen Gefühlsausdruck anderer Menschen von unseren Gefühlen entfremden lassen. Ich glaube zwar, dass wir keine große Wahl haben, was wir fühlen, aber ich weiß, dass wir viele Möglichkeiten haben, wie wir auf unsere Gefühle reagieren können. Das Tao der Gefühle beschreibt den Mittelweg zwischen emotionaler Explosivität und emotionaler Kälte – zwischen schädlicher Launenhaftigkeit und ausgetrockneter »Gefühllosigkeit«. Dieses Buch bietet pragmatische Ansätze für einen nicht-destruktiven Umgang mit schmerzhaften und potenziell störenden Gefühlen.
Wir können lernen, auf gute Weise emotional zu sein. Wir können unsere Emotionen zulassen, ohne an ihnen festzuhalten. Wir können unsere Gefühle mildern und uns in unseren Gefühlen entspannen, ohne sie zu verbannen oder zu zementieren. Wir können unsere Gefühle gehen lassen, wenn sie ihre Funktion voll erfüllt haben.
Es gibt auch Zeiten, in denen es erforderlich ist, Gefühle zu sublimieren oder zu unterdrücken. Sublimierung ist die bewusste Entscheidung, emotionale Energie in andere Formen des produktiven Selbstausdrucks zu transformieren und umzulenken, wie z.B. in Sport oder Tanz. Unterdrückung ist die bewusste Entscheidung, unter nicht passenden Umständen auf emotionalen Ausdruck zu verzichten. Selten nützt es etwas, den Chef anzuschreien oder vor unsensiblen Menschen zu weinen. In solchen Situationen können wir das »Ausleben« unserer Emotionen verschieben, bis wir uns in einem sichereren Umfeld befinden.
Automatische Unterdrückung ist nicht die einzige schlechte Wahl, die wir in Bezug auf unsere Gefühle treffen. Eine schädliche Option, die die meisten von uns ständig wählen, ist auch das Festhalten an einem positiven Gefühl, das wir nicht mehr wirklich empfinden. Wenn wir das tun, ersetzen wir die Authentizität eines Gefühls durch eine leere, leblose Vorstellung davon.
Wenn wir uns dazu zwingen, Gefühle des Glücks oder der Liebe zu zeigen, die wir nicht wirklich empfinden, wirken wir künstlich und betrügerisch wie Plastikblumen oder billiges Parfüm. Gezwungenes Lachen und ein angestrengtes Lächeln erwecken ebenso viel Vertrauen wie unehrliche Politiker und »aalglatte« Gebrauchtwagenverkäufer.
Ohne das ganze Spektrum an Emotionen sind wir keine ganzen Menschen. Wir sind vielmehr wie der Künstler, dessen Palette nur Platz für helle und fröhliche Farben hat. Unser Selbstausdruck ist langweilig und oberflächlich wie die Bilder vom Discounter, die mit ihren faden, zarten Pastelltönen in ästhetischer Hinsicht wenig überzeugend sind.
Die »negativen« Emotionen bringen dunkle Farben auf die Palette des Künstlers. Sie eröffnen eine unendliche Auswahl an Farben, Schattierungen und Nuancen. Ohne Schwarz auf der Palette gibt es keine satten Farben, keine Tiefen, keine Kontraste, keine Feinheiten. Ohne dunkle Farben ist es unmöglich, die unendlich vielfältigen Themen und Landschaften des Lebens einzufangen.
Ohne unsere dunkleren Emotionen gibt es wenig Tiefe und Dimensionalität in unserer Beziehung zu anderen. Wir haben keinen Zugang zu den vielen Wegen und Feinheiten der Kommunikation, die Freundschaften reich und dauerhaft interessant machen. Wenn wir nur Freunde sein können, solange wir glücklich und »gut drauf« sind, dann sind unsere Freundschaften schmerzlich oberflächlich.
Tiefe Einsamkeit ist der schreckliche Preis, den wir zahlen, wenn wir unsere Beziehungen zu anderen Menschen nur unter dem Deckmantel des Wohlbefindens führen. Diejenigen, die nur in guten Zeiten für andere da sind, sind Schönwetterfreunde, denen Loyalität und Vertrauen fremd sind.
Die meisten Menschen mögen sich selbst, wenn sie Liebe, Glück oder Gelassenheit empfinden, doch die Person, die sich in Zeiten emotionalen Schmerzes mit sich selbst anfreundet, besitzt ein stabileres und authentischeres Selbstwertgefühl.
Wenn wir lernen, unsere Gefühle unmittelbar wahrzunehmen, entdecken wir schließlich, dass die Hingabe an die Gefühle die bei Weitem effizienteste – und auf lange Sicht am wenigsten schmerzhafte – Art und Weise ist, auf sie zu reagieren. Wir wissen selbst, dass das Leben nicht schmerzfrei sein muss, um es voll genießen zu können. Wir entdecken, dass neue Erfahrungen von Verlust und Schmerz unser Bewusstsein nicht dominieren oder unsere Begeisterung für das Leben vernichten.
Wenn wir lernen, uns mit unseren Gefühlen anzufreunden, leiden wir immer weniger unter selbstschädigenden Gefühlsfluchten. Wir akzeptieren anstandslos die Realität, dass sich unsere emotionale Natur, wie das Wetter, oft unvorhersehbar ändert, mit einer Vielzahl von angenehmen und unangenehmen Eigenschaften. Wir sind uns bewusst, dass wir genauso wenig ein positives Gefühl dazu bringen können, ewig anzudauern, wie die Sonne gezwungen werden kann, ständig zu scheinen.
Wenn wir uns unseren Gefühlen hingeben und ihnen nachgeben, verbinden wir uns wieder mit den unschätzbaren Instinkten und der Intuition, die wir von Natur aus tragen. Manchmal entdecken wir das Wunder aller sogenannten negativen Emotionen. Ich erlebe, wie andere, die ihre Emotionalität wiedererlangt haben, viele wunderbare Erfahrungen machen, bei denen Traurigkeit zu Trost wird, Wut sich zu Lachen entfaltet, Angst in Aufregung umschlägt, Eifersucht zu Wertschätzung wird und Schuld Vergebung ermöglicht.
Denn es ist wahr, oder nicht wahr, dass in unserer Welt
die mit Nektar gefüllten Blütenblätter
und die polierten Dornen ein und dasselbe sind,
dass selbst das reinste Licht
ohne das Gewand der Dunkelheit
ohne Wirkung wäre.
— Mary Oliver
Für die meisten Menschen ist Vergebung ein Prozess. Wenn man tief verwundet wurde, kann der Prozess der Vergebung Jahre dauern. Er wird viele Phasen durchlaufen – Trauer, Wut, Kummer, Angst und Verwirrung …
— Jack Kornfield, Frag den Buddha – und geh den Weg des Herzens
Zurzeit höre ich von vielen gefährlichen und unzutreffenden »Anleitungen« zum Umgang mit Vergebung – insbesondere bezüglich der Vergebung gegenüber Eltern, die missbräuchlich oder vernachlässigend waren. »Du musst dich nur dafür entscheiden zu vergeben« ist ein üblicher Refrain in vielen Genesungs- und New-Age-Kreisen.
Dieser grob vereinfachende Ratschlag zur Vergebung scheint so zweifelsfrei, dass viele Überlebende ihn bedingungslos akzeptieren. Viele entscheiden sich dafür, fühlen sich aber insgeheim furchtbar, weil sie nie wirklich das Gefühl von Vergebung hatten. Andere sind wirklich davon überzeugt, dass sie verzeihen, aber sie fühlen nie die emotionale Qualität ihrer Vergebung.
Das blinde Befolgen des Ratschlags, sich einfach für Vergebung zu entscheiden, schafft die Voraussetzung für eine falsche Vergebung. Sie ist in psychischer Hinsicht wie eine dünne Eisschicht, die unser darunterliegendes Reservoir an wütenden und verletzten Gefühlen aus der Kindheit verdeckt. Leider kann diese zerbrechliche mentale Konstruktion eine emotional tiefe und wirklich intime Beziehung zu unseren Eltern nicht fördern.
Wirkliche Vergebung ist aus der westlichen Kultur so gut wie verschwunden. An ihre Stelle ist ein unauthentisches Ideal der Vergebung getreten, das uns unseren Schmerz vergessen lässt.
Bei denjenigen von uns, die in der Kindheit gravierend verletzt wurden, entstehen selten verzeihende Gefühle gegenüber ihren Eltern, bevor sie nicht durch Trauern ihr Schmerzreservoir geleert haben. Da wirkliche Vergebung, wie wir sehen werden, mit der Vergebung unserer selbst beginnt, hoffe ich, dass dieses Buch Ihnen helfen wird zu verstehen, warum es unfair ist, sich selbst die Schuld dafür zu geben, dass man sich nicht »einfach nur für Vergebung entscheidet«.
Der Tod ist nicht die Tragödie, sondern die Millionen Male, die wir unsere Herzen betäuben und verschließen, weil die Erfahrung nicht das widerspiegelt, was wir bereit sind zu akzeptieren.
— Stephen Levine, Who Dies
Die Zeit mag alle Wunden heilen oder auch nicht. Es hängt davon ab, wie wir die Zeit nutzen. Wenn wir unsere Trauer verleugnen, vor ihr weglaufen oder hoffen, dass sie von selbst verschwindet, werden wir unglücklich sein. Aber wenn wir uns ihr stellen und unsere Trauer auf gesunde Weise zum Ausdruck bringen, werden wir durch die Trauer selbst verwandelt.
— Hazelden Meditations
Sich zu entscheiden, einfach zu vergeben, ist oft der unbewusste Versuch, unsere Trauer und Wut über die Kindheit in der Vergangenheit begraben zu lassen. Paradoxerweise begräbt diese Entscheidung auch unsere Gefühle echter Vergebung sowie unsere Fähigkeit, vollständig zu fühlen.
Wenn wir unsere gesamte emotionale Natur zutagefördern, müssen wir uns zunächst durch Schichten alter emotionaler Schmerzen wühlen, die sie bedecken. Bei dieser Ausgrabung werden in der Regel die Leichname vieler Kindheitsverluste ans Licht kommen – der Verlust wesentlicher Aspekte unserer selbst –, die wir damals nicht betrauern durften. Wenn wir jetzt trauern, entdecken wir unsere phönixartige Fähigkeit, aus diesen Verlusten vollständig wiedergeboren zu werden.
Trauern ist in unserer Kultur leider weitgehend verboten. Die Psychotherapeuten Jordan und Margaret Paul erläutern, warum wir uns dagegen wehren zu trauern und uns mit unseren schmerzhaften Gefühlen zu »beschmutzen«:
Unsere Schwierigkeiten im konstruktiven Umgang mit Schmerzen beginnen bereits in der Kindheit. Die Bemühungen der Eltern, ihre Kinder vor jeder harten Realität zu schützen – Konflikte in der Familie, der Tod eines Haustiers – berauben sie der Übung im Umgang mit Schmerzen. Wenn Eltern keinen offenen Ausdruck von Schmerz zulassen, egal ob es sich um einen kleinen (wie eine Enttäuschung oder einen Misserfolg) oder großen (wie den Verlust eines Großelternteils) handelt, lernen die Kinder nie, dass sie Schmerz erfahren, tief betroffen sein und trotzdem überleben können. Auf diese Weise lernen wir, wie wir sein müssen oder scheinbar sein sollen, nämlich unberührt.
Trauern ist in unserer Kultur so tabuisiert, dass die meisten von uns nicht einmal bei den Beerdigungen derer weinen können, die sie am meisten lieben. Die wenigen, die es wagen, aktiv zu trauern, werden ermutigt, schnell »darüber hinwegzukommen«, nicht mehr an ihre Lieben zu denken (zu fühlen!), Fotos von den Verstorbenen wegzulegen und vor allem, sich zu beschäftigen. In Loss And Change, der Studie von Peter Marris über den angelsächsischen Zugang zur Trauer, geht er näher darauf ein:
Sich der Trauer hinzugeben wird als krankhaft, ungesund, demoralisierend … stigmatisiert. Die Ablenkung eines Trauernden von seiner Trauer wird als richtiges Verhalten eines Freundes oder Wohlmeinenden angesehen … Trauer wird als Schwäche, Selbstgefälligkeit, verwerfliche schlechte Angewohnheit behandelt, statt als eine psychologische Notwendigkeit.
Wenn wir nicht um den Tod trauern dürfen, wie viel mehr zögern wir dann, andere bedeutende Verluste zu betrauern? Bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr wäre ich nie auf die Idee gekommen, den Verlust eines Arbeitsplatzes oder das Ende einer Beziehung zu betrauern. Bis vor Kurzem trauerte fast niemand um einen der größten Verluste – den Verlust des Wohlwollens der Eltern in der Kindheit. Kein Wunder, dass so viele von uns eine ungeheure Last an ungelöster Trauer mit sich herumtragen.
Wie unnötig wir darunter leiden, dass uns die einzigartige heilende Erleichterung vorenthalten wird, die nur durch Trauer möglich ist! Trauer befreit uns wie nichts anderes aus den Fängen der Anspannung und Ablenkung. Wir können uns von ungesunden Bindungen an alte Familienregeln befreien, die es uns nicht erlauben, den Schmerz unserer Kindheit anzuerkennen. Wir müssen unsere Vitalität nicht mehr verschwenden, indem wir unsere Erinnerungen einsperren und aufpassen, dass uns unser Schmerz nicht entwischt.
Viele von uns sind wie Tiere, die so lange eingepfercht waren, dass sie nicht gemerkt haben, dass das Erwachsenenalter uns das Tor zu einem weiten Feld der Freiheit und Möglichkeiten geöffnet hat. Trauern befreit uns aus der Gefangenschaft in einem winzigen Teil unseres Selbst und gibt uns die Freiheit, zu den selbstbewussten, lebensbejahenden Erwachsenen heranzuwachsen, auf die man uns hätte vorbereiten sollen. Ich hoffe, dass dieses Buch Ihre angeborene Fähigkeit freisetzt, Ihren Trauerprozess mit Stolz anzunehmen, und dass Sie anschließend mit den Gaben der Trauer belohnt werden, die in Kapitel 4 näher erläutert werden.
Warum möchte mein Papa, dass ich ihm verzeihe, obwohl er mich nicht verletzt hat?
— Maria, eine elfjährige Klientin
Echte Vergebung findet sich am häufigsten im ruhigen Zentrum des Orkans der Anschuldigungen. Dieses Paradoxon ist Teil einer größeren Ironie, die die menschliche Fähigkeit, sich »gut« zu fühlen, untrennbar mit der Notwendigkeit verbindet, sich manchmal »schlecht« zu fühlen.
Wer nie traurig ist, weiß nicht, was Freude ist. Wer nie wütend ist, empfindet selten echte Liebe. Wer ständig vor seiner Angst davonläuft, entdeckt nie seinen Mut. Und wer sich weigert, Anschuldigungen zu erheben, wird niemals wirklich Vergebung empfinden. Ken Wilber, ein moderner Weiser der transpersonalen Psychologie, stellt fest:
Wenn wir versuchen, die Gegensätze zu trennen und an denen festzuhalten, die wir positiv beurteilen, wie Vergnügen ohne Schmerz, Leben ohne Tod … streben wir tatsächlich nach Phantomen ohne die geringste Realität. Wir können genauso gut nach einer Welt von Gipfeln ohne Täler, Käufern ohne Verkäufer, Linken ohne Rechte sowie Innen ohne Außen streben.
Als Gegenteil von Vergebung wird die Anschuldigung in spirituellen und therapeutischen Kreisen weitgehend »pathologisiert«. Die meisten Experten zum Thema Vergebung scheinen die Unterschiede zwischen gesunder und dysfunktionaler Schuldzuweisung zu übersehen.
Wenn wir die Schuldzuweisung leichthin aus unserem Bewusstsein verbannen, entdecken wir nie ihren enormen Wert als Instinkt. Schuldzuweisungen sind wichtige Voraussetzungen, um Nein sagen zu können, Grenzen zu setzen, gegen Ungerechtigkeit zu protestieren und unsere Grenzen zu verteidigen. Wir werden uns nie sicher fühlen, wenn wir keine Vorwürfe erheben wie »Hör auf, du tust mir weh!«, »Beschimpf mich nicht« und »Nein, das kannst du nicht mitnehmen – es gehört mir!« Solche reflexartigen Vorwürfe sind ein wesentlicher Beitrag der Gefühlsnatur zum Instinkt des Selbstschutzes.
Dysfunktionale Eltern unterdrücken gewöhnlich den Instinkt ihrer Kinder, unfaire Elternpraktiken – und damit auch alles schlechte Verhalten – zu kritisieren, sobald es auftaucht. In unserer Kultur erleben Kinder, die ihre Eltern infrage stellen, die extremsten Konsequenzen. Die meisten Notaufnahmen von Krankenhäusern haben täglich mit der Gewalt zu tun, die Eltern an Kindern verüben, die Nein sagen oder widersprechen.
Selbst Eltern, die behaupten, grundsätzlich gegen körperliche Bestrafung zu sein, reagieren manchmal reflexartig auf das Nein ihres Kleinkindes, indem sie es am Arm packen, es in die Luft reißen oder ihm mit voller Wucht auf den Po schlagen. Können Sie sich vorstellen, wie Sie sich fühlen würden, wenn plötzlich jemand, der dreimal so groß ist wie Sie, neben Ihnen auftauchen und Sie so grob behandeln würde?
Viele von uns haben auch Angst, Kritik zu äußern, weil man sich von ihnen in der Kindheit auf traumatische Weise abgewendet hat, wenn sie die elterliche Ungerechtigkeit infrage gestellt haben. Viele von uns haben die typische Strafmaßnahme erlitten, von einem vor Wut schäumenden Elternteil aus der Tür gestoßen zu werden (manchmal mit einem gepackten Koffer), begleitet von den Worten: »Geh mir aus den Augen! Wenn es dir hier bei uns nicht gefällt, dann such dir einen anderen Platz zum Leben!«
Wenn es Kindern nicht erlaubt ist, das schlechte Verhalten ihrer Eltern zu kritisieren, wenden sie sich in der Regel gegen andere und / oder gegen sich selbst. Wenn wir unsere Vorwürfe nicht an der richtigen Stelle loswerden, werden wir oft unbewusst dazu gezwungen, jemand anderen zu kritisieren und zu verletzen. Dr. George R. Bach und Dr. Herb Goldberg beschreiben die Folgen:
Viele der bekannten Formen von verdrängter Aggression – wie das Sündenbock-Syndrom, Schikanierung, Vorurteile und Grausamkeit – sind Nebenprodukte aggressiver Gefühle, die zuerst innerhalb der Familie gefühlt, aber unterdrückt wurden. Jemand anderem Schmerzen zuzufügen beweist zumindest, dass ich auf jemanden schädigend einwirken kann. Wenn ich schon niemanden mögen oder berühren kann, dann kann ich durch emotionale Schmerzen zumindest ein gewisses Leid erregen. So kann ich wenigstens dafür sorgen, dass wir beide etwas fühlen …
Das Sündenbock-Syndrom ist eine Form deplatzierter Schuldzuweisungen. Wilhelm Reich beschreibt in Die Massenpsychologie des Faschismus brillant die Folgen fehlgeleiteter Schuldzuweisungen.
Es gibt viele faschistische Subkulturen in unserer Gesellschaft. Fast jede Minderheitengruppe (einschließlich Kinder) leidet unter grausamen Akten des Sündenbock-Syndroms und unter Vorurteilen. Reich weist darauf hin, dass die Subkulturen in dem Maße faschistisch sind, wie sie eine absolute, bedingungslose Ehrung ihrer Führer erfordern. Ähnlich sind Familien in dem Maße faschistisch, wie die Eltern autokratisch sind. Eltern, die nicht gegen das Fehlverhalten ihrer Führer protestieren können, machen ihre Kinder häufig zum Sündenbock, und Kinder, die ihre Eltern nicht beschuldigen können, verlagern ihre Wut auf die gesellschaftlich anerkannten Zielscheiben ihrer Subkultur.
Ob wir nun unsere Schuldzuweisungen durch das Sündenbock-Syndrom unbewusst ausleben oder nicht, so geben sich doch die meisten von uns zu Unrecht selbst die Schuld für die Defizite, an denen sie wegen ihrer schlechten Erziehung leiden. Wir machen uns selbst zum Sündenbock, anstatt in Erwägung zu ziehen, dass unsere Eltern uns vielleicht gravierend verletzt haben, zumal das Klagen über schlechte Erziehung eines der letzten Tabus unserer Kultur ist.
Der renommierte Psychologe Erik Eriksen weist darauf hin, dass Schuldgefühle zu Scham werden, wenn sie sich gegen das Selbst richten, und viele von uns leiden unter unendlichen Schüben von toxischer Scham, weil unsere nach innen gekehrten Anschuldigungen permanent Selbsthass erzeugen.
Solange wir nicht verstehen, in welchem Ausmaß unser gegenwärtiger Schmerz auf ungeklärte Verluste in der Kindheit zurückzuführen ist, sind wir anfällig dafür, die falsche(n) Person(en) für unsere Probleme verantwortlich zu machen. Kapitel 7 ist ein Ansatz für Schuldzuweisungen, der die Notwendigkeit eines Sündenbocks und der Hexenjagd überflüssig macht und es uns erlaubt, unsere Schuldzuweisungen auf eine Weise zu fühlen und auszudrücken, die uns, unsere Eltern oder Unbeteiligte nicht verletzt.
Wenn Sie einschätzen möchten, ob Sie durch Ihre eigenen Schuldzuweisungen vergiftet wurden, schließen Sie Ihre Augen und nehmen Sie Ihre innere Erfahrung wahr, während Sie versuchen, sich daran zu erinnern, wie Sie Ihre Eltern herausgefordert haben. Vielleicht erinnern Sie sich nicht daran, dass Sie sich ihnen widersetzt haben. Vielleicht hat Ihre ganze »Demütigung« zu einem frühen Zeitpunkt stattgefunden, an den Sie sich überhaupt nicht erinnern können. Trotzdem sind Sie vielleicht im Inneren immer noch verspannt, fühlen sich schuldig oder tadeln sich sogar bei dem Gedanken oder der Vorstellung, Ihre Eltern wegen irgendetwas infrage gestellt zu haben.
Oder vielleicht erinnern Sie sich an Traumata, die sich ereignet haben, als Sie mit Ihren Eltern nicht übereinstimmten. Wenn Sie bei dieser Übung Verlust oder Kummer empfinden, hoffe ich, dass es Sie dazu motiviert, Ihr Verhältnis zu Anschuldigungen gründlicher zu untersuchen.
Vergebung rechtfertigt oder duldet in keiner Weise schädliche Handlungen. Während Sie verzeihen, können Sie auch sagen: »Nie wieder werde ich dies wissentlich zulassen.«
— Jack Kornfield
Wirkliche Vergebung hängt davon ab, dass sich das erwachsene Kind deutlich an die Besonderheiten der Misshandlung und der Vernachlässigung durch seine Eltern erinnert. Es ist menschlich nicht möglich, Verletzungen zu vergeben, die uns immer noch Schmerzen bereiten. Traumata, die nicht erinnert und betrauert werden, blockieren die zarten Gefühle, die die Grundlage für das Gefühl der Vergebung sind.
Ich begann diesen Zusammenhang zu verstehen, als mir schließlich klar wurde, dass ich niemals die bekannte Ankündigung »eines Tages wirst du uns dafür dankbar sein« erleben würde. Ich danke meinen Eltern zwar für vieles, aber meine Dankbarkeit bezieht sich nie auf die Zeiten, in denen sie diesen Ausdruck benutzten, um ihr verletzendes Verhalten zu rechtfertigen.
Um unseren Eltern wirklich dankbar sein zu können, müssen wir zuerst die Verletzungen unserer Kindheit identifizieren und eine signifikante Genesung erreichen. Daher hoffe ich, dass Sie zwischen jenem elterlichen Verhalten unterscheiden können, das Dankbarkeit verdient, und jenem, das zurückgewiesen werden muss. Wenn wir unseren Eltern wirklich verzeihen, wissen wir genau, was wir ihnen verzeihen und was exakt an ihrem Verhalten tadelnswert war.
Wenn wir die genaue Art der Übertretungen unserer Eltern nicht erkennen, riskieren wir, ähnliche Arten von Verletzungen in der Gegenwart zu tolerieren. Kinder, denen es nicht erlaubt ist, schlechtes Verhalten ihrer Eltern zu tadeln, werden oft zu Erwachsenen, die sich nicht vor Misshandlungen schützen.
Es gibt viele Täter, die einen sechsten Sinn für Menschen zu haben scheinen, die die Fähigkeit verloren haben, zu protestieren und gegen Ungerechtigkeiten aufzubegehren. Wenn wir keine »negative« Gefühlsreaktion auf Verletzungen registrieren, können wir nicht erkennen, dass wir misshandelt werden. Stattdessen »verzeihen« wir unseren Missbrauchern stillschweigend, so wie wir gezwungen waren, unseren Eltern stillschweigend zu verzeihen, egal wie viele fortlaufende Misshandlungen sie verübten. Daher stellt die Psychoanalytikerin Judith Viorst fest:
Solange wir nicht um die Vergangenheit trauern können … sind wir dazu verdammt, sie zu wiederholen.