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Expedition Teilearbeit Kai Fritzsche legt mit diesem Werk das erste deutschsprachige Praxisbuch zur Ego-State-Therapie vor. Der Autor vermittelt das Ego-State-Modell anhand von sechs Basis-Prinzipien und stellt zu jedem die entsprechenden Vorgehensweisen in der psychotherapeutischen Praxis vor. Dabei erläutert er u. a. die prozessorientierten Ziele, Fragen der Behandlungsplanung sowie die Arbeit mit den Ego-States unterschiedlicher Ausprägung. Zu jedem Kapitel werden Fragen formuliert, die sich unverändert oder leicht modifiziert in die eigene Praxis übernehmen lassen. Zentrale Interventionen der Ego-State-Therapie werden ausführlich vorgestellt. Kommentierte Arbeitsblätter, die auch online als Download erhältlich sind, dienen als Anleitung und Grundlage der praktischen Arbeit. Fallvignetten runden die Darstellungen ab. Der Autor: Kai Fritzsche, Dr. phil. Dipl.-Psych., arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis mit dem Schwerpunkt der Behandlung von Traumafolgestörungen. Er ist Leiter des Instituts für klinische Hypnose und Ego-State-Therapie (IfHE), zertifizierter Trainer für Ego-State-Therapie sowie Gründungsmitglied der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Ego-State-Therapie (EST-DE). Kai Fritzsche stellt die Ego-State-Therapie auf verschiedenen nationalen und internationalen Kongressen vor und entwickelt sie weiter. Er organisiert und leitet Ausbildungsseminare und Supervisionsveranstaltungen für Ego-State-Therapie, ist als Lehrbeauftragter für verschiedene Fortbildungsinstitute und ebenfalls als Autor tätig.
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Seitenzahl: 494
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Für Dorothea,Hannelore und Werner
Kai Fritzsche
Fünte Auflage, 2024
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Dr. h. c. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Dresden)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
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Tom Levold (Köln)
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Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
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Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
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Jakob R. Schneider (München)
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Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Dallgow-Döberitz)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Reihengestaltung: Uwe Göbel
Redaktion: Uli Wetz
Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Fünfte Auflage, 2024
ISBN 978-3-89670-867-0 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8290-0 (ePub)
© 2013, 2024 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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Danksagung
Vorwort
Teil I: Prinzipien der Ego-State-Therapie
1 Einstieg: Expedition Teilearbeit
1.1 Es muss nicht der Mount Everest sein
1.2 Die Sprache des Buches
2 Prinzip der Multiplizität der Persönlichkeit
3 Prinzip der Entstehung und Entwicklung von Ego-States
3.1 Definition von Ego-States
3.2 Entstehung von Ego-States
3.3 Entwicklung von Ego-States
4 Prinzip der Funktionalität der Ego-States
5 Prinzip der Individualität der Ego-States
5.1 Eigenleben der Ego-States
5.2 »Die richtige Adresse«
5.3 Kategorien von Ego-States: Eine Arbeitshypothese
5.3.1 Innere Stärke
5.3.2 Innere Helfer
5.3.3 Innere Beobachter
5.3.4 Symptomassoziierte und traumatisierte Ego-States
5.3.5 Innere Kritiker
5.3.6 Mehr als »nur innere Kritiker«
5.3.7 »Gruselige Gestalten« – Täternahe Ego-States
6 »Auf welcher Bühne wird gespielt?« – Das Prinzip der Bühnen
6.1 Inhaltsbühne und Beziehungsbühne
6.2 Beziehungsebenen der Ego-State-Therapie
6.3 Innere und äußere Bühne
6.3.1 Von der äußeren zur inneren Bühne
6.3.2 Von der inneren auf die äußere Bühne
6.3.3 Was wir von außen nach innen aufnehmen: Introjektion, Identifikation, Modelllernen, Spiegelphänomene und Dissoziation
6.4 Die Bühnen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft
6.4.1 Mit einem Bein in der Vergangenheit
6.4.2 Mit einem Bein in der Zukunft
7 Prinzip der Koexistenz, Verständigung, Kooperation und Integration als Ziele der Ego-State-Therapie
Teil II: Praxis der Ego-State-Therapie
8 Die Vorbereitung und die Ausrüstung
9 Prozessorientierte Ziele der Ego-State-Therapie und Aufnahme des Kontakts mit Ego-States
9.1 Kontaktaufnahme mit Ego-States
9.1.1 Kontaktaufnahme mit Ego-States über Sprachmuster der Patientinnen
9.1.2 Kontaktaufnahme über autonomes inneres Geschehen, über konkrete Symptome oder über den Körper
9.1.3 Kontaktaufnahme über Impulse, Emotionen und innere Zustände im Zusammenhang mit einem konkreten Thema
9.1.4 Kontaktaufnahme über Metaphern, Symbole, Geschichten oder Texte
9.1.5 Kontaktaufnahme über Kunst und Gestaltung
9.1.6 Kontaktaufnahme über eine Affekt- oder eine somatische Brücke
9.1.7 Kontaktaufnahme über Edukation
9.1.8 Zufällige Kontaktaufnahme durch weitere Interventionen
9.2 Aufbau von Kommunikation mit Ego-States
9.3 Akzeptanz und Annahme von Ego-States
9.4 Verständnis für Ego-States
9.5 Unterstützung von Ego-States, Entwicklungsarbeit, Reifung und nachträgliches Nähren
9.6 Nutzung von Ego-States, Kooperation, »innere Diplomatie«, Finden neuer Aufgaben
9.7 Entwicklung eines inneren Teams bzw. einer inneren Familie mit eigenen Unterstützungsfertigkeiten
10 Behandlungsplanung und Mapping
10.1 Das SARI-Modell
10.1.1 Phase I: Stabilisierung
10.1.2 Erkennen und Nutzen der Symptomphänomene
10.1.3 Phase II: Schaffung eines sicheren Zugangs zum Trauma und zu den entsprechenden Ego-States
10.1.4 Phase III: Auflösen der traumatischen Erfahrung und Restabilisierung
10.1.5 Phase IV: Integration, Neuorientierung und Entwicklung einer neuen Identität
10.2 Entscheidungshilfen in der Behandlungsplanung
10.2.1 In welcher Phase des SARI-Modells soll aktuell gearbeitet werden?
10.2.2 Mit welchem Ego-State oder mit welchen Ego-States soll aktuell gearbeitet werden?
10.2.3 Welches prozessorientierte Ziel soll angestrebt werden?
10.2.4 Welche Intervention passt zum Patienten?
10.3 Das Entscheidungsbaumprinzip in der Ego-State-Therapie
10.4 Mapping und Protokollierung als Orientierungshilfen
10.4.1 Mapping als Technik des Zugangs zu Ego-States sowie als Technik der Kontaktaufnahme
10.4.2 Mapping als Element der Behandlungsplanung
10.4.3 Protokollierungen zur Orientierungshilfe im Behandlungsverlauf für Therapeut und Patient
10.4.4 Mapping als gestalterisches Mittel für die Beziehungsarbeit mit Ego-States
11 Arbeit mit grundsätzlich ressourcenreichen Ego-States
11.1 Der inneren Stärke begegnen
11.1.1 Edukation
11.1.2 Explizite und implizite Suche
11.1.3 Unspezifische und spezifische Anwendung
11.1.4 Die Intervention kreieren – Interventionstechniken
11.1.5 Anwendungsplanung
11.2 Ergänzungen zur Arbeit mit inneren Helfern und Beobachtern
12 Arbeit mit verletzten Ego-States
12.1 Grundmuster der Arbeit mit verletzten Ego-States
12.1.1 Wahrnehmen des Ego-States (1. prozessorientiertes Ziel)
12.1.2 Zugang und Kontakt (1. und 2. prozessorientiertes Ziel)
12.1.3 Akzeptanz, Verständnis und Erlaubnis (3. und 4. prozessorientiertes Ziel)
12.1.4 Versorgung der verletzten Ego-States, Mitgefühl und Trost (5. und 6. prozessorientiertes Ziel)
12.1.5 In welchem Zustand befindet sich der verletzte Ego-State?
12.1.6 Was braucht der verletzte Ego-State?
12.1.7 Wie kann dafür gesorgt werden, dass er das, was er braucht, auch bekommt?
12.1.8 Wer kann ihn versorgen?
12.1.9 Welche Hindernisse müssen dabei beachtet werden?
12.1.10 Welches Entwicklungsniveau weist der verletzte Ego-State auf?
12.1.11 Begleitung und nachträgliches Nähren (5. und 7. prozessorientiertes Ziel)
12.2 Interventionen der Arbeit mit (verletzten) Ego-States
12.2.1 Versorgung von symptomassoziierten und traumatisierten Ego-States durch ressourcenreiche Ego-States
12.2.2 Nachträgliches Nähren
12.2.3 Nichthypnotische Technik mithilfe von Stühlen
12.2.4 Arbeit mithilfe von Metaphern
13 Arbeit mit verletzenden, destruktiv wirkenden Ego-States
13.1 Besonderheiten und allgemeine Hinweise zur Arbeit mit verletzenden, destruktiv wirkenden Ego-States
13.2 Arbeit mit den bisher vorgestellten Interventionen der Ego-State-Therapie
13.2.1 Einzel- oder Gruppensetting in der Arbeit mit verletzenden, destruktiv wirkenden Ego-States
13.2.2 Würdigung
13.2.3 Verhandeln und vermittelter Kontakt
13.2.4 Neue Informationen und neue Strategien
13.3 Interventionen zum Trennen von Funktion und Inhalt
13.3.1 Die wichtigsten Funktionen
13.3.2 Inhalte und Strategien
13.4 Interventionen zum Trennen der Bedürfnisse des Täters und des Opfers
13.5 Interventionen zur Arbeit mit mehreren Ego-States (destruktiv wirkenden, verletzten und ressourcenreicheren)
13.5.1 Erster Schritt: äußerer Täter und Täter-Ego-State – »außen« und »innen«
13.5.2 Zweiter Schritt: Täter-Ego-State und Opfer-Ego-State im inneren System
13.5.3 Dritter Schritt: Würdigung der Rollen
13.5.4 Vierter Schritt: Neue Rollen und Strategien
13.6 Zusammenfassung der Arbeit mit verletzenden, destruktiv wirkenden Ego-States
Literatur
Über den Autor
Zum Glück entstand dieses Buch nicht in einer einsamen, staubigen Kammer. Viele Menschen haben an seiner Entstehung mitgewirkt. Es ist kaum möglich, an dieser Stelle alle zu nennen. Ich möchte mich trotzdem bei einigen von ihnen persönlich bedanken.
Dr. Richard Huybrechts gilt mein größter Dank. Ohne seine Unterstützung wäre das Buch nicht zustande gekommen. Die wichtigen Diskussionen über die Konzepte und Interventionsansätze haben mich immer wieder inspiriert und bestärkt. Er ist für mich mehr als ein Mentor. Meiner Tochter Nele möchte ich von Herzen danken. Die Zusammenarbeit mit ihr war für mich eine weitere wunderbare Erfahrung. Sie sorgte nicht nur für die Lesbarkeit des Textes, sondern steuerte wichtige didaktische Hinweise bei. Meiner Frau Berit und meinem Sohn Claas möchte ich für ihre Unterstützung besonders danken. Sie begleiteten den Entstehungsprozess des Buches mit einer endlosen Geduld, nahmen mir vieles ab und hielten mir den Rücken frei. Ihr liebevoller Umgang mit einem vollkommen absorbierten Familienmitglied ist nicht selbstverständlich. Ihre Erinnerungen an das Leben jenseits des Schreibtisches waren mir eine große Hilfe.
Woltemade Hartman, Ph. D. danke ich dafür, mir die Welt der Ego-State-Therapie eröffnet zu haben und ein wichtiger Wegbereiter für mich zu sein.
Dem gesamten Team des Carl-Auer-Verlages möchte ich für das mir entgegengebrachte Vertrauen danken, insbesondere Herrn Dr. Ralf Holtzmann für seine Aufmunterungen, sein Verständnis und die Freiheiten, die er mir einräumte. Es ist eine große Freude, in einer solchen Atmosphäre ein Buch schreiben zu können. Frau Zita Stoltenberg-Zehnder, Fachpsychologin für Psychotherapie (FSP) danke ich für die Erfahrungsberichte aus der Ego-State-Arbeit mit Kindergruppen und die konstruktiven Hinweise zu den entsprechenden Kapiteln dieses Buches. Meinen zahlreichen Supervisions- und Seminarteilnehmern möchte ich für die vielen Anregungen danken, die mich immer wieder zum Überdenken meiner Ansätze veranlassten. Nicht zuletzt möchte ich mich bei meinen Patientinnen und Patienten bedanken. Sie sind die Koautorinnen und Koautoren dieses Buches. Ihr Mut und ihre Offenheit berühren mich sehr. Die Erfahrungen in der Arbeit mit der Ego-State-Therapie, der Vertrauensvorschuss, den sie mir gewährten, die wichtigen inneren Prozesse, an denen sie mich teilhaben ließen, sowie die zahllosen Gespräche über spezifische Interventionsschritte ermöglichten erst das Schreiben und den Abschluss des Buches.
Kai Fritzsche
Ich möchte diesem Buch zwei Texte voranstellen, die all jenen gewidmet sind, die einen Weg aus dem Leiden und aus der Nacht suchen, und jenen, die sie dabei begleiten.
»Wenn die Nacht am tiefsten …
Ich war oft am Ende, fertig und allein.
Alles, was ich gehört hab, war: ›Lass es sein!
So viel Kraft hast du nicht, so viel kannst du nicht geben.
Geh den Weg, den alle gehn, du hast nur ein Leben.‹
Doch ich will diesen Weg zu Ende gehn,
und ich weiß, wir werden die Sonne sehn!
Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.
Manchmal bin ich kalt und schwer wie ein Sack mit Steinen.
Kann nicht lachen und auch nicht weinen.
Seh keine Sonne, seh keine Sterne,
und das Land, das wir suchen, liegt in weiter Ferne.
Doch wir werden diesen Weg zu Ende gehn,
und ich weiß, wir werden die Sonne sehn!
Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.«
Ton Steine Scherben (1975)
»Für die Zeiten des Leidens
Mögest du gesegnet sein im heiligen Namen derer,
Die ohne dein Wissen dir helfen,
Deinen Schmerz zu tragen und ihn zu lindern.
Möge dich Heiterkeit begleiten,
Wenn du aufgerufen wirst,
Das Haus des Leidens zu betreten.
Möge dich stets ein lichtes Fenster überraschen.
Möge dir die Weisheit zuteilwerden,
Auf falschen Widerstand zu verzichten;
Klopft das Leiden an die Tür deines Lebens,
Mögest du schon seine Abschiedsgaben erahnen.
Mögest du imstande sein, die Früchte des Leidens zu empfangen.
Möge das Gedächtnis dich segnen und behüten
Mit dem hart verdienten Licht vergangener Plagen;
Und dich erinnern: Du hast schon überlebt, und
Wenn die Nacht am tiefsten ist,
Ist der Tag am nächsten.
Möge die Gnade der Zeit deine Wunden heilen.
Mögest du erkennen, dass selbst der schwerste Sturm dir kein einziges Haar wird krümmen können.«
John O’Donohue (2009), Benedictus – Das Buch der irischen Segenswünsche
Die Ego-State-Therapie hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt und weit verbreitet. Sie ist zu einem festen Bestandteil der psychotherapeutischen Landschaft geworden, hat immer mehr an Bedeutung gewonnen und wird neben dem traumatherapeutischen Bereich zur Behandlung eines breiten Störungsspektrums und in verschiedenen Behandlungssettings eingesetzt.
Nach der positiven Resonanz auf die Einführung in die Ego-State-Therapie (Fritzsche u. Hartman 2010) ging ich mit Freude an die Arbeit, ein grundlegenderes Buch über diese faszinierende psychotherapeutische Methode zu schreiben, die mein Verständnis der Persönlichkeit, meine berufliche Entwicklung der letzten Jahre sowie mein Menschenbild stark veränderte.
Es ist ein Buch entstanden, das dem Prinzip »Aus der Praxis für die Praxis« folgt. Es bietet eine umfassende, fundierte und praxisnahe Erläuterung der Ego-State-Therapie. Es kann als ein Leitfaden für die Praxis genutzt werden und stellt konkretes Arbeitsmaterial für die Behandlungsplanung sowie sämtliche Behandlungsschritte zur Verfügung. Das Buch bietet zahlreiche Hinweise für schwierige Behandlungssituationen. Es eignet sich als Begleitlektüre für die Fortbildung in Ego-State-Therapie.
Es gliedert sich in zwei Teile. In Teil I stelle ich sechs Prinzipien der Ego-State-Therapie vor und ergänze sie mit Fallbeispielen aus der Praxis. Die Prinzipien bilden die Grundlage des Behandlungsansatzes der Ego-State-Therapie. Zu jedem Prinzip sind Fragen formuliert, die sich unmittelbar im therapeutischen Kontext verwenden lassen.
In Teil II des Buches stelle ich die prozessorientierten Ziele, die Behandlungsplanung und die basalen Interventionen der Ego-State-Therapie ausführlich vor. Ich gehe dabei auf die Besonderheiten ein, die verschiedene Kategorien von Ego-States aufweisen. Zu den einzelnen Interventionen habe ich Übersichten angefertigt, die als Leitfaden für den Praxisalltag dienen können und jeweils detailliert erläutert werden. Daneben gibt es Arbeitsblätter zum Ausfüllen. Sie stehen auch online zum Download zur Verfügung.1
Das Buch spiegelt meinen derzeitigen Wissens- und Erfahrungsschatz wider. Ich blicke auf eine fast zehnjährige Anwendung der Ego-State-Therapie zurück, aus der sich das Buch speist. Weitere psychotherapeutische Verfahren, die ich im Verlauf meines Berufslebens erlernte und anwende, sowie meine eigenen Lebenserfahrungen prägen mein heutiges Verständnis und meine Art, in eine psychotherapeutische Begegnung zu gehen. Die Liste der Wegbereiter ist lang. Ich bin mir der direkten und indirekten Unterstützung und der Zuversicht, die sie mir entgegenbrachten, wohl bewusst. Das meiste lernte ich durch meine Patientinnen und Patienten, denen ich für ihr Vertrauen sehr dankbar bin. Ich lernte vor allem durch die zahllosen Behandlungssituationen, in denen die Heilungsprozesse einen anderen Verlauf nahmen, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich lernte durch die Ecken und Kanten. Ich lernte, die Schwierigkeiten als Herausforderungen zu verstehen. Glücklicherweise gaben mir meine Patientinnen und Patienten genügend Anlässe zum Lernen. Ich lernte auch etwas über die Vor- und Nachteile von Leitlinien und Anleitungen kennen. Wenn ich Psychotherapie als eine Expedition in für mich unbekannte Regionen verstehe, denke ich an die große Hilfe von Landkarten und Erfahrungsberichten für Expeditionen. Landkarten bieten Leitlinien, sie sind Anleitungen. Ich denke auch daran, dass die Landkarte nicht die Landschaft ist.
Meine Arbeit ist durch die Hypnotherapie Milton Ericksons geprägt. Die klinische Hypnose stellt eine der Säulen der Ego-State-Therapie dar. Ich bin glücklich, dass ich gemeinsam mit Maria Schnell im Berliner Institut für klinische Hypnose und Ego-State-Therapie (IfHE) beide Methoden lehren, gestalten und einen fruchtbaren Austausch voranbringen kann. Viele Hinweise aus den Seminaren und Supervisionen sind in das Buch mit eingeflossen. Das Buch ersetzt allerdings nicht eine fundierte Fortbildung in Ego-State-Therapie.
Ich möchte an dieser Stelle eine Bemerkung zu den geschlechterspezifischen Formulierungen machen. Ich habe mich für eine abwechselnde Variante entschieden, d. h., ich verwende abwechselnd die weibliche und die männliche Form.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und Entdecken und schöne Überraschungen mit der Ego-State-Therapie.
Kai Fritzsche
Berlin, Januar 2013
1www.carl-auer.de/machbar/praxis_der_egostatetherapie
Reinhold Messners Expeditionen in den Himalaja gehörten zu den großen Abenteuern, die ich als Kind staunend bewunderte. Ich erinnere mich genau daran, wie ich die Filme über seine Erlebnisse gemeinsam mit meiner Schwester anschaute. Einer von uns musste immer die Zimmerantenne des kleinen Kofferfernsehers mit der Hand festhalten, da dies den Empfang verbesserte. Wir befanden uns in Ostberlin und waren froh, überhaupt einen Westsender empfangen zu können – wenn auch mit schlechtem Bild und einigen Mühen. Wir hielten den Atem an, wenn Reinhold Messner in scheinbar hoffnungsloser Lage entschied: »Wir gehen jetzt zu zweit hoch zu Lager IV. Wir haben wenig Proviant, der Sturm hat zugenommen. Die Sicht ist sehr schlecht. Wir melden uns später.« Wir waren völlig absorbiert von den Berichten über die Aufstiege, die widrigen Bedingungen, die Rückschläge, das Durchhaltevermögen und über das Happy End. Der Himalaja lag, von uns aus gesehen, ziemlich weit hinter der Mauer. Es hatte den Anschein, als sähen wir eine andere Welt, einen anderen Planeten.
Damals ahnte ich, dass es im Leben um mehr geht als das, was direkt vor meiner Nase liegt. Ich ahnte, dass es innere und äußere Mauern zu überwinden gilt, dass es mehr gibt als das Offensichtliche, das Alltägliche, das Naheliegende, dass dort nicht nur Glück zu finden ist, sondern auch Krisen und dass es um Chancen und um Bewältigen geht.
Unter den vielen Menschen, die inzwischen den Gipfel des Mount Everests bestiegen, sticht Göran Kropp heraus. Am 23.5.1996 erreichte er den höchsten Punkt. Er hatte sich das Ziel gesetzt, aus eigener Kraft zum Gipfel zu gelangen
Die Strecke zum Berg bezog er in sein Projekt mit ein. Er fuhr, beladen mit der gesamten Ausrüstung, die er für den Hinweg zum Berg und den Aufstieg benötigte und die ein Gewicht von 130 Kilogramm ausmachte, mit dem Fahrrad 11 406 Kilometer von Stockholm bis nach Kathmandu, der Hauptstadt Nepals. Er fuhr so nahe an den Mount Everest heran, bis es mit dem Fahrrad nicht mehr weiterging, und machte sich dann zu Fuß auf den Weg ins Basislager, von dem aus seine Gipfelbesteigung starten sollte. Allein die Fahrradtour wurde zu einem Abenteuer und hielt einige Bewährungsproben für ihn bereit. Nicht weniger aufregend gestalteten sich seine Aufstiegsversuche. Der erste wurde durch schlechtes Wetter und Neuschnee vereitelt. Am 10. und 11. Mai 1996 wurden mehr als 30 Bergsteiger bei ihrem Aufstiegsversuch von einem Unwetter überrascht. Acht Menschen aus mehreren Expeditionen kamen ums Leben. Göran Kropp beteiligte sich an der Bergung der Verletzten und Toten.
In einer Reportage ist seine Everest-Expedition festgehalten. Die erste Szene nach dem Start in Stockholm zeigt ihn in der sächsischen Stadt Bautzen vor einem Lebensmittelgeschäft Orangensaft trinken. Eine Rentnerin fragte ihn, wohin er denn mit dem Fahrrad und dem vielen Gepäck unterwegs sei. Er antwortete: »Nach Nepal, zum Mount Everest.« Die Frau wirkte sehr irritiert, bestärkte ihn jedoch mit der Äußerung: »Ja, dann ist es gut, dass Sie Orangensaft trinken, denn Sie werden viele Vitamine brauchen.« Vitamine würde er tatsächlich brauchen.
Warum schreibe ich zu Beginn dieses Buches von einer Everest-Expedition? Ich denke, psychotherapeutische Behandlungen und Expeditionen haben vieles gemeinsam. Zu einer verantwortungsvollen Durchführung einer Expedition gehören Sorgfalt, ein realistischer Umgang mit den eigenen Grenzen, eine klare Einschätzung der Bedingungen und die Fähigkeit, sich auch für eine Umkehr entscheiden zu können. Es geht mir um eine Vielzahl weiterer Aspekte, die Expeditionen und Psychotherapien gleichermaßen auszeichnen. Es geht mir um Begeisterung, Neugier, Faszination, Mut, Begegnung, Vertrauen, Vorbereitung, Training, Durchhaltevermögen, Erfahrung, Lernen, Hoffnung, Visionen, Verantwortung, Grenzen, Berührtsein, Ehrfurcht. Die Aufzählung ließe sich noch weiterführen. Es geht mir um den Weg. Der Weg zum Berg war für Göran Kropp ebenso wichtig wie die letzten Meter zum Gipfel. Der Weg ist das Ziel.
Es geht mir nicht um die Besteigung des Mount Everest. Es geht mir nicht um das Erreichen des Gipfels. Es geht mir jedoch um die von vielen Bergsteigern berichtete Erfahrung, auf einer solchen Expedition sich selbst zu begegnen, ob man will oder nicht.
Die Strapazen, die viele meiner Patientinnen und Patienten mit der Psychotherapie auf sich nehmen, erinnern mich häufig an die, die ich aus den Berichten von Extrembergsteigern erfahre. Sie wagen sich in Grenzbereiche. Es ist nicht klar, wie weit sie kommen, wie sie reagieren werden, wohin sie die Expedition führt. Sie betreten unbekanntes Gelände. Selbst wenn sie schon mehrere Versuche hinter sich haben, lassen sich die Bedingungen nie eindeutig voraussagen.
Gleiches trifft für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bzw. für all jene zu, die die Patienten begleiten. Mit jeder neuen psychotherapeutischen Behandlung begeben wir uns auf eine neue Expedition. Vieles kann uns dabei bekannt vorkommen. Trotzdem ist es immer wieder neu. Auch wir müssen Schritte wagen, müssen uns auf einen Weg machen und dabei viele Dinge beachten. Auch wir begegnen uns selbst, ob wir wollen oder nicht. Weder unsere Patienten noch wir selbst können zu Hause bleiben, wenn ein psychotherapeutischer Prozess gestaltet werden soll. Es muss nicht der Mount Everest sein. Aber für eine Psychotherapie müssen wir unsere eigenen vier Wände verlassen, genauso, wie dies unsere Patienten tun. Wir sind gemeinsam unterwegs. Es ist eine gemeinsame Expedition, auf welcher wir Therapeuten uns auch auf etwas einlassen. Wir müssen nicht auf den Mount Everest. Aber wir müssen mindestens einen Schritt vor die Tür machen. Für viele Patientinnen und Patienten erscheinen bereits diese wenigen Schritte als eine kaum zu überwindende Hürde. Der Heilungsprozess befindet sich zum Glück nicht hinter der Berliner Mauer und auch nicht auf einem anderen Planeten. Es sind jedoch Mauern zu überwinden, will man ihn voranbringen und vielen Patienten erscheint die Bewältigung ihrer Leiden auf diesem Planeten, also in dieser Welt, fast nicht möglich. So wie es mir als Kind mit der Überzeugung erging, die Schauplätze Reinhold Messners niemals mit eigenen Augen sehen zu können, erleben viele unserer Patienten zu Beginn der Behandlung ihre inneren Mauern als unüberwindbar und können sich ein Leben jenseits der Mauern kaum vorstellen.
Die Ego-State-Therapie ist eine psychotherapeutische Methode, die dabei helfen kann, innere und äußere Mauern zu überwinden und Heilungsprozesse zu fördern. Sie gleicht in vieler Hinsicht einer Expedition. Sie führt uns in eine unbekannte Landschaft. Wir sind zu der Persönlichkeit des Menschen unterwegs, mit dem wir arbeiten. Es braucht dazu eine fundierte und verantwortungsvolle Anwendung der Methode. Dazu gehören eine entsprechende Fortbildung und fachkundige Supervision.
Dieses Buch soll Mut machen für derartige Expeditionen, es soll Sie begeistern, Ihre Neugier wecken. Es soll zu einer guten Vorbereitung beitragen, und es soll Ihnen neue Wege der psychotherapeutischen Begegnung zeigen. Es kann wie eine Landkarte als Orientierungshilfe dienen und darüber hinaus mittels zahlreicher Erfahrungsberichte, Anregungen und Anleitungen zum Gelingen der Expedition beitragen.
Als ich mir vor Kurzem ein neues Handy anschaffen wollte und in diesem Zusammenhang einige Recherchen anstellte, erstaunte es mich sehr, dass in manchen Produktbeschreibungen die Lieferung einer deutschsprachigen Bedienungsanleitung als besonderes Merkmal hervorgehoben wurde. Neben den unglaublich vielen Funktionen, den zahllosen Einsatzmöglichkeiten und der riesigen Speicherkapazität erhalte man auch eine deutschsprachige Bedienungsanleitung. Entsprechend beeindruckt war ich dann von dem umfangreichen Werk in Papierform, welches in seinem Gewicht und seinen Ausmaßen das Mobiltelefon deutlich übertraf. Nun konnte hinsichtlich der einwandfreien Bedienung nichts mehr schiefgehen. Die Ernüchterung folgte auf den Fuß. Die Anleitung umfasste nur wenige Seiten, dafür war sie in mehr als zehn Sprachen abgedruckt. Als Anregung zu einer Sprachübung wäre das nicht uninteressant. In meinem Fall hätte ich mir jedoch einen etwas ausführlicheren deutschsprachigen Teil gewünscht, um meine technische Unbeholfenheit kompensieren zu können.
Ein ähnliches Phänomen erlebe ich immer wieder in den Ego-State-Therapie-Seminaren. Es ist interessant, wie viele Missverständnisse durch unterschiedliche psychotherapeutische Sprachen entstehen und welche Schwierigkeiten uns die jeweilige Übersetzung macht. Ich erlebe diese Diskussionen als sehr inspirierend und lehrreich, wünschte mir aber häufig mehrere Dolmetscher, die mir leider nicht zur Verfügung stehen. Anstelle der Dolmetscher versuche ich dann, verschiedene Sprachen zu sprechen und von jeweils einer in die anderen zu übersetzen. In Anbetracht der Tatsache, dass der Fremdsprachenunterricht längst Einzug in die Kindertagesstätten gehalten hat, pflege ich eine psychotherapeutische Mehrsprachigkeit, die zu einem fundiert ausgebildeten Psychotherapeuten gehört, jedoch von der etwas quälenden Frage begleitet wird, welches eigentlich meine Muttersprache ist.
Die Besonderheiten, die in den Seminaren durch verschiedene psychotherapeutische Sprachen auftreten, erlebe ich ebenso beim Schreiben dieses Buches. Ich könnte das Buch in einer hypnotherapeutischen Sprache verfassen und es anschließend in die analytische übersetzen lassen. Die hypnotherapeutische Sprache hätte vielleicht auch den Vorteil, dass Sie es in einem leichten Trancezustand lesen und Ihr Unbewusstes währenddessen die Übersetzungstätigkeiten übernimmt. Sofort würde ich feststellen, dass ich mit einer analytischen Sprache nicht auskommen kann und deshalb weitere Sprachen aufführen müsste. Ich könnte auch einen mehrsprachigen Herausgeberinnenband anstreben, in dem jedes Kapitel in mehreren Sprachen verfasst ist, wie zum Beispiel in dem lesenswerten Band von Wolfgang Senf und Michael Broda, Praxis der Psychotherapie (2004). Es gibt kaum einen psychotherapeutischen Begriff, der nicht zunächst hinsichtlich der verwendeten Sprache geklärt werden müsste, was so viel bedeutet, wie die Herkunft der Konzepte und des Autors zu klären. Die zugrunde liegende psychotherapeutische Sprache ist untrennbar mit den jeweiligen Konzepten verbunden. Es geht also bei den Sprachen unmittelbar um die Konzepte. Spätestens beim Thema »Täterintrojekte«, bei dem es um destruktiv wirkende Ego-States geht, wird dieser Umstand offensichtlich. Von Begriffen wie »Ich«, »Selbst«, »Anteil«, »inneres Kind«, »Unbewusstes« und »Energie« ganz zu schweigen. Ich frage mich, ob es eine allgemeine psychotherapeutische Sprache geben kann; vielleicht im Sinne der Konzeption der psychologischen Psychotherapie von Klaus Grawe (1998). Ich bemühe mich um eine verständliche Sprache; bin mir jedoch darüber im Klaren, dass sich gerade durch die »multikulturelle« Verwendung von Begriffen und Formulierungen Unklarheiten einschleichen können. In diesem Sinne bitte ich Sie um Verständnis und den Versuch einer Übersetzung. Die Frage nach der verwendeten Sprache wird nicht zuletzt bei der Verfassung eines Therapieantrages relevant. Da die Ego-State-Therapie kein Richtlinienverfahren darstellt, erhält die Übersetzungsfertigkeit eine weitere, praxisbezogene Bedeutung.
Ich versuche in diesem Buch auch, die Sprache der Patientinnen zu sprechen. Dies erfordert eine erneute Übersetzung und macht die therapeutische Begegnung lebendiger, vielleicht sogar erst möglich. Es entsteht ein feinfühliger Anpassungsprozess, eine kleinschrittige Verständigung, die tatsächlich vergleichbar ist mit dem Verständigungsversuch zweier Menschen mit unterschiedlichen Muttersprachen.
Die Ego-State-Therapie verstehe ich u. a. als eine Unterstützung der inneren Übersetzungsfertigkeiten der Patienten mit dem Ziel einer tragfähigen Kommunikation und eines verbesserten Verständnisses für innere Sprachen. Ich bemühe mich mit diesem Ansatz um eine Dolmetscherfunktion, die ich im therapeutischen Prozess für eine gewisse Zeit übernehme, nach und nach jedoch der Patientin übertrage, sodass sie die Übersetzung selbst vornehmen kann.
Dieses Kapitel ist John G. Watkins (1913–2012) gewidmet.
Das erste Prinzip der Ego-State-Therapie basiert auf der Grundannahme, dass die Persönlichkeit eines Menschen aus verschiedenen Anteilen besteht. Die Auffassung von der Multiplizität der Persönlichkeit lässt sich über einen sehr langen Zeitraum zurückverfolgen. Die Frage, wer wir sind und woraus unsere Persönlichkeit besteht, beschäftigt uns Menschen offensichtlich schon immer. Ebenso lange löst sie Kontroversen aus. Andererseits hat sie eine Faszination, der man sich kaum entziehen kann, und bietet Raum für Kreativität und Entwicklung (vgl. u. a. Ellenberger 1996).
Beispielsweise meldet sich während des Schreibens dieses Textes ein ziemlich kritischer innerer Anteil meiner Persönlichkeit. Dieser Anteil macht mich darauf aufmerksam, wie viele weitere Bücher oder Artikel ich erst noch zu studieren hätte, wie viele zusätzliche Quellen ich überblicken müsste, bevor ich mir anmaßen könnte, mich in dieser Form über die Multiplizität der Persönlichkeit zu äußern. Immerhin baut das gesamte Behandlungskonzept der Ego-State-Therapie darauf auf. Interessant wäre nun, die Geschichte dieses kritischen Anteils zu verfolgen. Wie lange ist er schon in meinem Leben? Kam er in einer ganz bestimmten Lebenssituation, die sich konkret benennen ließe, oder eher schleichend, fast unbemerkt? Welches ist seine Aufgabe? Welche Funktion hat er? Die Frage nach der Funktion betrifft die Frage nach dem Grundbedürfnis, um dessen Befriedigung er sich kümmert. Im Weiteren wäre interessant, in welchem Körperzustand ich mich befinde, wenn mein kritischer Anteil gerade das Sagen hat, welche Überzeugungen ich dann habe und wie ich mich fühle und verhalte. Möglicherweise tauchen dazu auch typische innere Bilder auf, die ebenfalls zu diesem Anteil gehören, und natürlich spezifische Erfahrungen aus meiner Biografie. Wenn ich diesen Fragen nachgehen würde, würde ich mich bereits mitten in einem Ego-State-Therapie-Prozess befinden.
Viele Menschen, nicht nur komplex traumatisierte, kennen innere kritische Stimmen. Aus meiner Sicht ist es ein sehr lohnendes Projekt, sich diesen Phänomenen mit der Sichtweise der Ego-State-Therapie zuzuwenden. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihre inneren kritischen Seiten – so Sie welche erleben – besser kennenlernen. Wie wäre es, wenn Sie die aufgeführten Fragen versuchen zu beantworten? Es könnte sein, dass Sie eine völlig neue Seite dieser kritischen Anteile bemerken. Es könnte sein, dass Sie ein tiefes Verständnis für sie entwickeln, sie würdigen lernen und eine neue Beziehung mit ihnen eingehen. Vielleicht wären Sie am Ende ein freundschaftlich verbundenes Team, miteinander in gutem Kontakt und gut ausgerüstet, sich um ganz bestimmte Bedürfnisse angemessen zu kümmern.
Neben den inneren kritischen Seiten, die uns so oft das Leben schwer zu machen scheinen, gibt es auch noch ganz andere Anteile. Für mich und mein Leben mit der Ego-State-Therapie gehört dazu ein sehr begeisterter Anteil, der große Lust hat, sich mit diesem Ansatz zu beschäftigen, der sie mit Freude in der Praxis anwendet und der sie sehr gerne in Seminaren und Workshops vermittelt. Dieser Anteil sagt mir zum Beispiel, dass ich mich von diesem Buchprojekt nicht abbringen lassen sollte, dass ich genug interessante Dinge zu berichten habe und dass es Spaß macht, sich auch auf dem Weg des Schreibens mit der Ego-State-Therapie auseinanderzusetzen. Der Anteil ist für mich auch mit Abenteuer verbunden, mit Begegnungen und mit Kreativität. Er hat ebenfalls seine eigene Geschichte, und ich könnte dieselben Fragen formulieren und versuchen, sie zu beantworten.
Sie könnten sich also nun fragen, wann und wo sich bei Ihnen ein Anteil meldet, der Lust hat, etwas Bestimmtes zu tun, ein Projekt zu starten, etwas Neues zu beginnen, unbekannte Wege zu gehen, sich zu trauen, neue Erfahrungen zu machen oder sich begeistern zu lassen. Wann und wo bemerken Sie bei sich einen Zustand, der mit diesem Anteil zu tun haben könnte? Ich möchte nicht festlegen, dass jeder Mensch einen solchen Anteil hat, dass jede Persönlichkeit über einen solchen Anteil verfügt. Aber interessant wäre es schon. Es klingt vielleicht etwas umgangssprachlich, aber Sie könnten sich fragen: »Wobei kommt bei mir Freude auf? Wofür begeistere ich mich, und welche Träume träume ich?« Welches wäre Ihr persönliches Abenteuer? Ich meine damit nicht, dass es immer spektakulär sein muss. Für manche Menschen ist Innehalten ein Abenteuer. Es wäre einfach interessant, dieser Frage und diesem Anteil Ihrer Persönlichkeit nachzugehen, ihm zu begegnen und ihm Raum zu geben.
Wie Sie feststellen, sind bei mir jetzt schon zwei Anteile im Spiel. Ich könnte auch sagen: auf der inneren Bühne. Zusätzlich zu den vielen Informationen, die zu jedem der beiden Anteile zutage treten, ergibt sich auf der inneren Bühne die Frage, wie sie zueinander stehen. Nehmen sie sich überhaupt gegenseitig wahr? Können sie miteinander kommunizieren, sich akzeptieren? Könnten sie sich kennenlernen und am Ende womöglich kooperieren? Hier werden die verschiedenen Beziehungsebenen und Ziele deutlich, die untrennbar mit dem Konzept der Ego-State-Therapie verbunden sind.
Fallbeispiel aus der Praxis: Arbeit mit einem »Schuld-Ego-State«
Ein 49-jähriger Patient berichtete bereits im Erstgespräch außer von vielen weiteren Belastungen von seiner Schuld, Selbstverachtung und einer Art innerem Verbot, sich entwickeln zu dürfen. In allen Lebensbereichen finde er immer wieder unschlagbare Beweise dafür, unfähig, unzumutbar und schuldig zu sein. Er sei unwürdig, Freude zu haben und wachsen zu dürfen.
Seine Biografie war geprägt von belastenden Ereignissen, schädigenden Beziehungserfahrungen und Traumatisierungen. Positive Bindungen, Geborgenheit und emotionale Unterstützung blieben ihm größtenteils verwehrt. Stattdessen wurde er zum Spielball extremer Beziehungskonflikte, wurde mit unlösbar widersprüchlichen Beziehungsbotschaften konfrontiert. Für ein Minimum an Bindung, das zum Überleben notwendig und unter diesen Umständen überhaupt möglich war, musste er einen sehr hohen und folgenreichen Preis zahlen. Traumatisierungen blieben nicht aus. Unter diesen Umständen wurde es für ihn sehr schwierig, selbst sichere Bindungen aufzubauen. Wie sollte dies ohne ein halbwegs tragbares Modell auch gehen? Verletzungen waren somit fast vorprogrammiert und lieferten den Beweis seiner Unwürdigkeit gleich mit. Es entstand im wortwörtlichen Sinne ein Teufelskreis. Glücklicherweise gab es trotz allem noch einen Anteil von ihm, der Hilfe suchte, der sich um die Psychotherapie bemühte und der aus diesem Teufelskreis aussteigen wollte. Aus der komplexen Behandlung, die sich aus dieser Vorgeschichte entwickelte, möchte ich einen Ausschnitt wiedergeben, in dem wir uns dem Persönlichkeitsanteil von ihm zuwendeten, der für die Schuld- und Unwürdigkeitsgefühle zuständig war.
Vorausgegangen ist neben der ausführlichen Anamnese, Diagnostik und Behandlungsplanung eine Beschäftigung mit der Frage des Konzepts der Ego-State-Therapie. Da dieses Konzept dem Erleben des Patienten sehr entsprach, einigten wir uns darauf, auf diesem Weg zu arbeiten. Ich verfolgte die Schritte, die in Teil II des Buches als »prozessorientierte Ziele der Ego-State-Therapie« erläutert werden. Die Kontaktaufnahme mit dem Ego-State, der mit dem Erleben von Schuld und Unwürdigkeit verbunden war, gestaltete sich schon schwierig. An Kommunikation mit diesem Anteil war vorerst nicht zu denken. Nachdem wir dafür jedoch verschiedene Vorbereitungen erarbeitet hatten, ließ sich letztlich ein imaginierter Weg finden, über den sich der Patient mit dem Ego-State austauschen konnte. Der Abstand zwischen beiden musste sehr groß sein, so als befänden sich beide auf verschiedenen Kontinenten. Aus diesem Grund entstand die Idee, für die Kommunikation E-Mails zu nutzen. Der Patient stellte sich vor, wie er an diesen – ich nenne ihn: – Schuld-Ego-State E-Mails schreibt und per Internet auch Antworten erhält. Auf diese Art entstand ein vorsichtiges Herantasten und Austauschen von Informationen. Im Zuge dieses Austauschs traten wichtige Informationen zutage. Der Schuld-Ego-State sei schon immer bei dem Patienten, er gehöre zu ihm. Er habe ihn auch beschützt und sei für den Patienten notwendig, damit er überleben könne.
Bereits diese ersten Kontakte führten zu einer deutlichen Veränderung. Der Patient berichtete davon, seit Langem wieder einen positiven Zustand in seinem Alltag erlebt zu haben. Er beschrieb diesen Zustand als einen wohltuenden Druckabbau. Wir verfolgten den Austausch mit dem Schuld-Ego-State per E-Mail in den nächsten Sitzungen weiter. Mein Anliegen dabei war, dem Patienten ein neues Verständnis für den Anteil zu ermöglichen, als Voraussetzung für eine Annäherung und Veränderung.
In der weiteren Arbeit tauchten sehr wichtige Botschaften und Überzeugungen des Schuld-Ego-States auf, die uns die Richtung wiesen. Der Schuld-Ego-State sorge dafür, dass sich der Patient nicht entwickeln dürfe, da er dieses Recht verspielt habe. Er halte den Patienten für die erlittenen Traumatisierungen für verantwortlich. Das Schuldgefühl sei nun die einzige Chance, einen kleinen Rest an sozialer Integration zu erhalten. Ohne diese Schuld wäre der Patient ein Monster. Die lebenslange Schuld sei ein Ausgleich, eine gerechte Strafe für die unverzeihbaren Vergehen. Es sei so, als käme ein Schwerverbrecher ohne Strafe davon. Deshalb könne der Patient diese Schuld auch nicht überwinden, dürfe kein sorgenfreies Leben führen. Der Schuld-Ego-State werde auch dafür sorgen, dass die Psychotherapie keine Fortschritte mache, er habe ohnehin bereits zu viel zugelassen.
Im Verlauf des folgenden Kontakts versuchte ich, mit dem Schuld-Ego-State zu verhandeln. Ich bedankte mich für die wichtigen Informationen und versicherte ihm, dass ich ihn sehr ernst nähme und dass ich der Überzeugung sei, dass dies auch der Patient in zunehmendem Maße tue. Ich teilte ihm mit, dass ich seine Hinweise als Aufforderung verstünde, nicht vor der Schuld zu flüchten, sondern sich ihr verantwortungsvoll zu stellen. Aus diesem Grund würde ich es als notwendig erachten, dass sich der Patient mit dem, was er sich zuschulden habe kommen lassen, auch ernsthaft auseinandersetzt. Das sei für mich das Gegenteil von Flüchten. Damit der Patient dem nachkommen könne, wäre ich dankbar, vom Schuldteil nun eine Liste mit den Vergehen zu erhalten, um sicherzugehen, dass in der Auseinandersetzung auch nichts verloren gehe. Ich erhielt eine Aufzählung von traumatisierenden Einzelereignissen und anhaltenden bzw. wiederholten traumatisierenden Beziehungserfahrungen.
Was nun noch fehlte, war eine Vereinbarung mit dem Schuld-Ego-State darüber, sich mit dieser Liste schonungslos auseinanderzusetzen. Er stimmte zu. Darauf folgte eine wichtige, schmerzhafte, aber auch sehr berührende traumatherapeutische Arbeit, die dazu führte, dass die Traumatisierungen bewältigt, d. h. integriert wurden und damit eine Neubewertung der Schuldfrage erreicht war.
Zum Prinzip der Multiplizität und der Arbeit mit der Ego-State-Therapie, die darauf aufbaut, gehört für mich die eigene Auseinandersetzung damit, wie ich mir die Persönlichkeit eines Menschen vorstelle, sowie die Auseinandersetzung mit meinem Menschenbild. Die Frage lässt sich auf zwei Ebenen stellen. Die erste Ebene betrifft meine ganz persönlichen, allgemeinen Auffassungen von der Persönlichkeit, von den inneren Strukturen und ihrer Funktionalität und die Schlussfolgerungen, die ich hinsichtlich meiner Art und Weise ziehe, anderen Menschen zu begegnen. Auf der zweiten Ebene beschäftige ich mich darüber hinaus mit spezifischen Auffassungen von speziellen Begriffen wie »Ego-States«, »Anteilen«, »inneren Seiten«, »Charakterzügen«, »Aspekten«, »flüchtigen Zuständen« und »Dissoziation«. Wann sprechen wir wovon? Spätestens seit der Konzipierung der Theorie der strukturellen Dissoziation werden diese Fragen wieder viel diskutiert (van der Hart, Nijenhuis u. Steele 2008). In diesem Buch werde ich darauf eingehen.
Vielleicht nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um Ihren eigenen Auffassungen nachzugehen. Wenn beispielsweise eine neue Patientin zu Ihnen in die Praxis kommt und im Erstgespräch davon berichtet, was sie zu Ihnen führt: Welche Auffassung haben Sie von ihrer Persönlichkeit? Können Sie sich vorstellen, dass sie über möglicherweise sehr verschiedene Persönlichkeitsanteile verfügt? Oder sind Sie der Meinung, dies trifft nur zu, wenn die Patientin unter komplexen dissoziativen Symptomen leidet? Welche Auffassungen haben Sie von Patienten, die nicht unter Traumafolgestörungen leiden? Weisen sie ebenfalls mehrere Persönlichkeitsanteile auf? Weisen Sie selbst als Psychotherapeutin oder Psychotherapeut unabhängig von möglichen traumatisierenden Lebensereignissen unterscheidbare Persönlichkeitsanteile auf? Was macht für Sie hinsichtlich der Persönlichkeitsanteile den Unterschied in der Betrachtung von nicht traumatisierten und schwer traumatisierten Menschen aus?
Abgesehen vom Bereich der Traumatherapie, erlebe ich bereits in vielen Erstgesprächen ein sehr interessantes Phänomen. Ich möchte es anhand einer kurzen Sitzungssequenz darstellen.
Fallbeispiel aus der Praxis
Die Patientin schilderte im Erstgespräch mehrere Schwierigkeiten, die sie in unterschiedlichen Lebensbereichen belasten. Dabei ging es vorerst um Beziehungskonflikte, die sie schon lange erfolglos zu lösen versucht habe, und um berufliche Probleme, die für sie viel mit fehlendem Selbstvertrauen zu tun hätten. Während sie über diese Dinge sprach und ich begann, mir eine Vorstellung davon zu machen, welches Beziehungs- und Behandlungsangebot ich machen könnte, betonte sie mehrmals, dass sie der Auffassung sei, diese Probleme eigentlich allein und ohne psychotherapeutische Hilfe lösen zu müssen. Sie verwies auf die vielen anderen Patientinnen, die die Behandlungen viel dringender bräuchten, und darauf, dass man mit derartigen Sorgen doch allein zurechtkommen müsse. Eine Art Erschöpfung habe sie zwar veranlasst, sich bei mir zu melden. Aber wenn sie jetzt so darüber spreche, komme es ihr fast albern vor. Ich ging nicht gleich darauf ein und fragte vorsichtig weiter nach den Dingen, die sie belasten würden, und wie sich diese Belastungen für sie auswirken würden. Sie schilderte eine beachtliche Liste an Symptomen der depressiven Störung sowie einer Angststörung. Auch wenn es aus lösungsorientierter und hypnotherapeutischer Sicht keine elegante Intervention ist, gab ich ihr die Rückmeldung, dass mich ihre Schilderungen an Menschen erinnerten, die unter depressiven Störungen und Angstsymptomen leiden, und ich fragte sie, wie sie dies selbst einschätze. Mir ist klar, dass dies eine negative Suggestion sein kann und dass ich hier eventuell eher in Richtung Problemtrance als in Richtung Lösungstrance unterwegs war.
Ihre Antwort war trotzdem sehr interessant und entrollte den roten Faden der weiteren Behandlung: »Wenn wir damit anfangen würden, dann würden wir nie mit der Therapie zu Ende kommen!« Ich reagierte verblüfft und zeigte ihr meine Verwirrung. Auf der einen Seite betonte sie, dass sie ihre Probleme allein lösen müsse und dass sie im Vergleich zu denen anderer Patienten nicht der Rede wert seien. Auf der anderen Seite gab sie mir im gleichen Gespräch zu verstehen, dass wir mit der Behandlung nie zu Ende kämen, wenn wir mit den depressiven und angstbezogenen Symptomen anfangen würden zu arbeiten. Ich fragte, ob da vielleicht zwei verschiedene »Seelen in ihrer Brust« seien und ob sie sich vorstellen könne, diese beiden Seiten besser kennenzulernen. Ich betonte, dass ich beide Seiten wichtig und interessant fände und dass ich der Überzeugung sei, dass beide eine Berechtigung und eine wichtige Bedeutung für sie hätten. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich mir vorstellen könne, dass sie sich auch hin und her gerissen fühle oder so, als würde sie einen Spagat zwischen diesen Seiten versuchen.
Mein Angebot bestand darin, ihr zu helfen, diese beiden Seiten oder Anteile kennenzulernen. Daraus entwickelte sich ein sehr konstruktiver Behandlungsprozess. Es gab ihren strengen Anteil, der in der Notwendigkeit einer Psychotherapie ein persönliches Scheitern sah, der dafür sorgte, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht zeigte und ihnen nicht nachging, und einen sehr hilfsbedürftigen Anteil, der große Angst davor hatte, auf die zurückliegenden Beziehungen und die Berufstätigkeit zu schauen, also zu resümieren, der große Angst hatte, sich mit der eigenen Lebensentwicklung auseinanderzusetzen, und der sich außerstande fühlte, einen Veränderungsschritt tun zu können. Die Patientin wies keine dissoziativen Symptome auf. Sie erlebte mehrere kritische Lebensereignisse, aber keine Traumatisierung. Trotzdem zeigte sie zwei deutlich voneinander abgrenzbare innere Anteile, die ich Ego-States nenne.
Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch unterscheidbare Ego-States aufweist. Die Besonderheiten, die dabei im Zusammenhang mit traumatisierenden Ereignissen oder traumatisierenden Lebensumständen zu beachten sind, werde ich in diesem Buch hervorheben. Insbesondere im Hinblick auf dissoziatives Geschehen lassen sich tatsächlich nicht alle Anteile oder Ego-States in einen Topf werfen. Nicht zuletzt bei der Arbeit mit Menschen, die mit einer dissoziativen Identitätsstörung konfrontiert sind, bedarf die konzeptionelle Auseinandersetzung einer qualitativen Differenzierung. Trotzdem bleibt die Frage nach Ihrer persönlichen Auffassung von der Persönlichkeit des Menschen – z. B. der Persönlichkeit der oben geschilderten Patientin. Können wir zu den von ihr berichteten Seiten »Anteile« oder »Ego-States« sagen? Schaffen wir Artefakte? Sind wir derart im Bann eines Teilemodells, dass die Patienten gar nicht mehr hinterherkommen und fürchten, tatsächlich verrückt zu sein oder zu werden? Ich hoffe, dass ich mit meinem Ansatz hilfreich sein kann, einige der Fragen zu beantworten.
Das Konzept der Multiplizität durchzieht die gesamte psychotherapeutische Landschaft. Peter Uwe Hesse (2003) zeigt sehr anschaulich die Vielfalt der Konzepte von Multiplizität. Mit der Ego-State-Therapie fühle ich mich hier in guter Gesellschaft. Die Parallelen der Modelle herauszuarbeiten und ihre Gemeinsamkeiten zu unterstreichen sprengt leider den Rahmen dieses Buches. Ich bin immer wieder beeindruckt davon, wie nahe sich die Konzepte sind, nur dass sie in unterschiedlichen Sprachen formuliert wurden. Die Unterschiede sind nicht weniger interessant. Zusammenfassend lässt sich die Frage stellen, auf welchem Weg eine Integration innerer Anteile gefördert und erreicht werden kann. Im optimalen Fall könnten wir als Psychotherapeuten verschiedene Wege anbieten und flexibel damit arbeiten. In der Praxis nennen wir das häufig einen integrativen Ansatz oder integratives Arbeiten.
Dieses integrative Arbeiten nutzten die Begründer der Ego-State-Therapie, Helen und John Watkins. Sie bauten ihr Konzept auf drei Säulen auf. Die erste Säule besteht aus den psychodynamischen Konzepten, mit denen sie durch ihre psychotherapeutische Ausbildung vertraut waren. Diese Säule liefert eine wichtige Basis für die Arbeit und stellt unverzichtbare Kenntnisse über die therapeutische Beziehung, Übertragung und Gegenübertragung, Entwicklungspsychologie und die Persönlichkeitsentwicklung zur Verfügung. Die zweite Säule besteht aus hypnotherapeutischen Konzepten. Das Ehepaar Watkins orientierte sich dabei ursprünglich an den Ansätzen von Ernest Hilgard. Erst später wurde die Arbeit von Milton H. Erickson vermehrt einbezogen, sodass diese heute einen festen Platz innerhalb des Konzepts der Ego-State-Therapie einnimmt. Meine Arbeit ist am meisten durch diese Säule geprägt. Die dritte Säule besteht aus den Erkenntnissen über Dissoziation, die vor allem auf die Arbeiten von Pierre Janet zurückgehen. Er beschrieb bereits vor ca. 100 Jahren differenziert das dissoziative Geschehen seiner Patientinnen und Patienten und lieferte wichtige konzeptionelle Bausteine, die in heutigen Dissoziationstheorien eine erneute Würdigung und Fundierung finden. Die Säule der Dissoziation schließt das gesamte Thema der Traumafolgestörungen und ihrer Behandlung mit ein. Die Traumatherapeuten unter Ihnen werden damit vertraut sein.
Neben diesen sogenannten drei klassischen Säulen der Ego-State-Therapie wurde inzwischen viel gebaut. Die Ego-State-Therapie entwickelte sich rasant und wurde wiederum durch neue Ansätze erweitert. Diese Entwicklung erinnert mich an die jüngere Geschichte von Berlin. Durch das ständige Ausbauen, Weiterbauen und Neubauen kann sich auch die Frage ergeben, ob denn die Stadt, die ich von früher kenne und in der so unglaublich viel gebaut wurde, eigentlich noch die gleiche Stadt ist oder nicht. Ab wann würde man von einer neuen, also anderen Stadt sprechen? Ist Berlin noch die Stadt, die sie einmal war? Wie war sie denn ursprünglich? Ich könnte sagen, solange ich denken kann, war sie geteilt. Aber zuvor gab es ja ganz andere Zeiten. Was würde Zille dazu sagen, der das Berliner Leben auf eine unnachahmliche Art darzustellen vermochte? Es ist nicht leicht zu begreifen, was Berlin ausmacht und ab wann es einfach nicht mehr Berlin wäre. Ist es möglich, dass es einmal nicht mehr Berlin ist?
Ich gebe Ihnen in diesem Buch ein Bild der Ego-State-Therapie. Ich werde die Besonderheiten dieses Therapieansatzes erläutern, mit Fallbeispielen untermalen und auf die Schwerpunkte verweisen, die hier möglicherweise nicht genügend Berücksichtigung finden können. Meine Darstellungen werden Ihnen in Zukunft dabei helfen zu unterscheiden, ob es sich tatsächlich um Ego-State-Therapie handelt oder um ein weiteres Teilemodell. Nicht überall, wo Ego-State-Therapie draufsteht, ist Ego-State-Therapie drin.
Was die Konzeption der Ego-State-Therapie betrifft, lassen sich innovative Weiterentwicklungen, also neue Säulen, aufzeigen, die in den letzten Jahren hinzugekommen sind. Sie beziehen sich explizit auf das von John und Helen Watkins vorgelegte Grundmodell. Eine davon besteht in der Integration behavioraler Ansätze. Die kognitivbehaviorale Arbeit mit Ego-States ist eine wunderbare und vielleicht eher unterschätzte Erweiterung des Konzepts. Eine weitere neue Säule besteht aus körperorientierten Ansätzen, die sich ebenso gewinnbringend in das Konzept integrieren lassen. Ist das am Ende noch Ego-State-Therapie? Sicher nicht exakt die Art von Therapie, die das Ehepaar Watkins in den 70er- und 80er-Jahren konzipierte. Trotzdem finden sich die Grundannahmen und basalen Vorgehensweisen nach wie vor im hier vorgestellten Ansatz der Ego-State-Therapie. An den Grundannahmen lässt sich auch die Nähe zum Konzept bestimmen. Als Übersetzungshilfe erscheint es mir hilfreich, sich die Wurzeln der Autoren jeweils vor Augen zu führen, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche der verschiedenen Säulen bei ihnen am meisten ausgeprägt ist. Bei Woltemade Hartman, einem Schüler von John Watkins, ist es die hypnotherapeutische Säule (siehe auch Fritzsche u. Hartman 2010). Von ihm lernte ich die Ego-State-Therapie. Sie kam mir als begeistertem Hypnotherapeuten sehr entgegen. Bei Jochen Peichl (2012) ist es eher die psychodynamische Säule. Wir nähern uns der Ego-State-Therapie von verschiedenen Seiten. Wir vertreten ein gemeinsames Grundkonzept und entwickeln es weiter. Das ist vergleichbar mit den Bewohnern einer Stadt, die aus verschiedenen Himmelsrichtungen kamen, um sich niederzulassen. In Berlin wird beispielsweise viel darüber diskutiert, wie viele Vorfahrengenerationen bereits in der Stadt gelebt haben müssen, ehe man sich als »echter Berliner« bezeichnen darf. Für meine Arbeit ist es mir wichtig, mir meiner Stärken ebenso bewusst zu sein, also der Ressourcen, die sich aus der bei mir am stärksten ausgeprägten Säule ergeben, wie auch des Potenzials, das in weiteren Säulen der Ego-State-Therapie steckt.
Helen und John Watkins bauten die Ego-State-Therapie nicht nur auf den genannten drei Säulen, ihnen gelang auch in weiterer Hinsicht eine sehr glückliche Integration. Sie verbanden zwei wertvolle Persönlichkeitsstile zu einem gelungenen Ganzen. Erst durch diese Zutaten konnte sich ihr Behandlungsansatz derart entwickeln. John Watkins verkörperte den eher analytischen und akademischen Teil. Er arbeitete intensiv an den theoretischen Fragen des Behandlungskonzepts und publizierte sie. Viele seiner Behandlungsfälle betrafen Menschen, die an Traumafolgestörungen litten. Helen Watkins verkörperte eher den intuitiven und praktischen Teil. Sie behandelte während ihrer Tätigkeit in einer studentischen Beratungsstelle eine große Bandbreite an Störungen und steuerte unschätzbare Interventionsansätze bei, die sie in ihren Therapien entwickelte, also aus der Praxis heraus. Diese Kombination aus theoriegeleiteten und praxisgeleiteten Ansätzen, gleichzeitig aber auch aus männlichen und weiblichen Zügen stellten für die Ego-State-Therapie ideale Geburts- und Entwicklungsbedingungen dar, die sich bis heute positiv auswirken.
Vielleicht haben Sie Lust bekommen, sich auf das Abenteuer Multiplizität einzulassen und damit neue Erfahrungen zu sammeln. Vielleicht sind Sie schon eine ganze Weile damit unterwegs. Ich möchte Sie einladen, mit mir durch das Land der Ego-State-Therapie zu reisen. Ich möchte Ihnen ebenso die prominenten Sehenswürdigkeiten zeigen wie die unbekannten Orte und stillen Ecken. Ich möchte Ihnen die unterschiedlichen Seiten dieser Behandlungsmethode vorstellen. Zuvor liegt mir noch eine Bemerkung am Herzen. Die Beschäftigung mit der Multiplizität birgt auch Missverständnisse. Eines davon besteht darin, dass sich die Menschen, die mit komplexen dissoziativen Symptomen konfrontiert sind, falsch verstanden fühlen könnten. Es könnte der Eindruck entstehen, dass es eine neue Mode ist, seine eigene Multiplizität in den Vordergrund zu stellen und sich damit zu beschäftigen. Mir ist sehr bewusst, mit welchem Leid dissoziative Symptome für die Betroffenen verbunden sind. In diesem Fall ist es nicht mehr eine interessante Beschäftigung mit der Multiplizität, sondern ein zehrender Kampf, der viele dieser Menschen immer wieder an den Rand des Aushaltbaren bringt, an dem sie sich fragen, warum sie das noch aushalten sollen. Ich sehe in der Ego-State-Therapie keine interessante Freizeitbeschäftigung, sondern eine fundierte und potente Behandlungsmethode, die sich sowohl in der Behandlung von Traumafolgestörungen wie auch vieler weiterer Störungen ausgezeichnet bewährt.
Die Anwendung der Ego-State-Therapie erfordert eine gründliche Ausbildung einschließlich der Supervision. Wenn wir diese Methode verantwortungsvoll und wirksam anwenden wollen, kommen wir aus meiner Sicht jedoch nicht darum herum, uns mit unserer eigenen Auffassung von Multiplizität, mit unserer eigenen Persönlichkeit und mit unserem eigenen Menschenbild auseinanderzusetzen.
Keine Therapiemethode darf ein Selbstzweck werden, sosehr wir uns auch dafür begeistern. Wir brauchen einen unverbauten Blick auf die Würde unserer Patientinnen und Patienten, eine klare Einschätzung unserer eigenen Grenzen sowie der Grenzen der Methoden, die wir in der Behandlung anwenden.
Dieses Kapitel ist Klaus Grawe (1943–2005) gewidmet.
Zur Erläuterung des zweiten Prinzips gehört die Beantwortung der Fragen, wie ein Ego-State definiert werden kann, wie er entsteht und wie er sich entwickelt.
Mittlerweile liegen eine Reihe von Definitionen unterschiedlicher Autoren und Gewichtungen vor. Es gibt natürlich die ursprüngliche Definition von Watkins und Watkins (2003, S. 45), es gibt die der folgenden Generationen – zum Beispiel von Gordon Emmerson (2003, p. 3 ff.) oder Jochen Peichl (2007, S. 62), es gibt Vorläufer von Paul Federn oder Pierre Janet und es gibt neurowissenschaftlich geprägte Definitionen (s. Roth 2003, S. 139). Rückblickend hat mich die Definition von Claire Frederick (2007, S. 19) am meisten berührt. Ihre Beschreibung begleitet mich bei meiner Arbeit. Sie beinhaltet nicht nur eine Definition von Ego-States, sondern zeigt ihr Wesen auf und öffnet damit den Raum, in dem wir uns bewegen. Sie beschreibt Ego-States als
»Energien der Persönlichkeit, die aus der Interaktion mit der Umwelt entstanden sind und oft der Notwendigkeit entspringen, Probleme zu lösen oder Konflikte zu bewältigen. Sie sind kreative Ausgestaltungen sowohl des Gehirns als auch der Persönlichkeit im Bemühen des menschlichen Organismus, durch die Welt zu kommen, in der er lebt. Jeder Ich-Zustand besitzt seine eigenen, relativ überdauernden Affekte, Körperempfindungen, Erinnerungen, Fantasien und Verhaltensweisen, und er hat auch seine eigenen Wünsche, Träume und Bedürfnisse. Ich-Zustände stehen in ähnlicher Beziehung zueinander wie Familienmitglieder. Obgleich sie voneinander getrennt sind, tauschen sie doch Informationen aus, stehen in ständiger Kommunikation, weisen sich Rollen zu, verfolgen gemeinsame Projekte, Zwecke und Ziele. Wie in Familien kann es auch hier Grüppchen und Allianzen geben und ebenso Feindseligkeiten und Konflikte.«
Diese Beschreibung weist auf das wichtigste Merkmal von Ego-States hin, das die Begegnung mit Menschen und damit die therapeutische Beziehung maßgeblich beeinflusst: Ego-States haben eine protektive Funktion. Sie dienen der Befriedigung von Grundbedürfnissen. Sie fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen, damit der Mensch in der Welt zurechtkommen kann, in der Umgebung, in der sich ein Mensch wiederfindet. Dieses Zurechtkommen kann im Extremfall bedeuten, überhaupt zu überleben. Dann entstehen Ego-States, damit der Mensch »wenigstens« überlebt. Das Verständnis der Entstehung und ihrer Funktion (s. auch Kap. 4) ist für die Ego-State-Therapie elementar. Wenn wir unseren Patientinnen dabei helfen, ein solches Verständnis mit einem emotionalen Erleben zu verbinden, ermöglichen wir neue psychotherapeutische Schritte und zeigen Wege der Veränderung auf.
Wenn Sie sich selbst betrachten, werden Sie feststellen, dass sich Ihr Verständnis für innere Anteile unterschiedlich verteilt. Es gibt sicherlich Anteile, für die Sie viel Verständnis aufbringen, für deren Wohlergehen Sie sich einsetzen würden, die Sie vorbehaltlos unterstützen möchten. Vielleicht gibt es aber auch andere Anteile, die Sie am liebsten irgendwie loswerden, ungeschehen machen und mit denen Sie sich schon gar nicht beschäftigen möchten. Auf diese unterschiedliche Verteilung gehe ich in Teil II des Buches ausführlich ein. Sie kennen es von Ihren Patientinnen und Patienten, wenn sie bestimmte Anteile ablehnen, eine Auseinandersetzung vermeiden oder ihnen diese Anteile gar nicht bewusst sind. Es kommt darauf an, die richtige Einladung mit den richtigen Worten auszusprechen, eine Bühne für die innere Arbeit zu eröffnen. Natürlich kann es nicht für jeden Patienten dieselbe Einladung sein. Aus diesem Grund ist es auch schwierig, dafür genaue Rezepte zu erstellen.
Fallbeispiel aus der Praxis
Die 45-jährige Patientin beschreibt eine grundlegende Unsicherheit, die sie in mehreren Lebensbereichen belastet und die für sie ein Lebensthema darstellt. Sie berichtet davon, wie sie sich in ihrem Beruf selbst blockiere, wie sich die Unsicherheit in ihrer Familie zeige, wie sie sich immer wieder gehemmt fühle und wie unwohl sie sich in sozialen Situationen fühle bzw. dass sie diese Situationen vermeide. Sie habe sehr starke Befürchtungen, etwas falsch zu machen. Aus Angst vor Fehlern oder sich unangemessen zu verhalten, beschäftige sie sich sehr viel mit Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle. Diese Selbstkontrolle mache eine offene Haltung für neue Erfahrungen fast unmöglich.
Gleichzeitig habe sie einen sehr hohen Anspruch an sich selbst und an andere. Der Anspruch sei kaum zu erfüllen, was ihr wiederum große Schwierigkeiten bereite. Wenn es um das eigene Verhalten gehe, sei sie defizitorientiert und nehme zuerst alles wahr, was aus ihrer Sicht einen Makel darstellen könnte. Zentrale Überzeugungen lauten: »Ich bin nicht wichtig. Ich mache es nicht richtig. Ich bin nicht gut genug.« Ihre Persönlichkeit sei von Introvertiertheit, Scham und einem Verschrecktsein geprägt.
Der Vater habe zwei Seiten gehabt. Neben einer humorvollen Seite sei er eher zwanghaft, dominant und sehr vorwurfsvoll gewesen. Immer habe er etwas an den Familienmitgliedern auszusetzen gehabt. Die Patientin berichtet in diesem Zusammenhang von qualvollen Situationen, in denen er sie regelrecht vorführte und daran noch Freude zu haben schien. Er bezog dabei ihr Verhalten, ihre Leistungen und auch ihr Aussehen mit ein und habe sich ausgiebig über sie lustig machen können. Er habe immer auf ihren Schwächen herumgehackt. Dies habe schon sadistische Ausmaße angenommen. Trotzdem sei sie eher ein Papakind gewesen. Die Mutter habe das Gegenteil des Vaters dargestellt. Sie sei sehr schüchtern, zurückhaltend und strebsam gewesen und habe ihrem Ehemann nichts entgegensetzen können. Sie habe sich in ihre Karriere gestürzt und weniger Interesse an den Kindern gezeigt.
Die Patientin leidet darunter, vor lauter Introvertiertheit, Scham und Unsicherheit ihr Leben bisher gar nicht gelebt zu haben. Sie achte sehr darauf, dass ihre Entscheidungen nicht Anstoß für mögliche Kritik seien und dass sie sich konform verhalte. Hätten andere eine abweichende Meinung, revidiere sie ihre eigene sofort. Als Kind sei sie sehr verträumt gewesen, was dann wiederum ein Grund für das Mäkeln des Vaters war. Erwachsen werden hieß für sie, korrekt und beherrscht zu sein.
Das Verträumte interessiert mich, und ich bitte die Patientin, mehr davon zu berichten. Es erweist sich als die Spitze eines sehr ressourcenreichen Eisbergs. Sie beschreibt nun eine völlig andere Seite, eine lebhafte und kreative Seite, die sie sich nie zu zeigen getraut habe, da sie natürlich nicht besonders gut angekommen sei. Nach außen werde diese Seite durch das Verträumte sichtbar. Im Inneren habe sie eine große Fantasie erlebt und sich damit eine eigene innere Welt kreiert. Bis heute habe sie manchmal – wie sie sie nennt – lebhafte Durchbrüche, die sie sich vorwerfe und derentwegen sie sich schäme. Das Lebhafte sei richtig quirlig, verspielt und lustig. Es gebe auch heute bestimmte Situationen, in denen sich diese Seite kurz melde, z. B. beim Sport.
Bereits in den ersten Behandlungsstunden wurden verschiedene wichtige Ego-States der Patientin deutlich. Da gab es das lebhafte Kind, das vom Vater in dessen sadistischer Art vorgeführt wird. Es fühlt sich ihm schutzlos ausgeliefert und erlebt eine Mutter, die sich dem Vater nicht entgegenstellt. Da gab es das Papakind, das versucht, die Bindung zum Vater aufrechtzuerhalten, indem es immer alles richtig macht und seine Lebhaftigkeit unterbindet. Nicht zuletzt gab es eine Art inneren Vater, einen Ego-State, der auch ohne die Anwesenheit des Vaters für die Erfüllung seiner Maßstäbe zuständig war und ist. Ich schlug der Patientin vor, mit diesen inneren Anteilen zu arbeiten, wobei ich nicht davon ausginge, dass wir bereits einen Anspruch auf Vollständigkeit erfüllten. Allein mit den Ego-States zu arbeiten, die sich bereits gezeigt hatten, hielte ich für sehr empfehlenswert und einen sinnvollen Einstieg.
Zwei Schritte möchte ich im Folgenden kurz darstellen. Der erste Schritt bestand darin, einen Kontakt zum lebhaften Kind herzustellen. Ich half der Patientin, diesen Kontakt über eine Affektbrücke mit der Emotion »Scham« (siehe Teil II) aufzubauen. Es tauchte eine Situation auf, in der sie fünf Jahre alt war und vom Vater auf seine typische Art bloßgestellt wurde. Die Patientin konnte einen emotionalen Kontakt herstellen und die Not der Fünfjährigen spüren. Ihr war auch klar, was sie am dringendsten benötigt, und zwar Schutz, dass jemand für sie Partei ergreift, und eine Erlaubnis, lebhaft und lustig sein zu dürfen. Sie kam ebenfalls mit dem Lebhaften und Kreativen der Fünfjährigen in Kontakt, was sie nachhaltig beeindruckte. Das innere Verbot der Lebhaftigkeit und Kreativität begann sich zu verändern.
Der zweite Schritt bestand darin, den Versuch zu unternehmen, einen Kontakt mit dem inneren Vater aufzubauen, mit dem Ziel, diesen Ego-State mit in die Arbeit einzubeziehen. Anlässe zu finden, bei denen sich der innere Vater meldet, fiel der Patientin leicht. Er schien ja permanent anwesend zu sein, sie Schritt und Tritt zu verfolgen und mit entsprechenden Kommentaren zu versehen. Er sieht sofort die Schwächen, macht auf Fehler aufmerksam, ermahnt, wenn es doch einmal zu emotional werden könnte, und quält die Patientin. Für den zweiten Schritt schlug ich ihr die Arbeit mit einem Konferenzraum vor (siehe Teil II). Ich versuchte damit, ihr die Möglichkeit zu eröffnen, den inneren Vater zu einem Gespräch einzuladen. Nachdem dies gelungen war, ging es darum, ihn besser kennenzulernen. Der innere Vater erschien in der Gestalt des äußeren Vaters im Alter von ungefähr 50 Jahren. Er sei schon immer bei ihr gewesen und dafür zuständig, dass sich die Patientin angemessen benehme. Ich fragte, was denn geschehen würde, wenn sie dies nicht mache. Sie würde noch mehr angegriffen und abgewertet und könnte das letzte bisschen Bindung zum Vater verlieren. Vorsichtig und ohne zu kompromittieren, brachte ich dem inneren Vater meine Würdigung entgegen. Ich brachte zum Ausdruck, dass ich seine Aufgabe für eine sehr schwierige halte und dass ich »diesen Job« nicht gerne hätte machen wollen, dass ich aber auch gut verstehe, warum es nicht anders ging und dass es jemand machen musste. Einer musste dafür sorgen, den Ansprüchen des Vaters wenigstes annähernd zu genügen, um die Bindung nicht aufs Spiel zu setzen. Eine Alternative hat es nicht gegeben. Nach der Würdigung sprach ich mit dem inneren Vater über den Unterschied des äußeren und inneren Vaters. Beispielsweise war die Frage zu klären, ob er denn nun zum äußeren Vater gehöre, der bereits verstorben ist, oder zur Patientin. Zu diesem Thema gehörte auch der wichtige Punkt seiner Funktion, dass er letztlich für die Patientin sorgen will, eben nur auf seine eigene Weise und mit ziemlich großen Scheuklappen. Im Gesprächsverlauf wurde er zunehmend freundlicher und ließ sich immer mehr auf den Kontakt ein. Interessanterweise beschrieb die Patientin, dass er sich gewandelt habe und nun weicher und weiblicher wirke. Die innere Bühne für den Veränderungsprozess war eröffnet.
Für die Beschäftigung mit der Entstehung, Entwicklung und Funktion der Ego-States möchte ich Sie zu einem Ausflug zur Konzeption der Entstehung psychischer Störungen sowie der Wirkungsweise von Psychotherapie von Klaus Grawe (1998, 2004) einladen. Es ist ein Ausflug in die Schweiz nach Bern, wo er an der Universität den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie innehatte, und nach Zürich, wo er lebte. An beiden Orten entstanden seine Ansätze, die ich als grundlegend für mein heutiges Verständnis der Ego-State-Therapie erachte. Ich möchte im Folgenden auf die wichtigsten theoretischen Aspekte eingehen. Sollten Ihnen die Ausführungen zu trocken sein, könnten Sie kühle Abwechslung finden, indem Sie in Bern einen mutigen Sprung in die Aare wagen oder in Zürich ein paar Stationen mit dem Schiff auf dem Zürichsee fahren. Sollten Sie durch die Ausführungen neugierig geworden sein, empfehle ich Ihnen die überaus gewinnbringende Lektüre seines Buches Neuropsychotherapie (2004), in dem es um viel mehr geht als nur um Neurowissenschaft.
Klaus Grawe stellt in seiner Konzeption den Zusammenhang der Bedürfnisbefriedigung und der psychischen Gesundheit her. Wenn wir uns die physiologischen Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlaf etc. anschauen, wird klar, dass die Evolution in dieser Hinsicht vorgesorgt hat, wie Grawe schreibt (2004, S. 184). Tritt ein Mangelzustand im Organismus auf, hat sie vorgesorgt, indem wir mittels einer automatischen Aktivität darauf ausgerichtet werden, den Mangelzustand zu beheben. Wir verschaffen uns etwas zu essen oder müssen uns ausruhen usw. Unsere physiologische und neuronale Ausstattung ermöglicht uns die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse. Neben den physiologischen beschreibt Grawe nun vier psychologische Grundbedürfnisse. Er beruft sich dabei zum großen Teil auf Seymour Epsteins Cognitive-experiental self-theory (CEST, 1990, 1993) und hebt die vielen Hinweise dafür hervor,