Produktiver und rezeptiver Grammatikerwerb im schulischen Italienischunterricht - Katrin Schmiderer - E-Book

Produktiver und rezeptiver Grammatikerwerb im schulischen Italienischunterricht E-Book

Katrin Schmiderer

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Beschreibung

Dieser Band liefert eine empirische Untersuchung des produktiven und rezeptiven Grammatikerwerbs bei Italienisch-Schüler:innen der Sekundarstufe II. Am Beispiel der Adjektivkongruenz wird der Frage nachgegangen, ob der Grammatikerwerb sowohl bei der Sprachproduktion als auch bei der Sprachrezeption den von der Processability Theory postulierten Entwicklungsstufen folgt. Zur Identifikation der im zweiten Lernjahr erworbenen Entwicklungsstufen werden mündliche spontansprachliche Daten auf Basis von kommunikativen Aufgaben herangezogen. Zudem werden die Reaktionszeiten der Lerner:innen in einem Auditory Sentence Matching Task untersucht. Die gewonnenen Einsichten in den produktiven und rezeptiven Spracherwerb können wichtige Bezugspunkte für Italienischdidaktiker:innen und -lehrer:innen bieten.

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Katrin Schmiderer

Produktiver und rezeptiver Grammatikerwerb im schulischen Italienischunterricht

Eine Lernersprachenanalyse

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395997

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2197-6384

ISBN 978-3-8233-8599-8 (Print)

ISBN 978-3-8233-0473-9 (ePub)

Inhalt

In Erinnerung an meine ...VorwortAbkürzungsverzeichnis1 Einleitung1.1 Zielsetzungen1.2 Forschungsfragen1.3 Begriffsklärungen1.3.1 Gesteuerter Kontext1.3.2 Erst-, Zweit- und Drittsprache(n)1.4 Überblick über die Arbeit2 Sprachproduktion und Sprachrezeption2.1 Sprachverarbeitung in der Produktion und Rezeption2.2 Schnittstellen zwischen Sprachproduktion und -rezeption3 Morphosyntaktische Verarbeitung in der L2-Produktion und -Rezeption3.1 Erwerbssequenzen im L2-MorphosyntaxerwerbErwerbssequenzen im Italienisch-L2-Erwerb3.2 Morphosyntaktische Verarbeitung von L2-Input4 Processability Theory – Sprachproduktion4.1 Einordnung und Grundlagen der TheoriePsychologische Prämissen4.2 Theoretische Eckpfeiler4.2.1 Das Sprachproduktionsmodell von Levelt (1989)4.2.2 Lexikalisch Funktionale Grammatik (LFG) als linguistische Basis4.3 Die hierarchische Entwicklungsabfolge4.4 Erweiterungen der Theorie4.5 PT-Hierarchie für das ItalienischeEmpirische Überprüfung4.6 Methodische Aspekte4.6.1 Distributionsanalyse4.6.2 Erwerb und emergence4.6.3 Implicational scaling4.6.4 Anforderungen an Tasks zur Elizitierung produktiver Grammatik5 Processability Theory – Sprachrezeption5.1 The Integrated Encoding-Decoding Model of SLA (Lenzing 2019, 2021)5.2 Empirische Studien zu rezeptiver Grammatik5.3 Methodische Aspekte5.3.1 Anwendung des emergence criterion auf rezeptive Daten5.3.2 Anforderungen an Tasks zur Überprüfung rezeptiver Grammatik5.3.3 Evidenz aus (Auditory) Sentence Matching Tasks6 Studiendesign und Datenerhebung6.1 Tasks zur Elizitierung der Sprachproduktion6.2 Task für die Überprüfung morphosyntaktischer Verarbeitung bei der Sprachrezeption6.3 Datenerhebung6.3.1 Ablauf6.3.2 Proband*innen6.3.3 Schulischer Italienischunterricht6.4 Datenanalyse6.4.1 Daten aus der Sprachproduktion6.4.2 Daten aus der Sprachrezeption7 Analyseergebnisse7.1 Ergebnisse Sprachproduktion7.1.1 Gesamtüberblick über die quantitative Analyse7.1.2 Morphosyntaktische Merkmale pro Erwerbsstufe7.1.3 Zusammenfassung der produktiven Daten7.2 Ergebnisse SprachrezeptionErgebnisse Gruppe 1Ergebnisse Gruppe 2Ergebnisse Gruppe 3Ergebnisse Kontrollgruppe8 Diskussion der ErgebnisseSprachproduktionEntwicklungsstand im zweiten LernjahrSprachproduktion vs. SprachrezeptionDas emergence criterion in der SprachrezeptionSprachproduktion vor Sprachrezeption9 Konklusion10 LiteraturverzeichnisAnhangRegister

In Erinnerung an meine Mama

Vorwort

„Language makes us human. It is an intrinsic part of us. We learn it, we use it, and we seldom think about it. But once we start thinking about it, language seems like a sheer wonder.“ (Friederici 2017, 1)

Als ich eingehend über das Sprachenlernen nachzudenken begann, befand ich mich im vierten Semester meines Lehramtsstudiums, in einer fremdsprachendidaktischen Lehrveranstaltung bei Barbara Hinger. Ihre Ausführungen zur Erst- und Zweitspracherwerbsforschung faszinierten und inspirierten mich und warfen Fragen auf, auf die ich Antworten finden wollte. Barbara Hinger habe ich jedoch nicht nur meinen „Erstkontakt“ zur Spracherwerbsforschung zu verdanken. Sie hat mir als Doktormutter, Chefin und Frau Entwicklungschancen aufgezeigt und Entwicklungsschritte zugetraut, von denen ich selbst oft nicht gedacht hätte, dass ich sie schaffen könnte. Für ihre kontinuierliche Begleitung und ihr großes Vertrauen in mich möchte ich ihr herzlich Danke sagen. Danken möchte ich ihr auch dafür, dass sie mich mit Anke Lenzing bekannt gemacht hat, die die Zweitbetreuung meiner Doktorarbeit übernommen hat. In der Auseinandersetzung mit Anke Lenzings Artikeln und Büchern sowie im persönlichen Gespräch mit ihr habe ich viele theoretische und methodische Fragen des Spracherwerbs besser verstehen können und mich dabei mit meinen Fragen stets verstanden gefühlt. Für Anke Lenzings Expertise und Unterstützung im Prozess meiner Doktorarbeit bin ich überaus dankbar. Weiters möchte ich Gabriele Pallotti sowie Bruno Di Biase dafür danken, dass sie methodische Fragestellungen ausführlich mit mir diskutierten. Stefan Schneider danke ich für seine Bereitschaft, das Zweitgutachten zu erstellen, sowie für seine wertvollen Hinweise zur Veröffentlichung. Außerdem möchte ich den Reihenherausgeber*innen Daniel Reimann und Andrea Rössler für die Aufnahme in die Schriftenreihe „Romanistische Fremdsprachenforschung und Unterrichtsentwicklung“, sowie Kathrin Heyng vom Narr Verlag für die professionelle Betreuung danken.

Meine Doktorarbeit konnte ich zu einem Zeitpunkt beginnen, zu dem es Barbara Hinger als Institutsleiterin des Instituts für Fachdidaktik gelang, zahlreiche Stellen für Doktorand*innen in einem noch jungen Forschungsbereich an der Universität Innsbruck zu schaffen. In diesem Umfeld hatte ich die Gelegenheit, mich fachlich und persönlich mit Kolleg*innen in einer ähnlichen Entwicklungsphase auszutauschen. Danken möchte ich insbesondere meiner „inoffiziellen“ Forschungsgruppe mit Astrid Daucher und Bettina Tengler, mit denen ich meine fachlichen Standpunkte diskutieren und überprüfen, aber auch Visionen entwickeln konnte; meinen (ehemaligen) Bürokolleg*innen und -nachbar*innen Benjamin Fliri, Dominik Unterthiner, Sandra Parhammer, Jasmin Peskoller, Gitti Fuchs und Sabine Kroneder für das gegenseitige Aufmuntern, die aktiven Pausen und das angenehme Drumherum; meinem Kollegen Nicola Brocca, der mir seine Stimme für das Reaktionszeitexperiment lieh; meiner Kollegin Lisi Mair, die mich bei der Entwicklung der produktiven Tasks beraten hat und Eva M. Hirzinger-Unterrainer, die mich vor allem in der letzten Phase der Dissertation sehr unterstützt hat. Margareth Graf schulde ich größten Dank für das Korrekturlesen dieser Arbeit.

Bei der Durchführung der Hauptstudie an der Schule hat mich Andrea Markl mit großem Einsatz und höchster Professionalität unterstützt. Markus Martini hat mich bei der Auswahl der Software für das Reaktionszeitexperiment und bei statistischen Fragen beraten. Herzlichen Dank dafür!

Ein besonderer Dank geht an alle Schüler*innen und ihre Lehrer*innen Julia Felderer und Thomas Ladstätter, die sich auf meine Studie eingelassen und mir damit sehr wertvolle Einblicke in ihre Fremdsprachenentwicklung sowie den schulischen Fremdsprachenunterricht erlaubt haben. Die Offenheit, mit denen mir Schüler*innen und Lehrer*innen begegnet sind, weiß ich sehr zu schätzen, denn sie ist alles andere als selbstverständlich.

Im Laufe der letzten Jahre haben mich Rosi, Christina, Kathi, Sabi, Eva-Maria, Anna, Elisa, Andrea, Lena, Marwa, Lukas, Daniel, Dominik, Thomas und Gabriel auf unterschiedlichste Art und Weise begleitet. Für ihre Freundschaften bin ich überaus dankbar.

Schließlich danke ich meinem Papa für seine vielfältige Unterstützung und seinen grenzenlosen Glauben an mich, meiner Schwester Daniela für ihren inspirierenden Blick auf die Welt und für unsere enge Verbindung, meinem Partner Christoph für seine bedingungslose Liebe und unser gegenseitiges Verständnis.

Diese Arbeit widme ich meiner Mama, einer großen Frau und noch größeren Mutter, deren Liebe und deren Sprache mich in vielerlei Hinsicht zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

Abkürzungsverzeichnis

ADJ

Adjunkt

AP

Adjektivphrase

COMP

Komplement

DET

Determinant

DMFonF

Developmentally Moderated Focus on Forum

FEM

Femininum

GEND

Genus

GERS

Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen

GJT

Grammaticality Judgement Task

HLW

Höhere Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe

IP

Input Processing

ISLA

Instructed Second Language Acquisition

L1

Erstsprache(n)

L2

Zweitsprache(n)

L3

Drittsprache(n)

LFG

Lexikalisch Funktionale Grammatik

MASK

Maskulinum

MCH

Multiple Constraints Hypothesis

NP

Nominalphrase

NUM

Numerus

OBJ

Objekt

OBL

Oblique

PL

Plural

PP

Präpositionalphrase

PRED

semantisches Merkmal

PT

Processability Theory

RT

Reaktionszeiten

SG

Singular

SMT

Sentence Matching Task

SRDP

Standardisierte Reife- und Diplomprüfung

SUBJ

Subjekt

UG

Universalgrammatik

VP

Verbalphrase

ZISA

Zweitspracherwerb Italienischer und Spanischer Arbeiter

1Einleitung

1.1Zielsetzungen

Die Zielsetzungen der vorliegenden Arbeit ergeben sich aus zwei wesentlichen Bereichen: Erstens besteht in der L2Zweitsprache (L2)-Forschung nach wie vor das Desiderat, Erkenntnisse der produktiven und rezeptiven Grammatikentwicklung in ein umfassendes Modell sowie in eine umfassende Spracherwerbstheorie zu integrieren. Hulstijn (2015, 41) etwa formuliert folgende Frage als Desiderat für zukünftige Forschung im Bereich der Zweitspracherwerbsforschung (L2-ErwerbZweitspracherwerbsforschung): „How exactly are production procedures formed; how are they connected to or even dependent on receptive procedures?“ Zahlreiche Forscher*innen halten zudem fest, dass viele Studien nur entweder die Produktions- oder die Rezeptionsseite untersuchen, sich aber nicht mit deren (möglichen) Schnittstellen beschäftigen (vgl. u. a. De Jong 2005). Sie erkennen darin einen weitgehend untererforschten Bereich der L2-Erwerbsforschung, dessen Untersuchung größere Klarheit über Gemeinsamkeiten und/oder Unterschiede der Grammatikentwicklung in der sprachlichen Produktion und Rezeption erhoffen lässt (vgl. u. a. Doughty/Long 2005; R. Ellis 2008; Ortega 2009).

Ein Forschungsbereich, der Fragen des Verhältnisses zwischen SprachproduktionSprachproduktion und SprachrezeptionSprachrezeption schon seit einigen Jahren aufgreift sowie Erklärungsansätze für die beobachteten Asymmetrien etwa zugunsten der Produktion für morphosyntaktische Strukturen diskutiert, ist die Forschung zur Erstsprachenentwicklung von Kindern (vgl. u. a. Hendriks/Koster 2010; Hendriks 2014; Tasseva-Kurktchieva 2015; Ünal/Papafragou 2015).

In der L2Zweitsprache (L2)-Forschung findet sich in Lenzings Integrated Encoding-Decoding Model of SLA (2019, 2021) eine kürzlich veröffentlichte Antwort auf die beschriebenen Desiderate. Lenzings Modell erklärt das Verhältnis zwischen rezeptiver und produktiver Sprachverarbeitung und geht von einem von beiden Modalitäten genutzten grammatischen Bereich aus (shared grammatical workspaceshared grammatical workspace1, s. auch Kempen/Olsthoorn/Sprenger 2012, 348), der sich auf Basis der Vorhersagen der Processability Theory (PTProcessability Theory (PT)) entwickelt. Im Rahmen dieser Theorie wurden in den letzten Jahren zudem mehrere empirische Studien durchgeführt, die untersuchten, ob sich die von PT vorhergesagten Entwicklungsstufen sowohl in der SprachproduktionSprachproduktion als auch in der SprachrezeptionSprachrezeption zeigen. Diese Studien führten jedoch zu teils stark divergierenden Ergebnissen (vgl. Buyl/Housen 2015, 530), was weitere Untersuchungen – auch für andere Sprachen als das Englische – notwendig macht.

Neben der Forderung nach einer umfassenden L2Zweitsprache (L2)-ErwerbZweitspracherwerbstheorie, die die SprachproduktionSprachproduktion sowie die SprachrezeptionSprachrezeption abdeckt, stellt die Beschreibung der produktiven und rezeptiven LernerspracheLernersprache (interlanguage) im schulischen Italienischunterricht das zweite wesentliche Desiderat dar, das diese Arbeit aufgreifen soll. Bereits Corder (1967, 69) forderte ein besseres Verständnis der „Sprache der/des Lernenden“ und beschrieb Charakteristika dieses Zwischensystems, das Selinker (1972) schließlich als „interlanguage“ bezeichnete und das in der Fachliteratur auch als „Lernervarietät“ betrachtet wird (vgl. u. a. Klein/Perdue 1997; Dimroth 2013). Michler/Reimann (2019, 298) monieren in ihrer Fachdidaktik Italienisch eine bis dato nur sehr geringe Anzahl an lernersprachenbezogenen Untersuchungen in der italianistischen Fremdsprachenforschung und führen Studien von Ernst (1975), Kleppin/Königs (1991) und Kielhöfer (1992) an, die jedoch allesamt im Bereich der Fehleranalyse und damit zwar nicht mehr im Paradigma der Kontrastivanalyse, aber auch noch nicht in der umfassenden Analyse der Lernersprache zu verorten sind (vgl. Corder 1967).

Das erste und bisher wohl auch umfassendste Forschungsprojekt zur italienischen LernerspracheLernersprache ist das Mitte der 1980er Jahre initiierte Progetto di PaviaProgetto di Pavia (u. a. Andorno 2001; Andorno/Bernini 2003; Giacalone Ramat 2003). Hinsichtlich der Morphosyntaxentwicklung geht aus dem longitudinalen Korpus hervor, dass Lerner*innen mit unterschiedlichen Erstsprachen dieselbe implikationale Erwerbsreihenfolge von einigen sprachlichen Strukturen aufweisen, auch wenn sie diese Erwerbsabfolge mit unterschiedlicher Geschwindigkeit durchlaufen – abhängig von unterschiedlichen beeinflussenden Faktoren wie Markiertheit der Strukturen und struktureller Distanz zwischen Erstsprache(n) und Zweitsprachen sowie von extralinguistischen Faktoren wie Alter, Motivation, Input und Einstellungen zur Sprache.

Neben dem Korpus PaviaProgetto di Pavia bestehen für das Italienische weitere Zweitsprachenkorpora2. Zu den bestehenden mündlichen Korpora zählen LIPS (Lessico dell’Italiano Parlato da Stranieri) und CoCer.It (Corpus della Certificazione Italiana), die Transkriptionen von mündlichen Prüfungen von Sprachzertifikaten der CILS – Certificazione di Italiano come Lingua Straniera an der Università per Stranieri di Siena (Vedovelli et al. 2006) und der Università di Roma Tre enthalten3. Unter die schriftlichen Korpora fällt das Korpus VALICOKorpus VALICO (Varietà di Apprendimento della Lingua Italiana), ein Unterkorpus des Korpus Gran Valico, das eine Sammlung von Lerner*innentexten aus unterschiedlichen Lernkontexten mit 44 unterschiedlichen Erstsprachen umfasst, wobei auch hier die häufigste Lerner*innengruppe jene der Studierenden an Universitäten zwischen 19 und 25 Jahren ist (Marello/Barbera 2003). CAIL2 (Corpus di Apprendenti di Italiano L2Zweitsprache (L2)) enthält Texte von leichtfortgeschrittenen und fortgeschrittenen Studierenden dreier Universitäten (Perugia, Prag und České Budějovice) mit 33 unterschiedlichen Erstsprachen (Spina et al. 2001); LOCCLI (Longitudinal Corpus of Chinese Learners of Italian) beinhaltet Texte von Lernenden mit Chinesisch als Erstsprache, die einen 6- bis 8-monatigen Sprachkurs an der Università per Stranieri di Perugia besuchten (Spina/Siyanova-Chanturia in Vorbereitung). Zu Korpora mit sowohl schriftlichen als auch mündlichen Daten können ADIL2 (Archivio Digitale Italiano L2) mit Daten von Teilnehmer*innen von Sprachkursen an der Università per Stranieri di Siena mit 27 unterschiedlichen Erstsprachen (Palermo 2005) aus Querschnitt- und Längsschnittperspektive gezählt werden sowie das Korpus COLIKorpus COLI (Corpus of  Chinese Learners of Italian) mit Daten von fortgeschrittenen Studierenden der Università per Stranieri di Perugia (L1Erstsprache (L1) Chinesisch). Schließlich wurden am Forschungsinstitut EURAC Research in den letzten Jahren drei schriftliche Korpora mehrsprachiger Lerner*innen erhoben: Das Korpus MERLINKorpus MERLIN umfasst Texte erwachsener Lerner*innen des Deutschen, Italienischen und Tschechischen (Boyd et al. 2014); LEONIDE ist ein longitudinales Korpus mit italienisch-, deutsch- und englischsprachigen Texten von Lerner*innen der Sekundarstufe I (Glaznieks et al. 2022); KOLIPSI (KOLIPSI 1 und 2) umfasst ein Korpus aus italienisch- und deutschsprachigen Texten von Lerner*innen der Sekundarstufe II (Glaznieks et al. in Vorbereitung).

Dieser kursorische Überblick zeigt, dass kaum mündliche Daten zu schulischen Italienischlerner*innen und damit einhergehend – mit Ausnahme der Korpora KOLIPSI und LEONIDE für schriftliche Textsammlungen – kaum Daten zu jüngeren Lerner*innen verfügbar sind. Die Zielgruppen Anfänger*innen4 sowie jüngere Lerner*innen stellen im Vergleich zu fortgeschrittenen Lernenden und erwachsenen Lerner*innen in der L2Zweitsprache (L2)-Forschung insgesamt, unabhängig von der untersuchten Sprache, deutlich weniger erforschte Zielgruppen dar (vgl. Roos 2007; Sagarra/Herschensohn 2011, 89; Lenzing 2013).

Die gleichzeitige Untersuchung der Grammatikentwicklung bei der SprachrezeptionSprachrezeption und bei der SprachproduktionSprachproduktion ist für Anfänger*innen von besonderer Bedeutung: Vor allem bei dieser Zielgruppe kann eine reine Untersuchung von Produktionsdaten problematisch sein, zumal sich deren Sprachproduktion anfangs oftmals auf chunkschunks beschränkt, die nicht den tatsächlichen Erwerb eines bestimmten Merkmals widerspiegeln, sondern als unanalysierte Einheiten aus dem Input aufgenommen werden. Produktionsdaten bei Anfänger*innen können somit zu einer Überschätzung der Sprachverarbeitung der Lerner*innen führen (vgl. Roberts 2012, 114). Gleichzeitig kann die Sprachverarbeitung von Anfänger*innen über das hinausgehen, was diese Lerner*innen in spontansprachlichen Produktionsaufgaben produzieren oder in metalinguistischen Aufgaben bewerten können (vgl. ebd.; Verhagen 2011, 822; s. dazu auch empirische Evidenz aus Grüter 2005/2006). Daraus ergibt sich die Forderung nach Rezeptionsdaten, die zusätzlich zu Produktionsdaten herangezogen werden. Für die Untersuchung der italienischen LernerspracheLernersprache fordern Michler/Reimann (2019, 298) „freie lernersprachliche Produktionen (zB Erzählungen ausgehend von einem StimulusStimulus)“ als „Ergänzung von geschlossenen Untersuchungsformaten“. Der Fokus liegt hier nach wie vor auf der produktiven Lernersprachenentwicklung; Fragen zur rezeptiven Lernersprachenentwicklung bzw. möglicher Schnittstellen und/oder Unterschiede werden gar nicht erst gestellt. Während also in der internationalen L2Zweitsprache (L2)-Forschung einerseits die Forderung nach einer umfassenden, empirisch überprüfbaren Spracherwerbstheorie, die Sprachproduktion und -verständnis abdeckt, erhoben wird, liegt gleichzeitig in der italianistischen Fremdsprachenforschung noch der Bedarf nach einer Beschreibung der produktiven italienischen Lernersprache vor.

Beide Desiderate sollen in der vorliegenden Arbeit aufgegriffen werden und am Beispiel der attributiven und prädikativen AdjektivkongruenzAdjektivkongruenz bei Schüler*innen der Sekundarstufe II in ihrem zweiten Lernjahr5 untersucht werden. Dass die vorliegende Studie dabei theoriegeleitet („theoretically“) vorgeht, wie von VanPatten (2017, 55) in seinem Aufsatz zu „Situating instructed language acquisition: facts about second language acquisition“ gefordert6, ergibt sich durch die Fragestellungen selbst, die explizit in einem spracherwerbstheoretischen Rahmen eingebettet sind und im Anschluss präsentiert werden.

1.2Forschungsfragen

Aus den unter Abschnitt 1.1 dargestellten Desideraten ergibt sich folgende Hauptforschungsfrage, die gleichzeitig den theoretischen Rahmen der vorliegenden Arbeit widerspiegelt (vgl. Albert/Marx 2014):

Folgt der produktive und rezeptive Grammatikerwerb bei Italienisch L3Drittsprache (L3)-Schüler*innen der Sekundarstufe II denselben von der Processability Theory postulierten Entwicklungsstufen?

Zur Beantwortung der Hauptforschungsfrage werden mehrere Unterforschungsfragen formuliert:

F1:

Spiegeln spontansprachliche Produktionsdaten von Italienisch L3-Schüler*innen die von PT postulierten Entwicklungsstufen wider?

F2:

Spiegeln spontansprachliche Produktionsdaten von Italienisch L3-Schüler*innen den Erwerb der attributiven Adjektivkongruenz vor dem Erwerb der prädikativen Adjektivkongruenz wider?

F3:

Zeigen Reaktionszeitdaten von Italienisch L3-Schüler*innen abhängig von ihrer Entwicklungsstufe Grammatikalitätseffekte für attributive und prädikative Adjektivkongruenz?

1.3Begriffsklärungen

1.3.1Gesteuerter Kontext

Wie aus den Forschungsfragen hervorgeht, kann die vorliegende Arbeit im Bereich der Instructed Second Language Acquisition (ISLAInstructed Second Language Acquisition (ISLA)) verortet werden. Als wesentliche Impulse für diesen Bereich können schon die Publikationen von Corder (1967) und Selinker (1972) angesehen werden, die sich als erste der für ISLA zentralen Frage widmen, wie sich Unterricht auf den Spracherwerb und auf die Entwicklung der LernerspracheLernersprache unterschiedlicher Zielgruppen auswirkt. Unterricht muss dabei breit im Sinne von systematischer Beeinflussung der Spracherwerbsprozesse und der Lernumgebung durch Lehrpersonen (vgl. Loewen/Sato 2017, 2), Peers oder Unterrichtsmaterialien verstanden werden, wie es auch auf der Website der 2017 begründeten Zeitschrift Instructed Second Language Acquisition formuliert wird: „Instructed second language acquisition is a sub-field of second language acquisition which investigates L2Zweitsprache (L2) development when the learning processes are influenced, or at least intended to be influenced, by teachers, classmates or pedagogic materials“ (Benati/Nuzzo 2017). Die vorliegende Untersuchung muss insofern als Forschungsarbeit im Bereich ISLA charakterisiert werden, als sie die Untersuchung von rezeptiver und produktiver Lernersprachenentwicklung bei Italienischschüler*innen im gesteuerten Kontext der Sekundarstufe II vorsieht und somit die von Benati/Nuzzo (2017) genannten Einflussfaktoren im Forschungsprozess kontinuierlich mitgedacht werden müssen. Neben der Erhebung spontansprachlicher mündlicher Daten sowie rezeptiver Daten durch die Messung von ReaktionszeitenReaktionszeiten bei der Verarbeitung von mündlichen Stimuli wurden daher auch begleitende Erhebungen zum schulischen und außerschulischen Kontakt der Schüler*innen mit der jeweiligen Sprache sowie zu deren Sprachenbiographien mittels einer Fragebogenerhebung durchgeführt. Eine Analyse des im Unterricht verwendeten Lehrwerks (s. Abschnitt 6.3.3) hinsichtlich der untersuchten morphosyntaktischen Strukturen wurde ebenfalls vorgenommen.

1.3.2Erst-, Zweit- und Drittsprache(n)

Spracherwerb im schulischen Kontext ist heute immer im Kontext von Mehrsprachigkeit zu denken und „umfasst Sprachaneignungsprozesse in zwei oder mehr Sprachen unter unterschiedlichen Erwerbsbedingungen“ (Ballweg 2019, 265). Dabei müssen mehrere Begriffe unterschieden und kurz definiert werden: Die Erstsprachen der Lerner*innen werden in der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff „L1Erstsprache (L1)“ zusammengefasst, wobei L1 auch mehr als eine Erstsprache umfassen kann. Unter „L2Zweitsprache (L2)“ werden in der traditionellen Zweitspracherwerbsforschung alle Sprachen, die nicht Erstsprachen sind (vgl. Hammarberg 2010, 91) und damit alle Sprachen, die nicht in der frühen Kindheit erworben wurden, gefasst (Mitchell/Myles/Marsden 2019, 1). Zweitsprachenerwerb oder -lernen1 beinhaltet damit das Erlernen jeder beliebigen Sprache, das zeitlich nach dem Erwerb der Erstsprache(n) erfolgt (ebd.)2. Mitchell et al. (ebd.) begründen diese Kategorisierung damit, dass sich die zugrundeliegenden Sprachlernprozesse beim Erlernen unterschiedlicher Sprachen nach der/den Erstsprache(n) grundsätzlich nicht unterscheiden, wenngleich die Lernziele sowie der Lernkontext anders sind.

Mit dem zunehmenden Interesse für Mehrsprachigkeits- und Drittsprachenforschung spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts und der Etablierung des Forschungsbereichs Third Language Acquisition (TLA) mit eigenen Tagungen3 und Fachzeitschriften4 (Cenoz 2013, 71; De Bot/Jaensch 2015, 130) wird eine Ausdifferenzierung des Begriffs L2Zweitsprache (L2)5 und L2-ErwerbZweitspracherwerb vor allem hinsichtlich der mehrsprachigen Vorerfahrungen der Lerner*innen immer wichtiger (vgl. De Angelis 2007, 3ff.; Hammarberg 2010, 93). Trotzdem liegen auch in diesem Bereich unterschiedliche Definitionen, etwa von Drittsprache, vor. Hammarberg (2010) gibt einen Überblick über verschiedene Definitionsansätze: Zunächst benennt er das lineare Modell, in dem alle Sprachen in der chronologischen Abfolge ihres ersten Kontakts gereiht und entsprechend mit L1Erstsprache (L1), L2, L3Drittsprache (L3), L4 etc. bezeichnet werden. Die lineare zeitliche Anordnung bringt jedoch mehrere Herausforderungen mit sich, die der Komplexität des Phänomens Mehrsprachigkeit an sich geschuldet sind (für Details s. Hammarberg 2010, 94).

Davon grenzt Hammerberg (ebd.) die dichotome Unterscheidung in L1Erstsprache (L1) oder L2Zweitsprache (L2) (s. oben) sowie die genauere Unterscheidung zwischen dem Erwerb einer ersten L2 und weiteren L2s ab, die häufig unter dem Begriff der L3Drittsprache (L3) oder der „third or additional language“ (De Angelis 2007) zusammengefasst werden (vgl. auch Strathmann 2019, 415). Cenoz (2013, 71) definiert die L3 damit wie folgt: „the language acquired chronologically after the first and the second or after the two first languages in the case of early bilinguals“.

Dieser Ansatz, der laut Hammerberg (2010, 95) eine Modifikation des linearen Modells ist, wird theoretisch vor allem damit begründet, dass sich die Basis für Spracheneinfluss von der L2Zweitsprache (L2) zur L3Drittsprache (L3) unterscheidet (vgl. u. a. Cenoz/Hufeisen/Jessner 2001) und Lerner*innen bei einer weiteren L2 über zusätzliche Sprachlernstrategien (vgl. Hufeisen 2020) verfügen. Dass über die L3 hinausgehend in diesem Ansatz keine weiteren Kategorisierungen vorgenommen werden, wird mit dem Tertiärspracheneffekt begründet, der den L3-Erwerb vom L2-ErwerbZweitspracherwerb qualitativ unterscheidet, für den Erwerb einer weiteren Sprache im Vergleich zur L3 aber nur einen Unterschied hinsichtlich der Quantität an Sprachlernvorerfahrungen sieht (vgl. Hufeisen 2020, 77).

Als weiteren Definitionsversuch bzw. Spezialfall einer L2Zweitsprache (L2) nennt Hammarberg (2010, 97) die Definition einer Drittsprache als „non-native language which is currently being used or acquired in a situation where the person already has knowledge of one or more L2s in addition to one or more L1s“. Die aktuelle L3Drittsprache (L3) muss dabei die neueste oder aktuellste Sprache hinsichtlich des ersten Kontakts sein (ebd.).

Das Italienische wird im regionalen Kontext der hier präsentierten Studie typischerweise als „2. lebende Fremdsprache“ nach Englisch unterrichtet und gelernt. Sie könnte damit nach den soeben präsentierten Definitionsansätzen sowohl als L2Zweitsprache (L2) als auch als L3Drittsprache (L3) bezeichnet werden. Eine eindeutige Kategorisierung nach dem linearen Modell ist jedoch nicht möglich, weil Lerner*innen unterschiedliche individuelle Sprachenrepertoires in den schulischen Unterricht mitbringen und sich diese im Laufe der Zeit auch verändern können (s. Abschnitt 6.3.2 zur Sprachenbiografie der Proband*innen, vgl. auch Rothmann 2010, 116).

1.4Überblick über die Arbeit

Diese Arbeit setzt sich aus sechs wesentlichen Kapiteln zusammen. Nach dem einleitenden Kapitel werden in Kapitel 2 „SprachproduktionSprachproduktion und SprachrezeptionSprachrezeption“ grundlegende Fragen zur Sprachverarbeitung in der Sprachrezeption- und produktion aus Sicht der Psycholinguistik und der L2Zweitsprache (L2)-Verarbeitungsforschung bearbeitet. So werden zunächst definitorische Fragen geklärt und es wird der Frage nachgegangen, wie sich die L1Erstsprache (L1)- und L2-Verarbeitung unterscheiden. In einem weiteren Schritt werden Schnittstellen zwischen (L2-)Sprachproduktion und (L2-)Sprachrezeption anhand separater und integrierter Ansätze kurz dargestellt.

Danach werden in Kapitel 3 wesentliche Fragen der morphosyntaktischen Verarbeitung in der L2Zweitsprache (L2)-Produktion und Rezeption in den Blick genommen. Dabei wird auch eine Übersicht über die Erforschung von Entwicklungsstufen im Morphosyntaxerwerb präsentiert sowie auf Prinzipien der Inputverarbeitung anhand von VanPattens Modell des Input Processing eingegangen.

In Kapitel 4 und 5 wird der theoretische Rahmen der Arbeit, die Processability Theory, wiederum hinsichtlich SprachproduktionSprachproduktion (Kapitel 4) und SprachrezeptionSprachrezeption (Kapitel 5) präsentiert. In beiden Kapiteln werden zunächst wesentliche Aussagen der Theorie zur Sprachproduktion bzw. zur Sprachrezeption dargelegt, danach werden empirische Befunde – soweit für die italienische LernerspracheLernersprache verfügbar – zusammengefasst. Im Anschluss werden jeweils methodische Fragen – darunter vor allem die Frage nach der Anwendung eines emergence criterionemergence criterion – für die Untersuchung der Sprachproduktion respektive der Sprachrezeption diskutiert und Kriterien für produktive und rezeptive Aufgaben abgeleitet. In Kapitel 4 werden außerdem die psychologischen und linguistischen Grundlagen der Processability Theory erläutert und die in der hier vorliegenden Studie relevanten Strukturen auf Basis der linguistischen Theorie der Lexikalisch Funktionalen Grammatik dargestellt. Dieser Teil ist als selbstständiger Teil zu verstehen, der von Leser*innen mit didaktischem Fokus auch übersprungen werden kann.

Daran anknüpfend folgt der empirische Teil dieses Buchs. In Kapitel 6 wird das Design der durchgeführten Studie vorgestellt, der Ablauf der Datenerhebung, die Proband*innen und deren schulischer Fremdsprachenunterricht werden beschrieben und die Datenanalyse wird im Detail erläutert. Danach werden in Kapitel 7 die Analyseergebnisse zunächst getrennt für die SprachproduktionSprachproduktion und die SprachrezeptionSprachrezeption präsentiert. In Kapitel 8 folgt der Diskussionsteil, bei dem die Ergebnisse für die Sprachrezeption auch mit Ergebnissen anderer Studien zum EntwicklungsstandEntwicklungsstand im zweiten Lernjahr schulischen Fremdsprachenunterrichts abgeglichen werden und die Ergebnisse für die Sprachproduktion mit den Ergebnissen zur Sprachrezeption zusammengeführt werden, was schließlich zur Beantwortung der Forschungsfragen führt.

2SprachproduktionSprachproduktion und SprachrezeptionSprachrezeption

2.1Sprachverarbeitung in der Produktion und Rezeption

Sowohl in der Psycholinguistik im Allgemeinen als auch in der L2Zweitsprache (L2)-Verarbeitungsforschung im Besonderen wird üblicherweise zwischen SprachproduktionSprachproduktion und SprachrezeptionSprachrezeption unterschieden (vgl. Hopp/Schimke 2018, 3). In beiden Modalitäten werden unterschiedliche Ebenen der Sprachverarbeitung, beispielsweise die Wortverarbeitung und die Satzverarbeitung untersucht. Dabei wird in der englischsprachigen Fachliteratur häufig begrifflich zwischen processingprocessing und parsingparsing unterschieden. VanPatten/Jegerski (2010, 5) sehen processing als Überbegriff, der alle Verarbeitungsschritte während der Inputverarbeitung erfasst und damit sowohl die Verarbeitung von Syntax, Morphologie und Lexik als auch deren Schnittstellen miteinschließt. Parsing hingegen sei traditionellerweise enger zu interpretieren und werde fast ausschließlich für syntaktische Verarbeitung verwendet (ebd.). Wenngleich diese Arbeit die morphosyntaktische Verarbeitung (parsing) fokussiert, können weitere Aspekte der Sprachverarbeitung nicht außen vorgelassen werden, weshalb auch der Begriff des processing bzw. der Sprachverarbeitung verwendet wird. Von processing1 grenzen VanPatten/Jegerski (2010) wiederum das perceiving sowie das noticing einer Form klar ab. Perceiving besteht ihnen zufolge im Wahrnehmen jedes beliebigen akustischen Signals im mündlichen Input noch vor der Zuweisung von Bedeutung. Noticing meint hingegen das bewusste Wahrnehmen von etwas Neuem, bisher noch nicht Wahrgenommenen, im sprachlichen Input.

Im Hinblick auf die Untersuchung, wie L2Zweitsprache (L2)-Lerner*innen ein produktives und rezeptives Grammatiksystem entwickeln, stellt sich die Frage, inwiefern sich die Sprachverarbeitung von L2-Lerner*innen von L1Erstsprache (L1)-Sprecher*innen unterscheidet. Darauf fanden sich in den letzten Jahren Antworten, die sich in zwei grundlegenden Ansätzen zusammenfassen lassen: Jene, die postulieren, dass die Prozesse in der L1- und L2-Satzverarbeitung „qualitativ identisch“ (Hopp 2018, 142) sind, sich die L2-Verarbeitung jedoch durch weniger automatisierte und langsamere Prozesse etwa beim Zugriff auf lexikalische Informationen von der L1-Verarbeitung unterscheidet; sowie jene, die annehmen, dass sich L1- und L2-Verarbeitung auch qualitativ unterscheiden. Zweitere Ansätze wiederum liefern verschiedene Erklärungen für die unterschiedliche Verarbeitung: Während v. a. Clahsen/Felser (2006, 2018) in ihrer Shallow Structure Hypothesis davon ausgehen, dass L2-Lerner*innen im Echtzeitverständnis weniger auf morphosyntaktische Informationen und mehr auf lexikalische, semantische und kontextuelle Hinweise zurückgreifen als L1-Sprecher*innen, begründet Ullman (2005, 2020) in seinem Declarative-Procedural Model die qualitativen Unterschiede damit, dass prozedurales Wissen, welches für die Verarbeitung von grammatischen Strukturen zwangsläufig notwendig ist, nur bei weit fortgeschrittenen L2-Lerner*innen zugänglich ist. Jiang (2004, 2007) erklärt die Unterschiede – speziell für die Verarbeitung von Flexionsmorphologie – damit, dass Flexionsmorpheme – wenn sie nicht auch in der L1 der Lerner*innen existieren – „nicht inkrementell integriert werden [können]“. Schließlich liefert Sorace (2011) mit der Schnittstellenhypothese Erklärungen für sprachliche MerkmaleMerkmale wie die Interpretation von Pronomen, Topikalisierung etc., bei denen Informationen von unterschiedlichen sprachlichen Ebenen zusammengeführt werden müssen. Die Schnittstellenhypothese geht davon aus, dass die Integration der verschiedenen Ebenen in der Echtzeitverarbeitung bei L2-Lerner*innen nicht immer gelingt (vgl. auch Hopp/Schimke 2018, 9).

2.2Schnittstellen zwischen SprachproduktionSprachproduktion und -rezeption

SprachproduktionSprachproduktion und SprachrezeptionSprachrezeption werden traditionell meist separat für unterschiedliche sprachliche Ebenen modelliert (vgl. Hopp/Schimke 2018, 3). Dies zeigt sich auch in der Struktur zahlreicher psycholinguistischer Handbücher, in denen es separate Kapitel für Sprachverständnis und Sprachproduktion gibt, zB separate Kapitel für „Comprehension“ und „Production and control“ im Handbook of Bilingualism (Kroll/de Groot 2009), „Comprehension and discourse“ und „Language production“ im Oxford Handbook of Psycholinguistics (Gaskell 2009) oder auch „Comprehension“ und „Production“ im Handbook of Psycholinguistics (Fernández/Smith Cairns 2017). Die beiden Modalitäten werden auch empirisch häufig unabhängig voneinander untersucht (vgl. Verhagen 2011, 821), wenngleich – wie Pickering/Garrod (2013, 328) erwähnen – bei der separat intendierten Untersuchung von Sprachproduktion und Sprachrezeption aufgrund der gewählten Forschungsmethodik oftmals doch beide Modalitäten involviert sind. So ist beispielsweise bei einer Satzergänzungsaufgabe, die für die Erklärung von Sprachproduktion verwendet wird, auch Sprachverständnis inkludiert.

Als Argumente für die duale Architektur der menschlichen Sprachverarbeitung (dual-processor architecture) werden zunächst die unterschiedlichen Anforderungen von SprachproduktionSprachproduktion und -rezeption genannt: So ist etwa das Interpretieren von Mehrdeutigkeiten für die Sprachproduktion weniger relevant als für die SprachrezeptionSprachrezeption, umgekehrt ist die Kombinierbarkeit von Lemmata und die Herstellung der Satzstellung für die Sprachproduktion von weit größerer Bedeutung. Als weiteres Argument für zwei unterschiedliche Verarbeitungssysteme wird die Fähigkeit von Sprecher*innen, ihre eigenen Äußerungen zu kontrollieren und zu korrigieren (self-monitoring), genannt. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Monitoren über das Verarbeitungssystem der Sprachrezeption abläuft. Darüber hinaus wurden lange Zeit Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Aphasie-Forschung herangezogen, die zu belegen schienen, dass das Broca-Areal für die Sprachproduktion, das Wernicke-Areal hingegen für die Sprachrezeption zuständig sei. Diese Trennung der Zuständigkeiten verschiedener Hirnareale unterstützte ebenfalls die Vorstellung eines dualen Systems. Neuere Erkenntnisse aus der Neurolinguistik zeigen jedoch, dass das Broca-Areal sowohl Aspekte des Enkodierens als auch des Dekodierens übernimmt (vgl. Friederici 2017). Schließlich wird aus der Erwerbsperspektive ein weiteres Argument für die Existenz zweier Verarbeitungssysteme vorgebracht. Dieses fußt darauf, dass sich Fähigkeiten der Sprachproduktion und -rezeption nicht simultan zu entwickeln scheinen und die Rezeption der Produktion im Spracherwerb meist vorausgeht, wenngleich es auch Gegenbeispiele für Asymmetrien zugunsten der Produktion gibt (vgl. u. a. Hendriks/Koster 2010; Hendriks 2014; Tasseva-Kurktchieva 2015; Ünal/Papafragou 2015).

Die genannten Punkte (s. auch Kempen 1999, 5f.) müssen in der Debatte sicherlich berücksichtigt werden, lassen jedoch nicht zwangsläufig den Schluss zu, dass die beiden Modalitäten in zwei verschiedenen Systemen operieren, und schließen eine integrierte Position (single-processor architecture) nicht aus.

In den letzten Jahren finden sich in der Psycholinguistik einige Forschungsansätze, die ebendiese integrierte Position als Gegenposition zur lange Zeit verbreiteten Position der zwei unterschiedlichen Verarbeitungssysteme einnehmen und die Interaktion zwischen SprachproduktionSprachproduktion und -rezeption damit direkt adressieren (vgl. MacDonald/Hsiao 2018, 185). Als eine der umfassendsten Theorien dazu ist die Integrated Theory of Language Production and Comprehension von Pickering/Garrod (2013) zu nennen1.

Die Grundmotivation dieses Ansatzes liegt in der dialogischen Natur der Sprachverwendung, die durch schnelle Sprecherwechsel (turns) charakterisiert ist (vgl. Gambi/Pickering 2017, 173). Pickering/Garrod (2013) sehen SprachproduktionSprachproduktion und -rezeption auf verschiedenen sprachlichen Ebenen als stark verwoben und argumentieren, dass diese Verwobenheit auf der Fähigkeit der Sprecher*innen basiert, ihre eigenen Aussagen sowie jene ihres Gegenübers vorherzusagen. Sprachproduktion ist für sie eine Form der Handlung, Sprachverständnis eine Form der Wahrnehmung der Handlung. Diese Verwobenheit übertragen sie auf die Sprachverarbeitung selbst2. In ihrer Integrated Theory of Language Production and Comprehension schlagen sie daher vor, dass Sprecher*innen in der Sprachproduktion routinemäßig auf Rezeptionsprozesse zugreifen können und umgekehrt: „[W]e propose that comprehension processes are routinely accessed at different stages in production, and that production processes are routinely accessed at different stages in comprehension.“ (Pickering/Garrod 2013, 332) Zentrale Bedeutung kommt in ihrem Modell der Fähigkeit der Vorhersage (prediction) sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption zu. Um als Sprecher*in die eigenen Aussagen vorherzusagen, braucht es sowohl Produktions- als auch Verstehensprozesse, dasselbe gilt für die Vorhersage der Aussagen des Gegenübers (ebd., 332).

Auch Kempen (2000) schlägt eine integrierte Position zur produktiven und rezeptiven Satzverarbeitung vor, genauer gesagt zum grammatischen Enkodieren und Dekodieren (single-processor architecture). Aus der Sicht einer dualen Architektur der menschlichen Sprachverarbeitung gibt es zwei voneinander unabhängige Modalitäten, die nur deklarative Ressourcen (Lexikon und Grammatik) teilen, denen aber unterschiedliche Verarbeitungsoperationen zugrunde liegen. Das heißt, dass grammatische Strukturen in der Produktion und Rezeption in unterschiedlichen Arbeitsbereichen (dedicated workspaces) verarbeitet und kurzfristig gespeichert werden. In der Perspektive einer integrierten Architektur der Sprachverarbeitung, wie jener von Kempen (2000) und Kempen et al. (2012), hingegen teilen sich die beiden Modalitäten viele der Verarbeitungsressourcen und ein einzelner Arbeitsbereich ist für die Verarbeitung und kurzfristige Speicherung von grammatischen Strukturen sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption zuständig. Dieser Arbeitsbereich wird als „single shared workspace“ (Kempen et al. 2012, 348) bezeichnet3.

In der L2Zweitsprache (L2)-Verarbeitungsforschung wurde schließlich kürzlich ein integriertes Modell vorgestellt. Im Integrated Encoding-Decoding Model of SLA geht Lenzing (2019, 2021) aufbauend auf Kempen et al. (2012) auch für die L2-Satzverarbeitung von einem einzigen syntaktischen Prozessor aus, der für grammatisches Enkodieren und Dekodieren zuständig ist und sich schrittweise nach den Vorhersagen der PTProcessability Theory (PT) entwickelt (Lenzing 2021, 90). Das Modell wird in Abschnitt 5.1. im Detail vorgestellt.

Während in den letzten Jahren also vermehrt eine integrierte Position zur Satzverarbeitung eingenommen wird, scheint sowohl in der allgemeinen Sprachverarbeitungsforschung als auch in der L2Zweitsprache (L2)-Forschung schon länger Konsens über einige Gemeinsamkeiten der Sprachproduktion und -rezeption zu bestehen. So ist man sich einig, dass Sätze sowohl bei der SprachproduktionSprachproduktion als auch bei der SprachrezeptionSprachrezeption inkrementell verarbeitet werden (vgl. Keating 2010, 114; Hopp/Schimke 2018, 2). Bei der Produktion einer Äußerung werden Informationen schrittweise vom Konzeptualisierer zum Artikulierer (s. Levelts SprachproduktionsmodellSprachproduktionsmodell in Abschnitt 4.2.1) weitergegeben, ebenso wird beim Verstehen eines Satzes nicht gewartet, bis der Satz vollständig artikuliert wird, um mit der Dekodierung und Interpretation zu beginnen (vgl. Keating 2010, 114). Einigkeit scheint auch darüber zu herrschen, dass Sprachproduktions- und Sprachrezeptionsprozesse auf dieselbe, zentrale Wissensbasis zurückgreifen, die aus dem Lexikon und syntaktischen Regeln besteht (vgl. Friederici/Levelt 1988; Friederici 2017, 89).

In weiterer Folge soll nun ein Überblick über die morphosyntaktische Verarbeitung in der L2Zweitsprache (L2)-Produktion und ‑Rezeption gegeben werden. Ziel der L2-Verarbeitungsforschung ist es, die Sprachverarbeitung mehrsprachiger Sprecher*innen „systematisch zu verstehen und zu modellieren“ (Hopp/Schimke 2018, 4). Dafür wird in Kapitel 3 zunächst ein historischer Abriss zur Modellierung der LernerspracheLernersprache vor allem hinsichtlich lernersprachlicher Zwischenschritte präsentiert, bevor in einem zweiten Schritt Prinzipien der L2-Input-Verarbeitung dargestellt werden.

3Morphosyntaktische Verarbeitung in der L2Zweitsprache (L2)-Produktion und -Rezeption

Wie einleitend erwähnt, lag der Fokus der L2Zweitsprache (L2)-ErwerbZweitspracherwerbsforschung lange Zeit auf der Beschreibung der SprachproduktionSprachproduktion. Eine der zentralen Fragen dabei lautete, ob und in welchem Ausmaß lernersprachliche Zwischenschritte oder Entwicklungsstufen den Morphosyntaxerwerb bei L2-Lerner*innen unabhängig von deren L1Erstsprache (L1), dem Lernsetting und anderen Lerner*inneneigenschaften wie Alter, Literalität oder Motivation leiten (vgl. Hulstijn et al. 2015, 1). In der Folge sollen diese Studien hinsichtlich der Morphosyntaxentwicklung kurz umrissen und chronologisch dargestellt werden.

3.1ErwerbssequenzenErwerbssequenz im L2Zweitsprache (L2)-Morphosyntaxerwerb

Ein Blick in Einführungswerke und Lehrbücher der L2Zweitsprache (L2)-ErwerbZweitspracherwerbsforschung zeigt, dass viele Autor*innen von einer mehr oder weniger fixen Reihenfolge ausgehen, in der L2-Lerner*innen morphosyntaktische Strukturen erwerben. So schreiben VanPatten/Williams (2015, 10): „Learners’ output (speech) often follows predictable paths with predictable stages in the acquisition of a given structure.“ und weiter: „Learners’ speech shows evidence of what are called ‚developmental sequencesErwerbssequenzen‘“, Ortega (2009, 34f.) betont, dass auch L1Erstsprache (L1)-TransferL1-Transfer den L2-Erwerbsverlauf nicht grundlegend verändern kann: „There is robust evidence that L1 transfer cannot radically alter the route of L2 acquisition.“

Als Forscher*innen, die als erste eine L2Zweitsprache (L2)-ErwerbZweitspracherwerbsabfolge postulieren, werden meist Dulay/Burt (1974) sowie Bailey/Madden/Krashen (1974) genannt, die diese These als klare Gegenposition zu behavioristisch-strukturalistischen Erklärungen des Spracherwerbs (vgl. Lado 1957) aufstellen (vgl. Mitchell et al. 2019, 40; R. Ellis 2015, 182)1. Die meist als morpheme order studies bezeichneten Studien der 1970er Jahre gehen ursprünglich von der L1Erstsprache (L1)-Erwerbsforschung (zB Brown 1973) aus, in denen Entwicklungsmuster (pattern of development) gefunden werden. Die größtenteils als Querschnittstudien angelegten Untersuchungen bestätigen die sogenannte Erwerbsabfolge (order of acquisition), die Reihenfolge, in der unterschiedliche Strukturen der Zielsprache mit zielsprachlicher Korrektheit (accuracyaccuracy) – meist in 80-90%2 der obligatorischen Kontexte – produziert werden. Dabei muss kritisch angemerkt werden, dass diese Studien aquisition order mit accuracy order gleichsetzen (vgl. Hulstijn et al. 2015, 184).

Erst durch longitudinale Studien wird in den Folgejahren der Begriff der sequences of acquisition bzw. der developmental stages relevant, bei denen Entwicklung nicht mehr in Hinsicht auf zielsprachliche Korrektheit, sondern als Entwicklung von einer ErwerbsstufeErwerbsstufe zur nächsten definiert und anhand von Frequenzanalysen gemessen wird (vgl. R. Ellis 2015, 183ff.). Damit wird Entwicklung auch konstatiert, wenn noch keine vollständige zielsprachliche Korrektheit (masterymastery) erreicht wird. Auch wenn diese Studien noch große Schwächen aufweisen und keine theoretischen Erklärungen für die Erwerbsabfolgen liefern, stellen sie doch einen Wendepunkt in der L2Zweitsprache (L2)-ErwerbZweitspracherwerbsforschung dar (vgl. Jordan 2004, 207).

Als weiterer wesentlicher Schritt bzw. als Paradigmenwechsel muss in der Folge die Untersuchung von Entwicklungssequenzen (developmental sequence) im Rahmen des Projekts Zweitspracherwerb Italienischer und Spanischer Arbeiter (ZISA) (u. a. Meisel/Clahsen/Pienemann 1981) angesehen werden, die sich klar von den Studien zu Erwerbsabfolgen unterscheidet, insoweit sie im Gegensatz zu morpheme order studies keine spezifischen grammatischen MerkmaleMerkmale identifiziert, die der Reihe nach erworben werden, sondern Erwerbsstufen (stages oder sequences of development) definiert, die durchlaufen werden, wenn ein spezifisches grammatisches Merkmal erworben wird. Das ZISA-ProjektZISA-Projekt untersucht die Entwicklung der deutschen Wortstellung im ungesteuerten Erwerb bei 45 Erwachsenen, die sich aus arbeitsmigratorischen Gründen in Deutschland aufhielten und deren L1Erstsprache (L1) Italienisch, Spanisch oder Portugiesisch waren, in einer Querschnittstudie und bei 12 Erwachsenen mit Italienisch und Spanisch als L1 in einer zweijährigen longitudinalen Studie. Durch die erstmalige Anwendung eines emergence criterionemergence criterion (s. Abschnitt 4.6.2) setzt das Projekt der bisher starken Orientierung an zielsprachlicher Korrektheit einen lerner*innenorientierten Ansatz entgegen. Zudem stellte es den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Multidimensional ModelMultidimensional Models (Meisel et al. 1981) dar, das weiter unten genauer dargestellt wird.

Eine ähnliche Herangehensweise wie im ZISA-ProjektZISA-Projekt findet sich im European Science Foundation ProjectEuropean Science Foundation Project (ESF) (u. a. Klein/Perdue 1997, Klein 2013a), das drei breit definierte Varianten im ungesteuerten Erwerb unterschiedlicher europäischer Sprachen bei Migrant*innen in einem longitudinalen Projekt über 30 Monate definiert: die Pre-Basic VarietyPre-Basic Variety, die Basic VarietyBasic Variety und die Post-Basic VarietyPost-Basic Variety. Von allen Lerner*innen entwickelt wird die Basic-Variety, ein strukturell einfaches, aber kommunikativ effizientes sprachliches System, in dem komplexe Strukturen durch phrasale, semantische und pragmatische EinschränkungenEinschränkungen charakterisiert sind, etwa durch infinite Verborganisation (vgl. Klein 2013b, 64). Die Pre-Basic Variety ist im Vergleich zur Basic Variety von nominalen Strukturen sowie Auslassungen von obligatorischen Konstituenten geprägt (vgl. Perdue 1996), die Post-Basic Variety ist schließlich eine Lerner*innenvarietät, die sich stark an die Zielsprache annähert und auch finite Sätze enthält.

Auf Basis von Daten aus dem ZISA-ProjektZISA-Projekt entwickeln Meisel et al. (1981) das Multidimensional ModelMultidimensional Model, dessen zentrale Aussagen in der Folge präsentiert werden sollen. Wie Cook (1993, 93) schreibt, spiegelt die Charakterisierung des Modells als „multidimensional“ die Hauptaussage bzw. das Hauptanliegen des Modells, „combining the concepts of ‘variation‘ and ‘developmental sequencesErwerbssequenzen‘“ (Meisel et al. 1981, 118), bereits wider. Hinsichtlich der Entwicklungssequenzen identifizieren Meisel et al. (1981) für den Erwerb der Satzstellung im Deutschen sechs aufeinanderfolgende Erwerbsstufen (formulas/one word sentences – canonical word order – adverb preposing – verb separation – inversion – verb final), die später auch zur PTProcessability Theory (PT) führen (zur detaillierten Ausarbeitung s. Kapitel 4). Als methodische Vorgehensweise verwenden sie dafür implicational scaling, unter der Annahme, dass damit psychologisch plausibel mit Lernen und Lernbarem umgegangen wird und es damit möglich ist, zwischen entwicklungsspezifischen und variationalen/individuellen Faktoren zu unterscheiden und so jene Faktoren zu identifizieren, die den Beginn einer neuen Entwicklungsstufe markieren (Meisel et al. 1981, 123; auch Lenzing 2013, 63).

Zusätzlich zu den developmental sequencesErwerbssequenzen beschreiben Meisel et al. (1981, 126) zwei Arten von Variation: Fossilisierung und SimplifizierungSimplifizierung. Einerseits fossilisieren unterschiedliche Lerner*innen in unterschiedlichem Ausmaß: Einige Lerner*innen erreichen eine höhere ErwerbsstufeErwerbsstufe, ohne dass sie im Stande sind die Regel3 der vorherigen in allen Kontexten anzuwenden, während andere Lerner*innen eine Regel vollständig erwerben müssen, bevor sie zur nächsten übergehen können. Andererseits ist die LernerspracheLernersprache unterschiedlicher Lerner*innen unterschiedlich häufig von Simplifizierungsstrategien (restrictive simplification4) gekennzeichnet, durch die Lerner*innen bestimmte Strukturen nicht produzieren, obwohl sie möglicherweise bereits dazu fähig wären. Meisel et al. (1981, 127) sprechen hier von „more simplified learner varieties“ im Vergleich zu „more grammatical learners“.

Die Variation innerhalb von Entwicklungsstufen schreiben sie unterschiedlichen Lerner*innengruppen zu, die sozio-psychologische Unterschiede aufweisen, darunter Faktoren wie Haltungen und Motivationen (vgl. Meisel et al. 1981, 119). Zusammengefasst liefert das Multidimensional ModelMultidimensional Model ein Rahmenmodell für die Beschreibung dynamischer Prozesse in der Lernersprachenentwicklung, indem Entwicklung und Variation als zwei separate Phänomene definiert werden (vgl. auch Lenzing 2013, 63).

Das Multidimensional ModelMultidimensional Model wird auch Kritik unterzogen, primär aufgrund seiner mangelnden Falsifizierbarkeit. U. a. führen Larsen-Freeman/Long (1991, 285f.) an, dass variable Faktoren mithilfe des Modells nicht a priori vorhergesagt werden können. Der laut Entwicklungsstufen nicht vorhergesehene Erwerb einer grammatischen Struktur kann sowohl als Gegenevidenz zum Modell als auch als „(newly discovered) variational feature of the language concerned“ (ebd.) erklärt und das Modell damit nicht falsifiziert werden. Vor allem dieser Kritikpunkt wird in der Entwicklung der Processability Theory aufgegriffen und im Vergleich zum Multidimensional Model eine Grammatiktheorie (Lexikalisch Funktionale Grammatik s. Abschnitt 4.2.2) sowie ein Modell der Sprachverarbeitung (s. Abschnitt 4.2.1) zugrunde gelegt. Auf dieser Basis trifft PTProcessability Theory (PT) explizite und falsifizierbare Vorhersagen zur Morphologie- und Syntaxentwicklung, deren Begründungen psycholinguistisch plausibel sind (vgl. Jordan 2004, 223). In jeder ErwerbsstufeErwerbsstufe sind zudem verschiedene lernersprachliche Lösungen möglich, die für den*die Lerner*in verarbeitbar sind. Der hypothesis spacehypothesis space definiert, welche Optionen möglich sind, sagt jedoch nicht vorher, welche Optionen von den Lerner*innen gewählt werden.

Positionen in der L2Zweitsprache (L2)-ErwerbZweitspracherwerbsforschung, die die Existenz von Spracherwerbssequenzen ablehnen5, werden oft damit begründet, dass individuelle VariabilitätVariabilität ein wesentlicher Faktor des L2-Erwerbs ist und damit einhergehend keine Vorhersehbarkeit von L2-Prozessen gegeben sein kann (vgl. u. a. De Bot et al. 2007; Verspoor et al. 2008), wie es durch die in PTProcessability Theory (PT) präsentierte Hierarchie (s. Abschnitt 4.3) der Fall ist. Lenzing (2015, 91) argumentiert, dass der L2-Erwerb zwar ein dynamischer Prozess sei, individuelle Lerner*innenvariabilität sich aber innerhalb des L2-Verarbeitungssystems bewege und der Erwerb damit regelgeleitet und – etwa für morphosyntaktische Elemente (Entwicklungsstufen s. PT) – vorhersagbar ist. Lenzing (2015, 96) geht davon aus, dass beide Dimensionen – vorhersagbar vs. nicht genau vorhersagbar – sich nicht vollständig ausschließen, weil deterministische Systeme chaotische Subsysteme haben können, die wiederum begrenzt sind: „The key point I would like to make is that deterministic systems can obtain subsystems with chaotic behavior (e.g., Saari/Urenk, 1984)“ (Lenzing 2015, 99).

Erwerbssequenzen im Italienisch-L2-Erwerb

Für das Italienische als L2 werden im ersten und bisher wohl auch umfassendsten Forschungsprojekt zur italienischen LernerspracheLernersprache, dem Mitte der 1980er Jahre initiierten Progetto di PaviaProgetto di Pavia (u. a. Andorno 2001; Andorno/Bernini 2003; Giacalone Ramat 2003), Entwicklungsstufen hinsichtlich der Morphosyntaxentwicklung identifiziert. So geht aus dem longitudinalen Korpus hervor, dass Lerner*innen mit unterschiedlicher L1Erstsprache (L1) dieselbe implikationale Erwerbsreihenfolge von einigen sprachlichen Strukturen aufweisen, auch wenn sie diese Erwerbsabfolge mit unterschiedlicher Geschwindigkeit durchlaufen – abhängig von verschiedenen beeinflussenden Faktoren wie Markiertheit der Strukturen und struktureller Distanz zwischen L1 und L2Zweitsprache (L2) sowie von extralinguistischen Faktoren wie Alter, Motivation, Input und Einstellungen zur Sprache.

Die im Korpus PaviaProgetto di Pavia identifizierten ErwerbssequenzenErwerbssequenz umfassen u. a. den (1) Tempus- und Modus-Erwerb, den (2) Erwerb der Genusübereinstimmung und den (3) Erwerb der adverbialen Nebensätze (vgl. auch Chini 2016; Gracci 2006). Die unter (1), (2) und (3) angeführten Strukturen werden nach den Analysen von Banfi/Bernini (2003), Chini (1995b) und Berruto (2001) in der folgenden Reihenfolge erworben, wobei die linksstehenden Strukturen vor den rechtsstehenden Strukturen erworben werden:

presente (e infinito) > (ausiliare) participio passato > imperfetto > futuro > condizionale > congiuntivo (Banfi/Bernini 2003, 90)

anaforico di 3a sg. > articolo determinativo (>) articolo indeterminativo > aggettivo attributivo > aggettivo predicativo (>) participio passato (Chini 1995b, 285)

causali > temporali > finali > ipotetiche> concessive (Berruto 2001, 27)

In Bezug auf die Nominalmorphologie1 identifizieren Chini/Ferraris (2003, 64-69) folgende Phasen: die fase pragmatica (o fonologica), in der kaum Definitartikel verwendet werden und die morphologische Variation keinen erkennbaren Regeln folgt; in der Folge die fase lessicale, in der Lerner*innen beginnen Artikel zu verwenden, vorerst indefinite, dann definite, die Numerusmarkierung lexikalisch erfolgt, der Plural schon teilweise, aber auf jeden Fall unsystematisch markiert wird; die fase (proto)morfologica, in der die Nominalmorphologie systematisiert wird und schließlich die fase morfosintattica, die durch zunehmende morphosyntaktische Korrektheit gekennzeichnet ist und die Genus- und Numerusmarkierung auf weitere Elemente angewandt wird (zB prädikative AdjektivkongruenzAdjektivkongruenz, Kongruenz im Partizip bei passato prossimo).

 

Die hier angesprochenen Forscher*innengruppen gehören zu jenen, die den Großteil an empirischen Studien zu Erwerbsabfolgen in der L2Zweitsprache (L2)-ErwerbZweitspracherwerbsforschung durchgeführt haben. Hulstijin et al. (2015, 2f.) führen an, dass seit 1996 insgesamt nur wenige empirische Studien, mit Ausnahme von drei Gruppen, durchgeführt wurden. Darunter nennen sie (1) Pienemann und Kolleg*innen im theoretischen Rahmen der PTProcessability Theory (PT), (2) Klein/Perdue und Kolleg*innen auf Basis des European Science Foundation ProjectEuropean Science Foundation Projects sowie (3) Jia/Fuse (2007) und Luk/Shirai (2009). PTProcessability Theory (PT) stellt auch den Rahmen für die hier durchgeführte Studie dar und soll in den Kapiteln 4 und 5 zunächst für die SprachproduktionSprachproduktion und im Anschluss für die SprachrezeptionSprachrezeption präsentiert werden. Zuvor soll jedoch auf die Verarbeitung von L2Zweitsprache (L2)-Input eingegangen und wesentliche L2-Verarbeitungsprinzipien sollen anhand von VanPatten (2004, 2020) dargestellt werden. Während die in 3.1 angeführten Studien und Erkenntnisse zu Spracherwerbssequenzen die psycholinguistischen Prozesse der Sprachproduktion nutzen, wird der Fokus in der Folge auf die psycholinguistischen Prinzipien der Satzrezeption gelegt.

3.2Morphosyntaktische Verarbeitung von L2Zweitsprache (L2)-Input

Das Input Processing (IP) als Modell des L2Zweitsprache (L2)-ErwerbZweitspracherwerbs (VanPatten 2004, 941) erklärt, welche universellen2 Verständnisstrategien L2-Lerner*innen – vor allem zu Beginn des Erwerbs – anwenden, um Sätze zu verstehen und warum L2-Lerner*innen bestimmte Formen (Wörter und grammatische Marker) zu bestimmten Zeitpunkten oft nicht verarbeiten und bestimmte grammatische oder thematische Rollen nicht zuweisen, auch wenn sie wichtige linguistische Informationen enthalten3. VanPatten geht davon aus, dass Lerner*innen bei der Inputverarbeitung durch zahlreiche EinschränkungenEinschränkungen (constraints) limitiert sind, welche im Modell als miteinander interagierende Prinzipien angelegt sind. In der Folge sollen die wesentlichen Prinzipien präsentiert werden.

Dem IP-Modell folgend (VanPatten 2020, 107) versuchen L2Zweitsprache (L2)-Lerner*innen zu Beginn des Spracherwerbsprozesses, Input zu verstehen, indem sie im Prozess der SprachrezeptionSprachrezeption zuallererst nach lexikalischen Items suchen. Das heißt, sie erstellen zunächst auf lexikalischer Basis Form-Bedeutungs-Beziehungen und verarbeiten zunächst keine Funktionswörter, Flexionsmorpheme und grammatische Marker (Prinzip des Vorrangs der Inhaltswörter). Was die Verarbeitung von Flexionsmorphemen betrifft, führt VanPatten (ebd., 108) weiter das Prinzip der lexikalischen Präferenz an. Bei der Verarbeitung von Inhaltswörtern mit Flexionsmorphemen, die keine zusätzliche Bedeutung ausdrücken, die nicht ohnehin schon im Satz gegeben ist, wird die Verarbeitung der grammatikalischen Form, beispielsweise des Flexionsmorphems, am Anfang des Erwerbs umgangen. In einem Satz wie „I called my mother yesterday“ wird also die Verarbeitung des Tempus anhand des temporalen Adverbs der Verarbeitung des morphologischen Tempusmarkers vorgezogen (ebd.). Dieses Prinzip kann zwei unterschiedliche Konsequenzen in der Verarbeitung des Inputs haben: (1) Lerner*innen verarbeiten grammatikalische Marker erst, wenn die entsprechenden lexikalischen Formen schon verarbeitet und in das sich entwickelnde Sprachsystem der Lerner*innen eingebaut wurden. (2) Die zweite mögliche Konsequenz ist, dass Lerner*innen im Prozess der Sprachrezeption am Anfang ausschließlich auf lexikalische Informationen vertrauen, wenn redundante grammatikalische Marker im Input vorkommen. Hierbei würde im Falle von Redundanz die lexikalische Route jegliche Verarbeitung von grammatischen Informationen überschreiben. Bei beiden Varianten geht VanPatten (ebd.) davon aus, dass Anfänger*innen4 in jedem Fall die Verarbeitung lexikalischer Elemente jener der grammatischen Marker vorziehen, weil erstere aus Sicht der Lerner*innen den Bedeutungsgewinn erhöhen. VanPatten (ebd., 109) führt hierfür auch empirische Evidenz aus einer Eye-Tracking-Studie (VanPatten/Keating 2007) an, in der fortgeschrittene Spanisch-Lerner*innen mit Englisch als L1Erstsprache (L1) bei der Verarbeitung von spanischen Sätzen, in denen das Adverb mit dem Tempus des Verbs übereinstimmte oder nicht übereinstimmte, dazu tendierten, bei der Verbform zu verweilen, um die zeitliche Referenz zu identifizieren. Anfänger*innen und Leichtfortgeschrittene hingegen tendierten zu den Temporaladverbien. Bei fortgeschrittenen Lerner*innen konnten native-like pattern gefunden werden, die darauf hindeuten, dass Fortgeschrittene grammatikalische Flexionsmorpheme sehr wohl zu verarbeiten beginnen. VanPatten/Keating (ebd.) bestätigen diese Ergebnisse auch für Englisch-Lerner*innen mit Spanisch als L1, die ebenso zunächst die Temporaladverbien verarbeiten und nicht die Tempusmarkierung am Verb. Daraus leitet VanPatten (2020, 109) eine sprachenunabhängige Gültigkeit dieses Prinzips ab.

VanPatten (2020, 109) weist einschränkend darauf hin, dass nicht alle grammatischen Marker redundant sind, wie beispielsweise im Satz „The cat is sleeping“, in dem es keinen lexikalischen Hinweis auf ein Progressiv gibt. Davon ausgehend und unter der Annahme, dass Lerner*innen immer zuerst nach Bedeutungen suchen, formuliert VanPatten ein weiteres Prinzip (Prinzip der Präferenz für Nicht-Redundanz): Lerner*innen, verarbeiten grammatische Marker erst, wenn deren Bedeutung nicht lexikalisch encodiert ist. Sie tendieren damit zur Verarbeitung von nicht-redundanten grammatischen Markern vor redundanten Markern. Schließlich behandelt VanPatten (ebd.) im Prinzip des Vorrangs der Bedeutung auch jene grammatischen Marker, die keine Bedeutung tragen, und geht davon aus, dass Lerner*innen eher bedeutungstragende grammatische Marker verarbeiten als Marker ohne semantische Bedeutung5. Als Beispiel nennt er hier das Verbindungswort „that“, das eine grammatische, aber keine semantische Funktion hat. Als weiteres Beispiel führt er die AdjektivkongruenzAdjektivkongruenz im Spanischen an. Dem stimmen auch Benati/Lee (2008, 13) zu und argumentieren für grammatische Genusmarkierung in romanischen Sprachen im Allgemeinen, dass diese (1) ohne jegliche semantische Bedeutung [„any gender agreement of an adjective with a noun is a purely grammatical marker devoid of any semantic meaning“ (ebd.)] und (2) redundant sei [„the noun establishes the grammatical gender and so, consequently, marking the adjective is redundant“ (ebd.)].

Über die Form-Bedeutungs-Beziehungen hinaus, definiert VanPatten (2020, 112ff.) weitere Prinzipien für das Sprachverständnis, die erklären sollen, wie Lerner*innen einen Satz grammatisch analysieren, wenn diese noch nicht über einen vollständig entwickelten parser verfügen. VanPatten geht einerseits von universellen Parsing-Strategien aus und andererseits von einem Transfer von L1Erstsprache (L1)Parsing-Strategien. Im Rahmen ersterer definiert er das sog. Prinzip des ersten Nomens, das heißt, dass Lerner*innen dazu tendieren das erste Substantiv oder Pronomen, das im Input auftritt, als Subjekt zu verarbeiten. Im Rahmen zweiterer nennt er das alternative Prinzip des L1-TransferL1-Transfers, das besagt, dass Lerner*innen die L2Zweitsprache (L2)-Sprachrezeption mit L1-Parsing-Strategien beginnen. Van Patten (2020, 113) gibt hier aber keine Antwort, ob und in welchem Ausmaß zweiteres Prinzip bei der anfänglichen Inputverarbeitung angewendet wird, und verweist auf weitere beeinflussende Faktoren, für die er auch weitere Prinzipien formuliert, die beide – wo möglich – von Lerner*innen als Alternative zum Prinzip des ersten Nomens und zu L1-Strategien angewendet werden: das Prinzip der EreigniswahrscheinlichkeitEreigniswahrscheinlichkeit und das Prinzip der lexikalischen Semantik. Er streicht dabei den wesentlichen Unterschied zwischen Ereigniswahrscheinlichkeit und lexikalischer Semantik heraus: „[W]ith event probabilities, either noun may be capable of the action but one is more likely. With lexical semantics, it is the case that only one noun is capable of the action.“ Das Beispiel „mangiare“ (dt. „essen, fressen“) erfordert etwa ein lebendiges Wesen (im Italienischen Mensch oder Tier), das die Handlung ausführt, also Nahrung zu sich nimmt, Antilopen oder Löwen etwa können fressen, Gras oder Zäune nicht. Während im Satz „L'antilope fu mangiata dal leone. [Die Antilope wurde vom Löwen gefressen.]“ beide Nomen für die Durchführung der Handlung in Frage kämen (Ereigniswahrscheinlichkeit), es aber wahrscheinlicher ist, dass der Löwe die Antilope frisst und nicht umgekehrt, kommt im Satz „La carne fu mangiata dal leone. [Das Fleisch wurde vom Löwen gefressen.]“ nur der Löwe und nicht das Fleisch als Agens für die Verarbeitung des Satzes in Frage (Lexikalische Semantik). Anknüpfend an das Prinzip des ersten Nomens nimmt VanPatten an, dass Lerner*innen sich auch weniger auf dieses stützen, wenn der vorangehende Kontext eine Interpretation des Satzes schon einschränkt (Prinzip des einschränkenden Kontexts).

Die L2Zweitsprache (L2)-Inputverarbeitung unterliegt nach dem soeben dargestellten IP-Modell zahlreichen (psycholinguistischen) EinschränkungenEinschränkungen, von denen auch in der Processability Theory ausgegangen wird. Diese Spracherwerbstheorie stellt, wie schon erwähnt, den theoretischen Rahmen der vorliegenden Arbeit dar und soll in den Kapiteln 4 und 5 für die SprachproduktionSprachproduktion sowie für die SprachrezeptionSprachrezeption dargelegt und für das Italienische präzisiert werden.

4Processability Theory – SprachproduktionSprachproduktion

4.1Einordnung und Grundlagen der Theorie

Wie aus den Ausführungen in Kapitel 3 bereits hervorgeht, ist die Processability Theory (PTProcessability Theory (PT)) (Pienemann 1998a; Pienemann/Di Biase/Kawaguchi 2005; Pienemann/Lenzing 2020) eine psycholinguistische Theorie der L2Zweitsprache (L2)-Entwicklung. Die Grundannahme von PT besteht darin, dass der*die Lerner*in auf jeder Entwicklungsstufe nur jene sprachlichen Strukturen produzieren und verstehen1 kann, die zum jeweiligen Zeitpunkt vom Sprachprozessor verarbeitet werden können. Den Aufbau sowie die Funktionsweise des Sprachprozessors zu definieren, ist der Kern der Theorie, der es in der Folge erlaubt, universelle, morphosyntaktische Entwicklungssequenzen für SprachproduktionSprachproduktion und -verständnis vorherzusagen und diese empirisch zu testen (vgl. Pienemann/Lenzing 2020)2.

Während PTProcessability Theory (PT) in den Anfängen (Pienemann 1998a) der Frage nach geht, warum und wie L2Zweitsprache (L2)-Lerner*innen universelle Spracherwerbssequenzen für morphosyntaktische Strukturen durchlaufen und damit das Entwicklungsproblem des Spracherwerbs (s. Felix 1984) behandelt3, wird in neueren Veröffentlichungen und Erweiterungen der Theorie zunehmend auch das logische Problem des Spracherwerbs (s. Wexler 1982) und somit die Frage nach dem Ursprung und der Repräsentation des sprachlichen Wissens der Lerner*innen untersucht (Pienemann et al. 2005; Lenzing 2013; Pienemann/Lenzing 2015; Lenzing 2019, 2021; Pienemann/Lenzing 2020, 164).

Pienemann (1998a, 132) nimmt eine kognitive Perspektive auf den Spracherwerb ein und definiert Sprache als eigenes kognitives System, das mit anderen kognitiven Systemen interagiert und von diesen beeinflusst wird. Er stützt sich auf die kognitionswissenschaftliche Grundannahme, dass der grundlegende Aufbau kognitiver Prozesse von Individuen vergleichbar ist und der Erwerb etwa von Sprache verstanden werden kann, wenn seine konstituierenden kognitiven Prozesse identifiziert werden (ebd.)4. Wenn PTProcessability Theory (PT) als kognitive Theorie eingestuft wird, bedeutet dies aber keinesfalls, dass nicht-kognitive Faktoren wie soziale Faktoren, keinen Einfluss auf die Sprachverarbeitung und den Spracherwerb von L2Zweitsprache (L2)-Lerner*innen haben. Es bedeutet aber sehr wohl, dass dieser Einfluss nur innerhalb der allgemeinen Architektur des Sprachprozessors gegeben sein kann (Pienemann 1998a, 132).

Im Folgenden sollen wesentliche Aussagen der Theorie erklärt und auf Basis von Di Biase/Kawaguchi (2002) und Di Biase/Bettoni (2015) auf das Italienische angewendet werden.

Psychologische Prämissen

Pienemann (2005, 3ff.) nennt für seine Theorie vier psychologische Prämissen, unter denen das Sprachenlernen erfolgt. Basierend auf dem SprachproduktionsmodellSprachproduktionsmodell, wie es Levelt (1989) und auch bereits Friederici/Levelt (1988, 663) entworfen haben, geht Pienemann in einer ersten Prämisse von einer inkrementellen Sprachverarbeitung aus: Verschiedene Komponenten der Verarbeitung haben unterschiedliche Aufgaben und verarbeiten den jeweiligen Input in kleinen Teilen. Die Komponenten agieren dabei größtenteils autonom und ohne bewusste Kontrolle, was die hohe Geschwindigkeit bei der Sprachverarbeitung erklären lässt. Ebenfalls auf Grundlage von Levelts Sprachproduktionsmodell lautet die zweite Prämisse, dass die Verarbeitungskomponenten bzw. -systeme – das Konzeptualisieren, Formulieren und Artikulieren einer sprachlichen Äußerung – parallel ablaufen.

Neben der inkrementellen und größtenteils automatisierten Verarbeitung, die Pienemann auf Basis von Levelt formuliert, spricht Pienemann (2005, 5) von einer dritten Prämisse für PTProcessability Theory (PT), die besagt, dass sprachlicher Output linear ist, wenngleich darunterliegende