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Zamorra muss nicht ein, sondern zwei Rätsel lösen: Zum einen geht es um die von Hexen und Hexern entführte Lilou, deren 16. Geburtstag an Halloween nun unmittelbar bevorsteht ... und zum anderen will Zamorra das Geheimnis lüften, das die Entstehung und Existenz des Städtchens Creux d'Urban umgibt. Was er nur ahnen kann: Die Zeit rennt ihm davon, denn an ihrem 16. Geburtstag wird Lilou ihre Hexenweihe empfangen - an Halloween!
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Seitenzahl: 145
Cover
Impressum
Was bisher geschah
Blutmond
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Kümmel
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-7276-2
www.bastei-entertainment.de
Happy Halloween? Von wegen!
Professor Zamorra und Nicole Duval suchen ein Mädchen, das vor fünfzehn Jahren von einem Hexenzirkel verschleppt wurde.
Veronique, die Mutter, hatte Lilou auf Château Montagne in Sicherheit bringen wollen. Aber kurz bevor Mutter und Kind das schützende Schloss erreichten, wurden sie abgefangen. Hilflos musste Veronique mit ansehen, wie Lilou ihr geraubt wurde. Sie selbst landete danach in einem Sanatorium für psychisch Kranke …
Die Suche nach dem Mädchen beginnt im Haus eines der Entführer: Lilous Vater! Doch das Haus scheint leer und verlassen zu sein.
Veronique betritt das frühere Zimmer ihrer Tochter.
Und Zamorra, der ihr zusammen mit Nicole folgt, hört die verzweifelte Frau mit sich überschlagender Stimme rufen: »Da ist sie! Das ist meine Lilou!«
Blutmond
von Timothy Stahl
Richard Demorand war aus den USA ins Land seiner Vorväter, nach Frankreich, zurückgekehrt, und er hatte etwas mitgebracht: Halloween. Seitdem wurde in Creux d’Urban, bis dahin eine kaum bekannte kleine Stadt in der Bretagne, jeweils den ganzen Oktober lang Halloween gefeiert. Ein Fest, das Besucher von nah und fern anlockte. Sie ahnten nicht, dass in Creux d’Urban das Grauen auf sie wartete. DaswahreGrauen …
»Mein Dämon war lange eingesperrt gewesen, brüllend kam er ans Licht.«
– Robert Louis Stevenson
›Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde‹
Die Fahrt vom Sanatorium de Bathory in Richtung Creux d’Urban war lang, aber ereignislos. Sie redeten nicht einmal viel. Weil es nichts mehr zu sagen gab, was noch nicht gesagt worden wäre.
Nicht einmal viel nachzudenken gab es für Zamorra: Sie suchten ein Mädchen namens Lilou, das genau heute vor sechzehn Jahren als Kind von Corentin und Veronique Jugnot zur Welt gekommen war – an Halloween. Oder Samhain, wie die Kelten das Fest nannten, das sie an diesem Tag gefeiert hatten und dem nicht so viel mit dem heutigen Halloween gemein war.
Ein Jahr später, am ersten Geburtstag des Mädchens, war es geraubt worden – von seiner eigenen Familie, der väterlichen Seite. Die gehörte nämlich allem Anschein nach zu einem offenbar sehr alten Hexenzirkel oder einer ähnlichen Gruppierung, von der Zamorra bis dato noch nichts gehört hatte. Was ihn nicht weiter wunderte. Man mochte ihn zwar den »Meister des Übersinnlichen« nennen, aber das hieß längst nicht, dass er allwissend war. Im Gegenteil, er war überzeugt, dass er selbst bis an sein Lebensende nicht alle Geheimnisse und Rätsel allein schon dieser Welt gelöst haben würde. Und das, obwohl ihm zumindest theoretisch alle Zeit der Welt zur Verfügung stand. Denn er war, ebenfalls theoretisch, unsterblich. Die Praxis mochte ihn da eines Tages eines Besseren – oder Schlechteren – belehren. Denn gegen Gefahren und das Risiko, in ihnen umzukommen, feite ihn der Trunk aus der magischen Quelle des Lebens keineswegs. So wenig wie seine Lebensgefährtin Nicole Duval, die momentan schlafend neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, so wie Veronique Jugnot im Fond schlief, während der Wagen flott durch die wunderbare bretonische Landschaft schnurrte und Zamorra die Fahrt so gut es ging zu genießen versuchte. Wer wusste schon, was am Ende dieses Weges auf sie wartete. Er hatte es sich längst zur Gewohnheit gemacht, die freie Zeit, die das Schicksal ihm gönnte, auszukosten. Und wenn es nur Minuten waren.
Er warf erst einen Blick auf die friedlich schlummernde Nicole, deren Anblick ihm jederzeit das Herz erfreute, dann sah er im Rückspiegel nach hinten zu Veronique. Und seine Stimmung verdüsterte sich.
Veronique hatte die vergangenen fünfzehn Jahre, seit man ihr die Tochter weggenommen hatte, in einem Sanatorium für psychisch Kranke verbracht. Kein Wort hatte sie in dieser Zeit gesprochen, niemand hatte gewusst, wo sie herkam und was ihr widerfahren war.
Aber Veronique war nur körperlich in dem Sanatorium gewesen. Im Geist oder Traum hatte sie sich all die Jahre an der Seite ihrer Familie ein glückliches Leben führen sehen. Der Bann war gestern Nacht zerbrochen, und für Veronique war es gewesen, als hätte es die letzten anderthalb Jahrzehnte nicht gegeben. Sie hatte nach Professor Zamorra verlangt, zu dem sie damals unterwegs gewesen war, um vor ihrem Mann und dessen Familie beziehungsweise dem Hexenzirkel, dem sie angehörten, Zuflucht zu suchen. Kurz bevor sie damals Château Montagne erreichte, hatte man sie abgefangen, und Zamorra hatte nie erfahren, dass da jemand zu ihm unterwegs gewesen war, um seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Bis er heute Morgen aus dem Sanatorium angerufen worden war, weil Veronique ihn nun immer noch sprechen wollte. Als wären nicht fünfzehn lange Jahre vergangen, seit sie ihn hatte aufsuchen wollen.
Inzwischen kannten sie, er und Nicole, die gesamte Vorgeschichte Veroniques. Sie hatte sich an alles erinnert, als wäre es erst gestern geschehen, und ihnen genau erzählt, was ihr widerfahren war. Natürlich hieß das nicht, dass es nun keine Fragen mehr gegeben hätte, im Gegenteil! Deshalb waren sie nun ja unterwegs nach Creux d’Urban, einer kleinen Stadt in der Bretagne, unweit der Atlantikküste. Dort hatte sich das seinerzeit alles zugetragen, und deshalb war Creux d’Urban ihre erste Anlaufstelle.
Leider war nicht auszuschließen, dass die Drahtzieher in der Zwischenzeit das Revier gewechselt hatten. Andererseits hatten sie allen Grund, sich in Creux d’Urban sicher zu fühlen. Veronique, die Einzige, die wusste, was gespielt worden war und den Zirkel hätte verraten können, war aus dem Verkehr gezogen worden.
Eigentlich, dachte Zamorra, und er tat das im Zuge seiner Überlegungen den Fall betreffend nicht zum ersten Mal, musste man sich wundern, dass sie Veronique am Leben gelassen hatten. Er hatte viele solcher Organisationen kennengelernt, die deutlich rabiater vorgegangen waren, um Verräter – tatsächliche oder potenzielle – mundtot zu machen. Insofern war man Veronique gegenüber geradezu gnädig gewesen, denn immerhin hatte man ihr ein Leben in Glück und Freiheit wenigstens auf magische Weise vorgegaukelt. Und wäre dieser Zauber gestern Nacht nicht zerstört worden, hätte Veronique in ihrem Kopf so traumhaft weitergelebt, bis ihr Körper in der Wirklichkeit eines natürlichen Todes gestorben wäre.
Was exakt den Bann gebrochen hatte, wussten sie nicht; darüber hatte ihnen auch die Puppe keinen Aufschluss geben können, die Zamorra mit seinem Amulett untersucht hatte und die dabei kaputtgegangen war und sich dann fast restlos aufgelöst hatte – übrig geblieben war nur ein alter Fingernagel. Er stammte wohl von Veroniques Mann Corentin, und die Puppe hatte vor ihrer Zerstörung vermutlich auch etwas von Lilou enthalten, eine Haarlocke oder dergleichen, damit der voodoo-ähnliche Zauber funktionieren und Veronique vorspiegeln konnte, sie lebe mit Mann und Tochter zusammen. Das nahm Zamorra jedenfalls stark an.
Regelrecht überzeugt war er allerdings davon, dass er selbst den »Impuls«, wie er das, was die Puppe getroffen und den von ihr ausgehenden Bann aufgehoben hatte, mangels eines besseren Ausdrucks und genauerer Kenntnisse nennen musste, ebenfalls mit seinen seit jeher empfindlichen Para-Sinnen wahrgenommen hatte. Er hatte gestern Nacht unruhig geschlafen und schlecht geträumt. Es war gewesen, als sei ein magisches Gewitter über das Loire-Tal hinweggezogen. Und offenbar hatte es auch das entfernt liegende Sanatorium de Bathory gestreift.
Auch darüber dachte Zamorra nach. Worum konnte es sich dabei konkret gehandelt haben? Nichts, nicht einmal Magie, kam oder entstand aus dem Nichts. Alles hatte einen Ursprung, eine Quelle oder zumindest einen Auslöser. Wenn in der vergangenen Nacht also Magie »in der Luft gelegen« hatte, musste sie von irgendwo hergekommen sein. Und da ihre Auswirkungen eher zufälliger Art gewesen zu sein schienen, hatte vermutlich niemand und nichts dahintergesteckt, der oder das sie gezielt gesteuert hatte. Das wiederum mochte heißen, dass sie ursprünglich ein anderes Ziel gehabt oder einem anderen Zweck hatte dienen sollen, denn aus irgendeinem Grund musste sie ja heraufbeschworen oder »angerührt« worden sein; es gab zig Methoden und Mittel, Magie zu beschaffen und nutzbar zu machen. Vorstellbar wäre in diesem Rahmen also etwa gewesen, dass ein Magier irgendetwas versuchte und seine Magie ansetzte wie ein Werkzeug – und dann war ihm diese Magie entweder entglitten, oder jemand hatte dazwischengefunkt und sie ihm aus der Hand geschlagen; in beiden Fällen wäre sie, wenn nicht entsprechende Vorkehrungen getroffen worden waren, abgefälscht worden, irgendwohin. Denn so wie ein abgefälschter Ball im Sport nicht einfach verschwand, sondern schlicht anderswo landete, verpuffte auch Magie nicht einfach so, sie raste nur irgendwo anders hin, bis sie auf etwas traf, an oder in dem sie sich auf irgendeine Weise entladen konnte, ähnlich wie ein Blitz.
Komplizierte Gedankengänge waren das, darüber war Zamorra sich schon im Klaren, und jemand anderem als Nicole hätte er sie wahrscheinlich nicht darlegen können. Aber er selbst hatte das durchaus gute, weil befriedigende Gefühl, mit seinen Mutmaßungen gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt zu sein …
… so wie sie hoffentlich auch nicht mehr weit von Creux d’Urban entfernt waren.
Eigentlich müssten wir doch schon da sein, dachte Zamorra. Er war noch nie in Creux d’Urban gewesen, mehr noch, er kannte die Stadt nicht einmal, konnte sich nicht erinnern, auch nur davon gehört zu haben. Obwohl Frankreich nun auch kein endlos weites Land und er in all den Jahren so viel herumgekommen war, dass er geglaubt hatte, jede Ecke kennengelernt zu haben. Auch solche, die außer ihm fast niemand kannte.
Allerdings schien es auch Fälle zu geben, die genau andersherum lagen – Orte, die offenbar so gut wie jeder kannte … nur er nicht. Und Nicole auch nicht.
Es war, hätte man glauben können und wäre es nicht eigentlich absurd gewesen, ein bisschen so, als hätte sich dieses Creux d’Urban vor ihnen versteckt gehalten – oder irgendjemand oder irgendetwas verhindert, dass sie darauf stießen.
Irgendwie passte es da nun gut ins Bild, dass zwar Nicole und Veronique gleichzeitig wach wurden, es aber Veronique war, die sich den Schlaf aus den Augen wischend zwischen den beiden Vordersitzen hindurch und zur Frontscheibe hinausschaute und sagte: »Oh, perfektes Timing – wir sind ja da!«
Und als hätte es ihrer Worte bedurft, um ihm die Augen zu öffnen, sah nun auch Zamorra die kleine Stadt vor sich, und keine Minute später fuhren sie am Ortsschild vorbei und hinein.
Und das fand selbst Professor Zamorra, ein Mann, den eigentlich nichts mehr wunderte, schon sehr seltsam.
Aber auch das war immer noch erst der Anfang …
***
Am Abend vorher.
Endlich erlöst!
Jahrelang war Alice Gourdy gefangen gewesen, hatte sich nicht bewegen, nicht atmen können. Hatte beides nicht gebraucht. Weil sie keinen eigenen Körper mehr hatte. Nur noch ihren Geist, ihr Wesen, ihr Sein. Und das war verbannt worden in den starren Leib eines bronzenen Engels, der inmitten von Toten stand und über deren Gräber schaute.
Jahrelang …
Aber so wie Magie sie einst in diesen Kerker gesperrt hatte, sprengte Magie ihn nun wieder auf – und Alice war frei. Aber nur ihr Geist, ihr Wesen, ihr Sein. Einen Körper hatte sie nicht mehr, und schon drohten ihr Geist, ihr Wesen, ihr Sein sich zu verflüchtigen. Einzugehen dort, wo Geister hingehörten und es sie hinzog – ins Jenseits.
Zum Glück jedoch war da ein Körper zum Greifen nah, und Alice nahm ihn sich und fuhr in ihn ein. Es war kein schöner Körper, nicht zu vergleichen mit ihrem früheren, noch nicht einmal der einer Frau! Aber, das erkannte sie gleich, er konnte ihr nützlich sein wie im Augenblick kaum ein anderer. Welch ein Zufall! Oder war es Schicksal und so bestimmt?
Egal, sagte sich Alice im Stillen und schon in diesem neuen Kopf, der jetzt auch ihrer war. Sie würde diesen Mann benutzen – fürs Erste …
***
Sebastian Demorand kam sich ein bisschen vor wie der einzige Mensch auf der Welt. Obwohl Creux d’Urban, seit über zehn Jahren gezwungenermaßen sein Zuhause, fast überquoll von Menschen. Wie immer im Oktober. Und wie jedes Jahr mehr. Seitdem die verrückte Idee seines Vaters angefangen hatte, sich durchzusetzen und jährlich erfolgreicher wurde.
Belächelt wurde Richard Demorand von den Menschen in Creux d’Urban schon lange nicht mehr. Sie bewunderten ihn, dankten ihm dafür, dass er das Städtchen von einem Fliegenschiss auf Google Maps zu einem Ort von wenigstens alljährlich temporärer Bedeutung gemacht hatte. Sie hatten ihn sogar zum Bürgermeister gewählt. Und im Oktober lief er tatsächlich herum wie der Bürgermeister von Halloween Town aus dem Film »The Nightmare before Christmas«.
Peinlich war das, fand Sebastian.
Lustlos latschte er durch die Gassen von Creux d’Urban. Die kostümierten Besucher, von denen es schier wimmelte und die von einem »Haunted Happening« zum anderen eilten, kotzten ihn an. Er war wahrscheinlich der Einzige hier, der nicht irgendwie blöde verkleidet war. Sogar Billie, seine Freundin, hatte sich einen Reif mit aufgeklebten Fledermausohren ins rote Haar gesteckt. Insofern war er zumindest der einzige normale Mensch in dieser bescheuerten Halloween-Welt.
»Hey, da kommt dein Papa!«, sagte Billie in diesem Moment und zeigte nach vorn.
Tatsächlich, da kam er, der »Herr Bürgermeister«, gab sich jovial, schüttelte Hände, ließ sich feiern und fotografieren.
»Komm, da lang!«, raunzte Sebastian und zog Billie mit sich in eine Gasse, die gerade breit genug war, dass sie noch Hand in Hand nebeneinander gehen konnten.
Sein bester Kumpel, Martin, und dessen Mädchen, Emma, folgten ihnen. Auch die zwei waren verkleidet, als König Ludwig XVI. und dessen Gattin Marie-Antoinette, beide mit blutig geschminktem Hals – sowohl Ludwig als auch Marie-Antoinette waren auf dem Schafott geköpft worden.
»Warum arrangierst du dich nicht endlich mit dem Spleen deines Vaters?«, fragte Martin von hinten. »Ändern tust du mit deiner Verweigerungshaltung doch nichts daran. Und wenn du bei deinem Plan bleibst, hast du den Kram in längstens drei Jahren doch sowieso hinter dir.«
»Was meint er damit?«, fragte Billie und zog an Sebastians Hand. »Dann hast du es ›hinter dir‹?«
»Na, er will doch nach der Schule zurück nach Amerika«, gab Martin bereitwillig Auskunft an Sebastians Stelle und schickte erschrocken hinterher: »Hoppla.«
»Ja, ›hoppla‹», knurrte Sebastian. Er hatte Billie nie gesagt, dass er vorhatte, wieder nach Amerika, wo er geboren worden war, zurückzukehren nach der Schule. Er würde dort studieren und nach Möglichkeit in die Geschäfte der Familie einsteigen, denen sein Dad den Rücken gekehrt hatte, um … Bürgermeister von »Halloween Town« zu werden! O Mann …
»Deine große Klappe wird mir dann auch nicht fehlen, o du mein ›bester Freund‹», pflaumte er Martin an, ohne sich umzudrehen.
»Tut mir leid«, erwiderte Martin. Und etwas ätzender fügte er hinzu: »Ich wusste ja nicht, dass du Geheimnisse vor deiner Freundin hast.«
»Soll ich Emma ein paar von deinen verraten?«, fragte Sebastian. »Vielleicht interessiert sie ja, was du dir so für Videos im Netz anschaust, hm?«
Martin zog seine Freundin an sich und grinste. »Das weiß sie schon. Sie guckt ja mit!«
Emma lachte und stieß Martin an. »Hey, das war doch unser Geheimnis!«
»Ihr seid blöd«, maulte Sebastian.
»Nein, spitz sind wir«, gab Martin zurück.
»Du willst weggehen?«, kam Billie aufs Thema zurück.
Sebastian hob die Schultern. »Vielleicht. Ich … das ist einfach nicht meine Heimat.« Er wies um sich. »Ich weiß zum Beispiel noch, wie Halloween wirklich war, daheim. Drüben.«
»Du willst zurück nach Amerika, weil …«, Billie schüttelte fassungslos den Kopf, so heftig, dass ihre Zöpfe flogen und der Reif mit den Fledermausohren herunterfiel, »… weil Halloween früher schöner war?«
»Nein«, sagte Sebastian, bückte sich und hob den Haarreif seiner Freundin auf. »Nicht deswegen. Nicht nur. Das war doch bloß ein Beispiel. Ich …«, er reichte Billie den Reif, »… verdammt, ich weiß auch nicht. Ich bin einfach schlecht drauf, okay? Ich finde meinen Dad so was von peinlich!«
Sie verließen die Gasse auf der anderen Seite, traten hinaus auf eine der belebteren Hauptstraßen. Auch hier tummelten sich Kostümierte. Die Häuser waren geschmückt. Eine alte Leichenkutsche wurde von einem schwarzen Gaul die Straße entlanggezogen. Auf dem Bock saß ein Skelett mit Zylinder, die Räder rumpelten übers Pflaster. Auf der Ladefläche reihte sich ein halbes Dutzend Särge aneinander, in denen Fahrgäste Platz nehmen konnten. Sie waren mit Horror-Clowns und Vampiren besetzt.
»Abartig«, sagte da jemand neben Sebastian Demorand und seinen Freunden.
Ein Mann lehnte neben dem Ausgang der schmalen Gasse an der Hausmauer und schaute der Kutsche kopfschüttelnd und mit säuerlicher Miene hinterher.
Sie kannten den Mann. Er war Lehrer an ihrer Schule. Erdkunde und Geschichte.
Sebastian sprach ihn an: »Na, das erstaunt mich aber, dass Sie sich hier unters Volk mischen. Ich hatte gedacht, Ihnen ist das Treiben genauso zuwider wie mir.«
»Das wiederum erstaunt mich. Schließlich steckt dein Vater als treibende Kraft dahinter.«
Sebastian zuckte die Achseln. »Manchmal fällt der Apfel eben doch etwas weiter vom Stamm.«
Herve Plouyann, ein kleiner Mann mit kurzen Beinen, Anfang sechzig, drehte den Kopf und sah die jungen Leute an.
Was ist mit seinen Augen? Diese Farbe, dieses Leuchten, fragte sich Sebastian.
Er vergaß, was ihn daran störte, als Herve Plouyann sie fragte: »Wollt ihr euch mal richtig gruseln?«
»Richtig gruseln?«, echote Martin. »Was meinen Sie damit?«
»Ihr habt doch schon von Samhain gehört, oder?« Plouyann sah sie mit seinen katzenhaft grünen Augen reihum an.
»Na klar«, antwortete Sebastian. »Das war das keltische Halloween, nicht wahr?«
Plouyann schüttelte unwirsch, fast schon wütend den Kopf. »Es war viel mehr als … Halloween. Viel mehr als … das.« Er wies mit einer wegwerfenden Geste um sich, sein Ton war pure Verachtung. Dann setzte er sich auch schon in Bewegung und winkte ihnen, ihm zu folgen.