Predigtstudien 2023/2024 - 2. Halbband -  - E-Book

Predigtstudien 2023/2024 - 2. Halbband E-Book

0,0
21,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Predigtstudien sind eine bewährte Arbeitshilfe für die qualifizierte und fundierte Predigtvorbereitung. Sie enthalten praxisorientierte Anregungen für die Predigt und die Gestaltung des Gottesdienstes. Jeder Predigttext wird von zwei Theologinnen und Theologen aus Gemeindearbeit, Kirchenleitung und Wissenschaft bearbeitet. Dieser Dialog verbindet wissenschaftliches Niveau mit homiletischer Praxis.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 512

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Predigtstudien

Herausgegebenvon Birgit Weyel (Geschäftsführung),Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,Wilhelm Gräb (†), Doris Hiller, Christopher Spehr,Christian Stäblein und Manuel Stetter

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände

Predigtstudien

für das Kirchenjahr 2023/2024

Perikopenreihe VI – Zweiter Halbband

Herausgegebenvon Birgit Weyel (Geschäftsführung),Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,Wilhelm Gräb (†), Doris Hiller, Christopher Spehr,Christian Stäblein und Manuel Stetter

Redaktion: Fritz Röcker

Darstellungsschema

A-Teil: Texthermeneutik

IEröffnung

IIErschließung des Textes

IIIImpulse

Was veranlasst zu einer Predigt mit diesem Text?

Welche Überzeugung vertritt der Verfasser des Textes? Welche existenziellen Erfahrungen ruft der Text auf? Wie verstehe ich heute den Text?

Was folgt aus meiner Textinterpretation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

B-Teil: Situationshermeneutik

IVEntgegnung

VZur homiletischen Situation

VI Predigtschritte

Wo ich A nicht folgen kann! Was leuchtet mir ein? Was sehe ich kritisch?

Welche existenziellen Erfahrungen und exemplarischen Situationen habe ich bei meiner Predigt mit diesem Text im Blick?

Was folgt aus meiner Interpretation der Situation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

© Verlag Kreuz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig

Konvertierung: Bookwire

eISBN 978-3-451-83027-3

ISBN 978-3-451-03455-8

Inhalt

Leitlinien

Zum Umgang mit biblischen Texten im Vorfeld der Predigt

Wilfried Engemann

09.05.2024Christi Himmelfahrt

Apostelgeschichte 1,3–11

Frohgemut auf den Himmel hoffen

Christoph Vogel/Christian Witt

12.05.20246. Sonntag nach Ostern (Exaudi)

Johannes 16,5–15

Von der Melancholie des Endes und der Ankündigung eines unverhofften Neubeginns

Nele Chiara Neidiger/Marko Jesske

19.05.2024Pfingstsonntag

Ezechiel 37,1–14

Lebendig werden

Heinz-Dieter Neef/Birgit Weyel

20.05.2024Pfingstmontag

Epheser 4,(1–6)11–15(16)

Vielfalt feiert Einheit

Martin Vetter/Susanne Wolf

26.05.2024Trinitatis

Epheser 1,3–14

In Vielfalt einig – wie im Himmel, so auf Erden?

Astrid Edel/Frank Lütze

02.06.20241. Sonntag nach Trinitatis

Jeremia 23,16–29

Nein! Und Ja?

Martin Hofmann/Wiebke Bähnk

09.06.20242. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 2,(11–16)17–22

Kirche an der Wirksamkeitsschwelle

Peter Meyer/Lars Charbonnier

16.06.20243. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 15,1–3.11b–32

Die unverlorenen Söhne

Jan Roßmanek/Kathrin Oxen

23.06.20244. Sonntag nach Trinitatis

1Samuel 24,1–20

(K)eine Heldentat

Ute Niethammer/Julia Kaiser

30.06.20245. Sonntag nach Trinitatis

2Korinther (11,18.23b–30)12,1–10

Stark und schwach zugleich

Christine Siegl/Antonia Rumpf

07.07.20246. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 8,26–39

Eine Road-Novel mit Taufe

Christa Usarski/Renate Gerhard

14.07.20247. Sonntag nach Trinitatis

2Mose 16,2–3.11–18

»Quelle und Brot in Wüstennot«

Katharina Fenner/Stefanie Arnheim

21.07.20248. Sonntag nach Trinitatis

Epheser 5,8b–14

Treib aus, o Licht, all Finsternis

Carsten Claußen/Traugott Roser

28.07.20249. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 13,44–46

Freude, die in Bewegung setzt

Beate Kobler/Maria Katharina Moser

04.08.202410. Sonntag nach Trinitatis/Israelsonntag: Kirche und Israel

Sacharja 8,20–23

»Jerusalem – erfahre Auferstehen!« (Lasker-Schüler)

Kristina Kühnbaum-Schmidt/Ralf Meister

11.08.202411. Sonntag nach Trinitatis

Galater 2,16–21

Von der Angst, mit anderen den Tisch zu teilen

Klaus-Dieter Kaiser/Rüdiger Sachau

18.08.202412. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 13,10–17

Wann beginnt das Heil für mich?

Johannes Vortisch/Anna-Maria Semper

25.08.202413. Sonntag nach Trinitatis

3Mose 19,1–3.13–18.33–34

Er ist wie du. Gottesdienst im Alltag der Welt

Ernst-Michael Dörrfuß/Dörte Bester

01.09.202414. Sonntag nach Trinitatis

Römer 8,14–17

Heilige Trotzkraft

Bente Küster/Alexander Dietz

08.09.202415. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 6,25–34

Was helfen uns die schweren Sorgen?

Michael Rydryck/Michael Schneider

15.09.202416. Sonntag nach Trinitatis

Psalm 16,(1–4)5–11

Leben ist eine prima Alternative!

Helge Martens/Christian Butt

22.09.202417. Sonntag nach Trinitatis

Galater 3,26–29

Gemeinschaft der Getauften

Angela Rascher/Christopher Spehr

29.09.202418. Sonntag nach Trinitatis

1Petrus 4,7–11

Das Ende aller Dinge – Gastfreundschaft und Liebe statt Endzeitstimmung

Bernhard Liess/Rainer Mogk

06.10.2024Erntedankfest

1Timotheus 4,4–5

Lasst es euch schmecken!

Doris Hiller/Regina Sommer

06.10.202419. Sonntag nach Trinitatis

2Mose 34,4–10

Verbindliche Verlässlichkeit

Torsten-Wilhelm Wiegmann/Barbara Hanusa

13.10.202420. Sonntag nach Trinitatis

2Korinther 3,3–6(7–9)

Pfingsten im Herbst

Matthias Lemme/Christian Nottmeier

20.10.202421. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 5,38–48

Aktenzeichen F (Feind)

Redlef Neubert-Stegemann/Matthias Kempendorf

27.10.202422. Sonntag nach Trinitatis

Micha 6,1–8

Exodus zu Gott und Güte

Felix Roleder/Jörg Schneider

31.10.2024Gedenktag der Reformation

Römer 3,21–28

Was macht mich aus? Über Anerkennung und Rechtfertigung

Horst Gorski/Frank Hofmann

03.11.202423. Sonntag nach Trinitatis

Römer 13,1–7

Kein Gottesstaat

Manuel Stetter/Birgit Weyel

10.11.2024Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Micha 4,1–5(7b)

… den kommenden Frieden sehen

Kristin Weingart/Johannes van Oorschot

17.11.2024Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres

Römer 14,(1–6)7–13

Ringen um Einigkeit

Marcel Brenner/Stephan Seidelmann

20.11.2024Buß- und Bettag

Lukas 13,(1–5)6–9

Zeit zu leben, Zeit zu handeln

Katharina Krause/Verena Mätzke

24.11.2024Letzter Sonntag des Kirchenjahres: Ewigkeitssonntag

Psalm 126,1–6

Rhetorik der Ambiguität

Christian Stäblein/Manuel Stetter

24.11.2024Letzter Sonntag des Kirchenjahres: Totensonntag

Psalm 90,1–14(15–17)

Denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon

Antje Eddelbüttel/Holger Treutmann

Vergleichstabelle zur neuen Perikopenreihe VI

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Leitlinien zum Umgang mit biblischen Texten im Vorfeld der Predigt. Eine Bilanz des Dialogs zwischen Exegese und Homiletik

Wilfried Engemann

Die Predigtstudien sind seit ihrer Etablierung vor 55 Jahren als einzige homiletische Arbeitshilfe von der Doppelperspektive auf Text und Situation bestimmt. Sie schlägt sich konzeptionell in den »Richtlinien« für den Teil A und B nieder (vgl. die Kurzfassung S. 4), wobei den Autoren durchaus bewusst ist, auch die jeweils andere Perspektive mit im Blick haben zu müssen. Bei der Erarbeitung einer Predigt kommt es ja darauf an, auf Texte und Situationen bezogene Betrachtungsweisen (von der Beschäftigung mit der Sprache und Gestalt der Predigt sowie mit der eigenen Person ganz zu schweigen) im Interesse einer relevanten, verständlichen und überzeugenden Rede zusammenzubringen.

Dass die exegetische und homiletische Zunft auch außerhalb der Predigtstudien in diesen Fragen eng zusammenarbeiten,1 ist insofern folgerichtig, als sich die Gründe für die Entstehung und den Bedarf biblischer Texte einerseits und zeitgenössischer Predigten andererseits ähneln: Hier wie dort bringen Menschen in ganz unterschiedlichen Situationen – oft genug unter verstörenden Zeiterfahrungen – zur Sprache, was es heißt, »aus Glauben zu leben«. Ob nun in leidenschaftlichen Briefen, spannenden Geschichten, in entschlossenen Manifesten und programmatischen Visionen, ob in geheimnisvollen Erzählungen, poetischen Versuchen und mentalen Bildern – oder in einem sich rhetorisch brillant positionierenden Plädoyer auf der Kanzel: Personen, denen das Schreiben oder Reden gegeben ist, greifen religiöse Traditionen auf, nehmen sie unter je gegenwärtigen Lebensumständen neu in Anspruch – und setzen sie dabei fort. Ein höchst brisantes Unterfangen, das sich da in biblischen Texten und Predigten abspielt.

Was in den Teilen A und B der Predigtstudien von Band zu Band geschieht bzw. erwartet wird, ähnelt in vielen Punkten der oben angesprochenen text- und situationshermeneutischen Doppelperspektive, ohne die weder Texte verstanden noch Predigten erarbeitet werden können. Im Folgenden habe ich versucht, die damit verbundenen Herausforderungen schlaglichtartig in den Blick zu nehmen und in zwölf Thesen auf den Punkt zu bringen. Diese Leitsätze sollen zugleich der gemeinsamen Verständigung und Vergewisserung über die Aufgabe der Predigtstudien dienen.

1. Den Text als Literatur verstehen

Angesichts des enormen religionsgeschichtlichen Zeitrahmens, über den sich die Entstehung der biblischen Zeugnisse erstreckt (etwa 1300 Jahre2 bzw. 45 Generationen), schätze ich an der Exegese, dass sie es mir ermöglicht, einen Bibeltext als ein höchst individuelles, eigensinniges, in Raum und Zeit verankertes Stück Literatur mit begrenzter Reichweite in den Blick zu bekommen. Ihre Instrumentarien erlauben es mir, den Text zu fragen: Was ist passiert? Welche Erfahrung verarbeitest du? Was ist dein Problem? Welche Auffassung vertrittst du in dieser Sache? Was sind deine Beweggründe? Was ist deine Vision? Mit welchen Argumenten machst du dich dafür stark?

Biblische Texte entstanden im Prinzip unter den gleichen Bedingungen wie Literatur sonst. Ich habe Entscheidendes für den Umgang mit biblischen Texten verstanden und bin gegen jeglichen Textfundamentalismus gewappnet, wenn ich diese Bedingungen kenne – und es ist heute vielleicht besser denn je möglich, sie zu kennen.

2. Den ganzen Text sprechen lassen

Den Text als Literatur verstehen zu wollen, schließt ein, ihn als ganzen Text zu brauchen, als textum, als zusammenhängendes Gewebe. Es gilt, den zum Teil verschlungenen Pfaden seiner sinngenerierenden und sinnverweigernden Struktur zu folgen und nach Möglichkeit zu einem situationsbezogenen Gesamtverständnis vorzudringen: Die Vertiefung einzelner Begriffe, die Sondierung der Verfasserfrage, der Vergleich mit ähnlichen Texten u.a.m. – alles das sollte mir schließlich helfen zu verstehen, warum es diesen Text gibt, wofür es ihn brauchte, wofür er vielleicht eine Lösung sein sollte.3

Der Anspruch, zu einem Gesamtverständnis vorzudringen, ist der Notwendigkeit geschuldet, den Text in seiner Funktion zur religiösen Daseinsbewältigung in den Blick bekommen zu müssen – als eine intellektuell oft anspruchsvolle Neuinterpretation sowohl der damaligen Situation als auch der Tradition: Da setzt jemand, indem er schreibt, einen Impuls frei, mit dem er ein bestimmtes Denken vorschlägt, eine Haltung favorisiert oder eine neue Sicht der Dinge eröffnet. Um diesen Text zu verstehen, muss ich sowohl die Motivation dieses Impulses kennen als auch einschätzen können, was welchen Lesern in welcher Situation damit vorgeschlagen bzw. zugemutet oder zugetraut wird.

3. Nach Beweggründen und Situationen fragen

Ein Gesamtverständnis vom Text zu gewinnen ist zudem unentbehrlich für die Erkundung relevanter Analogien zwischen Situationen und Beweggründen damals und heute, sofern uns daran liegt, in der Kommunikation des Evangeliums von damals bis heute eine Tradition sehen zu wollen – und sei es eine Tradition mit Brüchen, Veränderungen, Variationen, Reformen. Der in einem Text jeweils aufscheinende, den Text mitbedingende, ihn sowohl gebärende als auch fragmentarisch in ihn hineingeschriebene Situationsbezug ist ein Analogiemodell für die wiederum kasuelle Ausrichtung einer Predigt, für die Lebensdienlichkeit der Kommunikation des Evangeliums. Bibeltexte sind als Literatur – jedenfalls im Prinzip – so situationsgeladen, dass sie ohne Berücksichtigung der Umstände, die sie hervorbrachten, in der Regel falsch verstanden werden. Es hängt also viel davon ab, zur historischen Situation so weit als möglich vordringen zu können und vom Text eine Antwort auf die Frage zu bekommen: Warum gibt es dich? Wer brauchte dich wofür?4

4. Mit der Unzeitgemäßheit eines Textes rechnen

Sich als relevant erweisende Literatur zeichnet sich nicht selten dadurch aus, dass sie in den Diskursen ihrer Zeit gerade nicht aufgeht, sondern dass sie eine gegebene historische Situation visionär überschreitet, das Leben ihrer Zeitgenossen unter veränderten Umständen antizipiert und dafür eine neue Sprache findet. Das schlägt sich unter anderem auch in neuen Begriffen und Symbolen, in neuen Themen – und letztlich auch in Variationen des Mythos nieder, eben weil die Sprache der Religion eine mythische ist. Dabei kann das Fassungsvermögen der Leser zweifellos überdehnt werden.

Wenn wir also darauf bestünden, einen biblischen Text – mit seinen manchmal sperrigen Begriffen und befremdlichen Ideen – immer ganz aus seinem historischen Kontext heraus erklären zu wollen, bliebe es uns wohl des Öfteren versagt, dessen eigene hermeneutische Leistung in den Blick zu bekommen und angemessen zu würdigen. Deshalb lohnt sich die Frage: Womit rechnet dieser Text?

5. Die Welten des Textes begehen

Texte geben bei einer historisch-kritischen Betrachtung jeweils nur einen Teil ihrer Bedeutung preis. Dem entspricht es, dass sich das Repertoire literaturwissenschaftlicher Modelle zur Interpretation von Texten in den letzten Jahrzehnten weit aufgefächert hat.5

Was diese Ansätze verbindet, ist der Versuch, bei der Interpretation eines Textes nicht nur dessen historische Welt zu erfassen und einen »textexternen Autor« zu ermitteln. Es gilt, sich darüber hinaus auf eine Begehung der in einen Text gleichsam eingebauten, für ihn entworfenen, in ihm auflebenden, erzählten und beobachtbaren Welt einzulassen und entsprechende Rollen zu übernehmen.6Eine dieser Rollen ist die des sich nicht mehr entziehen könnenden, in die Geschichte unmittelbar verwickelten Zeugen, der sich vom impliziten Erzähler an die Hand nehmen lässt und auf eine ganz besondere Art und Weise zum »Täter des Wortes« wird. Zum Verständnis eines Textes genügt es nicht, sich nur eine seiner Welten anzueignen; seine strukturelle und semantische Individualität, sein Idiolekt, seine Pointe ergeben sich aus dem symbiotischen Zusammenspiel aller Ebenen eines Textes.

6. Den Fluchtpunkt der Predigt setzen

Die bis jetzt genannten Facetten der Annäherung an den Text laufen darauf hinaus, sich – neben anderen Faktoren bei der Vorbereitung einer Predigt – von der Struktur des Textes, von seinem Gehalt und der damit verbundenen Positionierung bedingen zu lassen. Das heißt: Ich lasse den Text ausreden und mich von ihm beeinflussen, indem ich seinen Verstehensbedingungen folge. Im Idealfall stoße ich auf einen Erfahrungskern, der mir die Motivation des Textes erschließt.

Diesen Text – seine Erfahrung, seine Botschaft, sein Verständnis vom Menschen und vom Glauben usw. – in die homiletische Arbeit zu integrieren, heißt aber keineswegs, ihm nun endlich recht geben zu müssen, mich vor allem mit ihm zu solidarisieren, ihn beim Predigen die ganze Zeit hinter mir herzuschleifen, ihn dauernd zu zitieren oder ihn ratzfatz zu aktualisieren. Sondern ich muss beim Predigen meinerseits darlegen, was Leben aus Glauben heute heißt. Bei der Annäherung an die Lebenswelt meiner Hörerschaft muss sich erst noch zeigen, in welcher Hinsicht ich mich auf den Text beziehen werde, ob das etwa in erstaunter Faszination oder respektvoller Distanzierung geschehen wird.

Für die Relevanz meiner Predigt ist es jedenfalls nicht entscheidend, dass ich schlussendlich eine Punktlandung im Herzen des Textes oder neben seinem historischen Autor hinbekomme – und dass die Gemeinde endlich weiß, »was der Text damals wollte«. Im Hören auf eine Predigt sollen die Hörerinnen und Hörer an ihr Leben herangeführt werden, sich umfassender als vorher auf ihr Leben verstehen und vielleicht einen Schritt in die Freiheit tun. Dazu ist es nötig, einen Fluchtpunkt zu setzen, der nicht in den Text zurückführt, sondern in der Lebenswelt der Gemeinde verankert ist und diejenige Situation markiert, auf die die Predigt sich bezieht.

Eine Predigt sucht daher nicht nach brisanten Stories, um der Gemeinde die Möglichkeit zu geben, einen komplizierten Text laien-theologisch korrekt einordnen zu können; sondern umgekehrt: Weil in unserem Leben Brisantes, Bewegendes, Umwerfendes und Bodenloses geschieht, befassen wir uns mit Texten – in dem Wissen, nicht die ersten zu sein, denen so etwas passiert.

7. Einen Text gut gebrauchen können

Es geht hier um eine der den homiletischen Prozess prägenden Dialektiken.7 Was die Arbeit mit dem Text angeht, ist es die Dialektik zwischen dem Gebrauch und Verbrauch eines Textes.8 Sie ist ein unvermeidlicher Begleitumstand einer kontinuierlichen, aber gleichwohl dynamischen Verbindung zwischen einer Predigt und ihrem Text. Sie kann dazu führen, dass der Text im Gebrauch für die Predigt in dem Sinne »aufgebraucht« wird, dass er, zumindest in der Wahrnehmung der Hörer, als eigenes Strukturelement der Predigt gar nicht explizit in ihr aufscheint – wie es zum Beispiel in konsequent durchkomponierten narratologischen Predigten der Fall sein kann. Die Kontinuität zwischen Text und Predigt ist inhaltlicher Art. Weil sie auf Verstehen setzt, ist sie meist nicht selbstverständlich, sondern oftmals überraschend und trotzdem evident.

8. Den Text historisch werden lassen

Wer unter Einbeziehung fremder Texte, die nicht an uns gerichtet sind und zudem seit Jahrtausenden immer das Gleiche sagen, an einer relevanten, wiederum eigensinnigen und doch gut verständlichen Predigt arbeiten will, steht vor einer Herausforderung ganz besonderer Art: Es gilt, den biblischen Text im Prozess seines Gebrauchs in dem Sinne historisch werden zu lassen, als er an der Geburt eines neuen Textes, eben der Predigt, teilhat.

Die auf den Züricher Literaturwissenschaftler Klaus Weimar zurückgehende Vorstellung vom Historisch-Werden eines Textes9 soll verhindern, den Gewinn der Arbeit mit historischen Texten in der Möglichkeit ihres historischen Wiederauflebens zu sehen, also darin, immer dichter an die Texte heranzurücken, immer tiefer in sie vorzudringen und schließlich als Leser und Interpret aus der eigenen Gegenwart zu verschwinden.

Die Konsultation eines Textes im Interesse einer Predigt sollte vielmehr dazu führen, gleichsam mit dem »Segen des Textes« von ihm aufzubrechen und artikulieren zu können, was im Blick auf unser Leben heute auf dem Spiel steht.

9. Verstehen und predigen, was nicht im Text steht

Es ist keine Panne, sondern ein hermeneutisches Prinzip, wenn ich predige, was nicht im Text steht, und wenn die einzelnen Hörerinnen und Hörer mehr vernehmen, als ich gesagt habe. Die zunächst gerüchteweise erfolgte und später verschriftete Überlieferung des christlichen Glaubens vollzog – und vollzieht sich bis heute – als eine successio hermeneutica. Sie basiert auf einem unabweisbaren »Du-bist-dran!«, auf einem (dem Prozess der Überlieferung eingewurzelten) Existenzbezug bei der Verständigung über das, »was wir gesehen und gehört haben« (1Joh 1,3).

Die Autoren der Evangelien und Briefe des Neuen Testaments beschränken sich aber gerade nicht auf die bloße Weitergabe dessen, was sie – an der Quelle sitzend – gesehen und gehört hätten. Sie fügen hinzu, was sie sich als Erzähler und Schreiber jeweils dabei gedacht haben, wie sie das Vorgefallene angesichts der Lage der Dinge einordnen und deuten. Wer predigt, verfährt mit dem Text als einer seiner Quellen analog. Was biblischen Autoren und predigenden Personen billig ist, ist schließlich auch den Hörenden einzuräumen: dass sie die Predigt als Quelle gebrauchen können und mehr hören, als im Manuskript steht.

Der Effekt einer guten Predigt zeichnet sich nicht dadurch aus, dass man sie nach dem Gottesdienst lückenlos rekapitulieren, sondern sagen kann oder zu ahnen beginnt, was das Gehörte jeweils unter den Bedingungen des eigenen Lebens bedeutet. So werden die Hörer je und je zu ultimativen Vermittlern zwischen Tradition und Situation.

10. Dem Text die Treue halten – und von ihm aufbrechen

Texttreue manifestiert sich in unserem Bemühen, einem Text – zu den von ihm vorgegebenen Konditionen – auf den Grund zu kommen, vielleicht fast so weit, davon träumten die Exegeten der Aufklärung, dass wir einem historischen Autor aequi werden und sein Schriftzeugnis beinahe so gut verstehen wie er selbst. Schon bei der Vorbereitung auf die Predigt müssen wir aber zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder vom Text aufbrechen, und zwar mit einem Verständnis, das wir dem Text zwar nicht 1:1 entnehmen konnten, zu dem wir aber ohne ihn nicht gelangt wären. Texttreue manifestiert sich daher schließlich in einer Initiative. Sie besteht darin, nach den Regeln der rhetorischen und hermeneutischen Kunst in die Gegenwart durchzubrechen.

Dabei geht es nicht um vordergründige »Aktualisierungen«, die den Eindruck vermitteln, eine vor Jahrtausenden deponierte Aussage einfach »reformulieren« zu können. Analogiebildungen unterstellen, dass zwischen der historischen und der erzählten Welt, die einen Text bedingen, einerseits, und Erfahrungen heute andererseits Ähnlichkeiten bestehen können. Ich frage folglich nach Korrespondenzen zwischen der Situation, in die hinein der Text sprach, und jener Situation, um derentwillen ich predigen werde: Kehrt das Grundmuster der Geschichte, die der Text erzählt, in der Gegenwart wieder? Welche Personen, welche Konflikte, Spannungen, Lösungsperspektiven müssten bei der Vorbereitung der Predigt an die Stelle der Problemskizze des Textes treten?

Analogiebildungen haben nichts mit Gleichmacherei zu tun, wie sich zum Beispiel beim sachgerechten Umgang mit Gleichnissen zeigt. Gerade wegen der Unterschiede zwischen den Gliedern einer angestrebten Gegenüberstellung wird es ja überhaupt erst notwendig, nach einem möglichen Vergleichspunkt – einem ἀνάλογον (analogon) – zu fragen.

11. Die Autorität und Heiligkeit der Texte respektieren

»Autorität« und »Heiligkeit« sind im Kern Kommunikationserfahrungen und damit eine hermeneutische Kategorie.10

Dass einzelne Überlieferungen der jüdisch-christlichen Tradition im Laufe der Jahrhunderte zum Vademecum der Kirche wurden, gar als Heilige Schrift empfunden werden konnten, war nur möglich, weil sie als Glaubenszeugnisse menschlicher Daseinsbewältigung verstanden wurden und die Referenz auf diese Texte sich als lohnend erwiesen hat. Autorität und Heiligkeit sind Qualitäten, die in Kommunikations- und Rezeptionsprozessen gewonnen und verloren werden. Das Empfinden von Autorität – und deren Steigerung, die kollektive Zuschreibung von Heiligkeit – sind ein nicht erzwingbarer Widerhall der Erfahrung von Respekt. Er stellt sich beim Hören oder Lesen dadurch ein, dass man nicht nur etwas versteht, sondern sich selbst neu zu verstehen gegeben wird. In dieser Funktion muss sich Autorität immer wieder bewähren, sonst »verliert sie sich«, »schwindet« – und wird nur noch als angemaßte Autorität empfunden, auf die man pochen muss, weil man sie nicht hat.

Autorität – und infolgedessen Würde und Heiligkeit – werden biblischen Texten umso eher beigemessen, je klarer sie als existenzrelevante Lebens- und Glaubenszeugnisse, also als Menschentexte in den Blick kommen. Ihre traditionsbildende Rezeption basiert ihrem Wesen nach nicht auf einer kirchlichen Anordnung, sondern ist die Konsequenz ihres lebensdienlichen Gebrauchs.

12. Sich eine Stellungnahme abringen lassen

Im Akt der Rezeption und Interpretation der biblischen Texte setzen Glaubende die Tradition, aus der sie kommen, fort. Dabei werden sie unter Umständen selbst zu Autoritäten im Bezeugen des Evangeliums, wobei sich zeigt, dass der Autorität der biblischen Zeugnisse nicht durch Bejahung, Zustimmung oder Für-Wahr-Halten entsprochen wird. So lassen sie uns nicht davonkommen. Als glaubwürdiges Zeugnis, als gültiges Muster für ein Leben aus Glauben ringen sie dem, der sie wo und wann auch immer rezipiert, eine eigene Stellungnahme ab, was nicht nur mit einer successio hermeneutica, sondern letztlich auch mit einer successio auctoritate einhergeht: Wer etwa mit einem Paulusbrief predigt, kommt nicht darum herum, an irgendeinem Punkt selbst zum »Paulus der Gemeinde« zu werden, um nicht »falsch Zeugnis zu geben wider seinen Nächsten«11.

Die in der Bibel verschrifteten Zeugnisse sind notwendigerweise nur eine Zwischenstation der Überlieferung des Glaubens. Indem ich predige, setze ich sie fort.

1Das zeigte sich z. B. auf dem XVII. Europäischen Kongress für Theologie (Zürich 2021), als sich Vertreterinnen und Vertreter aus den exegetischen und praktisch-theologischen Disziplinen zusammengetan hatten, um in mehreren gemeinsamen Sitzungen zu erörtern, worum es beim Greifen nach »heiligen Texten« geht und worauf es beim Lesen, Interpretieren und Predigen biblischer Texte ankommt. Bei dem hier vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine neubearbeitete und stark gekürzte Fassung eines Vortrags, der auf diesem Kongress gehalten wurde. Vgl. Wilfried Engemann, Wege zum Text, im Text, mit dem Text – und aus ihm heraus. Zwölf literatur-wissenschaftlich-hermeneutische Thesen zum homiletischen Umgang mit biblischen Texten, in: Konrad Schmid (Hg.): Heilige Schriften in der Kritik. XVII. Europäischer Kongress für Theologie (VWGTh 68), Leipzig 2022, 606–613.

2Erste Spuren des Pentateuchs und Elemente des Buches Josua führen ins 12. Jahrhundert v.Chr.; die Entstehung der jüngsten Schrift des Neuen Testaments, des 2. Petrusbriefs, ist etwa um die Mitte des 2. Jahrhunderts n.Chr. anzusetzen (130–140). Somit ergibt sich für die Entstehung der biblischen Schriften ein Zeitraum von reichlich 1300 Jahren.

3Natürlich ändert sich das Anliegen eines Textes nicht alle zehn Verse; eine Perikope ist Teil eines größeren Dokuments mit einem bestimmten Grundanliegen, das gleichwohl in mehreren Argumentationsgängen oder Erzählsträngen entfaltet und präzisiert wird. Es ist jedoch wichtig, den größeren Kontext zu kennen und einen Begriff davon zu haben, welche Facette, welcher Aspekt, welches Problem gelebter jüdisch-christlicher Religion im jeweiligen Textzusammenhang im Vordergrund steht.

4Erläuterungen dazu bei Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, 3., durchgehend neu bearbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage, Tübingen 2020, 353–369.

5Wilfried Engemann, Texte über Texte, PrTh 35/3 (2000), 227–245.

6Zum Kooperationsmodell vgl. Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, s. o. Anm. 4, 163–174.

7Zu dieser und anderen homiletischen Dialektiken vgl. a. a. O., 258–263. Weitere solche Dialektiken sind zum Beispiel die von Zuschnitt und Offenheit im Blick auf die Struktur der Predigt, sowie bezüglich der Rolle des Predigers die Dialektik von Treue und Eigeninitiative.

8A. a. O., 171–173.

9Vgl. Klaus Weimar, Enzyklopädie der Literaturwissenschaft, Tübingen/Basel [1980] 21993, 170–177.

10Vgl. dazu die Ausführungen bei Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, s. o. Anm. 4, 187–192.

11Die Verknüpfung der Herstellung von Texten mit dem 8. Gebot geht auf den amerikanischen Dichter Ezra Pound zurück: Wer sich nicht um die Form der Botschaft kümmere, die er mitteilen wolle, wer sich also auf sein Handwerk nicht verstehe, »lege falsches Zeugnis ab« und verstoße damit gegen das 8. Gebot. Dieser Gedanke wird in literaturkritischen Essays gern zitiert, in den von mir recherchierten Texten jedoch immer ohne Quellenangabe, zuletzt bei Wolfgang Hegewald, Vom achten Gebot, in: Neue deutsche Literatur 46/1 (1998), 36–44.

Christi Himmelfahrt – 09.05.2024

A

Apostelgeschichte 1,3–11

Frohgemut auf den Himmel hoffen

Christoph Vogel

IEröffnung: »Was steht ihr hier und seht (fest und starrt) gen Himmel?« (V.11)

Das stehende Gottesvolk: eingeschüchtert durch stetig sinkende Mitgliederzahlen, entmutigt durch gesellschaftlichen Resonanzverlust, ausgehebelt durch indifferentes Desinteresse, dem »beißenden Geist der Neuzeit« (Marquardt, 406) ausgesetzt. Es steht da, starrt zum Himmel. Trauert dem nach, was vergangen, was entschwunden, was so schön gewesen ist, als es noch gegenwärtig war: kirchliche Berufe als Berufe mit Ansehen; ein gut gefüllter Konfirmand:innenjahrgang eine Selbstverständlichkeit; die Meinung der Bischöf:innen eine Mediennachricht wert. Die Frage der Engel kann, darf, soll verstören: »Was steht ihr hier und seht gen Himmel?« (V.11) Sie provoziert eine Reaktion: Nun seid ihr dran, Zeuginnen und Zeugen zu sein! Es ist eure Aufgabe, die Spannung zwischen Abschied und Verheißung, zwischen Trauer und Erlösung zu gestalten, an Gottes Reich zu erinnern und die Gegenwart und Nähe seiner Größe zu bezeugen.

Was also steht ihr und seht gen Himmel? Geht dem Himmel entgegen! Der Himmel steht offen und lädt euch ein! Die Welt steht offen für das Zeugnis von Jesus Christus, dem Auferstandenen (vgl. 1,22; 2,32 u. v. m.)!

IIErschließung des Textes: Transformation zum Ersten: Vom Gottes-Wort zum Menschenmund

Die, die da stehen und gen Himmel starren, sind »relativ«, »welche«. So lautet das erste Wort des Predigttextes. Das kann in sich schon als eine Zustandsbeschreibung des kirchlich verfassten Gottesvolkes gelesen werden. Irgendwelche. Irgendwie verloren zwischen alter und neuer Zeit. Ein wenig perspektivlos. Will die Predigt diesen Zustand verdeutlichen, legt es sich nahe, V.1f. mit in den Text einzubeziehen. Dabei bilden die V.1–3 eine Einheit. Sie sind die sprachliche Brücke vom Evangelium des Lukas her hin in die neue Zeit der Apostel:innen: Die frohe Botschaft wird rekapituliert, damit die Apostelgeschichte mit einer Verheißung der dynamis Heiligen Geistes einsetzen kann, bevor der irdische Weg Jesu durch seine Aufnahme in den Himmel endet. Die Geistgabe galt im Evangelium exklusiv Jesus; nun wird sie allen Aposteln zuteil (Lk 3,22; Apg 1,8). So werden aus den »irgendwelchen« jene Zeuginnen und Zeugen des Evangeliums, sie werden zu denen, auf die es nun in der neuen Zeit ankommt. Sie werden »in den Vordergrund gerückt«! (Pesch, 63)

Noch aber zeigen sich »jene« dem Gestern verhaftet. Sie erhoffen sich die Wiedererrichtung »des Reiches für Israel«. Restitutionshoffnung statt Transformationsphantasie. Doch diese Erwartung erweist sich als genauso unangebracht wie die Suche des Lebendigen bei den Toten (Apg 1,11a; Lk 24,5b; Pesch, 73). Denn die Auferstehung Jesu bringt eine neue Qualität auch in das Leben der Apostel. Nachdem er sich bislang »unter ihnen sehen ließ« (V.3), werden sie nun in dem Sinne »Zeugen seiner Auferstehung« (V.22), dass sie zum einen von dem reden, was sie sahen (Lk 1,2), und zum anderen verkünden, was der Glaube auch künftig wirkt (Apg 3,16). Für den Wandel der Erstarrten zu Zeug:innen scheint Lukas auf Vorstellungen Deuterojesajas zurückzugreifen (vgl. Jes 43,10.12; 44,8; V.8 und die entsprechende Formulierung in Jes 49,6). Auf jeden Fall wirken sie nicht aus »eigener Kraft« (Apg 3,12), sondern aus der »Kraft Heiligen Geistes« (1,8), die »stark macht« und »wirkt« (3,16). Gewiss wegweisend für die anstehende Aufgabe steht die erste Tat dann von Petrus und Johannes: Das erstarrte Gottesvolk kann, darf, möge! wie der geheilte Gelähmte springen und loben (3,8).

So werden Apostel zu Zeug:innen. Ihre Bewegung reicht weit über Jerusalem hinaus. Die Kraft Heiligen Geistes wird sie geleiten. Die Perikope bildet den Beginn einer Aussendung und darin einer Ermutigungsund Hoffnungsgeschichte. Es ist die Geschichte der Vergegenwärtigung Gottes als des bleibend Nahen, als Gott, den Menschen zugewandt, »der Gekreuzigte als Erhöhter«. (Ebeling, 333) Es ist der Versuch der Erklärung, wie sich denn die Erzählungen von und über Jesus von Nazareth von Jerusalem aus breit machten, Verbreitung fanden. Es ist der Gründungsmythos des Christ:in-Seins. – Oder nochmal anders profiliert: Nachdem bislang die Apostel:innen gemeinsam mit Jesus und in Sicht- und Hörweite Jesu unterwegs waren, steht ihnen nun eine enorme Transformationsleistung bevor: gemeinsam unterwegs mit dem Unsichtbaren, mit dem zur Herrschaft Aufgestiegenen, Emporgehobenen. Statt durch Wort und Tat Jesu (»was er tat und lehrte«; 1,1) gilt es nun, das Evangelium durch den Mund der Apostel zu bezeugen: 24 Reden enthält die Apostelgeschichte, die einen relevanten Umfang des Buches bilden. Gotteswort geht in Menschenmund über – das ist die Transformation, die die Apostelgeschichte beschreibt.

IIIImpulse: Transformation zum Zweiten: Vom Sein bei den Menschen zum Sein bei Gott

Das Proprium des Gottesdienstes ist Himmelfahrt – keine theologische Figur von unmittelbarer Eingängigkeit. Spricht man von »Himmelfahrt«, stützt sich die Rede stärker auf das Ende des Lukasevangeliums denn auf den vorgesehenen Predigttext: Das Ereignis, das dem Tag seinen Namen gibt, wird im Evangelium mit der Vokabel »in die Höhe tragen, sich erheben« (Lk 24,51) beschrieben, in der Apostelgeschichte bedeuten sie »aufnehmen, in Schutz nehmen« (1,9.11): Konsequent müsste von der »Aufnahme in den Himmel« die Rede sein. Lukas arbeitet vermutlich eine an Elija orientierte Legende (vgl. 1Kön 2) weiter; freilich findet sie sich auch in einem Kontext diverser griechisch-römischer Entrückungserzählungen. (vgl. Pesch, 76) – Zu dem Proprium drei Hinweise:

Ähnlich wie bei der Auferstehungserzählung nehmen an diesem Proprium Vorstellungen Anstoß, die einem allein neuzeitlich-natur-wissenschaftlichen Paradigma folgen. Und in der Tat bilden beide, Auferstehungs- und Himmelfahrtserzählung, gleiche Erzählstränge, stellt Himmelfahrt dogmengeschichtlich eine »Variante der Auferstehungsaussage« (Ebeling, 309) dar. Spannend an dieser theologischen Konstruktion ist ihre Intention: Statt einem angstvollen und lähmenden Warten auf die verheißene Parusie durch den von einem Moment auf den anderen »fernen« Jesus das Wort zu reden, wird trotz und gerade angesichts der Aufnahme in den Himmel seine »verlässliche Nähe« (Ebeling, 323) betont. Der Mensch Jesus, mit seiner Geschichte, seinem Leiden, seinem Handeln, wird in einen »Zustand« transformiert, »der für alle Zeiten andauert und präsentisch« (Ebeling, 320) ist. Himmelfahrt bedeutet »[Jesu] Gegenwart in neuer Qualität«. (Conrad, 272) Es entsteht ein Interim zwischen der Sichtbarkeit des irdischen Jesus und der verheißenen erneuten Sichtbarkeit des kommenden Christus, zwischen Aufnahme gen Himmel und Parusie, eine spürbare Spannung. Die anstehende Aktivität der Jünger:innen ist bewusst in einer Zwischenzeit angesiedelt. Die Nähe Jesu in dieser spannungsvollen Zwischenzeit wird durch die Verheißung Heiligen Geistes garantiert.

Apropos Zeit: 40 Tage stehen bei Lukas am Beginn der Zeit des Wirkens Jesu (Lk 4,2) und nun auch an deren Ende (Apg 1,3), kirchenjahreszeitlich repräsentiert in der Passions- wie der nachösterlichen Freudenzeit. Bevollmächtigt durch Gottes Geist und im Wissen um Jesu verlässliche Nähe aus Erstarrung und Fixiertheit in eine neue Zeit aufzubrechen – das darf durchaus als das zentrale Thema des Textes verstanden werden.

Jesus dient dabei als (theologisches) Vorbild. Er bewegt sich, bleibt nicht, wo er ist, sondern »Jesus geht«. (Marquardt, 391) Zwar bleibt er als Person, der er ist, führt seine Geschichte mit sich, wenn er geht – wird also durch die Aufnahme in den Himmel »nicht etwa ein ganz anderer, das Gegenteil dessen, der er war«, »vertauscht seine Dornenkrone nicht mit einer triumphalen Siegerkrone« (Ebeling, 329). Doch dadurch, dass er geht, eröffnet er neue Räume. Das kann zum einen als Paradigma für eine Kirche gelesen werden, die »von Fixiertheit entwöhnt« werden soll (Marquardt, 400) und sich von dieser befreit fühlen darf. Dabei zielt zum anderen jenes Fixiertsein nicht allein auf ein Festhalten an einer bestimmten Ausprägung kirchlicher Wirklichkeit, sondern sie setzt noch tiefer an: Wo einer geht, öffnet sich ein Raum jenseits des bisherigen Standorts. Es eröffnen sich neue Ziele, neue möglicherweise nicht antizipierbare Begegnungen, neue Möglichkeiten. Damit zeigt die Aufnahme Jesu in den Himmel der Kirche, dass »sie […] gerade in bezug auf Jesus auf mehr gefasst sein [soll], als sie von ihm bisher weiß« (ebd.). Die Geistgabe ist tatsächlich etwas qualitativ Neues. Erst das Gehen Jesu vermag es, Erwartung, Neugier, Vorfreude auf das Wirken Heiligen Geistes zu eröffnen. Indem Jesus in den Himmel aufgenommen wird und den Geist verheißt, »gibt er sich selbst damit noch eine Zukunft«. (a. a. O., 410) Fröhlichkeit in Musik und Tonlage im Gottesdienst, Open-Air-Format, Stationengottesdienste u. a. unterstützen solche erwartungsreiche und hoffnungsfrohe Aufbruchsstimmung. Jesu Gehen, seine Transformation vom Irdischen hin zum Inthronisierten, ist dafür Voraussetzung: Denn seine Nachfolger:innen, also wir, »hoffen nicht nur, weil er unter Verheißungen geht, sondern: weil er geht. Hoffnung ist die einzige Weise, in der wir seinem Gehen noch zu folgen vermögen«. (a. a. O., 414) Aufgrund der Aufnahme Jesu in den Himmel ist Hoffnung die angemessene Grundhaltung der je neu an- und aufbrechenden Kirche!

Literatur: Joachim Conrad, GPM 52, 1998/2, 266–274; Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens II, Tübingen 31989; Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden, Band 2, München 1991; Rudolf Pesch, Die Apostelgeschichte, 2. Auflage der Studienausgabe, Neukirchen 2014.

B

Christian Witt

IVEntgegnung: Vertrauen als Voraussetzung jeder christlichen Hoffnung

Eine bestimmte christliche Sozialgestalt in der Krise, ja gleich in der Polykrise. Eine sich von ihr abwendende Gesellschaft. Ein damit zusammenhängender dramatischer Resonanzverlust – der sich auch als Relevanzverlust lesen ließe. Und so fort. Mutlosigkeit, Sorge, ja vielleicht sogar Angst machen sich angesichts dieser Lage und der erwarteten Zukunft breit und breiter, der »beißende Geist der Neuzeit« wird diagnostisch in Anschlag gebracht, Perspektivlosigkeit beklagt. Das althergebrachte verfasste Kirchentum mit all seinen liebgewonnenen Eigenheiten und Vorzügen gerät unter dem Druck unserer Zeit ins Wanken. – Klar, diese wenig erbauliche Lesart liegt aufgrund eines spezifischen gegenwärtigen Situationsempfindens auch weiter Teile des landeskirchlichen Protestantismus nahe.

Und was bleibt bei solcher Gegenwartsdiagnose anderes als die Beschwörung der christlichen Grundtugend Hoffnung? Hoffnung, dass die Kirche in Gestalt der Kirche(n) irgendwie noch die Kurve kriegt, dass sich etwas oder jemand »transformiert« statt schlicht zu enden, dass bei allem Polykrisen- und Untergangsempfinden die Wende hin zur Erhaltung irgendwelcher Resonanzräume noch gelingt. Hoffnung also mit einem Schuss Wagemut und Kreativität. Um die Kurve mit Gottes Hilfe und menschlichem Einsatz doch noch zu kriegen, um den eigenen Resonanz- oder Relevanzverlust abzubremsen oder gar aufzuhalten, müsse vieles anders werden, hört man da oft: Gemeindestrukturen, Gottesdienst- und Predigtformate, das Theologiestudium, der Religionsunterricht usw. – alles müsse nun endlich auf den Prüfstand, um zu retten, was noch zu retten sei.

Nicht selten fühlt man sich dabei an das berühmte Zitat aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas furiosem Roman »Il Gattopardo« – »Der Leopard« – erinnert: »Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern.« (36) Mal abgesehen von der Frage, ob man das wirklich wollen sollte: In jenen Worten genauso wie in manch einem jüngeren kirchlichen Reformvorschlag einen Ausdruck des berüchtigten Mutes der Verzweiflung zu erkennen, scheint nicht völlig unangebracht. Jedenfalls mangelt es zur Zeit auf kaum einer kirchlichen Ebene an – je nach Geschmack – regelrechten Fanfarenstößen oder Gewittern, was wie warum ab wann und wo anders werden könne, müsse oder solle.

VZur homiletischen Situation: Der individuelle Mensch vor der Institution

Um nun nicht missverstanden zu werden: Kreativität und die daraus resultierenden Veränderungsimpulse sind und bleiben hilfreich und wichtig, um den fruchtbaren Anschluss an die Gesellschaften, in die die Landeskirchen gestellt sind, ja deren Teil sie unweigerlich sind, nicht zu verlieren. Dafür braucht es Energie, Entdeckungsfreude, Kontroverse und Zuversicht. Diese Aspekte brauchte es freilich schon immer, nicht nur gegenwärtig. Genauso unzweideutig bleibt festzuhalten: Wohl kaum etwas könnte angesichts des geschilderten Druckempfindens hemmender und destruktiver sein als realitätsverweigernde Beharrung – »So war es doch schon immer und deshalb ist es gut!« – oder pessimistische Selbstaufgabe – »Wir können doch tun, was wir wollen: Es macht am Ende doch alles keinen Sinn mehr!«

Die Frage wäre allerdings, ob institutionell verantwortbarem Tatendrang und der dahinter liegenden Hoffnung auf welche kirchliche Zukunft auch immer nicht etwas Wesentliches vorausliegt, auf das auch die hier im Mittelpunkt stehende Perikope verweist. Antwort: Ja, da gibt es etwas! Etwas, das in den mehr oder weniger euphorischen Voten im Dienste kirchlicher Selbsttherapie, in den mehr oder weniger entschlossenen Maßnahmen zwecks Innovationssteigerung und Transformationsbeschleunigung sicher mehr explizite Beachtung verdient. Etwas, das im Kern reformatorischer Theologie verankert ist und das den Sorgen des individuellen Menschen mehr Beachtung schenkt als dem amtlichen Besorgtsein um das Wohlergehen der verfassten Kirche(n).

Von diesem Etwas, das der christlichen Hoffnung vorausliegt, ist auch in Apg 1,3–11 die Rede, nämlich vom Vertrauen. Vertrauen bedingt Hoffnung, Hoffnung verlangt Vertrauen. Darauf verweisen besonders V.6–8: Was verlangt der Auferstandene da von den ihm Vertrauten anderes als Vertrauen? Vertrauen darauf, dass sie hoffen dürfen, hoffen auf sein Wort, auf die Macht des Vaters. Und mehr noch: Er verlangt nicht nur unbedingtes Vertrauen, er macht auch eine tröstende Zusage zur Klärung des Gegenstands der Hoffnung, die die ihm Vertrauenden haben dürfen und sollen. Sie werden nämlich den Geist empfangen und seine Zeug:innen sein. Und als geschehe es zur unverbrüchlichen Besiegelung seiner Vertrauen verlangenden und zugleich Hoffnung stiftenden Zusage, wird er unmittelbar nach jener Zusage emporgehoben, wie es nach der Übersetzung Luthers heißt, und zwar explizit vor den Augen seiner Zeug:innen. Und selbst damit nicht genug: Um auch den letzten Rest des Zweifels auszuräumen, um die Zurückgebliebenen also in ihrem Vertrauen zusätzlich zu bestärken, setzen die V.11f. das himmlische Wort hinzu, dass er, der Auferstandene, genauso sicher wiederkommen wird, wie er entrückt wurde, was die Angesprochenen ja selbst gesehen hatten.

Genau dieses unbedingte Vertrauen, das Jesus als Christus von seinen Jünger:innen in Apg 1 verlangt, nennt die reformatorische Tradition Glaube. Und die unverbrüchliche, aus grundlos sich selbst schenkender Gnade erwachsende Zusage des Auferstandenen nennt sie Evangelium. Martin Luther hat den heilschaffenden Zusammenhang von Glaube – verstanden als unbedingtes Vertrauen – und Evangelium ins Zentrum seines Verständnisses der christlichen Religion gerückt. Alles, was es für Christ:innen wirklich brauche, sei der »glawbe, der auff diß Euangelion bawe und sich darauff vorlasse« (WA 10.1/II, 167). Dieses Evangelium, auf das wir vertrauen, an das wir glauben dürfen, bringt der Reformator in eingänglicher Weise auf den Punkt: Es sei im Kern »eyn rede von Christo, das er gottis ßon und mensch sey fur unß worden, gestorben unnd aufferstanden, eyn herr ubir alle ding gesetzt« (WA 10.1/I, 9). Der von Luther zusammengefasste Grund unser Hoffnung als Gegenstand unseres Vertrauens ist dabei nicht ins Allgemeine gesprochen oder an das abstrakt Kollektive gerichtet, ganz im Gegenteil: Vor jeder religiösen Gruppenbildung, vor jeder kirchlichen Sozialgestalt tritt das Individuum in den Blick. Die liebende Zusage Christi richtet sich an die Einzelne und den Einzelnen, es richtet sich an mich und an dich, ganz direkt, ganz persönlich. »Heltistu hie still und lessist dyr gutt thun, das ist, ßo du es glewbist, das er (sc. Christus, C.W.) dyr wol thu und helff, ßo hastu es gewiß, ßo ist Christus deyn und dyr tzur gabe geschenckt« (a. a. O., 14).

VIPredigtschritte: Vertrauen auf das Evangelium

»Sihe, wenn du alßo Christum fassist alß eyn gabe dyr tzu eygen geben unnd tzweyffillst nit dran, ßo bistu eyn Christen« (a. a. O., 12) – was für eine Pointe: Christus als Quelle und zugleich als Gegenstand jener Vertrauen verlangenden und Hoffnung stiftenden Zusage! Christus als Grund und Ziel meines und deines Vertrauens, unseres Vertrauens. Und das heißt dann eben auch: Christus als Grund und Ziel unserer Hoffnung. Genau darin, in Vertrauen und Hoffnung auf das Evangelium, sind wir verbunden – das macht uns zu Zeug:innen, das macht uns zur Kirche. Darum gehören jene beiden biblischen Kernbegriffe gemäß reformatorischer Evangeliumsdeutung ins Zentrum auch und besonders einer Predigt zu Apg 1,3–11.

Wichtig könnte im Schlussteil der Predigt freilich die Erinnerung daran sein, dass die Kirche des Vertrauens und der Hoffnung auf das Evangelium Jesu Christi nach evangelischem Verständnis nicht identisch ist mit den realexistierenden geschichtlichen (Landes-)Kirchen. Sicher: Deren Lage mag Sorge hervorrufen, mag verunsichern oder hier und da gar bestürzen, zumindest bestimmte Menschen in bestimmten Teilen bzw. Kulturkreisen der Welt. Aber das sind selbst dort keine historisch einmaligen Anmutungen. Vielmehr sind Sorge, Verunsicherung und Bestürzung ob des Zustands, der Geltung oder Zukunft geschichtlichkonkreter Kirchentümer so etwas wie ein roter Faden, der sich durch die Geschichte des Christentums zieht. Und das ist gerade kein Grund zur Beunruhigung: Reformen wurden immer wieder gefordert und umgesetzt, im Großen wie im Kleinen; Veränderungen wurden immer wieder vollzogen, im Großen wie im Kleinen; Neues kam, Altes ging, im Großen wie im Kleinen, immer wieder. Man könnte vielleicht auch sagen: Die heute auch kirchlicherseits gern aktivierte Kategorie der »Transformation« beschreibt mehr einen kirchengeschichtlichen Dauerzustand als eine irgendwie krisenbedingte, akute Ausnahmesituation.

Sehen wir also mit V.11f. nicht verzagt in den Himmel, sondern je für uns vertrauensvoll auf unsere Gegenwart und gemeinsam hoffnungsfroh in die Zukunft. Vertrauen und hoffen wir so auf die »Verheißung des Vaters«, von der in V.4 die Rede und auf die zu warten den Zeug:innen aufgegeben ist. Und denken wir dabei daran: Das unbedingte Vertrauen, anders gewendet: der unvertretbare Glaube jeder und jedes Einzelnen an die uns geschenkte Zusage des Auferstandenen liegt aller kollektiven Hoffnung voraus und konstituiert – bei aller äußerlichen Veränderung – diejenige Qualität der Verbundenheit, die das Prädikat »Kirche« im Singular verdient. Diese Kirche hat bei allen geschichtlichen Veränderungen, die die Zeitläufe unweigerlich mit sich brachten und bringen, bei aller Unbill, die damit einhergehen mochte und mag, Bestand, weil ihre Glieder die unverbrüchliche Zusage, ja das Evangelium Christi haben – und genau davon zeugt Apg 1,3–11 in unzweideutiger Weise. Haben wir also selbst Vertrauen auf das Evangelium, das zu predigen evangelische Amtsträger:innen schließlich bestellt sind!

Literatur: Martin Luther, Eyn kleyn unterricht, was man ynn den Evangeliis suchen und gewartten soll, Kirchenpostille 1522, WA 10.1/I, 8–18; Ders., Evangelium am 8. Adventssonntag: Matth. 11, 2-10, Adventspostille 1522, WA 10.1/II, 147–170; Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Der Leopard. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München 2019.

6. Sonntag nach Ostern (Exaudi) – 12.05.2024

A

Johannes 16,5–15

Von der Melancholie des Endes und der Ankündigung eines unverhofften Neubeginns

Nele Chiara Neidiger

IEröffnung: Die Melancholie eines großen Sommers

Sechs Wochen nach Ostern am Sonntag Exaudi blicken wir im Predigttext aus Joh 16,5–15 noch einmal zurück vor den Tod und die Auferstehung Jesu. Dort verweist Jesus immer wieder darauf, dass seine Worte des Abschieds, die wir in zwei Reden (Joh 14 und 15–16) auffinden, nicht die letzte Verheißung und Verkündigung bleiben, sondern der Paraklet als »Geist der Wahrheit« sich auch nach dem österlichen Ereignis weiterhin offenbart. (vgl. Söding) Der Predigttext kann somit als ein vorösterlicher Hinweis des johanneischen Jesus auf die nachösterliche Zeit gelesen werden und spricht damit sowohl zu den ersten Adressat*innen des Evangeliums als auch zu heutigen Leser*innen. (vgl. Schnackenburg, 144–145) Was kann der Predigttext uns also für unsere heutige Zeit sagen?

Wer schon einmal als junger Mensch auf einer Sommerfreizeit war, kennt sicherlich die große Abschiedsmelancholie, mit der diese für gewöhnlich zu Ende geht. Nach einer sehr intensiven Zeit mit einer kleinen Gruppe abseits des Alltags fällt der Abschied oft schwer. Die gemeinsamen Erlebnisse sind noch so spürbar und intensiv. Das Leben außerhalb der Blase scheint undenkbar. Große Reden werden geschwungen, Freundschaftsbekundungen werden ausgesprochen und einige Tränen fließen. Jugendliche Endlichkeit trifft auf Zukunftsblässe. War das der Sommer unseres Lebens? Waren wir bei etwas ganz Besonderem dabei? Wem dieses Gefühl fremd ist oder wer sich davon weit entfernt fühlt, dem*r sei an dieser Stelle der Roman »Der große Sommer« von Ewald Arenz auch im Frühjahr wärmstens empfohlen.

Auch die Jünger*innen Jesu sehen sich vor einem ungewollten Ende. Jesus spricht mit ihnen über sein baldiges Weggehen. In ihre Traurigkeit hinein verspricht er die Sendung eines Beistands. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen und die Jünger*innen erwartet eine Zukunft voll Zuversicht, Wahrheit und Trost.

IIErschließung des Textes: Zwischen Trauer und freudiger Verheißung

Die Jünger*innen müssen ganz schön viel verdauen. Jesus mutet ihnen einiges zu. Im Lichte seines nahenden Schicksals will er sie vorbereiten – auf das, was danach kommt. »Jetzt aber gehe ich« (V.5), sagt er zu Beginn der Perikope. Und er ist sich bewusst darüber, dass diese Information vor allem eine Emotion bei den Jüngern auslöst: Trauer. Es scheint schier unmöglich, abseits der Trauer etwas wahrzunehmen. »Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen.« (V.12) Und trotzdem sagt Jesus es. Er sagt es jedoch nicht für jetzt, sondern vor allem für später. (vgl. Hoegen-Rohls, 193) Dieses Später ist von besonderer Bedeutung. Es öffnet den Text für alle, die danach kommen. Die verfassende Person richtet sich an einen Adressat*innenkreis, der nicht mehr am irdischen Jesus Teil hatte, und proklamiert damit, »daß nicht der irdische Jesus ihr [sc. der Gemeinde; N.N.] das letzte sagt und gibt, sondern der Geist, der ihr gegenwärtig ist und ihr die Worte Jesu erst erschließt, sie in ihrem bleibenden Gehalt aufschließt und für die Zukunft öffnet (V 13)«. (Schnackenburg, 145) Denn es gibt eine Zukunft für die Jünger*innen, in der aus ihrer Trauer Freude wird. Das verheißt der johanneische Jesus (V.22). Zwischen Trauer und Unverständnis und Freude und Verheißung aber geschieht etwas. An die Stelle des gestorbenen Jesus und auferstandenen Christus tritt ein »Beistand«, der Paraklet. Er wird die Jünger*innen – respektive alle weiteren Adressierten – »in die ganze Wahrheit leiten« und »das Kommende […] verkündigen«. (V.13) Im Paraklet »wird der irdische Jesus seiner Gemeinde präsent, lebt sie aus seinem Wort und wirkt aus seiner Kraft.« (Schnackenburg, 145)

Das griechische Wort paraklētos wird in der Luther-Bibel von 2017 mit Tröster übersetzt. In der Elberfelder Bibel ist die Rede vom Beistandund die Züricher Bibel verwendet Fürsprecher. Der Terminus wird nur im Johannesevangelium und 1. Johannesbrief verwendet und kann damit als »ein eigentümliches und einzigartiges Phänomen im NT« (Schnackenburg, 156) bezeichnet werden. Wörtlich kann das Verbaladjektiv mit »der Herbeigerufene« übersetzt werden. (vgl. Schnackenburg, 157) In den Abschiedsreden wird der Paraklet fünfmal verheißen (14,16f.; 14,25f.; 15,26f.; 16,7–11; 16,12–15; vgl. Hoegen-Rohls, 92ff.). Kap. 16 gibt dabei wichtige Hinweise auf die Funktion des Parakleten. Der Paraklet »hat […] nach Joh 16,13 die Aufgabe, den christologisch verankerten Wahrheitsanspruch und das auf die christl. Gemeinde Zukommende jeweils neu zu erschließen. So umfaßt und deutet der P.[araklet] Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Christusoffenbarung und sichert damit die rel.[igiöse] Identität der Adressatengemeinde.« (Dettwiler) Nach der gemeinsam verbrachten Zeit bereitet Jesus die Jünger*innen gegenwärtig auf den Abschied voneinander und eine damit einhergehende Krise vor. Vergangenheit und Gegenwart sind aber weder für die Jünger*innen noch für die adressierte Gemeinde das Ende des gemeinsamen Weges mit Jesus, denn »[s]o wird das Wort vom Fortgang Jesu paradoxerweise gerade zur Verheißung seiner Präsenz, nur in anderer Weise.« (Schnackenburg, 145) Im Text überlappen sich verschiedene Emotionen, Zeitebenen und hermeneutische Zugangsweisen der verschiedenen Adressat*innen. Was für die Jünger*innen die nahende Zukunft ist, ist für die Adressat*innen des Johannesevangeliums bereits Realität. Beistand brauchen sie alle – einen Beistand in Zeiten der Ungewissheit, Trauer und des Schmerzes. Auch wenn heutigen Hörenden die Lebensrealität der Jünger*innen eher fern sein mag, so sind es diese existentiellen Emotionen nicht. »Verlassenheit in der Welt und […] Fremdheit gegenüber der Welt« (Schnackenburg, 144) sind überzeitlich. Das Bedürfnis nach Begleitung und Trost ist es ebenfalls.

IIIImpulse: Ein Text, drei Ebenen

Der Predigttext adressiert gleichzeitig drei verschiedene Gruppen. Textintern richtet Jesus sich an die Jünger*innen als Adressat*innen der Abschiedsreden. Darüber hinaus werden die Adressat*innen des Johannesevangeliums als erste Hörende und die heutigen Hörenden, die Predigthörer*innen, angesprochen. Ich schlage vor, die Predigt anhand dieser drei Gruppen zu gliedern. Auf diese Weise wird der Überzeitlichkeit des Textes Sorge getragen. Die drei Gruppen werden damit transparent für die drei Dimensionen der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine besonders wichtige Rolle spielen ferner die vom Text implizierten Emotionen Trauer und Freude.

In die Vergangenheitsebene fällt die Narration des Textes und die Explikation der Situation der Jünger. Wie haben sie sich wohl damals gefühlt? Hatten sie Angst vor der Zukunft? Konnten sie das Ausmaß des Bevorstehenden erahnen? Hilfreich kann hierbei das (bibliodramatische) Hineinversetzen in die Jünger*innen sein. Narrative Elemente und wörtliche Rede können die Predigt ebenso bereichern.

Als gegenwärtige Perspektive des Textes dient ein Blick auf die Adressat*innen des Johannesevangeliums. Welche Fragen haben sie umgetrieben? In welche Situation hinein ist dieser Text verfasst worden? Die Emotionen der Trauer und Bedrängnis der Jünger*innen müssen für die Gemeinde, wenn auch in anderer Form, ebenso real gewesen sein. (vgl. Schnackenburg, 144) In diese Situation hinein verspricht der Text die Anwesenheit Jesu und kontinuierliche Verheißung durch den Parakleten. Die Gemeinde erhält damit außerordentliche Bedeutung. Sie kann nun die Rede Jesu verstehen und ihr wird durch den Parakleten weitere Verheißung sowie die Wahrheit zuteil.

Die Perspektive der Zukunft richtet sich auf die heutigen Hörenden. Können sie an die Trauer der Jünger*innen anschließen? Was bedeutet ihnen die Teilhabeverheißung an die johanneische Gemeinde? Oder beschäftigen sie wohlmöglich ganz andere Fragen?

In der Eröffnung wurde bereits ein Vorschlag für eine aktuelle Perspektive auf die Trauer der Jünger*innen gemacht. Schwerer fällt es, den Trost des Parakleten für die Gegenwart sichtbar zu machen. Generell ist es homiletisch besonders herausfordernd zu trösten. Martin Nicol und Alexander Deeg weisen in ihrer Homiletik darauf hin, dass eine Predigt im besten Fall »nicht nur über Dinge redet, sondern bewirkt, dass die Dinge geschehen (to make things happen): dass beispielsweise nicht nur über das Trösten informiert, sondern wirklich getröstet werde.« (Nicol/Deeg, 71) Die Verheißung des Parakleten im Alltag zu entdecken und den klaffenden Weltschmerz dabei nicht zu verkennen gehört zu den theologischen Ambivalenzen, die wir als Predigende aushalten und überbrücken müssen. Und dennoch bleibt zu hoffen, dass die Melancholie des Sommers sich in kraftvolle Erinnerung und beschwingte Zukunft verwandelt.

Literatur: Ewald Arenz, Der große Sommer, Köln 2021; Christina Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium (WUNT II/84), Tübingen 1996; Martin Nicol/Alexander Deeg, Einander ins Bild setzen, in: Lars Charbonnier/Konrad Merzyn u. a. (Hg.), Homiletik. Aktuelle Konzepte und ihre Umsetzung, Göttingen 2012, 68–84; Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium. Kommentar zu Kap. 13–21 (HThKNT IV/3), Freiburg/Basel/Wien 41982.

Internet: Andreas Dettwiler, »Paraklet im Neuen Testament, in: RGG4, http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_SIM_124269; Thomas Söding, Der Paraklet – Der Beistand der Jünger, in: https://www.kath.ruhr-uni-bochum.de/imperia/md/content/nt/nt/dasjohannesevangelium/beistandjuenger.pdf (beide zuletzt abgerufen am 16.08.2023).

B

Marko Jesske

VIEntgegnung: Die Leere eines unerwarteten Abschieds

Die Melancholie eines großen Sommers weckt in mir Erinnerungen. Als alljährlicher Freizeitteilnehmer in Kinder- und Jugendtagen kann ich noch heute den Schmerz über das Ende besonderer Zeiten nachempfinden. In Joh 16 scheint mir aber noch etwas Drastischeres vor sich zu gehen. Im Bild gesprochen: Es ist eher so, dass die Freizeitgruppe um der Leitungsperson willen in eine existenziell bedrohliche Situation gerät, nur um von ihr zu erfahren, dass sie die Gruppe verlässt und dies auch besser für sie sei. Das klingt nach der Leere eines unerwarteten Abschieds in einer denkbar ungünstigen Situation. Darüber hinaus teile ich den Fokus von A auf die emotionalen Aspekte des Bibeltextes und die Einschätzung, dass Traurigkeit und das Bedürfnis nach Trost die damalige mit der heutigen Erfahrungsrealität verbinden. Zu Recht macht A darauf aufmerksam, dass auch Freude eine zentrale Rolle spielt – und zwar nicht als erlebte Freude der Jünger, sondern als durch Jesus verheißene Freude. Diese spannungsvolle Linie möchte ich im Folgenden weiter ausziehen.

Auch die zeitlich-lineare Dreiteilung von A leuchtet mir aus exegetischer Perspektive ein. Jedoch möchte ich sie mit einer existenziell-zirkulären Lesart verschränken. Die Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verortet uns Heutige aus der Sicht des Texts in der Zukunft: als diejenigen, die den Tröster und Beistand schon empfangen haben. Im Kirchenjahr hingegen stehen wir noch vor Pfingsten. Diese Spannung im Sinne von »schon jetzt/noch nicht« spiegelt sich auch in vielen Biografien gläubiger Menschen. Sie verlaufen weniger linear als zirkulär. Einstige Gottesgewissheit kann zum Zweifel gerinnen. Jubel kann in Klage umschlagen. Aus Desinteresse kann Faszination werden, aus Untröstlichkeit Trost. Die so verstandene Verschränkung ermöglicht es, die Rede an die Jünger – bei all der Fremdheit ihrer Situation – auch als Rede an uns heute zu hören. Dazu möchte ich den von A mit Blick auf die Jüngersituation vorgeschlagenen narrativen Ansatz weiterverfolgen.

VZur homiletischen Situation: Trauer (und Trost?)

1. (Gott-)Verlassenheit: Im biblischen Text kommt eine Traurigkeit zum Ausdruck, die schwer lastet und das Herz (den Kopf) so ausfüllt, dass es zugleich ganz leer ist. So, dass die Jesusschüler nicht einmal mehr fragen, wohin ihr Meister geht. Überhaupt spricht nur er, und wir sehen sie nur im Spiegel seiner Worte. Aus diesen lässt sich eine tiefe und dumpfe Traurigkeit der Jünger schließen, die den Verlust ihres geliebten Meisters zu realisieren beginnen. In Coronazeiten haben viele Menschen unter solchen Situationen gelitten: darunter, ihre geliebten Enkel, Großeltern, Freunde usw. nicht mehr sehen zu können. Oft mussten beide Seiten diese Erfahrung und die damit einhergehende Einsamkeit durchleben. Diese Einsamkeit ist » – wie heftige Schmerzen – kognitiv nur schwer unter Kontrolle [zu] bringen. Akute, heftige Einsamkeit überschreibt alles.« (Schobin und Wilke, 96)

Der Schmerz der Verlassenheit und der damit verbundenen Einsamkeit ist wohl ein universelles Phänomen. Er hat eine religiöse Dimension, weil mit dem Verlust des Anderen nicht »nur« ein geliebter Mensch fehlt, sondern gleichzeitig eine ganze Welt zusammenbrechen und der ganze Lebenssinn rissig werden kann. In christlicher Perspektive wird diese Dimension durch die Erfahrung der Gottverlassenheit ins Äußerste potenziert. Auch in vielen Glaubensbiografien gibt es Phasen, in denen die Gewissheit, dass Gott da ist – und zwar für mich da ist – zu bröckeln beginnt, ja, jäh zerrissen wird. Wo kann man angesichts solcher Erfahrungen Trost finden?

2. Trost: A weist zu Recht auf die anspruchsvolle Predigtaufgabe des Tröstens hin. Ich möchte diese Einsicht mit Henning Luther nochmals verschärfen. Er prangert die »Lügen der Tröster« an, die Klage und Trauer nicht zulassen. Die es nicht aushalten, der Sinnlosigkeit, die im Schmerz des Gegenübers ihr Gesicht zeigt, ins Auge zu sehen. Und die letztlich nur sich selbst trösten wollen. Die Trostlosigkeit des Anderen wird zur Bedrohung der Normalität der vermeintlichen Tröster. Aus Luthers Sicht müssen sie lernen, sich von der Situation des »Trostlosen« irritieren und unterbrechen zu lassen und dadurch selbst ein neues Verhältnis zum Leben zu gewinnen.

Dennoch gilt es, nicht nur auf diejenigen zu achten, die Trost spenden wollen, sondern auch auf diejenigen, die Trost suchen. Thea Dorn hat mit ihrem Buch »Trost« eine philosophische und provokante Auseinandersetzung zweier Freunde vorgelegt, die zeigt, dass die Frage nach Trost nicht nur dem Wunsch der Tröstenden entspringt. Sie beginnt mit der Erfahrung von Johanna, die ihre Mutter durch das Coronavirus verloren hat und sie – in den ersten Tagen der Pandemie – in ihren letzten Stunden nicht mehr sehen durfte. Auf ihre Verzweiflung antwortet Max: »Bist du bei Trost?« Was tröstet angesichts des Leids der Pandemie und der Verlassenheit? Johanna ist zunächst nicht an Trost interessiert, weil sie damit eine Stabilität und Sinnhaftigkeit verbindet, die sie selbst schwach und bedürftig erscheinen lässt. Doch indem sie sich ihren Schmerz von der Seele schreibt, Einspruch erhebt, um Worte und um das wirkliche Leben ringt, entdeckt sie, dass Trost nicht nur beruhigt, sondern auch in Bewegung setzt, um »beiseitezutreten, für etwas anderes einzutreten«. (Dorn, 168)

Zwischen Trost und Zuversicht besteht eine eigentümliche wechselseitige Dynamik. Damit ist zwar sachlich das Ende des Buches vorweggenommen. Zugleich wird aber auch deutlich, dass man nur in einem Prozess – der oft Klagen, Fragen und Suchen einschließt – dorthin gelangt. Der biblische Text setzt bei der Sehnsucht nach Trost an, aber nicht im Modus der (Ver-)Tröstung. Er will Irritationen gerade nicht beseitigen, sondern durch sie (Verlust und Tod Jesu) hindurch ein neues Verhältnis zum Leben gewinnen. Dazu ist das Handwerk von uns Prediger:innen nicht in der Lage. Aber vielleicht die Verheißung: »Wenn ich gehe, sende ich euch den Tröster«?

VIPredigtschritte: Aus Monolog wird Zwiesprache, aus Abschied Neuanfang

Der Text führt uns in eine spannungsreiche Situation. Auf der einen Seite die Jünger: Traurig und stumm. Auf der anderen Seite Jesus: zuversichtlich und wortreich. Die Angst vor existenzieller Verlassenheit trifft auf eine Gelassenheit, die von der Beständigkeit der Beziehung ausgeht. Um die Erfahrung der (Gott-)Verlassenheit heutiger Christ:innen und die Warnung vor billigem Trost ernst zu nehmen, könnte man versuchen, diese Dynamik umzukehren. Ich denke an ein Imaginationsexperiment, das, wie A vorschlägt, auch narrativ durchgeführt werden könnte: Was sagen, denken, fühlen und tun die Jünger als Reaktion auf die Worte Jesu? Wenn es mit Henning Luther stimmt, dass Trost zur Lüge wird, wo er Trauer und Klage zum Schweigen bringt, dann könnte die Predigt gerade diesen eine Stimme geben.

Einige Ideen:

Als Reaktion auf die Abschiedsankündigung Jesu (16,5) könnte den Jüngern ein bekannter Text (eine einstige Gewissheit?) verfremdend in den Mund gelegt werden. Etwa so, wie es Eberhard Jüngel mit Ps 139 vormacht: »Stiege ich hinauf in den Himmel, so bist du nicht dort. Schlüge ich mein Lager in der Unterwelt auf, auch da bist du nicht. Nähme ich Flügel der Morgenröte und ließe mich nieder zuäußerst am Meer, so würde auch dort deine Hand mich nicht greifen und deine Rechte mich nicht fassen«. (Jüngel, 67) Daraufhin ließe sich Jesu Versprechen neu hören: »Wenn ich gehe, werde ich den Tröster zu euch senden.«

Auf die Aussage hin »Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen«, könnte der Wochenpsalm 27, besonders die V.7–14, (nochmals) verlesen werden – aber diesmal aus Sicht der Jünger: »HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und antworte mir! Mein Herz hält dir vor dein Wort: / »Ihr sollt mein Antlitz suchen.« Darum suche ich auch, HERR, dein Antlitz. […] Verlass mich nicht und tu die Hand nicht von mir ab, du Gott meines Heils!« Die Reaktion Jesu könnte lauten: »Der Geist der Wahrheit wird euch in alle Wahrheit leiten.«

Jesus traut seinen Schülern zu und mutet ihnen zu, weiter zu leben – gerade angesichts der dramatischen Ereignisse, die ihre Schatten vorauswerfen. Vielleicht ist das ein Trost: dass er weiß und ihnen zuspricht, dass sie ihn gehen lassen müssen und gerade dadurch das Leben in einem anderen Licht sehen werden? Noch einmal Thea Dorn: »Trost ist eine Gestimmtheit. Eine Bereitschaft. Ein Mutter-Kind in der eigenen Seele. Trost entsteht, wenn sich der Naive vom Weisen, der Weise vom Naiven in den Schlaf wiegen lässt. Trost heißt, Hals über Kopf in den abenteuerlichen Glauben zu springen, alles werde gut, obwohl man weiß, dass es jederzeit schlimmer werden kann. Trost ist die wundersame Fähigkeit, alles, was man ist und was man hat, aus vollem Herzen zu lieben – und es freimütig ziehen zu lassen, wenn es davonziehen will.« (Dorn, 168) Und, so ließe sich ergänzen: Es offenherzig wieder aufzunehmen, wenn es andersartig zurückkommt.

Literatur: Thea Dorn, Trost. Briefe an Max, München 22021; Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 72001; Henning Luther, Die Lügen der Tröster: Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, PrTh, 33 (1998), 163–176; Janosch Schobin und Yvonne Wilke, Einsamkeit weit mehr als ›nur‹ ein Gefühl, LS 74 (2023), 94–99.

Pfingstsonntag – 19.05.2024

A

Ezechiel 37,1–14

Lebendig werden

Heinz-Dieter Neef

IEröffnung

Im Unterschied zu Jesaja und Jeremia ist das Buch des Propheten Ezechiel eher unbekannt. Dies hängt wohl mit seinem besonderen Inhalt, vor allem mit den heute schwer zugänglichen apokalyptischen Visionen (1–3; 8–11; 37; 40–48) und drastischen Zeichenhandlungen (4–7; 12; 24 u.ö.) zusammen. Zudem wird von ihm das Klatschen in die Hände, das Aufstampfen mit den Füßen (6,11) und das dramatische Erleiden von Entrückung und Fernvision berichtet. In der älteren Forschung hat man deshalb Ezechiels Gemütszustand mit Kategorien moderner Medizin und Psychologie gedeutet: u. a. Katalepsie, Schizophrenie. In der neueren Forschung ist man in der Beurteilung von Ezechiels Gemütszustand vorsichtiger geworden, denn man erkennt heute genauer als früher, dass in seiner Verkündigung das Kerygmatische vom Biographischen überlagert wird.

Der Name Ezechiel (1,3; 24,24) heißt übersetzt: Gott möge kräftig machen. Nach 1,3 war er Priester, worauf sein Interesse am Tempel, seine Kenntnis sakralrechtlicher Ordnungen sowie seine Nähe zur Sprache des Heiligkeitsgesetzes und der Priesterschrift hinweisen. 597 v.Chr. wurde er als Angehöriger einer einflussreichen Jerusalemer Familie in die Exulantensiedlung Tel Abib »am großen Kanal« (1,1.3) in Babylonien deportiert. Hier fand wohl auch seine Berufung zum Propheten statt. Nach 24,18 war er verheiratet. Er verlor seine Frau jedoch durch einen plötzlichen Tod um 587 v.Chr.

IIErschließung des Textes: Vision: Auferweckung des Volkes

Ez 37,1–14 gehört zu dem umfangreichen Abschnitt EZ 33–39 mit Heilsworten. Die Perikope wird von 36,16–38 »Israels neues Leben« und von 37,15–28 »Die Einigung des neubelebten Volkes« umrahmt. Man kann V.1–14 in zwei Teile gliedern: V.1–10 das Bild mit den Totengebeinen; V.11–14 der Befehl an Ezechiel, zu Israel zu reden und ihm eine prophetische Verheißung zuzusprechen. Ezechiel soll vor allem zu den Exulanten sprechen und ihnen die Möglichkeit der Auferweckung, d. h. konkret der Rückführung aus dem Exil verkündigen.

V.1: Die »Hand des HERRN« ist über Ezechiel gekommen, um ihn seiner gewohnten Umgebung zu entreißen. Die Wendung begegnet ca. 200-mal im Alten Testament, um Gottes Machttaten, vor allem beim Exodus (Ex 14,8), zu erweisen. Bei Ezechiel meint das Bild das Gepackt- und Ermächtigt-Werden des Propheten durch den HERRN (vgl. 3,14; 8,1). Es geht um eine leibliche Entrückung (vgl. 3,22f.) in die Ebene des Babel-Turmes (Gen 11,2). Hier schaut Ezechiel das erschreckende Bild eines Leichenfeldes mit Gebeinen ohne Haut, Fleisch und Sehnen.