Prinzenraub - Sina Blackwood - E-Book

Prinzenraub E-Book

Sina Blackwood

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Beschreibung

Das stetige Erstarken der Familien der flugfähigen Drachen ist der abtrünnigen menschengestaltigen Linie der Wolkenfelser seit langem ein Dorn im Auge. Weil alle direkten Versuche, den großen Drachen zu schaden, durch Lady Tessa erstickt werden, versuchen Sie, die beiden Königreiche des Clans gegeneinander auszuspielen und Tessas Reich von innen zu zersetzen. Als sie die menschliche Gefolgschaft, die Familie des Herrn des Weihergutes, überfallen, ahnen sie nicht, dass sie ihr eigenes Ende einläuten, erst recht nicht, wer es ihnen bereiten wird.

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Inhaltsverzeichnis

Der Dritte im Bunde

Familienbande

Heldin wider Willen

Geheimnisse

Kindersegen

Bluts- und andere Bande

Prinzenraub

Zwei Hochzeiten und eine Leiche

Die Ruhe vor dem Sturm

Drachenzorn

Die Kämpfer der Weiherburg

Ein Wink zur rechten Zeit

Weitere Informationen

Der Dritte im Bunde

Seit sich Sir Bill im Zorn in einen weißen Drachen verwandelt und den intriganten Sir Paul zur Strecke gebracht hat, leben Menschen und Drachen meist friedlich zusammen.

Die Prinzessinnen Ashley und Amara, welche sich schon als Säuglinge verwandeln konnten, wachsen, wie ihre Mama, Königin Tessa, erheblich schneller als andere Kinder. König Cedric hat deshalb seine Ritter Ian und Dan mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet, die ungeheuren Kräfte der beiden in die richtigen Bahnen zu lenken. Das beinhaltet auch, dass die jungen Damen Knappendienst leisten müssen, um von der Pike auf zu lernen, was gute Kampfdrachen auszeichnet.

Sir Bill fiebert seiner Hochzeit mit Lady Tara entgegen. Einer der ewigen Junggesellen, Sir Patrick will Lady Rosa heiraten und dem Herrscherpaar des alten Drachenlandes, Lady Maya und Sir Vincent, soll endlich der ersehnte Nachwuchs geboren werden. Der klirrend kalte Winter könnte also eine heiße Zeit werden.

„Noch eine Woche, dann wird es hektisch“, erklärte Sir Bill beim Frühstück.

Sir Marc, einer seiner dienstbaren Ritter, schmunzelte. „Die Dame Eures Herzens läuft schon seit Tagen wie eine eingesperrte Tigerin durch die Burg, weil sie es kaum noch erwarten kann, die Eure zu werden.“

„Sir Ian hingegen wirkt seit Tagen nachdenklich und in sich gekehrt“, fügte Sir Ben hinzu. „Nicht einmal Lady Ashley schafft es, ihn aufzuheitern.“

„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, murmelte Sir Bill. „Wenn Ihr es sogar schon gemerkt habt, dann ist die Lage richtig ernst. Mein Drachengespür sagt mir, dass ich in Lady Tessas Gegenwart mit ihm darüber sprechen sollte. Das werde ich auch gleich tun.“ Er erhob sich. Wenige Augenblicke später startete er als strahlend weißer Drache, ganze Schneewolken aufwirbelnd.

„Sir Bill ist im Anflug“, meldeten kurz darauf die Turmwachen der königlichen Burg.

Man führte den Ritter in den kleinen Saal, wo das Frühstück soeben beendet worden war, die Hofdamen mit den Prinzessinnen den Raum aber schon verlassen hatten. Perfekt für das, was Bill vorhatte. So begrüßte er lächelnd das Königspaar, die Ritter Ian und Dan hingegen durch Schulterschlag.

„Ihr seht sorgenvoll aus“, stellte Lady Tessa sofort fest.

Bill atmete tief durch. „Ich mache mir auch welche, genau wie meine beiden Ritter. Weil sie die gleichen Gedanken hegen, bin ich sofort losgeflogen.“

„Setzt Euch und erzählt!“, forderte der König.

Das tat Sir Bill und begann: „Es geht um Sir Ian, der seit Tagen eine schwere Last mit sich zu tragen scheint.“

Ian zuckte deutlich sichtbar zusammen, starrte Bill überrascht an, sagte aber nichts.

Dan seufzte: „Darauf habe ich ihn gestern Abend angesprochen. Seine Reaktion: wie gerade eben, ein Erschrecken und kein Kommentar.“

„Wir machen uns ernsthafte Sorgen“, betonte Bill eindringlich. „Ich habe den Zeitpunkt absichtlich so gewählt, dass zumindest Lady Tessa dabei anwesend ist, die Einzige, die Euch vielleicht helfen kann.“

„Mir kann niemand helfen“, flüsterte Ian resigniert.

„Unsinn!“, rief Bill. „Heraus, mit der Sprache! Oder muss es Euch erst befohlen werden?! Ihr wisst, dass ich jederzeit bereit bin, alles für Euch zu tun!“

Ian schloss für einen Moment die Augen. „Wenn ein weißer Drache so heftig reagiert und solch einen ungewöhnlichen Weg wählt, will ich mich beugen“, erklärte er mit fast tonloser Stimme. „Es geht um meine Verbindung mit Lady Ashley. Darum, dass sie die Enkelin meiner eigenen Großmutter, Lady Fran, ist.“

„Wenn es weiter nichts ist!“, atmete Lady Tessa auf. „Ich war, als ich noch nicht wieder über all mein Wissen verfügte, derselben Sache aufgesessen, mit Sir Cedric zu nah verwandt zu sein.“

„Ja, ich erinnere mich!“, rief der.

„Wir sind Drachen! Egal, ob so geboren oder durch den Drachenkeim dazu geworden. Wir leben nur schon seit unzähligen Jahrhunderten nach den Regeln der Menschen. Begonnen hat es damit, um unter ihnen nicht aufzufallen. Das Blatt hat sich schon lange gewendet. Was wir tun, ist Gewohnheit. Denn auch wir Drachen sind nicht frei davon. Nach uraltem Brauch findet sich bei uns zusammen, was zusammengehört. Nur leibliche Geschwister sind und bleiben tabu. Auch bei uns Drachen. Alles klar?“

„Ich glaube ja“, strahlte Ian und drückte Bill fest die Hand. „Danke!“

„Tz, tz, tz“, machte die Königin. „Leidet wie ein geprügelter Hund, statt gleich eine Frage zu stellen. Ohne Sir Bill wärt Ihr glatt an Euerem Kummer erstickt, vermute ich.“

„Gut möglich“, murmelte Sir Ian. „Ich mag mir ein Leben ohne die kleine Zauberin gar nicht vorstellen.“

„Schwer erwischt“, schmunzelte Sir Bill. „Aber das ist gut so. Ich zähle doch auch schon die Tage.“

„Wie macht sich Euer Knecht Alf?“, fragte der König.

„Nicht übel“, gab Sir Bill Auskunft. „Er arbeitet akkurat, ist zuverlässig, in jeder Weise unauffällig und überdies froh, dass ich ihm die Missetaten seines Vaters nicht anrechne. Es ist wohl das Gleiche, wie bei der Familie des verflossenen Königs: Sie wurden von allem fern und in Unwissenheit gehalten. Nur hat Alf Befehle seines Vaters befolgt, die ihn nun alles, außer das nackte Leben, gekostet haben.“

„Habt Ihr ihn befragt?“, hakte Lady Tessa ein.

Bill schüttelte den Kopf. „Ich habe es in verschiedenen Varianten auf den Märkten aufgeschnappt.“ Er deutete auf seine Ohren. „Man spricht darüber, wenn man mich sieht, und weiß, dass er mein Knecht ist. Dass ich über große Entfernungen hören kann, was man sich zuflüstert, daran denkt ja kaum einer.“

„Was immer wieder zum Vorteil ist“, schmunzelte Sir Dan.

Das Königspaar wechselte einen kurzen Blick, dann mit einem vergnügten Blinzeln der Befehl an Ritter Bill: „Wenn Ihr schon mal da seid, könnt Ihr zur Abwechslung die Prinzessinnen trainieren. Die Waffen wird man Euch sogleich bringen.“

Ritter Bill nickte erfreut. „Herzlichen Dank, mein König. Bin schon unterwegs, um mich den Damen zu widmen.“

„Tut das, mein Lieber!“, lachte die Königin. „Sie brennen darauf, Euch wieder einmal necken zu können.“

„Was ich mir gut vorstellen kann“, schmunzelte Bill, sich auf den Trainingsplatz begebend, welchen soeben auch die kampfbereit gerüsteten Prinzessinnen erreichten. Sir Bill grüßte lächelnd, bekam strahlendes Lächeln zurück und erklärte den Plan für den heutigen Morgen. Streitaxt, Morgenstern und Dolch sollten die Waffen sein, deren Umgang die jungen Kampfdrachen noch verfeinern und im Fall der Morgensterne erlernen sollten.

Dass die Kämpferinnen gut in Übung waren, bekam die sich bewegende Attrappe zu spüren. Lady Ashley warf den Dolch beidhändig mit solcher Wucht, dass er bis zum Heft ins Holz fuhr und Bill ihn, ebenfalls mit Drachenkraft, herausziehen musste. Dabei hatte die Prinzessin das Herz der Holzfigur zwar nicht mittig, aber tödlich getroffen. Beide Waffen steckten direkt am inneren Rand des Ringes, der es symbolisierte. Auch die anderen zwei Versuche endeten mit Treffern, was der jungen Dame großes Lob von Lehrer Bill einbrachte.

Amara warf mit der rechten Hand ins Zentrum des Ringes, traf mit links aber die Nasenspitze der Attrappe. Ashley kicherte und über Bills Gesicht flog ein heiteres Lächeln. Beim zweiten Versuch genau das gleiche Trefferbild und die beiden Zuschauer begannen zu ahnen, dass dies Absicht gewesen war. So wunderte sich Ritter Bill auch kein bisschen, dass beim dritten Versuch, nur mit der jeweils anderen Hand, haargenau das Gleiche geschah. Ashley blinzelte vergnügt. „Der war doch beim ersten Dolch sowieso schon tot.“

Das gab Bill mit herzlichem Lachen zu und bescheinigte ihr, die gleiche hervorragende Treffsicherheit wie ihre Schwester zu haben. Das machte ihm aber auch klar, dass beide die Attrappe heute zu Kleinholz verarbeiten würden, sobald sie ihre anderen Waffen in den Händen hielten. Max, wie die menschlichen Knappen die Holzfigur nannten, wurde buchstäblich verhackstückt. Wobei die Damen jetzt etwas mehr Mühe hatten, die schweren Waffen ins angegebene Trefferfeld zu setzen. Das aber wieder mit solcher Wucht, dass Bill sie diesmal stecken ließ.

Amara warf ihre dritte Axt versehentlich direkt auf den Punkt der ersten. Es gab ein scharfes knirschendes Geräusch, weil Metall auf Metall traf, dann raste die Waffe als Querschläger davon, statt zu Boden zu fallen. Die Prinzessinnen hechteten aus der Gefahrenzone direkt in den tiefen Schnee am Rande des Platzes, um dem tödlichen Geschoss zu entgehen. Sir Bill besaß die Kaltblütigkeit, stehen zu bleiben und nach dem herumwirbelnden Griff zu fassen, als das Mordwerkzeug direkt an ihm vorbei flog. Ein heftiger Ruck, dann stand er mit erhobener Streitaxt und zufrieden grinsend auf dem Platz. „Nicht zum Nachmachen empfohlen, meine Damen!“

„Es tut mir leid“, murmelte Amara schuldbewusst.

Lady Tessa und Sir Cedrik hatten, wie schon so oft, zusammen mit den Rittern Ian und Dan, die Kampfausbildung ihrer Töchter vom Fenster aus beobachtet.

„Er ist unglaublich!“, staunte der König.

Sir Ian rieb sich die Hände. „Ich bin unglaublich stolz auf ihn!“

„Das wiederum glaube ich Euch aufs Wort!“, rief Lady Tessa, während Sir Dan heftig nickte.

Unten zog derweil Sir Bill scheinbar unbeeindruckt die Übungen mit den Prinzessinnen durch. Er hatte nicht einmal Lady Ashley zur Ordnung gerufen, als die ihrer Schwester etwas in jener Zischelsprache zuraunte, die nur die beiden selber verstanden. Ashley und Amara hatten ihrem Lehrer versprochen, sich nicht ihrer geheimen zischenden Sprache zu bedienen, solange sie sich im Training befanden, nur klang das für Bill diesmal so, als habe die eine die andere hart zur Achtsamkeit gemahnt.

„Oh, verzeiht mir!“, murmelte Ashley erbleichend, es selbst erst jetzt bemerkend, das Versprechen soeben gebrochen zu haben.

Amara zog den Kopf ein, in der Annahme Ritter Bill werde nun Strafübungen verhängen.

„Entschuldigungen angenommen“, sagte er kurz, zum Tagesordnungspunkt Kettenmorgenstern übergehend. Er hatte unterschiedliche Typen vor sich liegen und wählte einen, bei dem sich an einem kurzen Griff fünf Eisenketten mit metallgespickten Kugeln, jede so groß wie ein mittlerer Apfel, befanden. „Die Kunst besteht zu allererst darin, ihn sich nicht selber um die Ohren zu schlagen“, erklärte er sehr ernst.

Die jungen Damen horchten auf, stellten kurz darauf fest, wie recht Sir Bill hatte und wie unglaublich schwer es war, sich nicht zu verletzen. Einfach nach hinten ausholen und zuschlagen, wie bei anderen Waffen, gab es tatsächlich nicht. Ashley krachten beim ersten Versuch die gefährlichen Kugeln in den Rückenpanzer, was nur der dick gesteppte Wintergambeson etwas abmilderte. Amara versuchte es langsamer, hatte aber beim nach vorn Schleudern den Arm nicht weit genug gestreckt und schlug sich den Helm vom Kopf.

„Ich möchte Euch nicht dazu verdammen, perfekt im Umgang hiermit zu werden“, sprach Sir Bill. „Ich möchte nur, dass Ihr Euch zu helfen wisst, falls man Euch zu einem Kampf mit so etwas zwingt.“

Er demonstrierte seine Art der Handhabung mit seitlich ausgestrecktem Arm, wobei er die Ketten immer schneller kreisen ließ und das Ganze schließlich vor seinen Körper bewegte. Die Schwestern erschraken heftig, als er die rotierende Waffe ohne Vorwarnung auf die Attrappe krachen ließ, welche völlig zerfetzt wurde.

„Nur gut, dass wir Frieden haben“, wisperte Amara, „und uns als Drachen in den Kampf stürzen könnten, wenn wir es müssten.“

Der König und die anderen beiden Ritter traten zu ihnen auf den Kampfplatz. „Die Frage ist immer, wie lange der Frieden hält. Menschen sind gierig und unsere über Jahrhunderte angehäuften Schätze wecken bei ihnen Begehrlichkeiten. Selbst aus den eigenen Reihen droht immer wieder Ungemach. Lasst Euch von Eurer Mutter erzählen, wie sie in den Besitz der Burg Wolkenfels gekommen ist, die auf König Vincents Ländereien liegt.“ An Sir Bill gewandt: „Fahrt mit dem Unterricht fort!“

Der junge Ritter pickte nun einen Kettenmorgenstern mit nur einer Kugel heraus, deren Gewicht es locker mit der Gesamtheit der metalldornengespickten Kugeln des Vorgängermodells aufnahm. Die Prinzessinnen setzten ihr ganzes Geschick ein, um diesmal ungeschoren davonzukommen.

Dafür war der letzte Typ dann eine dornenbewehrte Keule, welche die Damen leichter handhabten, obwohl sie ein nicht zu unterschätzendes Gewicht hatte. Der letzte Max war schließlich nur noch ein Häufchen Späne, die sich der Koch von seinem Küchenjungen zum Anfeuern bringen ließ. Bill beendete das Training.

„Dolch oder Schwert?“, fragte König Cedric.

„Beides!“, erwiderte Bill sofort.

„Dürfen wir zuschauen?!“, rief Lady Ashley, worauf die Schwestern die Erlaubnis von ihrem Vater erhielten und sich von einer Dienerin Pelzmäntel und -stiefel bringen ließen.

Ein Knappe rüstete den König ein, ein anderer brachte dessen Lieblingswaffen und wenige Minuten später trat er seinem jüngsten Ritter zum Kampf entgegen. Keiner der beiden hielt seine Drachenkräfte hinterm Berg und schon bald konnten die Knappen den rasend schnellen Bewegungen der Kämpen nicht mehr folgen, während die vier anderen Zuschauer begeistert fachsimpelten.

Wobei es noch viel mehr Beobachter des Spektakels gab. Die Königin und ihre Hofdamen spähten aus den Fenstern, die Wachen lugten über die Brüstungen der Türme und Mauern, oder schauten heimlich um Ecken. Das Gesinde sperrte Mund und Augen auf, wenn es am Kampfplatz vorbeigehen musste.

„Weiße Kampfdrachen sind wirklich etwas Besonderes“, gab der König neidlos zu, als er seinen Ritter zwar mehrmals in die Enge treiben, aber am Ende nicht besiegen, konnte.

„Tapfer gefochten, mein Lieber!“, lobte Sir Ian. „Wenn man Euch in der Falle wähnt, kommt die Bestie durch und macht jeden Triumph zunichte.“

„Eine treffende Erklärung. Ich habe wohl nicht umsonst rote Augen“, lachte Sir Bill. „Wenn ich merke, dass ich gleich unterliege, sehe ich buchstäblich rot und explodiere innerlich.“

„Mich wundert es nicht“, schmunzelte der König, „waren doch zwei drachengestaltig geborene Damen, direkte Nachkommen des mächtigsten Drachens auf Erden, Eure Geburtshelferinnen für die Verwandlung. Zudem legt Ihr den Dolch mit der Asche der Urdrachen niemals für längere Zeit ab. In Euch fließen ungeheuere Kräfte. Deshalb werdet Ihr der persönliche Beschützer des Königspaares des alten Drachenlandes sein, auch, wenn es Euch ein wenig bei Euren eigenen Feierlichkeiten stören wird.“

Sir Bill verbeugte sich sehr tief. „Es ist mir eine unvergleichliche Ehre!“ Dass er damit zum dritten Mann nach den Herren Ian und Dan aufgestiegen war, begriff er augenblicks. Die anderen merkten schnell, dass sich soeben etwas verändert hatte, denn der König legte Ritter Bill einen Arm um die Schulter, während sie zum Palas zurück schlenderten.

Lady Tara hauchte ein erstauntes: „Oh!“, was die Königin hellauf lachen ließ. „Richtig erkannt! Er ist damit in den Beraterkreis aufgenommen. Was nicht unbedingt nur Vorteile bringt, wenn man die Stunden rechnet, in denen er Euch fern sein wird.“

„Das schreckt mich nicht, meine Königin!“, erwiderte Tara lächelnd. „Ich werde stets alles tun, ihm dabei keine Last zu sein.“ Lady Lia, die dasselbe immer für ihren geliebten Gatten, Sir Dan tat, drückte fest die Hand ihrer kleinen Schwester.

„Verdammt kalt da draußen!“, erklärte Sir Cedric, als Lady Tessa erstaunt feststellte, dass auf den paar Schritten bis zur Tür die schweißnassen Gambesons beider Kämpfer zu gefrieren begannen.

Die Prinzessinnen hatten sich mit Drachenkraft warm gehalten, als ihnen beim Zuschauen die Kälte langsam unter die Bärenpelzumhänge gekrochen war. Auch die Herren Cedric und Bill bedienten sich jetzt dieser Möglichkeit, ihre feuchten Gewänder erträglich werden zu lassen, solange sie sich nicht umziehen konnte.

„Ihr habt Glück, mein Lieber, dass Drachennasen empfindlich sind“, kicherte Lady Tessa. „So bekommt Ihr neue Rechte und Pflichten im Schnelldurchgang erklärt. Das heißt, Ihr habt ab sofort das Recht, im Namen des Königs Streitereien unter Edelleuten zu schlichten, sitzt im Rat, und seid von der Steuer befreit, wobei wir Euch einen kleinen Obolus auf die neue Stellung zahlen werden. Der Rest ergibt sich fast von allein. Und nun rasch nach Hause, damit Ihr Euch nicht doch noch erkältet!“

Sir Bill dankte hocherfreut, verabschiedete sich und startete direkt von der Außentür den Flug zur heimatlichen Burg, die man der vielen edlen Pferde ihres Herrn wegen, die Rossburg nannte, wo er mit Sorge erwartet wurde.

„Alles bestens!“, rief er sofort nach der Rückverwandlung. „Füllt den Badezuber meterhoch mit Schnee, ich heize mir das Wasser selber warm! Lasst mir frische Kleider zum Badehaus bringen!“ Und während die Herren Marc und Ben noch erstaunt schauten, trug er bereits seine Waffen ins Haus. Marc rief nach dem Knecht, der eilends mit der hölzernen Wanne nahte, Ben hielt schon Schaufeln für den Schnee bereit. Kaum war der Zuber gefüllt, schleppten sie ihn zu dritt ins Badehaus, wo sich Bill sofort der nassen Kleidung entledigte.

„Trocknen und reparieren!“, befahl er Alf. „Aber vorher einen Krug Wein und drei Becher herbringen!“

„Wir mimen die Bademägde!“, gab Ben breit grinsend bekannt, als Bill in Drachengestalt den rasch schmelzenden Schnee weiter erhitzte, bis das Wasser die richtige Temperatur hatte. „Was ist passiert und was gibt es Neues? Wer so nass von einem Besuch im Haus des Königs wiederkehrt, ein heißes Bad und Wein ordert, hat sicher eine Menge zu berichten.“

„Darauf könnt Ihr wetten, meine Herren!“, rief Bill, bis zum Hals im angenehm warmen Wasser sitzend. „Meine Blitzmission war ein voller Erfolg. Sir Ian ist glücklich, ich durfte die Prinzessinnen trainieren, habe einen heftigen Waffengang mit dem König bestanden und bin als neuer Ratsherr mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet worden. Abgesehen davon, dass ich keine Steuer mehr bezahlen muss und Euch beiden nun sogar ein Handgeld zukommen lassen kann.“

„Das sind fürwahr Gründe, mit einem Krug Wein anzustoßen“, staunten die Ritter, den edlen Tropfen von Alf entgegennehmend.

„Es wird aber sicher nicht nur Vorteile haben“, überlegte Ben laut.

„Richtig. Ich werde bei den Feierlichkeiten der nächsten Tage als persönlicher Wächter des anderen Königspaares fungieren. Nur ist diese Ehre auch jede Widrigkeit wert. Ich möchte Euch bitten, an meiner statt, für die Sicherheit meiner Liebsten zu sorgen.“

„Ich schwöre es!“, antworteten beide Ritter zugleich.

„Schenkt noch einmal Wein nach, und gebt mir, wenn die Becher leer sind, das Handtuch, denn ich habe für heute langsam genug Wasser gefühlt.“ Bill prostete seinen Männern zu.

Beim Mittagessen an der Tafel des Königs, ging es um die würdige Unterbringung der zahlreichen Gäste, die wahrlich nicht alle in der Burg schlafen konnten und um das Heizmaterial für die vielen Zelte. Man hatte nicht bedacht, dass auch Menschen kamen, die sich auf andere Weise vor der Kälte schützen mussten, als es die Drachen taten.

„Ich habe eine Idee!“, platzte Sir Dan heraus. „Ihr wisst doch, dass ich aus einem winzigen Ort stamme und meine ersten Jahre inmitten der Menschenkinder verbracht habe. Wir Knaben haben uns aus Schnee Rundhütten gebaut, die man woanders auf der Welt, wo es immer kalt ist, Iglu nennt. Sie halten perfekt den Wind ab und können mittels eines sehr kleinen Feuers erträglich erwärmt werden.“

„Natürlich! Genial!“ Lady Tessa erinnerte sich, so etwas mit eigenen Augen in ihrem ersten Leben gesehen zu haben. „Nur haben wir nicht mehr viel Zeit.“

„Dann ruft die Kinder dazu auf“, schlug Sir Ian vor. „Versprecht ihnen Kuchen und Zuckerwerk. Jeder Erwachsene, der hilft, weil er im Augenblick auf seinem Bauernhof untätig herumsitzt, soll eine warme Mahlzeit, wie die Kleinen, aber ein Krüglein Wein pro Familie zusätzlich bekommen. Sir Dan wird die Arbeiten anweisen und beaufsichtigen. Und jeder ist willkommen, der sich noch beteiligen möchte.“

„Klingt nach Spaß“, wisperte Lady Ashley ihrer Schwester ins Ohr. „Erst fliegen wir Heroldsdienst, dann stürzen wir uns ins Getümmel.“

„Einverstanden“, hörten sie ihren Vater sagen.

„Wirklich?!“ Amara glaubte, sich verhört zu haben.

„Alle Knappen müssen sich beteiligen“, blinzelte Lady Tessa verschwörerisch. „So können sie lernen, im Winter zu überleben, wenn sie sich einmal in der Wildnis verirren sollten.“

Die beiden Knappen am Tisch in der Ecke rieben sich stumm, aber höchst erfreut die Hände. Nach dem Essen brachen vier Drachen auf, um alle Gehöfte und Siedlungen in unmittelbarer Nähe anzufliegen. Die Prinzessinnen besuchten die Edelleute und Rittergüter, die Herren Ian und Dan das Volk. Am nächsten Morgen sollten alle pünktlich vor dem Tor der Königsburg erscheinen.

Auf dem Rückweg huschten die Königstöchter noch zu Sir Bill und dessen Rittern, um ihnen zu berichten.

„Wir sind dabei!“, lachte der Burgherr, auf sich und die beiden anderen zeigend.

Noch mehr lachte Drache Ian, der denselben Weg wie die Damen, nur etwas später, eingeschlagen hatte. „War ja klar, dass Ihr Euch den Spaß nicht entgehen lasst.“ Er brach mit den beiden schwarzen Drachen im Formationsflug nach Hause auf, was vor dem weißen Hintergrund phänomenal aussah.

Am Abend hockten die drei Ritter in der Küche, dem im Augenblick wärmsten Raum der kleinen Burg und schwelgten in Erinnerungen aus frühen Kindertagen, wo sie sorglos Schneemänner gebaut hatten. Marc war schon in sehr jungen Jahren zur Knappenausbildung gegeben worden, weil seine verarmte Familie so sicher sein konnte, dass er ein Dach überm Kopf und etwas zu essen hatte. Davon, wie schlecht es ihm dort ergangen war, hatte sie keine Ahnung, denn er beklagte sich nie. Die Brüder Bill und Ben waren völlig auf sich gestellt gewesen, als ihre Mutter starb, und so erzählten sie Marc von ihren Überlebensabenteuern, deren eines sie schließlich auch zu Knappen machte. Nur, dass sie das riesengroße Glück hatten, bei wirklich edlen Herren und zudem am Königshof zu landen.

„Pferde brauchen wir morgen nicht“, gab Bill bekannt, „Ihr habt doch mich.“

„Noch standesgemäßer kann ein Ritter wirklich nicht zu seinem Einsatzort gelangen“, schmunzelte Marc, sich auf den Ritt freuend. Zumal man für diesen Einsatz keine schwere Kampfkluft anlegen musste.

Mit dem Sonnenaufgang fanden sich alle drei am Herdfeuer der Küche zusammen, stärkten sich für einen langen Tag und steckten etwas Trockenfleisch und Kräuter für Tee ein. Ohne Becher und Besteck wäre ein anständiger Mann niemals aus dem Haus gegangen, sodass man sich schon irgendwie behelfen konnte.

„Einer oben, einer unten!“, grinste Bill kurz vor der Verwandlung.

Marc war der Schnellere, weil er blitzartig auf den Rücken des Drachen kraxelte. Ben nahm schmunzelnd den Pferdeplatz ein, was hieß, dass er sich von seinem Bruder mit den schuppigen Klauen greifen ließ. Auf dem Rückweg werde man wechseln, das war eine ungeschriebene Regel beider Männer.

„Oha, hier ist doch die halbe Landesbevölkerung versammelt!“, rief Ben, als sie sich dem Tor näherten.

Bill gab ein tiefes belustigtes Grollen von sich. Mit einem derartigen Ansturm hatten sie nicht gerechnet. Kaum waren sie unter den bewundernden Blicken der Menschen gelandet, erschienen die Herren Dan und Ian mit den Prinzessinnen und Knappen.

Die Männer hatten am Vortag die einzelnen Areale gekennzeichnet, auf denen die Iglus errichtet werden sollten, die Feuerstellen und Tribünen. Sir Ian erklärte mit einfachen Worten, was er von jedem erwartete und wie das zu bewerkstelligen war. Dann zogen die Massen in die Schlacht, um dem Schnee die besten Blöcke zum Bau abzutrotzen.

Keiner wurde allein gelassen, lief es nicht nach Plan, denn die Drachen fassten mit ihren Bärenkräften überall mit an, besonders wenn es darum ging, weiter entfernte Blöcke zur Baustelle zu tragen. Sie entdeckten manch bekanntes Gesicht, das sonst vom Visier eines Ritterhelms bedeckt wurde. Keiner der Männer war sich zu schade gewesen, im Auftrag des Königs hier mit anzupacken, was das Gefühl, zusammenzugehören, deutlich wachsen ließ. Schnell sprach sich herum, dass sogar die Prinzessinnen mitarbeiteten und das adelte all die einfachen Leute gewaltig.

Marc und Ben hatten sich einer Gruppe angeschlossen, die das Schneedomizil für die Pferde der Einheimischen bauen sollte. Fast jeder trug ein Tuch um Mund und Nase, weil sich so die Kälte besser ertragen ließ. An den Dolchen und der Art der Kleidung wurden die beiden sofort als Ritter identifiziert und man folgte ihren Anweisungen. In einer Verschnaufpause gingen sie gemeinsam zum großen Kessel, aus welchem der König heißen Tee ausschenken ließ.

Marc unterhielt sich mit einem Mann, mit dem er schon die ganze Zeit perfekt und ohne viele Worte zusammengearbeitet hatte, über die Sorgen und Nöte der ärmeren Menschen, die der Winter Jahr für Jahr mit sich brachte. Manches kam ihm aus Kindertagen seltsam vertraut vor und Bilder entstanden in seinem Kopf, die immer mehr Gestalt annahmen. „Klingt, als kämst du aus der nördlichen Siedlung“, sagte er schließlich.

„Das ist richtig, mein Herr“, bekam er zur Antwort. „Ihr scheint sie gut zu kennen.“

„Ein wenig.“ Marc zog sein Tuch herunter, um trinken zu können.

Der andere tat es ihm gleich. Marc überflog mit einem kurzen Blick dessen Gesicht, dann gab er einen Laut von sich, der eine merkwürdige Mischung aus Seufzen, Schluckauf und Lachen war. „Vater?!“

„Marc? Mein Sohn?!“

Ben schüttelte ungläubig den Kopf, als sich die Männer halb weinend, halb lachend in den Armen lagen. Den Drachen blieb die Aufregung nicht verborgen und so fanden sich die Herren Bill, Ian und Dan ein, um zu schauen, ob Hilfe benötigt werde.

Die Herren Ian und Dan führten eine schnelle telepathische Unterhaltung mit Sir Bill, dann erklärte dieser, dass er Sir Marc und dessen Vater zum Feierabend zur nördlichen Siedlung bringen werde. Ritter Dan sicherte Sir Ben den Heimflug zu.

„Wie bist du denn hierher gekommen?“, fragte Marc seinen Vater.

„Ich bin gelaufen. Bestimmt drei Stunden, vielleicht auch mehr. Wenn unser Drachenkönig ruft, bin ich pünktlich zur Stelle. Dann ist es nämlich wichtig und nicht für sinnlosen Krieg, wie früher immer.“ Sie hoben gemeinsam einen Schneeblock auf die nächste Ebene. Dass ein Ritter namens Marc beim weißen Drachen im Dienst stand, hatte er gehört, nur nicht geahnt, dass es sein eigener Sohn sein könnte. Den hatte er doch zu einem Lehrherrn geben müssen, der von Grund auf nichts taugte.

„Morgen noch ein halber Tag, dann sind Lager- und Festplatz perfekt!“, gab Sir Ian am Abend bekannt, als er die versprochenen Lebensmittel austeilen ließ und alle ermahnte, die leeren Krüge bei nächster Gelegenheit wieder an die Königsburg zurückzugeben. Die leuchtenden Kinderaugen sprachen Bände, wenn Jungen und Mädchen Zuckerwerk und Kuchen entgegennahmen.

„Ist für morgen noch genug da?“, fragte Sir Marc blinzelnd.

„Auf jeden Fall!“, schmunzelte Sir Ian, ein Bündel mit mehreren Stücken Kuchen und Zuckerwerk packend, das er ihm in die Hand drückte. „Bis morgen und guten Flug!“

Familienbande

Im Nu verwandelte sich Sir Bill in den weißen Drachen, ließ Marc aufsteigen, fasste dessen Vater und schwang sich mit rauschenden Schwingen in den dunklen Abendhimmel. Nach einer Viertelstunde tauchten die Lichter der kleinen Siedlung auf und Rufe: „Ein Drache kommt! Ein Drache kommt!“, schallten bis zu ihnen hinauf. Alle, die im Winter zu Hause bleiben mussten, eilten ins Freie, um den Drachen vorüberziehen zu sehen.

Nur zog der nicht vorbei! Er begann zu kreisen, tiefer zu gehen, und fand schließlich einen Fleck zum Landen, wo er keinen Schaulustigen verletzen konnte. Auch vor Marcs Elternhaus standen zwei dick eingemummte Gestalten, weil solch ein Anblick vielleicht nie wiederkehren werde. Der Ort lag nicht auf den üblichen Flugrouten der Giganten. Erst jetzt bemerkten die Menschen, dass der Riese je einen Mann auf dem Rücken und in den Klauen getragen hatte. Doch das war nicht alles. Er verwandelte sich und schritt mit den anderen die Gasse entlang, genau auf die beiden Frauen zu!

„Wir sollten lieber verschwinden!“, hauchte die Tochter, und wollte ihre Mutter an der Hand ins Haus ziehen.

„Warum? Alle sagen, die Drachen seien mildtätig, weise und freundlich. Sie werden uns bestimmt nicht gram sein, wenn wir sie bestaunen.“ Sie starrte angestrengt ins Dunkel, wo sich auf hellerem Schnee die drei Männer rasch näherten. Kopfschüttelnd flüsterte sie plötzlich: „Du kannst mich für verrückt erklären, aber der eine bewegt sich wie dein Vater!“

„Stimmt!“, gab die Tochter irritiert zu. „Aber wie soll das gehen, dass er auf einem Drachen hierher geflogen kommt?“

Die Mutter lachte leise. „Ich glaube, das werden wir gleich erfahren. Es ist dein Vater. Jeglicher Zweifel ist ausgeschlossen.“

„Guten Abend, meine Damen!“, hörten sie da auch schon die Stimme des einen Fremden. „Ich habe mir erlaubt, Vater und Sohn einen kleinen Flug zu gönnen.“

Die Frauen verbeugten sich fast bis zum Boden. Mit dem Wort Damen waren sie schon seit vielen Jahren nicht mehr angesprochen worden. Der Jubelschrei aus zwei Kehlen, als sie Marc erkannten, war sicher noch im letzten Haus der Siedlung zu hören. „Tretet ein, tretet ein!“

Bill hatten wenige Blicke genügt, die Baufälligkeit des Häuschens zu erfassen, die fast an die seiner Burg vor dem Ausbau grenzte.

Dem Vater war dies nicht entgangen und Marc kleidete es soeben in Worte: „Ich hätte das Haus nicht wiedererkannt. Es hat schon bessere Zeiten gesehen. Auf mich wirkt es, als wäre es kurz vorm Zusammenbrechen.“ Dabei zeigte er auf den Stützbalken des Zimmers, der sich stark geneigt hatte.

„Auf mich auch“, murmelte Ritter Bill. „Ich hebe die Decke an, Ihr rückt den Balken senkrecht, bevor er wirklich jemanden erschlägt.“

Es war gerade Platz genug, einen zusammengeringelt liegenden Drachen zu beherbergen, der nun seinen gehörten Kopf einsetzte, um ein paar Millimeter Spielraum zu schaffen, sodass die Männer den Balken aufrichten konnten. Die Frauen standen staunend, das milchweiß geschuppte Wesen mit den blutroten Augen fasziniert betrachtend.

„Sieht schon freundlicher aus“, stellte der zurückverwandelte Ritter fest, sich wieder an den Tisch setzend. „Hier werdet ihr auf keinen Fall bleiben. Das einfachste Außenhaus meiner Burg ist solider als das hier. Die Frauen packen morgen zusammen, während der Hausherr noch einmal auf der Baustelle ist. Am frühen Nachmittag werdet ihr mit Sack und Pack hier abgeholt!“

Sir Marc nickte zufrieden. „Mein Dienstherr und Berater des Königs hat befohlen und ich sehe die Dinge ganz genau so. Wie soll Ariane je einen vernünftigen Mann finden, wenn sie in solch einer Ruine haust?“

Das junge Mädchen wurde rot bis in die Haarspitzen und traute sich kaum, den Blick zu heben. Die Anwesenheit von gleich zwei Rittern machte die Frauen sprachlos, wie schon allein die Tatsache, dass einer davon der eigene Sohn und Bruder war. Lautes Magenknurren ließ Ariane erneut erröten und erinnerte Marc an sein Paket, wie auch daran, das Trockenfleisch nicht angerührt zu haben.

Er legte alles auf den Tisch. „Das dürfte bis morgen reichen.“

Sir Bill leerte ebenfalls den Inhalt seines Proviantbeutels aus.

„Wie können wir Euch für alles danken?“, flüsterte die Mutter.

„Das ist einfach“, erwiderte Sir Bill. „In wenigen Tagen heirate ich. Weil ich oft für den König unterwegs bin, wäre meine junge Frau sehr einsam. Leistet ihr einfach ein bisschen Gesellschaft. Ich bin dankbar für jeden Mitbewohner, auf den ich mich felsenfest verlassen kann. Denn vielleicht brauchen wir auch bald die guten Ratschläge einer erfahrenen Mutter.“

Marcs Mutter nickte stumm. Ja, sie konnte es sich gut vorstellen, das Kind eines Drachenritters mit zu betreuen. Vielleicht war die junge Herrin ja genau so zugänglich wie der Burgherr und Ariane endlich nicht mehr von allem ausgeschlossen, wie es ihr die bittere Armut auferlegte.

„In einer Burg gibt es ständig viel zu tun. Es wird nie langweilig werden. Meine Passion sind die Pferde der Thunderstorm-Linie, da werde ich von Zeit zu Zeit jede helfende Hand brauchen.“

„Davon habe ich gehört“, freute sich Ariane. „Das sollen riesige Tiere sein. Viel, viel größer als herkömmliche Pferde und auch viel wilder.“

„Das ist richtig“, bestätigte Sir Bill.

Ariane riss plötzlich die Augen auf. „Darf ich Euch eine Frage stellen, mein Herr?“

„Aber natürlich!“, schmunzelte Bill.

Wieder wurde das junge Mädchen rot, wie eine reife Tomate. „Ich habe gehört, Eure zukünftige Frau sei Tara, die jüngere Tochter unserer ehemaligen Königin ...“

„Auch das stimmt. Ich denke, ihr beiden werdet miteinander auskommen. Kleine Geheimnisse teilt man doch lieber mit fast Gleichaltrigen, als mit anderen.“ Bill blinzelte verschwörerisch.

„Ich habe keine Angst davor, hier wegzugehen“, erklärte Ariane kurz und bündig, „schon, weil ich dann immer wieder meinen Bruder sehen kann.“

„Soll soll es sein!“, orakelte Sir Bill, sich mit Marc erhebend. „Ich komme morgen früh, kurz nach Sonnenaufgang, um dich abzuholen“, wandte er sich an den Vater. „Die Damen halten sich ab Mittag bereit!“

„Bis morgen, meine Lieben!“ Marc verabschiedete sich mit festen Umarmungen von allen.

Aus den halbblinden Fenstern schaute die Familie zu, wie sich Sir Bill direkt vor dem Haus verwandelte und mit Ritter Marc auf dem Rücken am Nachthimmel verschwand.

„War das jetzt alles echt oder habe ich geträumt“, flüsterte Mutter Jenna, sich ans Herz fassend.

„So echt wie der Duft von Trockenfleisch“, hauchte Ariane, sich, wie die Eltern, ein kleines Stückchen nehmend, um es ganz langsam und mit höchstem Genuss zu verspeisen. Als Nachtisch gab es Kuchen, einen Fingerhut voll Wein und ein winziges Stück Zuckerwerk. Solche Schätze musste man sich gut einteilen, die gab es sonst nur an Feiertagen und für Ariane selbst an diesen nicht, weil nie Geld da war, um sie zu kaufen.

„Es war gut, dass du dem Ruf des Königs gefolgt bist“, lobte die Mutter. „Auch wenn dich das halbe Dorf für einen Spinner gehalten hat, wegen des weiten Weges.“

„Denen wird das Lachen schon vergangen sein, als der weiße Drache vorhin über den Dächern kreiste“, kicherte der Vater. „Das Zipfelchen Glück, das ich heute in die Hand bekam, als ich zufällig auf unseren geliebten Sohn traf, werde ich nicht wieder loslassen. Morgen, bei Tageslicht, wird jeder sehen, dass er ein hoch geachteter Ritter geworden ist. Dann wird sich auch keiner mehr wagen, zu sagen, Ariane möge die erstbeste Vogelscheuche heiraten. Und nun gehe ich schlafen. Ich muss morgen gut ausgeruht sein, denn ich darf keinesfalls unseren Sohn und seinen wohltätigen Herrn blamieren.“

„Das darf wirklich nicht geschehen. Ich werde noch den Krug in einen eigenen ausleeren, damit du ihn morgen gleich abgeben kannst.“ Mutter und Tochter blieben am Tisch sitzen, weil sie zu aufgeregt waren, um schlafen zu können.

„Wir werden in die Burg des weißen Drachens ziehen“, flüsterte Ariane mit seligem Lächeln. „Und wir werden die Prinzessin sehen. Danke, Mama, dass du immer darauf bestanden hast, die guten Kleider in der Truhe zu lassen. So muss sich Marc, Sir Marc, wegen uns nicht schämen. Und eines weiß ich nun ganz genau: Drachen sind gütig.“

Sir Ben trat auf den Hof, als Drache Bill mit rauschenden Schwingen landete. „Ich habe uns ein Stück kalten Braten bereitstellen lassen und ein Krüglein Wein zum runterspülen.“

„Gute Idee! Wir beide haben einen Happen dringend nötig“, erklärte Bill, den Männern die Arme um die Schultern legend und sie so direkt in die Küche führend. Alf hatte die Ankunft des Drachens ebenfalls bemerkt und nahte mit einem Nachtlicht, um Befehle entgegenzunehmen. Die waren um diese Zeit zwar selten, aber manchmal unumgänglich.

„Du wirst dich morgen zuerst darum kümmern, das Häuschen direkt an der Wehrmauer bis zur Mittagsstunde bewohnbar zu machen. Kontrolliere die Fenster, trage Feuerholz und zwei Eimer Wasser hinein. Für heute kannst du schlafen gehen!“, lautete die Order.

Ben hob fragend die Augenbrauen.

„Ich habe Sir Marcs Familie hierher befohlen, ehe alle vom Dach ihres maroden Hauses erschlagen werden“, verriet Bill. „Er hat übrigens ein hübsches Schwesterchen, das ganz Eure Kragenweite sein dürfte, mein lieber Bruder.“

Marc schüttelte belustigt den Kopf. „Schau an, schau an! Ich wäre aber der Letzte, der gegen solche Familienbande etwas einzuwenden hätte.“

„Falls sie mich überhaupt mag“, dämpfte Ben die Euphorie.

„Daran zweifle ich nicht“, erwiderte Sir Marc. „Ich rechne es meinem Vater sehr hoch an, dass er sie, trotz großer Not, nicht als Spielzeug an einen reichen Tattergreis verschachert hat. Was kann sie Besseres bekommen, als einen jungen, ehrbaren Ritter?“

„Denn die mit eigener Burg sind schon alle vergeben“, fügte Sir Bill hinzu, „und die einheimischen Edelleute heiraten nur ihresgleichen. Wenn sie Euer Herz anrührt, macht ihr den Hof, wann immer es geht.“