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With its holistic view of human beings and its treatment approach, focusing on the individual and his or her personal needs and characteristics, C.G. Jung's analytical psychology is capable of expanding depth-psychological and psychodynamic treatment concepts into a modern, integrative approach. The book links the essential elements of analytical psychology and psychotherapy with the current state of psychotherapy research. Special emphasis is given to working with the unconscious and its symbolism. How does the unconscious present itself in fantasies, dreams, imaginations and clinical pictures, as well as in the patients' resources? Analytical psychology's points of access to the patient=s inner self, to the intersubjectivity of the therapeutic relationship and to the processes of transfer and counter-transfer are presented, and the differences between this and other forms of therapy are traced out. A special aspect of the book is that particular attention is given to accessing and making use of the creative potential of both patients and therapists.
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1. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-028396-1
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-028397-8
epub: ISBN 978-3-17-028398-5
mobi: ISBN 978-3-17-028399-2
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Einführung
I Essentials der Analytischen Psychologie
1 Das Primat und die virtuelle Realität der Psyche
1.1 Die Welt ist eine Projektion des SELBST
1.2 … und das SELBST ist eine Introjektion der Welt
1.3 Die Gewissheit der Ungewissheit
1.4 Mitmenschlicher Dialog ist dennoch notwendig und heilsam
1.5 Es geht immer vor allem um subjektive »Wahrheiten«
1.6 Die Psyche kümmert sich nicht um unsere Wirklichkeitskategorien
2 Das SELBST: das ganze »System Mensch«
2.1 Ganz vertraut – ganz fremd, ganz nah – ganz fern
2.2 Ganzheit und das Modell von Ken Wilber
2.3 Komplexität
2.4 Transpersonale Aspekte des Selbst
2.5 Das Mandala als SELBST-Symbol
3 Psycho-Symbole als Sprache der Seele
3.1 Vieldimensionalität der Symbole
3.2 Der fließende Übergang zwischen dem (Psycho-)Symbolischen und dem (Objektiv-)Konkreten
3.3 Wie findet man geeignete Symbole? Die Symbolisierung
3.4 Die symbolisierende Einstellung – das symbolische Leben
4 Polarität und Selbstorganisation
4.1 Grundpolaritäten des Lebens
4.2 Der Kreislauf der Natur
4.3 Selbstorganisation
4.4 Kompensation und Finalität
4.5 Stirb und Werde
4.6 Psychisch geschehen lassen
4.7 Analyse und Synthese
4.8 Umkreisung der Mitte, Zentrierung im SELBST
5 Das Schöpferische
5.1 Die schöpferische Fähigkeit der Fantasie
5.2 Die »transzendente Funktion« der Psyche
5.3 Der schöpferische Wandlungszyklus
5.3.1 Die Phasen der Kreativität
5.3.2 Den »Rubikon überschreiten«
5.3.3 Der therapeutische Wandlungszyklus
5.3.4 Stufen der therapeutischen Tiefe
Therapeutische Tiefenstufe 1
Therapeutische Tiefenstufe 2
Therapeutische Tiefenstufe 3
5.3.5 Exkurs: Alchemie und schöpferischer Wandlungsprozess
6 Die Archetypen
6.1 Universale Bereitschafts- und Reaktionspotenziale
6.2 Faszination, Numinosität und Inflation
6.3 Anzahl der Archetypen
6.3.1 Allgemeine Psychologie, Ethologie, Biopsychologie und evolutionäre Psychologie
6.3.2 Linguistik
6.3.3 Märchen
6.3.4 Anthropologische Konstanten/Universalien
6.4 Bedeutung der archetypischen Dimension für die Psychotherapie
6.5 Bios, Eros, Heros, Logos und Mx: Das Pentaolon-Modell
7 Das Unbewusste
7.1 Das Unbewusste ist die überwiegende Funktionsweise aller psychischen Vorgänge
7.2 Das persönliche Unbewusste und das kollektive Unbewusste
8 Das Bewusstsein und das Ich-Erleben
8.1 Die Bedeutung des Bewusstseins
8.2 Phasen der Bewusstseinsentwicklung
8.2.1 Die unbewusste-undifferenzierte Phase der Bewusstseinsentwicklung
8.2.2 Die bewusst-differenzierte Phase
8.2.3 Die integrative, psycho-symbolische Phase
8.2.4 Non-Dualität?
8.3 Das bewusste Ich-Erleben
8.4 Aspekte des Ich-Erlebens
9 Individuationsprozess und Persönlichkeitsentwicklung
9.1 Motivation: Triebe, Libido und Grundbedürfnisse
9.2 Komplexe als psychische Energiezentren
9.2.1 Das Assoziationsexperiment
9.2.2 Komplexe als »via regia« zum Unbewussten und Landkarte der Seele
9.2.3 Systematik der Komplexe
9.3 Persönlichkeitseigenschaften und typologische Aspekte
9.3.1 Introversion, Extraversion und die Big Five
9.3.2 Psychische Orientierungsfunktionen
9.3.3 Therapeutische Funktion von Typologien
9.4 Die Persona, der Schatten und das Gegengeschlechtliche
9.4.1 Persona: Wie wir uns gerne darstellen
9.4.2 Der Schatten
9.4.3 Der innere Mann und die innere Frau: Animus und Anima
9.5 Die »Große Suche«: Der »heroische« Weg der Individuation
9.6 Die dialektische Beziehung
10 Der ganzheitlich-integrative Therapieansatz der AP
10.1 Ganzheitskonzepte in der Psychotherapie
10.2 Die Beziehung der AP zur Psychoanalyse
10.3 Die Beziehung der AP zur Humanistischen Psychologie
10.4 Die Beziehung der AP zur Kognitiven Verhaltenstherapie
10.5 Krankheitsverständnis der AP
10.5.1 Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer und psychosomatischer Symptome
10.5.2 Explizite Symptombehandlung und implizite Reifungs- und Lernerfahrungen
10.6 Wirkfaktoren der Psychotherapie
10.6.1 Bekenntnis, Aufklärung, Erziehung und Verwandlung
10.6.2 Von Mensch zu Mensch: Therapeutische Beziehung, Übertragung und Gegenübertragung in der AP
10.6.3 Das Verständnis von Widerstand in der AP
10.6.4 Kongruenz, Empathie und Akzeptanz: Die Wirkfaktoren Carl Rogers’ im Verständnis der AP
10.6.5 Jerome Franks Wirkfaktoren und die Position der AP
10.6.6 Wirkfaktoren der Gruppentherapie nach Irvin Yalom in der AP
10.6.7 Therapie als individuelle Komposition nach Klaus Grawe und die AP
10.6.8 Spezifische Wirkfaktoren der AP
II Methoden und Interventionen in der Analytischen Psychologie
11 Überblick: Das A-bis-H-Schema
11.1 Sicherer Ort, sichere Beziehung, kreative Einstellung
11.1.1 Temenos und »Vas hermeticum«
11.1.2 Kreativität förderndes Verhalten des Therapeuten
11.2 A: Aktualisieren einer psychischen Thematik
11.2.1 Klären, intensivieren, verdeutlichen
11.2.2 Konfrontieren
11.2.3 Identifizieren, Personifizieren, Dialogisieren
11.3 B: Betrachten und Umkreisen einer psychischen Problematik
11.3.1 Die freie Assoziation
11.3.2 Amplifikation
11.3.3 Meditation und Kontemplation
11.3.4 Focusing
11.4 C: Creieren, Fantasieren, Imaginieren, Träumen, Spielen, Gestalten
11.4.1 Die Kraft der Fantasie und die Aktive Imagination
Günter Langwieler
11.4.2 Die Praxis der Aktiven Imagination
Günter Langwieler
11.4.3 Der Traum als Zugang zum Unbewussten
Günter Langwieler
11.4.4 Jungs Traumtheorie und die empirische Traumforschung
Günter Langwieler
11.4.5 Malen und Zeichnen
11.4.6 Tonen und Formen
11.4.7 Steine bearbeiten und Bildhauerei
11.4.8 Umgang mit den Gestaltungen
11.4.9 Körperausdruck und -bewegung, Musik und Tanz
11.4.10 Wort und Sprache
11.4.11 Spielen
11.5 D: Deuten
11.5.1 Aktueller Auslöser
11.5.2 Lebensgeschichtlicher Zusammenhang
11.5.3 Kompensatorische Funktion unbewusster psychischer Inhalte
11.5.4 Deutungsperspektiven
11.5.5 E: Eigen- oder Subjektperspektive
11.5.6 F: Beziehungs- und Objektperspektive (Fremdperspektive)
11.5.7 G: Globalperspektive: archetypische und existenzielle Themen der Individuation
11.6 H: Handeln
12 Praxis der Analytischen Psychotherapie
Thomas Schwind
12.1 Der Rahmen in der Psychotherapie
12.1.1 Der Raum
12.1.2 Die Zeit
12.1.3 Das Geld
12.1.4 Die Grenzen
12.1.5 Beziehungsethische Grundhaltung
12.2 Die therapeutische Beziehung
12.2.1 Kreativität des Patienten und des Therapeuten
12.2.2 Erzählen und Hören
12.2.3 Enactment
12.2.4 Die therapeutische Grundhaltung
12.3 Der psychotherapeutische Prozess
12.3.1 Therapie als archetypischer Prozess: Der Weg
12.3.2 Die Initialphase als erste Phase des therapeutischen Prozesses
12.4 Die zweite Phase des Prozesses: Analyse, Regression, emotionale Auseinandersetzung mit zentralen Konflikten
12.5 Die dritte Phase des Prozesses: Synthese, Progression, Integration und Finden neuer Möglichkeiten
12.6 Die vierte Phase des Prozesses: Individuations- und Abschlussphase
12.7 Exkurs: Der Therapieprozess am Beispiel einer alchemistischen Bilderserie
13 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in der AP
13.1 Ansätze zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen in der AP
13.2 Die Methoden der AKJP in der AP
13.2.1 Freies Spiel als Methode
13.2.2 Dynamik von Regel- und Gesellschaftsspielen
13.3 Zum Rahmen in der Therapie von Kindern und Jugendlichen
13.3.1 Im Spannungsfeld Individuation – Sozialisation
13.3.2 Das Arbeitsbündnis im Dreieck KJ – Eltern – Therapeut
13.3.3 Der Therapieraum – »alchemistisches« Labor und Spielraum
13.3.4 Therapeutischer Raum – Temenos, vas hermeticum und …
13.3.5 … Raum für alle
13.3.6 Der Rahmen und die Grenzen
13.4 Die Phasen des therapeutischen Prozesses
13.4.1 Die Initialphase
13.4.2 Die zweite Phase: Analyse und Regression
13.4.3 Die dritte Phase: Synthese und Progression
13.4.4 Die vierte Phase: Integration und Individuation
13.4.5 Besonderheiten in den Behandlungen von Jugendlichen
14 Gruppenpsychotherapie im Rahmen der Konzepte der Analytischen Psychologie
14.1 Polarität zwischen Kollektiv und Individuum
14.2 Archetypische Wirkfaktoren
14.3 Symbolzentrierte Gruppenarbeit
15 Bilanz
Literaturverzeichnis
Autorenverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Wissenschaftliche Theorien sind nur Vorschläge, wie man die Dinge betrachten könnte.
(Jung, GW 4, § 241)
Das Buch soll einen Einblick und Überblick über Theorie und Praxis der Analytischen Psychologie und Psychotherapie nach C. G. Jung geben (im Folgenden abgekürzt: AP). Dabei ist uns aus den folgenden Gründen besonders wichtig, neben dem analytischen Aspekt immer auch den integrativen Charakter der AP hervorzuheben:
• Die alleinige Verwendung der Bezeichnung »analytisch« wird wesentlichen Aspekten der Analytischen Psychologie u. E. nicht wirklich gerecht. Die aus der AP abgeleiteten Methoden sind nicht nur als »analytisch« im Sinne eines Ursachen und Zusammenhänge aufhellenden und bewusstmachenden Prozesses zu verstehen, sondern sie haben immer auch eine »synthetische« und »integrative« Funktion. Im Sinne eines dynamischen Zusammenfügens, Verbindens, Vereinigens und Versöhnens von polaren Aspekten der Psyche und deren Bewusstmachung sollen sie die Persönlichkeit, die SELBST-Erfahrung wie auch die konkreten Lebens- und Verhaltensspielräume des Menschen erweitern helfen. (Wie in Kapitel 2 erläutert, schreiben wir den Begriff des SELBST in diesem Buch mit großen Buchstaben.) Diese ganzheitliche, integrierende, schöpferische, ressourcen- und sinnorientierte Konzeption wird durch den Begriff des »Analytischen« nicht ausreichend gefasst. Aus diesem Grund bevorzugen wir auch die umfassendere Bezeichnung Therapeut oder Therapeutin und nicht Analytiker oder Analytikerin.
• Die Analytische Psychologie ist ihrem Ansatz nach schon immer eine integrative Psychologie und Psychotherapie gewesen. Dies zeigt sich praktisch in allen ihren Grundvorstellungen, z. B im Prinzip der Einheit und Ganzheit des Menschen, in der schöpferischen Spannung und Dynamik zwischen den unterschiedlichsten Polaritäten im Menschen, in der gegensatzverbindenden, transzendenten Funktion, in der umfassenden Bedeutung der allgemein-menschlichen, kulturübergreifenden archetypischen Dimensionen menschlichen Erlebens und Verhaltens, in der Hypothese des SELBST und dessen Verwirklichung im Individuationsprozess usw.
• C. G. Jung hat für seinen Ansatz verschiedene Kennzeichnungen versucht, um ihn von der klassischen Psychoanalyse zu unterscheiden. Er sprach von einem »synthetischen« (im Sinne von Synthese), einem final-konstruktiven, auf einen Sinn und Ziel hin ausgerichteten Vorgehen. Auch verwendete er eine Zeit lang den Begriff der »Komplexen Psychologie«, um eben auf den komplexen, vieldimensionalen und polar-paradoxen Charakter der psychischen Vorgänge hinzuweisen. Was letztlich den Ausschlag dafür gegeben haben mag, dass er sie dann »Analytische Psychologie« nannte oder nennen ließ, ist schwer zu beurteilen. Wahrscheinlich spielen die von der Wortwahl her gezeigte Nähe einerseits und Entgegensetzung zur Psychoanalyse eine Rolle.
• Ein weiterer Grund für die besondere Betonung des Integrativen liegt darin, dass wir es als für dringend notwendig erachten, dass die traditionellen psychodynamischen Schulrichtungen aus der Enge und Bindung an ihre Begründer heraustreten und auch eine aktive Auseinandersetzung mit der akademisch weitaus besser etablierten Kognitiven Verhaltenstherapie suchen. Die Letztere hat aufgrund der Vielzahl ihrer Ansätze, Methoden und Forscher problemlos mehrere »Wenden« vollzogen, sich inzwischen von der dritten »Welle« weitertragen lassen und dabei fast alles integriert und systematisiert, was therapeutisch nutzbar ist. Sie hat sich dabei selbst in solche Bereiche wie Achtsamkeit, Weisheit, Imagination, Emotionen und Unbewusstes hineingewagt, die sie vorher entschieden und als unwissenschaftlich bekämpft hat. Über Kurz oder Lang wird sie auch die sonstigen Domänen der Tiefenpsychologie, wie z. B. die biografische Konfliktanalyse, das Beachten von Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen, das schöpferische Spielen und Gestalten, die Arbeit mit Träumen, freien Fantasien, Symbolen, Märchen und Mythen usw. integrieren bzw. neu erfinden oder neu formulieren, ohne ihre Herkunft aus den psychodynamischen Richtungen zu benennen. Eine sinnvolle Gegenreaktion von Seiten der AP erscheint uns, bei dem ohnehin schon seit 100 Jahren vorliegenden integrativen Ganzheitskonzept unserseits selbst Elemente der Kognitive Verhaltenstherapie zu integrieren.
Die AP, wie wir sie in diesem Buch zu beschreiben versuchen, teilt mit den anderen psychodynamischen und psychoanalytischen Richtungen der Psychotherapie grundlegende Einsichten – insbesondere die über die Bedeutung unbewusster Prozesse für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung von psychischen Erkrankungen – erweitert diese zugleich zu einem umfassenderen Ansatz, indem sie von einem möglichst umfassenden Menschenbild und Krankheitsverständnis und einem auf die individuelle Persönlichkeit und Situation des Einzelnen zugeschnittenen Behandlungskonzept ausgeht. Die auf das SELBST und sein schöpferisches Potenzial hin orientierte Einstellung, die Förderung der Entwicklung der Persönlichkeit (Individuation), die Beachtung und Bedeutung der Sinnfindung und des religiösen Bezuges des Menschen für seine seelische Gesundheit bilden dabei spezielle Schwerpunkte.
C. G. Jung gehört neben S. Freud und A. Adler zu den bedeutendsten und bekanntesten Pionieren der Psychologie. In der Öffentlichkeit verbindet man seinen Namen am ehesten mit den Begriffen der »Archetypen« und des »kollektiven Unbewussten«, vielleicht auch noch mit denen des Schattens, von Animus und Anima und den Persönlichkeitseinstellungen »Introversion« und »Extraversion.« Über die anderen, weit über die traditionellen Vorstellungen der Psychoanalyse, der Gesprächspsychotherapie, der Verhaltenstherapie wie der Systemischen Therapie hinausgehenden Auffassungen ist allgemein wenig bekannt.
Um diese dem Leser nahezubringen, haben wir dem Praxisteil ein Kapitel über die Essentials der Analytischen Psychologie vorangestellt. Nur vor diesem Hintergrund kann auch die Bedeutung des Unbewussten, der dialektischen Beziehung und der kreativen Gestaltungsprozesse, die in der Praxis der AP eine bedeutende Rolle spielen, verstanden werden. Fantasie und kreative Gestaltungen sind nach Auffassung der AP ein wesentlicher Zugang zu den Ressourcen eines Menschen.
Entsprechend des »Primats der Psyche«, das wir als erstes skizzieren und der damit verbundenen Relativität aller Theorien und Glaubenssysteme, verstehen wir alle Aussagen dieses Buch als prinzipiell offene Hypothesen. An einigen Stellen heben wir besonders relevante Annahmen hervor, immer aber sie sind als vorläufige Annahmen gemeint, die wir gerne durch bessere ersetzen, wenn sie uns bekannt werden. Unserer Auffassung nach ist die im besten Sinne verstandene wissenschaftliche Grundhaltung eine große Errungenschaft des menschlichen Geistes, die noch einmal mehr gerade durch die Einsicht in das Primat der Psyche eine besondere Bedeutung erhält.
Ganz bewusst haben wir im Buch viele Zitate von C. G. Jung selbst aufgenommen. Dies zum einen, weil wir die Zitate gut und treffend finden und es fair und redlich finden, die Ursprünge unserer Gedanken und Ausführungen auch zu nennen. Zugleich wollen wir dem Leser damit auch deutlich machen, dass Jung über die bereits genannten, allgemein bekannten Begrifflichkeiten hinaus weitere zukunftsweisende, wenn nicht gar revolutionäre Auffassungen vertreten hat, so z. B. hinsichtlich der Selbstregulation, der Komplexität, der Realität (Virtualität) der Psyche und der Intersubjektivität des therapeutischen Prozesses.
Viele dieser Konzepte finden sich bei Jung allerdings nicht so systematisch dargestellt, wie wir es in diesem Buch versuchen, sondern eher verstreut und in nicht ganz offensichtlichen Zusammenhängen, so dass sie erst, wenn man das Gesamtwerk kennt, in ihrer ganzen Tragweite erkannt und gewürdigt werden können.
Gleichzeitig sind wir aber auch der Auffassung, dass Begrifflichkeiten und Hypothesen der Analytischen Psychologie fortwährend an den jeweils aktuellen Wissensstand angepasst, erweitert, modifiziert oder auch fallengelassen werden müssen, wenn sie ihren Beitrag in Psychologie und Psychotherapie weiterhin konstruktiv leisten will. Diese eigentlich selbstverständliche wissenschaftliche Grundhaltung finden wir auch schon bei Jung selbst, der ab den 1930er Jahren in der Schweiz mit vielen Forschern anderer Wissenschaftsdisziplinen zu den einjährlich abgehaltenen interdisziplinären Eranos-Tagungen zusammentraf.
Als zweitem Essential wenden wir uns dann dem Begriff des SELBST und einem seiner vielen Symbole zu: dem Mandala. Es ist sicher ungewöhnlich, dass ein Symbol für eine eher theoretische und wissenschaftliche Erörterung grundlegender Prinzipien verwendet wird, trifft aber ziemlich genau ein zentrales Anliegen der AP. Ein Symbol wie das Mandala legt nichts endgültig fest, sondern vermittelt eine mehr gefühlte Ahnung von etwas Ganzheitlichem, Wesentlichem und Zentralem und lässt einen weiten Spiel- und Freiraum für neue und zukünftige Entwicklungen.
So ist es auch mit Psychologie und Psychotherapie. Sie sind noch recht junge Wissenschaften und beginnen gerade, aus der Pionierphase, die mit einigen zentralen Gestalten wie James, Freud, Adler, Jung und Rogers verbunden ist, herauszuwachsen und zu einer schulenübergreifenden Perspektive, in der die einzelnen Richtungen sich nicht mehr abwerten und ignorieren, zu finden. Des Weiteren werden biologische und evolutionäre Psychologie, Hirnforschung, Psychopharmakologie und der sich immer rascher entfaltende Bereich der digitalen und virtuellen Kommunikation das Bild vom Menschen und seinen Entwicklungsmöglichkeiten in bis jetzt noch nicht absehbarer Weise verändern.
Was sich aber vermutlich nicht so rasch ändern wird, ist die Grundsymbolik des Mandalas. C. G. Jung entdeckte, als er in Situationen innerer Unruhe und Desorientierung einfache Mandalazeichnungen anfertigte, dass sich mit der Ausgestaltung dieser Zeichnungen auch sein innerer Zustand veränderte. Er erkannte:
Es wurde mir immer deutlicher: Das Mandala ist das Zentrum. Es ist der Ausdruck für alle Wege. Es ist der Weg zur Mitte, zur Individuation.
(Jung, Jaffé, 1962, S. 200)
Jung meinte das – wie so vieles in seinem Werk – natürlich symbolisch. Nicht ein konkretes einzelnes Mandala ist der Ausdruck für alle Wege und der eigentliche und hauptsächliche Weg zur Individuation, sondern die sich in den Mandalas der Weltkulturen ausdrückenden psychischen Tendenzen, unsere Sehnsucht z. B. nach umfänglicher Ganzheitlichkeit und Struktur und dem Spüren und Umkreisen-Wollen einer essenziellen Mitte, sei sie in einer Gottheit personifiziert dargestellt oder sei sie eine unbestimmte schöpferischen Fülle/Leere.
In diesem Sinne wird uns die Mandala-Symbolik – unserer Einschätzung nach – wie seit eh und je in allen möglichen Formen und Gestaltungen begleiten, wahrscheinlich immer differenzierter und drei- und mehrdimensional, aber vom Wesen her ähnlich, einfach deshalb, weil bislang kein besseres Symbol für die Mitte, die Dynamik und den Umfang des Menschen in seiner Beziehung zur Welt und zum Universum gefunden wurde.
Etwas ungewöhnlich für ein psychotherapeutisches Lehrbuch ist wohl auch, dass wir Abbildungen aus der Alchemie einbinden. Jung war immer auf der Suche nach historischen Vorbildern für das, was er den Individuationsprozess nannte. In manchen religiösen und auch philosophischen Systemen fand er Parallelen, aber diese Vorläufer passten nur zum Teil auf seinen Zugang, weil ihnen meist der wissenschaftlich-experimentelle Anteil fehlte. In der Alchemie des Mittelalters, in der sich vorwissenschaftlich forschender Geist mit reger Fantasietätigkeit verbanden, entdeckte er nun erstaunliche Parallelen zu den Bildern und Symbolen, die auftauchen können, wenn man sich mit der Psyche auf dem Weg von Introspektion, Traumarbeit, Imagination und Meditation auseinandersetzt. Er hatte den Eindruck, dass die Prozeduren, die die Alchemisten beschrieben, wenn man sie als Manifestationen psychischer Vorgänge betrachtete und symbolisch verstand, viel Ähnlichkeit mit dem hatten, was auch im Individuationsprozess beobachtet werden konnte. Darin geht es ums Analysieren, Lösen, Trennen, Differenzieren, Neuverbinden, Synthetisieren – psychologisch gesehen also ums Bewusstmachen und Integrieren vorher unbewusster Bereiche – und um das Finden des »Steins der Weisen« – in psychologischer Sprache: um die Entfaltung höherer Bewusstheit und Identität mit dem eigenen ganzheitlichen Wesen, dem SELBST.
Die Alchemie hat mir darum den unschätzbar großen Dienst geleistet, mir ihr Material, in dessen Umfang meine Erfahrung genügend Raum findet, anzubieten und hat es mir dadurch möglich gemacht, den Individuationsprozeß in seinen hauptsächlichen Aspekten zu beschreiben.
(Jung, GW 14/2, § 447)
Dieser psychologische Aspekt der Alchemie, der manchen Lesern seines Werkes fremdartig und unverständlich vorkommt, war für Jung eine wichtige Entdeckung, die bislang wenig gewürdigt wird. Deshalb versuchen wir, ihr auch in diesem Buch einen gewissen Raum zu geben, damit der Leser zu entscheiden vermag, ob der Bezug zwischen der Psychologie und den Symbolen der Alchemie Sinn macht oder ob das nur eine spezielle Vorliebe Jungs war, die aber für die Frage nach den Vorläufern moderner Wissenschaft und Psychotherapie weniger von Bedeutung ist.
Wenn Therapeuten, die mit den Ansätzen der Analytische Psychologie arbeiten, gefragt werden, was sie daran besonders schätzen, dann fallen oft die Worte »Kreativität« »Offenheit« und »Weite«. Diese prinzipielle Offenheit und Weite der AP, sowohl in ihrem Menschenbild als auch in ihrer Behandlungsmethodik, zeigt sich im zehnten Kapitel des Buches, in der die bis heute erforschten Wirkfaktoren der Psychotherapie besprochen werden. Sie bestätigen die Ansätze der AP weitgehend und weisen noch einmal darauf hin, dass die Zukunft der Psychotherapie in einem ganzheitlichen, integrativen Denken und Handeln liegt.
Anschließend wird dann eine Übersicht über alle Methoden gegeben, die in der AP bislang verwendet werden, wobei der zentrale Leitgedanke bei allen Methoden ist: Es kommt nicht primär auf eine einzelne Methode an, sondern darauf, dass der Patient in einer vertrauensvollen Beziehung den für ihn stimmigen Weg zu sich selbst, seinem »SELBST«, seiner inneren Wahrheit und Wirklichkeit findet und dass er darin gefördert wird, diese zum Ausdruck zu bringen und so gut es ihm möglich ist, auch zu leben. Die Methode wird letztlich vom Patienten bestimmt und natürlich auch von dem, was der Therapeut innerlich und äußerlich anzubieten vermag.
Oft kommen Leute zu mir in der Erwartung, ich würde jetzt einen medizinischen Zauber loslassen. Dann sind sie enttäuscht, wenn ich sie wie normale Menschen behandle und mich wie ein normaler Mensch benehme. Eine Patientin hatte in einem anderen Sprechzimmer nur den »schweigenden Gott« hinter ihrem Sofa erlebt. Als ich mit ihr zu sprechen begann, sagte sie erstaunt, fast entsetzt: »Aber Sie äußern ja Affekte, Sie äußern sogar Ihre Meinung!« Natürlich habe ich Affekte und zeige sie auch. Nichts ist wichtiger als dies: man muß jeden Menschen wirklich als Menschen nehmen und darum seiner Eigenart entsprechend behandeln.
(Jung, GW 10, § 881)
Der Patient ist nämlich dazu da, um behandelt zu werden, und nicht, um eine Theorie zu verifizieren. Es gibt keine Theorie im weiten Felde der praktischen Psychologie, die nicht gegebenenfalls grundfalsch sein kann.
(Jung, GW 16, § 237)
In vielen Fällen wird in der praktischen Therapie der Methodenreichtum der AP allerdings gar nicht benötigt oder ausgeschöpft, sondern es wird mit einem elementaren therapeutischen Setting gearbeitet, mit dem vermutlich viele Psychotherapeuten der verschiedenen Richtungen heute arbeiten: Innerhalb eines geschützten Rahmens und auf der Basis einer vertrauensvollen Beziehung wird der Patient ermutigt, frei und offen zu erzählen, was ihn emotional bewegt und beschäftigt. Die Hauptkunst und -tätigkeit des Therapeuten besteht darin, so gut zuzuhören und zu intervenieren, dass der Patient immer mehr ermutigt wird, tiefer zu gehen, seine Ängste und Widerstände vor der eigenen inneren Wahrheit und Wirklichkeit zu überwinden und ein akzeptierendes Verständnis von sich selber, seinem So-Geworden-Sein und seinen Konflikten zu entwickeln. Auf der Basis dieses besseren emotionalen Verstehens von sich selbst, seinen Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten, wird dann daran gearbeitet, welche konkreten Möglichkeiten und Übungsfelder der Patient hat, diese auch zu verwirklichen.
Ein solches Vorgehen scheint organisch und natürlich zu sein und den Bedürfnissen vieler Patienten weitgehend zu entsprechen. Nur dann, wenn der Patient auf diesem Wege nicht erreicht werden kann oder seine kreativen Ressourcen es besonders anbieten, werden weitere Methoden hinzugezogen, um den Prozess anzuregen oder zu intensivieren.
Der Unterschied zwischen der AP und der Psychoanalyse oder auch der Gesprächstherapie liegt dann beispielsweise darin, dass sich der Therapeut im Vergleich zur klassischen Psychoanalyse persönlicher als Dialogpartner einbringt und im Vergleich zur Gesprächstherapie, dass er mehr auch auf unbewusste Reaktionen und Aspekte, wie z. B. Symbole, Fantasien und Träume, achtet.
Zuletzt werden Aspekte der Erwachsenenpsychotherapie und einige Spezifika der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ausgeführt und die Gruppenpsychotherapie dargestellt.
Wir gehen zwar davon aus, dass die Aspekte, die wir in diesem Buch darstellen, von vielen Therapeuten der »jungianischen« Richtung geteilt werden, aber natürlich nicht von allen. Es gibt auch unter den »Jungianern« verschiedene Strömungen und Schwerpunkte. Insofern können wir nicht behaupten, dass die in diesem Buch dargestellten Essentials und die daraus abgeleiteten therapeutischen Implikationen die allgemein gültige und verbindliche Praxis der Analytischen Psychologie darstellen. Eine solche kann es im Grunde auch nicht wirklich geben, denn zu unterschiedlich und komplex ist jede therapeutische Beziehungskonstellation. Unsere Darstellungen fühlen sich dem verbunden, was C. G. Jung 1935 vor Kollegen formulierte:
Die Psychotherapie ist ein Gebiet der Heilkunst, das sich erst in den letzten fünfzig Jahren entwickelt und eine gewisse Selbständigkeit erlangt hat. Die Anschauungen in diesem Gebiete haben sich in mannigfacher Weise gewandelt und differenziert, und es haben sich Erfahrungen gehäuft, welche zu den verschiedensten Deutungen Anlaß geben. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Psychotherapie nicht eine einfache und eindeutige Methode ist, als welche man sie zuerst verstehen wollte, sondern es hat sich allmählich herausgestellt, daß sie in gewissem Sinne ein dialektisches Verfahren ist, d. h. ein Zwiegespräch oder eine Auseinandersetzung zwischen zwei Personen. Dialektik war ursprünglich die Unterredungskunst der antiken Philosophien, wurde aber schon früh zur Bezeichnung des Verfahrens zur Erzeugung neuer Synthesen. Eine Person ist ein psychisches System, welches, im Falle der Einwirkung auf eine andere Person, mit einem anderen psychischen System in Wechselwirkung tritt. Diese vielleicht modernste Formulierung des psychotherapeutischen Verhältnisses von Arzt und Patient hat sich, wie ersichtlich, weit entfernt von der anfänglichen Meinung, daß die Psychotherapie eine Methode sei, die irgend jemand zur Erreichung eines gewollten Effektes in stereotyper Weise anwenden könne. […]
(Jung, GW 16, § 1)
Der Mensch ist ein
hochkomplexes,
multidimensionales,
ganzheitlich-polar-paradoxes,
sich selbst kreativ organisierendes,
interaktives,
teilweise bewusstes,
überwiegend unbewusstes,
öko-bio-psycho-sozial-global-kosmisches System,
das sich selbst in einem virtuellen,
psycho-symbolischen Selbst-Welt-Modell repräsentiert.
Versuchsweise Definition des SELBST-Systems Mensch
Die Idee der psychischen Realität könnte man wohl als die allerwesentlichste Errungenschaft moderner Psychologie bezeichnen, wenn sie als solche anerkannt wäre. Es scheint mir aber nur eine Frage der Zeit zu sein, bis diese Idee allgemein durchdringt. Sie muß durchdringen, denn diese Formel allein erlaubt es, die mannigfaltigen seelischen Erscheinungen in ihrer Eigenart zu würdigen.
(Jung, GW 8, § 683)
Wir beginnen die Darstellung der Essentials der AP mit einer Einsicht, die von Philosophen und Psychologen schon lange diskutiert wurde, aber niemals so recht in ihrer ganzen Bedeutsamkeit gewürdigt und anerkannt wurde, vermutlich, weil sie ein mühsames Neu- und Umdenken erfordert, das unser bisheriges Welt- und Menschenbild radikal auf den Kopf stellt. Entgegen unserem alltäglichen »naiven« Erleben, das uns die Welt »da draußen« als Objekt und uns selbst als Subjekt ganz konkret und realistisch erscheinen lässt, wird uns in den letzten Jahren insbesondere auch im Zusammenhang mit den Einsichten der Kognitions- und Neurowissenschaften zunehmend bewusster, dass wir in einer durch unser neuro-psychisches System erzeugten virtuellen Welt leben. Das, was wir wahrnehmen und kennen, sind nicht wir selbst, die Welt und die Wirklichkeit »an sich«, sondern es handelt sich um Modelle und Konstrukte, die sich im Laufe der Evolution als überlebensförderlich herausgestellt haben. Wir leben in einer Welt von Tönen, Farben und Formen, Begriffen, Vorstellungen und Bildern, die es außerhalb dieser Gestaltungsformen in dieser Weise gar nicht gibt und deren »wahre« Natur wir vermutlich niemals erfassen können.
Das Einzige, was wir wirklich erfahren, fühlen und erkennen, ist unsere psychische Realität, das, was uns durch die »Software« unserer psychisch-neuronalen Prozesse vermittelt wird. Dies gilt sowohl für die Wahrnehmung der äußeren Welt und unserer Mitmenschen wie auch für uns selbst. Auch das, was wir von uns selber kennen, ist ein Bild, ein Modell, eine Konstruktion. Wer oder was die Welt draußen »wirklich« ist oder wer wir »wirklich« im letzten Sinne sind, können wir nicht sagen. Wir können nur Vermutungen, Hypothesen und Fantasien darüber entwickeln, die wiederum von unseren psychisch-neuronalen Möglichkeiten begrenzt sind.
Die historische Beweislast ist erdrückend: Soweit wir überhaupt nur zurückdenken können, haben Menschen offenbar innere Bilder über die Beschaffenheit ihrer äußeren Welt entwickelt und zur Gestaltung dieser Welt benutzt. Im Lauf der Menschheitsgeschichte zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Bedingungen, in den Gehirnen einzelner Menschen erst einmal entstanden, haben bestimmte Visionen und Ideen als individuelle und kollektive Leitbilder die bisherige Lebens- und Weltgestaltung der Menschen auf dieser Erde bestimmt. […]
Mit ihrer Hilfe wurde nicht nur das Gleisbett gelegt, auf dem der Zug, mit dem sich die Menschheit fortbewegt, schlingernd und mehr oder weniger rasch vorankam. Sie, diese selbst mit den modernsten bildgebenden Verfahren im Gehirn des Menschen kaum sichtbaren Aktivierungsmuster bestimmter Neuronenverbände und synaptischer Netzwerke, haben auch die entscheidenden Weichen gestellt, über die dieser Zug in eine bestimmte Richtung dahinrollte.
Was für eine ungeheure Vorstellung: Nichts weiter als nackte Bilder, bloße geistige Vorstellungen erweisen sich als die entscheidenden, die Menschheit bewegenden, die Menschheitsentwicklung bestimmenden Kräfte.
(Hüther, 2004, S. 11 f.)
Die Tiefenpsychologie war sich der psychischen Qualität unseres Erlebens schon lange bewusst und hatte schon früh begonnen, von »Imagines«, von »Repräsentationen« und »Repräsentanzen« zu sprechen (z. B. Objekt- und Selbstrepräsentanzen). Sie hat damit manche Positionen, die der philosophische und neurobiologische Konstruktivismus später noch radikaler ausgearbeitet haben, vorweggenommen. In einem Seminar aus dem Jahre 1935 antwortet Jung auf eine Frage, die im Kontext des psychischen Charakters und der Mehrdimensionalität des SELBST stand:
Die Welt ist unser Bild. Nur kindische Leute stellen sich vor, die Welt sei so, wie wir meinen, sie sei. Das Bild der Welt ist eine Projektion der Welt durch das Selbst, so wie letzteres eine Introjektion der Welt ist. Aber nur der besondere Geist eines Philosophen geht über das übliche Bild der Welt hinaus, in der es statische und isolierte Dinge gibt. Wenn wir darüber hinausgehen wollten, würden wir ein Erdbeben im Geist des Durchschnittsmenschen hervorrufen, der ganze Kosmos würde erschüttert, die heiligsten Überzeugungen und Hoffnungen würden aus den Angeln gehoben, und ich sehe nicht ein, weshalb man eine solche Unruhe anstreben sollte. Es wäre weder für die Patienten noch für die Ärzte gut; vielleicht ist es gut für die Philosophen.
(Jung, GW 18/1, § 200)
Ob diese Vorsicht heute noch berechtigt ist, ist fraglich. In den letzten 100 Jahren hat sich sehr viel im Hinblick auf ein dynamisches, konstruktivistisches Verständnis der Psyche getan. Die Vernetzung, Medialisierung und Virtualisierung der Welt hat so zugenommen, dass viele Menschen für psychologisch-konstruktivistische Perspektiven zunehmend offener sind (vgl. dazu auch Roesler, 2005, 2007, Schlegel, 2005). Die Filmreihe »Matrix« (1999–2003) am Übergang ins neue Jahrtausend ist möglicherweise symptomatisch dafür, dass sich diese Sichtweise durchzusetzen beginnt.
Die AP geht vom Primat (dem Vorrang) der Psyche und deren psycho-symbolischer Ausdrucksformen aus. Das bedeutet, dass die Produkte der psycho-neuronalen Prozesse das Erste und Einzige sind, was wir »wirklich« kennen. Unsere Welt- und Selbst-Bilder sind – im weitesten Sinne – Bilder, »Ein-Bildungen«, unbewusst-bewusste Vor-Stellungen, Wahrnehmungs-, Gestaltungs- und Denk-Muster, die wir von uns, den Mitmenschen und der Welt haben.
Über die »wirkliche« Natur dessen, was unter, hinter oder über diesen psychischen Phänomenen liegt, können keine gesicherten Aussagen gemacht werden. Auch sogenannte »objektive« wissenschaftliche Theorien und Interpretationen bleiben immer noch psychische Aussagen, gefasst in bestimmten, zeitbedingten Vorstellungs- und Denkmustern (»Mythen«).
Viele unserer heute als »wissenschaftlich« angesehenen Denkmodelle werden in 100 oder in 1000 Jahren sehr wahrscheinlich noch einmal ganz anders gesehen und formuliert werden.
Diese Vor-Stellungen sind notwendigerweise immer auch Ver-Stellungen. Sie stellen sich selektierend, filternd, modifizierend, transformierend, kreierend, konstruierend, systematisierend, vereinfachend und in tausend Formen sich wandelnd zwischen uns und das, was außen und innen »wirklich« ist, was wir aber als solches nicht erkennen können.
Es ist meine bilderreiche Seele, die der Welt Farbe und Ton verleiht, und was ich jene allerrealste, rationale Sicherheit, die Erfahrung nenne, so ist auch ihre einfachste Form noch ein über alle Maßen kompliziertes Gebäude seelischer Bilder: So gibt es gewissermaßen nichts von unmittelbarer Erfahrung als nur gerade das Seelische selbst. Alles ist durch dasselbe vermittelt, übersetzt, filtriert, allegorisiert, verzerrt, ja sogar verfälscht. Wir sind dermaßen in eine Wolke wechselnder und unendlich vielfach schillernder Bilder eingehüllt, daß man mit einem bekannten großen Zweifler ausrufen möchte: ›Nichts ist ganz wahr - und auch das ist nicht ganz wahr‹. […]. Wir leben unmittelbar nur in der Bilderwelt.
(Jung, GW 8, § 623 f.)
Wieviel Gegebenheit der Seele in das Unbekannte der äußeren Erscheinung projiziert wird, das ist jedem Kenner der alten Naturwissenschaft und Naturphilosophie bekannt. Es ist in der Tat so viel, daß wir überhaupt nicht imstande sind, jemals anzugeben, wie die Welt an sich überhaupt beschaffen ist, da wir ja gezwungen sind, das physische Geschehen in einen psychischen Prozeß umzusetzen, wenn wir überhaupt von Erkenntnis reden wollen. Wer garantiert aber, daß bei dieser Umsetzung ein irgendwie zulängliches «objektives» Weltbild herauskomme? […]
Ganz im Gegenteil sogar beweisen unzählige Tatsachen, daß die Seele den physikalischen Vorgang in Bilderfolgen übersetzt, die häufig mit dem objektiven Vorgang einen kaum noch erkennbaren Zusammenhang haben. […]
Was wir beim gegenwärtigen Standpunkt unseres Wissens mit Sicherheit feststellen können, ist unsere Unwissenheit um das Wesen des Seelischen.
(Jung, GW 9/1, § 117)
Bei aller Unwissenheit um das Wesen des Seelischen schien – zumindest zur Zeit der klassischen Psychoanalyse – immer noch ein wenig die Hoffnung durchzuschimmern, dass man hinter den psychischen Bildern, Fantasien, Symbolen, Tarnungen, Abwehrvorgängen und Selbsttäuschungen einmal zu den »wirklichen« Tatsachen und Vorgängen vordringen könnte.
Diese Hoffnung nach endgültiger »Aufklärung« oder »Aufhellung« des »Unbewussten« und dessen Kontrolle scheint sich nicht aufrechterhalten zu lassen. Es scheint keinen Weg zu geben, das »Gefängnis« unserer psychischen – und neurophysiologischen – Bedingungen zu verlassen. Das Wesen der Psyche und des Unbewussten »an sich« lässt sich prinzipiell nicht bewusst machen, es bleibt unbewusst und unbekannt. Was immer uns bewusst wird, ist nicht wirklich das vorher Unbewusste »an sich«, sondern es sind bereits modellierte und konstruierte Vorstellungen, Bilder und Symbole, die eine Form angenommen haben, mit denen das Bewusstseinssystem umgehen kann. Wir erleben immer nur das Endprodukt der unter- und hintergründig ablaufenden psychischen Prozesse, die diese Selbst- und Weltmodelle konstruieren. Wir – unser Ich-Bewusstsein – werden gewissermaßen als letzte informiert, was die Psyche als nächstes mit uns bzw. sich selbst vorhat.
Spätestens seit der Systemtheorie ist uns deutlich geworden, dass ein System die Funktion, die es hervorbringt, nicht auf sich selber anwenden kann: Es hat in Bezug auf sich selbst notwendigerweise einen »blinden Fleck«. Das Gehirn und das Zentralnervensystem, das die psychischen Prozesse steuert, Muster, Bilder und Symbole hervorbringt, kann sich selbst und seine Funktionen nicht unmittelbar erkennen. An der Stelle unseres Kopfes, wo das Gehirn sitzt, können wir nichts spüren, schon gar nichts von den dort in den Nervenzellen ablaufenden Aktionen. Selbst wenn wir unser Gehirn von außen anschauen, sezieren und bis auf die mikroskopische Ebene der Zell- und Genstrukturen hinabsteigen könnten, würden wir nichts von den inneren Welten sehen, die wir erleben, wir würden dort nichts von den Farben, Formen, Tönen und den Sinnesempfindungen, von den Gefühlen, Ängsten und Sehnsüchten, Fantasien und Gedanken erkennen, die unser Leben so tief bestimmen.
Zwischen der »Hardware« unseres biochemischen Organismus und der »Software« der psycho-symbolischen Prozesse des »Geistigen« und Bewusstseins besteht ein aufs Engste und Höchste korrelatives Verhältnis, aber beide sind offenbar nicht ganz dasselbe, wie man sich am Beispiel des Zusammenhangs zwischen Hard- und Software eines Computers verdeutlichen kann. Ohne die »an sich« immaterielle Software wäre die materielle Hardware zu nichts zu gebrauchen, aber das Gleiche gilt auch für die Software, die auf eine auf sie abgestimmte Hardware angewiesen ist. Was aber die »Hardware« und die »Software« unseres Organismus wesensgemäß sind und wie sie zusammenspielen, so dass daraus bewusstes Erleben entsteht, ist nach wie vor ein großes Rätsel. Und manche Forscher sind der Auffassung, dass dieses Rätsel aus den genannten prinzipiellen systemischen Gründen – die Software kann weder sich selbst und ihre innere Struktur noch die Hardware verstehen – auch nicht wirklich lösbar ist, höchstens in einer allergröbsten und andeutungsweisen Vereinfachung.
Somit kann sich auch das SELBST, also die unbewusst-bewusste Ganzheit unserer Person, in seiner wirklichen Natur nicht erkennen. Wir wissen nur etwas von uns, insofern etwas von uns durch unsere psychischen Wahrnehmungen, durch unsere Umwelt und unsere Mitmenschen gespiegelt wird und wir uns ein Erfahrungsbild davon machen können. Aber dieses gespiegelte Wissen von uns selbst – unser Selbst-Bild, unser Selbst-Modell oder psychologisch: unsere Selbst-Repräsentanz – ist nur der allerkleinste und meist ein ziemlich verzerrter Teil von dem, was wir wirklich sind.
Zur Veranschaulichung dessen, was mit psychischer Realität gemeint ist, lassen sich vier Ebenen unterscheiden:
Der dunkelgraue Hintergrund der Abbildung 1.1 (Ebene 1) bezeichnet das absolute Sein, das »vor« »hinter«, »über«, »unter« und in Allem die »wirkliche Wirklichkeit« ist, aber prinzipiell in seiner Eigenart unerkennbar bleibt. Dafür haben die Religionen, die Philosophien und die Naturwissenschaften unterschiedliche Begrifflichkeiten entwickelt, über deren Inhalt, Sinn und Berechtigung bis heute gestritten wird: Gott, die Schöpfung, das Universum, die kosmische Energie …
Ebene 2: Der mittelgraue Kreis stellt das SELBST im Sinne der Analytischen Psychologie dar. Das ist »das System Mensch«, die Ganzheit des sich selbst organisierenden öko-bio-psycho-sozialen Organismus, der in enger Wechselwirkung und in ständigem Austausch mit Ebene 1 steht. Auch das SELBST ist in seinem ganzen Wesen und Umfang unerkennbar, es ist nur an dessen Wirkungen (z. B. Körperempfindungen, Gefühlen, Sinneswahrnehmungen, Bedürfnissen, Denkprozessen, Identitätserleben, Symbolen) zu erleben, die erst auf Ebene 3 zugänglich werden.
Ebene 3: Der hellgraue Kreis in der Mitte. Hier beginnt die psychische Realität, die einzige Realität, die das menschliche Bewusstsein unmittelbar kennt. Innerhalb des SELBST bzw. des menschlichen Organismus entsteht mit Hilfe neuropsychischer Prozesse eine Repräsentation, eine Vorstellung, ein Modell von der Welt, ihrer Objekte und des eigenen SELBST. Auch auf dieser Stufe sind die Selbst-Welt-Repräsentationen nicht unbedingt in ihrem psycho-symbolischen Charakter zu erkennen, sondern werden meist für die tatsächliche Wirklichkeit gehalten. Die gestrichelte Kreislinie symbolisiert auch hier die relative Durchlässigkeit und fortwährende Wechselwirkung zwischen dem SELBST und den SELBST-Repräsentationen.
Abb. 1.1: Virtuelles Welt-Selbst-System
Ebene 3 ist der Bereich, auf den Philosophie und akademische Psychologie sich oft beziehen und dafür Begriffe verwenden wie Ich/Ego/Selbst, Selbst-Bild, Selbst-Modell, Selbst-Konzept, Selbst-Bewusstsein, Selbst-Erleben oder Selbst-Steuerung. Dabei werden aber oft nur die Aspekte gesehen, die dem bewussten Erleben zugänglich sind oder sich auf das Gehirn beziehen. Nach Auffassung der AP muss in einer Therapie aber immer das ganze SELBST (Ebene 2) berücksichtigt werden, denn es ist fraglich, ob eine bloße Veränderung der bewussten Selbst-Bilder und Selbst-Repräsentanzen für eine Besserung der Symptomatik ausreicht.
Ebene 4 – in der Abbildung dargestellt durch das Fragezeichen – symbolisiert die erst ganz spät in der Evolution aufgetauchte Fähigkeit des Menschen zur bewussten Selbstreflektion, wodurch der psycho-symbolische Charakter aller Wahrnehmung, Fantasien, Gefühle, Gedanken und Erkenntnisse zumindest rational erkannt werden kann. An der Einsicht in dieses »Primat der Psyche« und deren Konsequenzen für die Entwicklung des Menschen arbeitet die Tiefenpsychologie seit mehr als 100 Jahren, sie findet in den letzten Jahrzehnten Unterstützung durch die neurowissenschaftliche Forschung.
Mit dem »Primat der Psyche« wird nicht die reale Existenz einer von uns als »materiell« bezeichneten Außenwelt geleugnet, wie es in idealistischen und östlichen Philosophien gelegentlich zu sein scheint. Auch wenn wir nicht wirklich angeben können, wie die »wirkliche Wirklichkeit« »da draußen« beschaffen ist und wie sie aussieht – falls sie überhaupt irgendwie »aussieht« – so scheint es doch eine zur Zeit sinnvolle These zu sein, dass sich über die Milliarden von Jahren der Evolution auf dieser Erde physiologische Strukturen, Sinnessysteme und psychische Funktionen entwickelt haben, die eine recht gute bis zuweilen höchst erstaunliche Anpassung und Korrelation mit den wie auch immer gearteten »Objekten« der »wirklichen Wirklichkeit« aufweisen. Wir sind ja in der Lage, die Eigenschaften und das Verhalten von materiell-physikalischen Objekten relativ gut für unseren Gebrauch zu nutzen, zu berechnen und vorherzusagen. Das lässt die Vermutung zu, dass unser körperlicher Organismus wie auch unser psychisches System auf die Gegebenheiten auf dieser Erde und auf die Gesetzmäßigkeiten in diesem Universum relativ gut abgestimmt sind. Wenn man sich modellhaft vorstellt, wie sich die ganze Evolution vom »Urknall« bis zu Entstehung der Energiequanten, Atome, Moleküle, Materie, der Sterne und Planeten, den ersten Lebensformen, Sinnesorgane und Nervensysteme über für uns fast unvorstellbare Zeiträume entwickelt hat, dann kann man, ohne metaphysische Anleihen zu machen, sagen, dass wir – das »System Mensch«, das SELBST –, eine Inkarnation der Erde und des Universums sind. Unser SELBST ist, wie Jung es sagt, eine Introjektion, ein Nach-Innen-in-unseren-Organismus-Hineinnehmen und Widerspiegeln der Welt. Insofern fügen wir der heute weitgehend anerkannten Definition des Menschen als eines bio-psycho-sozialen Systems gerne auch noch die Aspekte hinzu, die uns mit der Umwelt und Erde, sowie dem Universum bzw. Kosmos verbinden. Auch die Gesetzmäßigkeiten, die im Universum gültig sind, haben uns geprägt und prägen uns heute noch. Diese Aussage ist, um es zu wiederholen, naturwissenschaftlich und nicht metaphysisch gemeint.
C. G. Jung beschreibt in seiner Autobiografie eine für ihn wegweisende Erfahrung, die er 1925 in Afrika machte:
Auf einem niedrigen Hügel in dieser weiten Savanne erwartete uns eine Aussicht sondergleichen. Bis an den fernsten Horizont sahen wir riesige Tierherden […]
Langsam strömend, grasend, die Köpfe nickend, bewegten sich die Herden, kaum daß man den melancholischen Laut eines Raubvogels vernahm. Es war die Stille des ewigen Anfangs, die Welt, wie sie schon immer gewesen, im Zustand des Nicht-Seins; denn bis vor kurzem war niemand vorhanden, der wußte, daß es ›diese Welt‹ war. Ich entfernte mich von meinen Begleitern, bis ich sie nicht mehr sah und das Gefühl hatte, allein zu sein.
Da war ich nun der erste Mensch, der erkannte, daß dies die Welt war und sie durch sein Wissen in diesem Augenblick erst wirklich erschaffen hatte. Hier wurde mir die kosmische Bedeutung des Bewußtseins überwältigend klar […] der Mensch ist unerläßlich zur Vollendung der Schöpfung, ja er ist der zweite Weltschöpfer selber, welcher der Welt erst das objektive Sein gibt, ohne daß sie ungehört, ungesehen, lautlos fressend, gebärend, sterbend, köpfenickend durch hunderte von Jahrmillionen in der tiefsten Nacht des Nicht-Seins hin ablaufen würde. Menschliches Bewußtsein erst hat objektives Sein und den Sinn geschaffen, und dadurch hat der Mensch seine im großen Seinsprozess unerläßliche Stellung gefunden.
(Jung, Jaffé, 1962, S. 259)
Die Bewusstwerdung des Menschen im großen Seinsprozess könnte unserer Existenz einen übergreifenden Sinn und eine besondere Verantwortung schenken: die Individuation des Einzelnen wie die Evolution im Ganzen bestmöglich zu fördern, uns zu einem integrativen, globalen und kosmischen Bewusstsein zu entwickeln und das Leiden der Lebewesen zu mildern.
Ähnliches hatte bereits der Theologe Teilhard de Chardin formuliert. Er gelangte schließlich zu dem modernen Standpunkt, dass der Mensch aktiv in die Evolution eintreten solle. Da die Evolution sich in sich selbst reflektiere, werde die Evolution im Menschen nicht nur sich selbst bewusst. Gleichzeitig werde sie in gewissem Maße fähig, sich selbst zu leben und zu beschleunigen (de Chardin, 1959).
Das, was vor hundert Jahren noch ganz mystisch geklungen haben mag, ist heute durch die Modelle der Biologie, Chemie, Physik, Astronomie, der Psychologie und Neurowissenschaften eine fast triviale Aussage. Ob in diesem evolutionären Prozess ein Plan, ein höherer Wille, eine schöpferische Intelligenz zum Ausdruck kommen oder alles sich nur »zufällig« ereignet hat, spielt eigentlich keine so große Rolle. Wichtig und überaus erstaunlich ist, dass »Es« überhaupt passiert ist, dass es uns gibt und dass sich in uns ein psychisches System mit Bewusstsein entwickelt hat, das es uns ermöglicht, über unser Dasein und »unsere Stellung im Kosmos« zu reflektieren. Wie wir das Ganze letztlich interpretieren wollen: Dafür haben wir einen breiten Spielraum für unsere schöpferische Fantasie. Sowohl die naturwissenschaftliche als auch die religiös-spirituelle Sichtweise haben ihren Sinn und ihre Funktion, sie sind, wie wir später noch am Beispiel des symbolischen Denkens diskutieren wollen, einfach zwei unterschiedliche psychische Perspektiven auf eine uns vermutlich immer unbekannte Sache.
Unter der Perspektive des Evolutionskonzeptes wird auch deutlich, dass der Mensch seine psychische Welt im Sinne einer absichtlichen, bewussten konstruierenden Handlung nicht »selber macht«. Auch ist nicht davon auszugehen, der Mensch könne seine psychischen Strukturen, seine Selbst- und Weltvorstellungen beliebig verändern, aktiv konstruieren und neu programmieren. Dieser ungerechtfertigte Optimismus wurde oft von religiösen, pädagogischen und therapeutischen Richtungen vertreten, übersieht aber die ungeheure Komplexität, Eigendynamik, Trägheit und überlebenssichernde Widerständigkeit gegenüber Veränderungen unserer Welt- und Selbstkonstruktionen. Diese entziehen sich größtenteils unserem bewussten, wollenden Einfluss und organisieren sich selbst im Laufe unserer psychischen Entwicklung durch komplexe, wechselseitige Interaktionen zwischen arttypischen, genetisch-biologischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Einflussgrößen.
Eine wichtige, heilsame und sehr alte philosophische Einsicht drängt sich aber jetzt schon auf: die Einsicht in die Relativität und Beschränktheit unseres Wissens und Erkennens. Wir wissen nur sehr wenig von der Welt, von uns selbst, von anderen Menschen, das Allermeiste wird uns immer verborgen bleiben. Von daher sei erinnert an Sokrates, der wusste, dass er nicht weiß, an Lao Tse, der es für das Höchste hielt, die Nichtwissenheit zu wissen (Wilhelm, 1956, Aphorismus 71) und an die Maxime des Wissenschafts-Philosophen Karl Popper: »Wir wissen nichts - das ist das Erste. Deshalb sollen wir sehr bescheiden sein - das ist das Zweite. Dass wir nicht behaupten zu wissen, wenn wir nichts wissen - das ist das Dritte.« (Popper, 1996, S. 144). In dieser Akzeptanz des Nicht-Wissens kann eine große Erleichterung und Befreiung liegen, eine schwere Last von unseren Schultern genommen werden. Vielleicht liegt hier einer der Gründe, weshalb Popper sich im späten Alter als der glücklichste Mensch, den er kenne, bezeichnete und das Leben unbeschreiblich wundervoll fand.
In Bezug auf die Traumarbeit – was aber auch für jeden anderen Deutungsversuch der Psyche gilt – schreibt Jung:
Das Verstehen der Träume ist nämlich eine so schwierige Sache, daß ich es mir schon längst zur Regel gemacht habe, wenn mir jemand einen Traum erzählt und nach meiner Meinung fragt, vor allem einmal zu mir selber zu sagen: »Ich habe keine Ahnung, was dieser Traum bedeutet«.
(Jung, GW 8, § 533)
Jeder, der Träume bei andern analysiert, sollte sich stets bewußt halten, daß es keine einfache und allgemein bekannte Theorie der psychischen Phänomene gibt, weder über ihr Wesen noch über ihre Ursachen, noch über ihren Zweck. Wir besitzen daher keinen allgemeinen Maßstab des Urteils. Wir wissen, daß es vielerlei psychische Phänomene gibt. Was aber deren Wesen ist, darüber wissen wir nichts Gewisses. Wir wissen nur, daß die Betrachtung der Psyche von irgendeinem abgesonderten Standpunkt aus zwar ganz wertvolle Einzelheiten ergeben kann, aber nie eine zureichende Theorie, nach der man auch deduzieren könnte.
(Jung, GW 8, § 498)
Wir haben – ganz besonders im psychischen Bereich – nur die Gewissheit der Ungewissheit. Auch und erst recht nicht ein anderer Mensch – ein Partner, ein erfahrener, theoretisch bestens informierter Therapeut – kann uns »objektiv« von außen sehen. Er weiß natürlich noch viel weniger als wir selbst, warum wir so sind, wie wir sind, was wir innerlich wirklich erleben, wie es sich für uns anfühlt, wir zu sein und was wir für unseren weiteren Entfaltungsprozess brauchen.
Ein Therapeut sieht, selbst bei bester Selbsterkenntnis, unvermeidlich vieles durch seine persönlichkeits-, theoriegeleitete und zeitbedingte Brille und vor dem Hintergrund seiner privaten Lieblingstheorie.
Der größte Fehler nämlich, den ein Therapeut machen kann, ist der, daß er beim Analysanden eine der seinigen ähnliche Psychologie voraussetzt.
(Jung, GW 8, § 498)
Die Persönlichkeitsstruktur eines Therapeuten, seine theoretischen Modelle und Privattheorien können den Prozess der Identitätsfindung eines Patienten gelegentlich sogar mehr behindern als fördern. Dann muss der therapeutische Prozess vonseiten des Patienten gar gegen den Widerstand des Therapeuten durchgeführt oder beendet werden. Deshalb ist die eigene Selbsterfahrung und Lehranalyse in der Ausbildung zum Psychotherapeuten notwendig. Der zukünftige Therapeut soll seine individuelle Eigenart kennenlernen, damit er sich von seinen Patienten besser unterscheiden kann, seine eigenen Vorlieben, Stärken und Schwächen kennt und die ganz andere, höchst individuelle Persönlichkeit des Patienten besser wahrzunehmen und zu respektieren vermag.
Andererseits: auch wenn jeder helfende Mensch und jeder Therapeut seine individuelle Sichtweise und subjektive Beschränkung nie überwinden kann, ist der Patient in seiner Selbstfindung doch auf einen therapeutischen und menschlichen Dialog- und Interaktionspartner angewiesen. Allerdings ist unter dem beschriebenen Gesichtspunkt dessen Funktion anders zu sehen, als Patienten üblicherweise denken, hoffen oder fürchten. Der Therapeut kann ihn natürlich nicht mit intuitiven Röntgenaugen »durchleuchten«, seine geheimen »Wahrheiten« und heimlichen Absichten erkennen, und er kann und sollte auch keine vorschnellen Interpretationen und Lösungen anbieten.
Der Therapeut kann seinen Patienten aber im Rahmen eines förderlichen intersubjektiven Dialogs dabei unterstützen, dass die selbstorganisierenden Prozesse, die beim Patienten in der Regel soweit eingeschränkt sind, dass er Symptome entwickelt, wieder aktiviert und gefördert werden. Er kann dies, indem er dem Patienten einen sicheren Ort und eine vertrauensvolle Beziehung anbietet, um seine heimlichen Ängste und Sehnsüchte, seine wirklichen Werte und Einstellungen besser kennenzulernen, er kann Denk-, Lern- und Verhaltensalternativen vorschlagen, er kann den Patienten ermutigen, neue Erfahrungen zu riskieren, die es ihm ermöglichen, ein besseres oder stimmigeres Selbstkonzept zu entwickeln und seine eigenen Lösungen zu finden.
Dies alles vermag der Therapeut vor allem dadurch, dass er durch seine Offenheit, Akzeptanz und Empathie dem Patienten dazu verhilft, sich selbst mit seinen oft vor- und unbewussten Gefühlen, Ängsten, Konflikten, Wünschen und Sehnsüchten immer besser, klarer und differenzierter auszuformulieren und auszugestalten.
Im Sich-Mit-Teilen und Sich-Gestalten lernt der Patient sich besser kennen, fühlen und seiner selbst – und seines SELBST – bewusst zu werden. Ohne ein mitfühlendes, verstehendes, resonanz- und antwortgebendes Gegenüber scheinen Bewusstwerdung und Potenzialentfaltung kaum möglich zu sein.
Das lebendige Geheimnis des Lebens ist immer zwischen Zweien verborgen, und es ist das wahre Mysterium, das Worte nicht verraten und Argumente nicht erschöpfen können.
(Jung, Briefe 3, S. 329)
Die Art der Lösung einer Thematik und auch der Zeitpunkt, zu dem diese Lösung gefunden wird und gelebt werden kann, die sich selbstorganisierend aus einer solchen intersubjektiven Begegnung heraus ergibt, hängt von so vielen ungewissen Einflussgrößen ab, dass sie nur in ganz wenigen Fällen vorausgeahnt oder vorausgeplant werden kann.
Ich weiß nämlich nur, daß solche Lösungen nur auf einem nicht vorauszusehenden, individuellen Wege möglich sind. Man kann die Wege und die Mittel nicht künstlich erdenken oder gar vorauswissen, denn solches Wissen ist nur kollektiv, beruht auf Durchschnittserfahrung und kann daher im individuellen Falle völlig unzureichend, ja geradezu unrichtig sein. […] so geben wir es besser von vornherein auf, uns um vorgewußte Lösungen zu bemühen und Allgemeinwahrheiten aufzutischen, von denen der Patient ebensoviel weiß wie der Arzt. Lange Erfahrung hat mich belehrt, in solchen Fällen auf alles Vorher- und Besserwissen zu verzichten und dem Unbewußten den Vortritt zu lassen.
(Jung, GW 9/1, § 528)
Die Einsicht in das Primat der Psyche hat somit weitreichende Konsequenzen für das Therapieverständnis in der AP, von denen hier nur auf drei kurz hingewiesen werden soll:
• Es geht im therapeutischen Prozess nicht um »absolute« Wahrheiten und Einsichten, sondern um eine relative, subjektive Wahrhaftigkeit, um innere Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ( Kap. 1.5).
• Es geht um einen schöpferischen intersubjektiven Prozess, in dem sich beide Partner engagiert an der Konstruktion eines besseren Welt- und Selbsterlebens zum Wohle des Patienten beteiligen ( Kap. 10.5.2).
• Es geht um die Entwicklung einer psycho-symbolischen Einstellung und die Entfaltung eines »symbolischen Lebens« ( Kap. 3).
Eine »naive« Vorstellung vom Ziel einer Psychotherapie ist, der Patient finde mit Hilfe des Therapeuten zu seiner letztendlich »wahren« Identität oder seinem »wahren« Selbst. Das »Primat der Psyche« und auch die anderen noch zu erörternden Essentials der AP machen aber deutlich, dass dieses »Wahre« und »Wirkliche«, selbst wenn es dies geben würde, nicht in seiner wesenhaften Natur erkannt werden könnte. Darüber hinaus erheben sich berechtigte Zweifel, ob es dieses »Wahre« und »Wirkliche« in uns gibt, z. B. einfach deshalb, weil die Psyche polar-paradox strukturiert ist und sich alles in uns fortwährend ändert, auch unser Erleben davon, was für uns richtig und stimmig ist.
»Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners« ist eine provokative Formulierung eines der Väter des radikalen Konstruktivismus, Heinz von Foerster. In einem Interview sagt er weiter:
Wenn der Begriff der Wahrheit überhaupt nicht mehr vorkäme, könnten wir vermutlich alle friedlich miteinander leben. […] Ich will noch einmal betonen, dass ich im Grunde genommen aus der gesamten Diskussion über Wahrheit und Lüge, Subjektivität und Objektivität aussteigen will. Diese Kategorien stören die Beziehungen von Mensch zu Mensch, sie erzeugen ein Klima, in dem andere überredet, bekehrt und gezwungen werden. Es entsteht Feindschaft. Man sollte diese Begriffe einfach nicht mehr verwenden, da sie, so behaupte ich, durch die bloße Erwähnung und auch durch die Verneinung oder Ablehnung am Leben erhalten werden.
(Foerster, 1998)
In Bezug auf unser SELBST gilt das gleiche. Unser ganzes psychisches System ist offensichtlich dauernden Wandlungen und Veränderungen unterworfen, die wir gar nicht bemerken, ebenso wenig, wie wir die fortwährenden intensiven zellulären Wandlungen unseres Körpers bemerken. Die mit den Lebensprozessen und Lebensphasen verbundenen kontinuierlichen Lernvorgänge lassen uns psychisch fortwährend anders erleben, obwohl wir zugleich ähnliche Strukturen und Persönlichkeitseigenschaften beibehalten.
Was uns das Gefühl für eine Kontinuität über unsere Lebensspanne verleiht, scheint vor allem unser Gedächtnis zu sein. Gedächtnis und Erinnerungen sind allerdings wie wir wissen, sehr anpassungsfähig und folgen, wie viele andere psychische Funktionen, den Gestaltungsprinzipien von Kohärenz und Konsistenz. Das bedeutet, dass unsere Erinnerungen und Selbstwahrnehmungen fortwährend so (um-)gestaltet werden, dass wir ein einigermaßen stimmiges, sinnvolles Gesamtbild und ein gutes Selbstwertgefühl von uns aufrechterhalten können.
Aber »Was ist Wahrheit«? Ich würde für unseren psychologischen Gebrauch zunächst ganz auf den Gedanken verzichten, dass wir heutigen Menschen überhaupt imstande seien, etwas ›Wahres‹ oder ›Richtiges‹ über das Wesen der Seele auszumachen. Das Beste, was wir hervorbringen können, ist wahrer Ausdruck. ›Wahrer Ausdruck‹ ist ein Bekenntnis und eine ausführliche Darstellung des subjektiv Vorgefundenen.
(Jung, GW 4, § 771)
So geht es in der Psychotherapie immer auch darum, den Patienten zu einem aufrichtigen Bekenntnis seines individuellen So-Seins – jenseits von richtig und falsch, wahr und unwahr – zu ermutigen und ihn darin zu unterstützen, seine persönliche, relative »Wahrheit« zu spüren, ernst zu nehmen und verantwortlich zu leben, ohne seiner Mit- und Umwelt zu schaden. Dies ist ein wesentlicher Aspekt dessen, was nach Auffassung der AP als Individuation bezeichnet wird.
Therapeutische Interventionen zielen nicht primär darauf ab, den Patienten mit einer allgemeinen »Wahrheit«, die er nicht sehen will, welche der Therapeut aber sieht, zu konfrontieren und ihn zu einer Anpassung an ein religiöses, politisches, soziales oder psychologisches Glaubenssystem zu bringen. Therapeutische Interventionen können einem Patienten hingegen ermöglichen, eine neue, weitere geistige wie emotionale Perspektive sich selbst gegenüber einzunehmen, mit der er die eine oder andere unliebsame »Wahrheit«, einen unbewussten Konflikt, eine Schattenseite, besser oder stimmiger in sein Welt- und Selbst-Bild zu integrieren vermag.
Unter diesem konstruktivistischen Gesichtspunkt könnte es durchaus ein mögliches therapeutisches Ziel sein, dem Patienten nicht zu einer »wahren« oder theoretisch »richtigen« Sicht auf seine Probleme, sondern zu einer »stimmigen« »Umdeutung«, einer guten Rationalisierung, einer befriedigenden Erklärung oder Erzählung/Narration zu verhelfen, mit der er sich und sein Leben vor einem anderen Hintergrund oder in einem anderen Rahmen sehen kann. Die »Tatsachen« ändern sich nicht, aber die Einstellung, mit der auf die Ereignisse geschaut wird. Das kann hilfreich und entlastend sein. Durch einen solchen – möglicherweise paradoxen – Perspektivenwechsel kann der Patient vielleicht besser mit sich einverstanden sein und einen größeren Lebensspielraum gewinnen.
Prospektiv-konstruktiv bewertet, kann so z. B. eine leidvolle Krise als notwendige Reifungs- und Wandlungschance, können schwer beherrschbare Aggressionen als Vitalität und starke kreative Entwicklungsenergien verstanden werden. Vermutlich können, so betrachtet, auch Therapien, die von eigentlich »falschen« oder zumindest einseitigen Theorien ausgehen – und das sind wohl die meisten, einfach deswegen, weil wir noch gar keine »wirklich richtigen« allgemeingültigen Theorien haben – dennoch hilfreich sein, weil Therapeuten dem Patienten im Laufe des intersubjektiven Dialogs ein modifiziertes oder alternatives Selbst- und Weltbild ermöglichen, das insgesamt stimmiger und hoffnungsvoller für den Patienten ist.
Gibt es für die Seele etwas, was wir als Illusion bezeichnen dürften? Für die Seele ist sie vielleicht eine wichtige Lebensform, eine Unerläßlichkeit, wie der Sauerstoff für den Organismus. Was wir Illusionen nennen, ist vielleicht eine seelische Tatsächlichkeit von überragender Bedeutung. Die Seele kümmert sich wahrscheinlich nicht um unsere Wirklichkeitskategorien. Für sie scheint in erster Linie wirklich zu sein, was wirkt […] Im Seelischen sind, wie überall in unserer Erfahrung, wirkende Dinge Wirklichkeiten, gleichgültig, welche Namen ihnen der Mensch gibt.
(Jung, GW 16, § 111)
»Wirklich« im Sinne von wirksam kann auch eine Hoffnung, eine Suggestion, eine Einbildung, ein Gebet, eine Vision, ein Placebo, die charismatische Ausstrahlung eines Menschen, dem man glaubt und vertraut, usw. sein (vgl. dazu die Wirkfaktoren, die J. Frank in seiner Untersuchung gefunden hat Kap. 10.6.5).
So ist es sogar denkbar, dass die therapeutische Anwendung einer an sich »richtigen« Theorie und Methode zu einem ungeeigneten Zeitpunkt, bei einem dafür ungeeigneten Therapeuten oder Patienten, zu einem ungünstigen Ergebnis führt, während umgekehrt eine »falsche« Theorie und Methodik bei ansonsten förderlichen Bedingungen gute Ergebnisse bringt.
Dies soll nicht heißen, dass »alles geht« und »alles erlaubt« ist, wenn es nur wirkt.
Selbstverständlich sollte sich eine psychotherapeutische Behandlung auf das zu einer Zeit jeweils beste Wissen über die Verursachung und Behebung psychischer Störungen stützen. Professionelles Wissen, das sich laufend erweitert, und professionelle Haltung sind wesentliche Wirkfaktoren. Aber ebenso erforderlich sind eine Offenheit und Weite, die auch der polar-paradoxen Eigenartigkeit des Individuums ihren Raum und ihre Zeit zu lassen vermag.
Es ist eine Sache zum Verzweifeln, daß es in der wirklichen Psychologie keine allgemeingültigen Rezepte und Normen gibt. Es gibt nur individuelle Fälle mit den allerverschiedensten Bedürfnissen und Ansprüchen, dermaßen verschieden, dass man im Grunde nie vorher wissen kann, welchen Weg ein Fall einschlagen wird, weshalb der Arzt am besten tut, auf alle vorgefaßten Meinungen zu verzichten. Das heißt aber nicht, sie über Bords zu werfen, sondern sie als Hypothesen möglicher Erklärung auf den Fall anzuwenden.
(Jung, GW 16, § 163)
Das SELBST ist ein Zentralbegriff der Analytischen Psychologie C. G. Jungs. Das Wort »Selbst« wird im alltäglichen Gebrauch, wie auch in Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften allerdings sehr unterschiedlich verwendet. Er findet sich z. B. als Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, als Selbstbild, Selbstempfinden, Selbstkonzept, Selbstmodell etc. In einigen Definitionen wird das SELBST vor allem auf den psychischen Aspekt des Menschen bezogen. Da es aber sehr schwierig ist, eine genaue Trennung zwischen körperlichen und psychischen Phänomenen auszumachen, eine Psyche ohne Körper schwer vorstellbar ist und ohnehin heute eine Tendenz besteht, das alte Leib-Seele-Problem zugunsten einer Einheitsvorstellung zu überwinden, beziehen wir ökologische, biologische, psychische und soziale Aspekte mit ein. Wir gehen dabei auch von dem Quadranten-Modell von Ken Wilber aus ( Kap. 2.2.; Kap. 8.2.4), das sich aufgrund seiner großen Nähe zu den Ansätzen der AP dafür anbietet.
Das modifizierte Quadrantenmodell nach Ken Wilber: Zu einer ganzheitlichen Sicht vom Menschen und der Welt gehören mindestens immer vier Perspektiven, die notwendig zugleich vorhanden sind. Alle uns bekannten Phänomene haben mindestens eine innere und eine äußere, eine individuelle und eine kollektive Seite. Jeder Quadrant hat seine eigene, ihm angemessene Methodik, den jeweiligen Bereich zu untersuchen (Methodenpluralismus). Ein Phänomen jeweils nur aus einer Perspektive zu betrachten und nur
Abb. 2.1: Das SELBST in den vier Quadranten
diese eine Perspektive als gültig zu erklären, ist ein weder erkenntnistheoretisch noch wissenschaftlich statthafter Reduktionismus. Dies gilt für spirituelle Systeme ebenso wie für wissenschaftliche und für psychotherapeutische Systeme.
Als Erweiterung fügen wir in das Schema noch die dreifache Yin-Yang-Spirale in der Mitte hinein. Dieses Symbol drückt aus, dass alle Quadranten miteinander dynamisch verbunden sind, sich gegenseitig beeinflussen und fortwährend evolvieren. Die drei Kreisebenen sollen die drei Bewusstseinsstufen ausdrücken: vom archaisch-magisch-mythischen Bewusstsein, zum rational-integralen Bewusstsein bis zum psycho-symbolisch-virtuellen Bewusstsein ( Kap. 2.2).
Wir verstehen also in der AP das SELBST als eine hypothetische Bezeichnung für die ganze Persönlichkeit, das ganze komplexe »System Mensch«, die sich selbst organisierende Einheit, polar-paradoxe, bewusst-unbewusste, personal-transpersonale Ganzheit des individuellen menschlichen psycho-somatischen Organismus in seiner wechselseitigen Beziehung zur Mit- und Umwelt.
Um diese umfänglichere Definition des SELBST hervorzuheben, schreiben wir es in diesem Buch jeweils mit Großbuchstaben.
Als empirischer Begriff bezeichnet das Selbst den Gesamtumfang aller psychischen Phänomene im Menschen. Es drückt die Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit aus. Insofern aber letztere infolge ihres unbewußten Anteils nur zum Teil bewußt sein kann, ist der Begriff des Selbst eigentlich zum Teil potentiell empirisch und daher im selben Maße ein Postulat. Mit anderen Worten, er umfaßt Erfahrbares und Unerfahrbares, bzw. noch nicht Erfahrenes. Diese Eigenschaften hat er mit sehr vielen naturwissenschaftlichen Begriffen, welche mehr Nomina als Ideen sind, gemein. Insofern die Ganzheit, welche aus bewußten sowohl wie aus unbewußten Inhalten besteht, ein Postulat ist, ist ihr Begriff transzendent, denn sie setzt das Vorhandensein von unbewußten Faktoren aus empirischen Gründen voraus und charakterisiert damit eine Wesenheit, die nur zum Teil beschrieben werden kann, zu einem anderen Teil aber pro tempore unerkennbar und unbegrenzbar bleibt. Da es praktisch Phänomene des Bewußtseins und des Unbewußten gibt, so hat das Selbst als psychische Ganzheit einen bewußten sowohl als einen unbewußten Aspekt. Empirisch erscheint das Selbst in Träumen, Mythen und Märchen in der Figur der »übergeordneten Persönlichkeit«, wie König, Held, Prophet, Heiland etc. oder eines Ganzheitssymboles wie Kreis, Viereck, quadratura circuli, Kreuz etc. Insofern es eine complexio oppositorum, eine Vereinigung von Gegensätzen darstellt, so kann es auch als eine geeinte Zweiheit erscheinen, wie z. B. das Tao als Zusammenspiel von yang und yin, als das Brüderpaar oder als der Held und sein Gegenspieler (Drache, feindlicher Bruder, Erzfeind, Faust und Mephisto etc.); d. h. empirisch erscheint das Selbst als ein Spiel von Licht und Schatten, obschon es begrifflich als Ganzheit und darum als Einheit, in der die Gegensätze geeint sind, verstanden wird. […] (Jung, GW 6, § 814 f.).