Professor Zamorra 1163 - Timothy Stahl - E-Book

Professor Zamorra 1163 E-Book

Timothy Stahl

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Beschreibung

Weihnachten auf Château Montagne! Professor Zamorra und Nicole Duval feiern mit alten Freunden und Kampfgefährten ... und erinnern sich in einer stillen Stunde an ein ganz besonderes Weihnachtsfest, das sie vor Jahren auf einer sturmumtosten Insel vor der amerikanischen Ostküste verbrachten ...
Nicoles Studienfreundin Audrey lud sie damals ein auf den Stammsitz ihrer Familie, nach Cavendish Hall, wo plötzlich die Geister der Vergangenheit erwachten und unheilvolle Wahrheiten ans Licht drängten, die man viel zu lange totgeschwiegen hatte ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Der ungebetene Gast

Leserseite

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Melkor3D; Jakub Krechowicz / shutterstock

Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-7461-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Der ungebetene Gast

von Timothy Stahl

»Joyeux Noël, frohe Weihnachten!«, sagte Zamorra.

Nicole lächelte ihn an. »Joyeux Noël,chéri.«

Mit leisem Klingen stießen ihre schweren, dampfenden Becher aneinander.

Der Duft des Glühweins, von Madame Claire nach einem geheimen Familienrezept gebraut, und die Gerüche von frischem Tannengrün und Kerzen aus Bienenwachs, das langsam schmolz, schienen wie magisch das ganze Schloss zu erfüllen.

Und vielleicht war Magie im Spiel – nicht alle Gäste waren Normalsterbliche …

Der Heilige Abend neigte sich seinem Ende zu.

Begonnen hatte er im Dorf unterhalb von Château Montagne, mit der Messe de Minut im altehrwürdigen Kirchlein Saint-Cyriac. Pater Ralph hatte eine bewegende und nachdenklich stimmende Predigt gehalten, Kinder des Dorfes führten ein Krippenspiel mit moderner Note auf, und der Kirchenchor hatte die Gemeinde mit »Nuit de Paix« in die stille Nacht entlassen.

Zamorra hatte schon im Voraus zum Réveillon, dem gemeinsamen Weihnachtsschmaus, mit anschließender Feier aufs Schloss eingeladen. Obgleich vor allem Familien mit Kindern dem Professor zwar herzlich gedankt, es aber dennoch vorgezogen hatten, nach Hause zu gehen, um den restlichen Abend und den morgigen eigentlichen Feiertag traditionell zu begehen, waren doch viele der Einladung gefolgt. Und so war der Heiligabend auf Château Montagne wunderschön und fröhlich geworden. Zamorra und Nicole hatten ihre Rolle als Gastgeber mit Perfektion und Freude erfüllt und genossen – aber jetzt stahlen sie sich einen Augenblick, den sie nur einander schenkten.

Sie hatten sich ins Arbeitszimmer im zweiten Stock des Nordturms zurückgezogen. Durch dessen von der Decke bis zum Boden reichendes Panoramafenster hatte man die schönste Aussicht über die Loire und auf das kleine Dorf im Tal. Der Schein von Mond und Sternen ließ die leicht verschneite Landschaft aus Mischwald und Weiden wie mit Silberstaub bepudert wirken. Und wie ein vor dem Weihnachtsbaum zu Boden gefallenes Geschenkband wand sich die zum Schloss heraufführende Serpentinenstraße hindurch.

Sie hatten beide schon die ganze Welt gesehen – mehr noch, sie hatten diese Welt und viele andere gesehen. Aber …

»Nirgends ist es so schön wie zu Haus«, flüsterte Nicole und schmiegte sich in den Arm, den Zamorra um sie legte und mit dem er sie an seine Schulter zog. Sie genoss die von ihm ausstrahlende Wärme, die über das Körperliche hinausging, genau wie seine Stärke.

Manchmal, in Momenten wie diesen, badete Nicole regelrecht in dem wunderbaren Gefühl, einmal nicht die Assistentin und Kampfgefährtin jenes Parapsychologen zu sein, den Freund und Feind den Meister des Übersinnlichen nannten, sondern einfach nur die Geliebte eines französischen Schlossherrn, der nicht vergessen hatte, wie man den schönen Seiten des Lebens zusprach.

Allenfalls wünschte sie sich, sie würden sich ein bisschen öfter auch daran erinnern, dass sie diesen Aspekt des Erdendaseins nicht vergessen hatten. Und dass ihnen der Rest des Lebens etwas mehr Zeit dafür ließe – denn jener Rest des Lebens war leider dessen sehr viel größerer Teil …

»Ich kann spüren, was du denkst«, raunte Zamorra mit warmem Atem in ihr Haar.

Sie seufzte. »Ich weiß.«

»Vielleicht ein Vorsatz fürs neue Jahr …«, begann er.

»Nicht«, unterbrach sie ihn. »Sag nichts. Die Zukunft liegt nicht in unserer Hand. Und speziell über unsere Pläne für morgen lacht nicht nur der liebe Gott.«

»Nun, dass die Zukunft nicht in unserer Hand liegt, stimmt ja nicht ganz. Ich sag nur: Zeitring.«

»Lass es«, gab Nicole zurück. »Mach den Moment nicht kaputt, chéri . Bitte.«

»Verzeih.«

»Schon gut.«

Er zog sie fester an sich, und sie schmiegte sich dichter an ihn.

Über den duftenden Dampf, der aus ihren warmen Glühweinbechern stieg, blickten sie aus dem dunklen Zimmer hinaus in die helle Winternacht.

Ein bunt und festlich dekoriertes Schiff fuhr langsam die Loire hinab. Im Dorf am Fuß des Hangs, auf dessen halber Höhe Château Montagne thronte, glitzerte weihnachtlicher Schmuck an Häusern und in Gärten, als wäre der Ort ein Spiegel, der den gestirnten Himmel reflektierte. Im weiteren Umkreis blinkten einsam die Lichter verstreut liegender Aussiedlerhöfe.

»Ein Bild wie gemalt«, meinte Nicole.

Zamorra nickte. »Wie man es schöner nicht malen könnte.«

Dann verzogen beide synchron das Gesicht, und er ergänzte: »Aber schöner singen könnte man.«

Anderswo im Schloss hatte sich spontan ein Chor zusammengefunden, dessen Mitglieder nicht alle mit begnadeten, dafür aber überreichlich lauten Stimmen gesegnet waren. Jemand hämmerte mit mehr Freude als Können auf die Tasten eines Flügels ein, und dann stimmte auch noch eine Katze mit ein, die sich erst nach genauerem Hinhören als kratzig gestrichene Fiedel zu erkennen gab. Es wurde mit selbst über die Distanz hinweg deutlichem französischen Zungenschlag »Rudolph the Red-Nosed Reindeer« zum Besten gegeben – oder zu jenem Besten eben, das in den stimmlichen Kräften dieser Truppe stand.

»Och«, befand Nicole, als der erste Refrain erreicht war, »klingt doch eigentlich ganz schön.«

»Schön schräg jedenfalls«, konterte Zamorra und berührte mit der Zungenspitze prüfend einen Backenzahn, der ihm plötzlich wehtat. Aber vielleicht war es auch nur sein Ohr, das bis in den Kiefer schmerzte …

»Ich glaube, ich höre Mostache heraus«, sagte Nicole.

Der Dorfwirt hatte seine Kneipe heute Abend zugesperrt, ein Ereignis von hohem Seltenheitswert.

»Dem sing ich nächstens auch die Ohren voll, wenn’s am Stammtisch wieder mal spät wird«, schwor Zamorra.

»Ich fürchte, das hast du in der Vergangenheit schon zur Genüge getan, und das hier ist jetzt seine Rache.«

»Meine Rache wird fürchterlicher sein.«

»Das kann ich mir leider fürchterlich gut vorstellen.«

Nicole nippte von ihrem gewürzten Wein, der allmählich abkühlte.

»Ich wüsste gern, was Madame Claire da alles hineingibt. Es sind jedenfalls mehr als die üblichen Gewürze wie Zimt, Nelken und Sternanis.«

Sie trank noch einen kleinen Schluck und behielt ihn ein wenig im Mund, um den Geschmack zu erforschen.

»Ich wünschte, die gute Seele hätte unser Angebot angenommen, die Feier heute Abend von einem Catering-Service ausrichten zu lassen. Ich hätte ihr die viele Arbeit mit dem Réveillon gern erspart«, sagte Zamorra.

Das mit Lichtern geschmückte Schiff auf der Loire hatte die nächste Biegung unterdessen fast erreicht.

»Das hätte sie uns nie verziehen«, erwiderte Nicole. »Ihr das Kochen zu verbieten, das wäre, als …« Sie seufzte wieder. »Mir fällt gar nicht ein, wie schlimm das für Madame Claire wäre.«

»So schlimm, als würde man dir mich verbieten?«, half Zamorra aus.

»Schlimmer.«

»Oh. So schlimm dann doch?«

»O ja.«

»Na, immerhin hat sie sich auf den Kompromiss eingelassen, ihr ein paar professionelle Helfer für die niederen Dienste zur Seite zu stellen.«

»Ja, immerhin.« Nicole nickte und trank ihren Becher aus. »Mischen wir uns wieder unters Volk?« Sie sah zu ihm auf.

»Noch nicht.« Zamorra schaute dem um die Flussbiegung verschwindenden Schiff nach. »Es ist so …«, er suchte nach einem großen Wort und beließ es dann bei: »… einfach nur schön.«

Nicole spürte, wie er die Schultern hob. Diese Schultern, die so straff und kräftig waren. Die wie alles in und an ihm nicht dem Bild entsprachen, das man von einem Mann vor Augen haben mochte, von dem man nur hörte, er sei ein Professor und Parapsychologe. Wer dachte da nicht wie im Reflex an einen alten Herrn mit wirrem weißen Haar und knarrenden Gelenken, der insgesamt von eher klappriger Statur war und bei jedem Schritt staubte?

»Die anderen werden uns vermissen«, gab Nicole zu bedenken.

»Aber taktvoll genug sein, uns nicht zu suchen.« Zamorra zwinkerte ihrem Spiegelbild, das sich durchscheinend wie ein Geist auf der Scheibe abzeichnete, lächelnd zu.

»Du willst … hier?«, fing sie an zu fragen, doch er schüttelte sacht den Kopf.

»Nein.«

»Nein?«

»Nicht jetzt. Später. Vielleicht.«

»Nur vielleicht?«

»Später.«

»Bestimmt?«

»Versprochen.«

Das Lied, in das immer mehr mit eingefallen waren, ging zu Ende. Applaus wurde laut und hallte durchs Schloss. Jemand stimmte ein neues an.

»Klingt wie Gryf«, sagte Nicole.

»Ja«, bestätigte Zamorra. »Und die zweite Stimme wie Teris.«

Nicht nur Leute aus dem Dorf – die Lafittes etwa, der Posthalter Trenet und der Schmied Goudon – sowie die meisten Pächter der umliegenden Weinberge und Anbauflächen, die zu Château Montagne gehörten, hatten sich heute Abend auf dem Schloss eingefunden. Natürlich waren auch alte Kampfgefährten der Einladung gefolgt, darunter eben auch die Silbermond-Druiden Gryf ap Landrysgryf und Teri Rheken. Eigentlich war aus dieser Riege nur Ted Ewigk, der in jungen Jahren als Geisterreporter bekannt geworden war, nicht mit von der Partie. Er lebte in Rom und war von Freunden, die er dort hatte, bereits lange im Voraus eingeladen gewesen.

Aber selbst Freunde, die Zamorra und Nicole schon lange nicht mehr gesehen hatten, waren gekommen – April Hedgeson zum Beispiel, die am Gardasee residierende Chefin der Grym-Werft, und der Sachbuchautor Brik Simon, ein gebürtiger Engländer, den die Liebe ins deutsche Sauerland verschlagen hatte, wo das Schicksal ihn bis heute festhielt. Über seine Zusage hatten sich Zamorra und Nicole besonders gefreut. Ein paar ihrer Freunde, darunter der gute Brik, würden auch den Jahreswechsel mit ihnen auf Château Montagne feiern, und in den Tagen bis dahin würden sie hoffentlich noch viel Zeit haben, um sich zu unterhalten und einfach nur beisammen zu sein. Um wenigstens für ein Weilchen zu vergessen, was in letzter Zeit alles über sie hereingebrochen war – und nicht darüber nachzugrübeln, womit die Zukunft ihnen drohen mochte.

Sofort kam Nicole da die ominöse Truhe voller Amulette auf Haiti in den Sinn, aber auch der unheimliche Notar Kylian Roux aus dem Elsass, der im Besitz einer Amulett-Kopie gewesen und dem es gelungen war, sich durch ein Dimensionstor abzusetzen, bevor sie das Rätsel um den Kerl lüften, geschweige denn ihn selbst dingfest machen konnten … Und erst vor Kurzem war ein Dämon, den man den kalten Tod nannte, in das Dorf unterhalb des Schlosses eingefallen …

Das Böse kommt näher und näher. Aber jetzt … Schluss!, befahl sie sich. Nicht. Heute. Und. Nicht. Morgen. Verdammt. Noch. Mal!

Dieser Augenblick, jetzt und hier, der gehörte ihnen beiden ganz allein, und ja, er sollte noch nicht enden.

Doch da rührte der Gedanke an die anwesenden alten Freunde auch schon an der Erinnerung an eine andere alte Freundin, die heute nicht hier sein konnte. Eine sehr alte Freundin. Eine der ersten, die Nicole je gehabt hatte, jedenfalls in den USA, wo sie studiert und dann auch Zamorra kennengelernt hatte.

In einem anderen Leben, dachte sie, ein bisschen wehmütig.

Ihre Freundin Audrey war eine Tochter aus sogenanntem guten Haus gewesen.

»Cavendish House«, sagte Nicole, und es musste Zamorra wie unvermittelt vorkommen. »Weißt du noch?«

Sie wandte die Augen nicht ab von dem Bild der weihnachtlichen Nacht draußen. Als versuchte sie, sich mit dem Blick an der Gegenwart festzuhalten, um nicht in die Vergangenheit abzudriften.

Aber es war schon zu spät.

»Allerdings.« Zamorra nickte, und Nicole schauderte. Er nahm sie noch ein wenig fester in den Arm.

Cavendish House, Cavendish Island …

»Wann war das noch gleich?«, überlegte er, ohne darauf zu kommen.

»Lange her«, gab sie knapp zur Antwort.

»Aber nicht lange genug, um die Sache zu vergessen, hm?«

Nicole schüttelte nur stumm den Kopf.

Dann eilten ihrer beider Gedanken zurück in eine Zeit, in der Handys ungespielte Zukunftsmusik gewesen waren und sie noch keine Regenbogenblumen gekannt hatten …

Ja, die Geschichte war wirklich lange her. Aber sie hatten und würden sie nie vergessen. Auch wenn sie es versucht und lange, sehr lange nicht mehr daran gedacht und schon gar nicht darüber gesprochen hatten.

Es war Weihnachten gewesen. So wie jetzt – aber ganz anders …

***

Damals.

»Tommy ist weg«, sagte eines der Kinder am Freitagmorgen nach Thanksgiving, das seit jeher am vierten Donnerstag im November gefeiert wurde.

Das große Haus, Heim und Heimat für fast zwei Dutzend Kinder und Jugendliche jeglichen Alters, war noch erfüllt vom Duft des Festmahls vom vorangegangenen Abend: Gebratener Truthahn mit Soße, Kartoffelpüree mit viel Butter, Rosenkohl mit Speck, Süßkartoffelauflauf mit Marshmallows, Cranberries, warmer Apfelkuchen mit Vanilleeis …

Sie hatten alle zusammen geholfen, unter Miss Jessies Regie, der alten Dame, die dieses Haus für besondere Kinder – das niemals und nirgends als Waisenhaus bezeichnet wurde, das verbat sie sich! – vor vielen Jahren gegründet hatte und bis heute leitete. Und es war wieder ein wunderbares Thanksgiving-Fest geworden, wie jedes Jahr – und wie es viele Kinder da draußen, in »richtigen« Familien, vielleicht gar nicht mehr kannten.

Keinem der Kinder in Miss Jessies Obhut mangelte es an irgendetwas, am allerwenigsten an Liebe, Wärme und Zuwendung. Aber auch Disziplin und Respekt. Miss Jessie und ihre Helfer waren auf ihre Art bessere Eltern, als wenigstens einige der Kinder im Haus sie gehabt hätten, wären sie dort geblieben, wo sie hergekommen waren … Wobei die tragischen Fälle, diejenigen etwa, in denen die leiblichen Eltern nicht mehr lebten, ausgenommen waren.

Tommy war ein besonders tragischer Fall. Er war auch schon besonders lange bei Miss Jessie. Und sie hatte sich besonders um ihn gekümmert und ihn besonders gerngehabt. Und doch …

»Was meinst du damit, Schätzchen?«, fragte die alte Dame den kleinen Jungen, der mit der Nachricht von Tommys Verschwinden ins Speisezimmer gestürmt war, wo andere gerade die Tische zum Frühstück eindeckten und der Appetit machende Geruch von geröstetem Toast und frischen Pfannkuchen mit dem Rest der Thanksgiving-Düfte wetteiferte.

»Tommy ist weg«, wiederholte der Junge.

Miss Jessie strich ihm übers Haar. »Vielleicht ist er nur spazieren gegangen?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, da hätte er doch nicht all seine Sachen mitgenommen, oder?« Der Kleine zog an Miss Jessies schmaler, altersfleckiger Hand, und sie folgte ihm die breite Treppe des alten Farmhauses hinauf und in das große Zimmer, das sich der Junge unter anderem mit Tommy teilte.

Tommys Schrank stand offen, und Miss Jessie sah auf einen Blick, dass in der Tat all seine Kleidung und auch ein paar persönliche Dinge fehlten.

»Sein Rucksack ist auch weg«, sagte der Junge, der immer noch Miss Jessies Hand hielt.

Hinter ihnen kam ein anderer ins Zimmer, Schaum auf den Lippen. Er kam aus dem gemeinschaftlich genutzten Bad und meldete: »Seine Zahnbürste hat er auch mitgenommen.«

Miss Jessie trat ans Fenster und schaute hinaus auf den Hof und das Gelände der Farm, die sie früher mit ihrem Mann bewirtschaftet hatte. Heute taten das, neben der Schule natürlich, die Kinder und Helfer, die Miss Jessies soziales Engagement mit ihrer Zeit und Kraft unterstützten.

Trotz des eigentlichen warmen Gedankens fror ihr Herz.

Man konnte sehen, dass es kalt war da draußen. Alles lag wie erstarrt und düster da, der von Reif glitzernde Rasen, die kahlen, dunklen Bäume, alles, was sonst die Idylle ausmachte, in die das Haus eingebettet war. Darüber lag wie ein Gespinst fleißiger Spinnen grauer Novembernebel, den die Sonne heute wohl nicht wegdampfen würde. Der Himmel war von dichten Wolken bedeckt, die nicht aufreißen würden. Der Winter nahte, und er tat es mit großen Schritten.

»Wo kann Tommy denn hin sein?«, wollte der Junge an Miss Jessies Hand wissen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise.

Tommy war achtzehn, oder fast jedenfalls. Ein Alter, in dem Jungen bisweilen von Dämonen heimgesucht wurden, gegen die sie machtlos waren und die sie zu allerlei Dingen trieben. Und gerade Tommy …

Der andere Junge, der mit dem Zähneputzen noch nicht ganz fertig gewesen war, gesellte sich zu ihnen ans Fenster.

»Kommt Tommy wieder?«, fragte er.

»Ich hoffe es«, sagte Miss Jessie.

Aber sie glaubte es nicht, aus irgendeinem Grund.

»Gehen wir wieder zu den anderen.« Sie seufzte und wandte sich vom Fenster und der kalten Welt draußen ab. »Es gibt gleich Frühstück.«

Es waren noch viele Kinder im Haus, und die brauchten Miss Jessie – und Miss Jessie brauchte sie …

***

Der Winter war früh gekommen in diesem Jahr, und er hatte die Tage um Thanksgiving zur Hölle gemacht für alle, die mit dem Auto teils weite Reisen unternahmen, um mit Familie und Freunden feiern zu können – und für alle Trucker, die sich dem Verkehrschaos stellen mussten und deren Auftraggebern es egal war, weshalb eine Terminfracht zu spät kam: Wer nicht wie vereinbart rechtzeitig lieferte, dem wurde der Verlust, den Lieferant und Empfänger erlitten, von der Prämie abgezogen.

Rocky Robson wollte sich gar nicht erst ausrechnen, wie viel Geld er mit der Fuhre, die er auf der Gabel seines Kenworth W 900 Conventional hinter sich herzog, bereits verloren hatte. Das maisblonde Haar raufte sich der junge Texaner trotzdem zum wiederholten Mal, während er aus inzwischen brennenden Augen durch die Frontscheibe und über die brandrot lackierte Motorhaube hinweg in die diesige Dämmerung hinausstarrte. Eine Pause hätte gutgetan – aber in einem Ort wie dem da draußen …?

Rocky schauderte. Nein, danke, Sir. Lieber würde er noch zwei, drei Dutzend Meilen runterreißen, um ein hoffentlich einladenderes Städtchen zu finden.

»Hier sagen sich doch Cthulhu und Dagon gute Nacht«, brummte er, eine Selbstgedrehte im Mundwinkel.

»Wer sagt sich hier gute Nacht?«, fragte es da vom Beifahrersitz her.

Rocky drehte kurz den Kopf und warf dem jungen Mann, den er vor einer Weile am Straßenrand aufgelesen hatte, einen Blick zu.

»Cthulhu und Dagon? Howard P. Lovecraft? Nie gelesen?«

Der Junge – das traf es eher, ein »junger Mann« war er wohl doch noch nicht ganz – schüttelte den Kopf. »Gehört, ja, aber gelesen nicht, nein.«

»Wenn du mal Lust auf richtig schöne Albträume hast, dann ist Lovecraft die geeignete Lektüre«, riet Rocky und ließ den Kenworth im vorgeschriebenen »Tempo« durch dieses Amity Rock an der Küste von Maine zuckeln. Lieber hätte er den Fuß aufs Gaspedal gesenkt, um den düster und irgendwie verlassen wirkenden Ort schnellstens hinter sich zu lassen. Aber er hatte andererseits auch keine Lust auf Ärger mit dem hiesigen Sheriff. Jeder unnötige Aufenthalt würde ihn nur noch mehr Geld kosten. Er hatte ohnehin schon fast den Punkt erreicht, wo die Tour zum Draufzahlgeschäft wurde.

Er war unterwegs nach Kanada. Aber der östliche Teil des Mittleren Westens, durch den seine Route nach Norden eigentlich geführt hätte, war dicht, der Verkehr lag lahm wegen Schnee und Eis. Deshalb war er in Richtung Ostküste ausgewichen. Ein Riesenumweg, ja, aber er hatte gehofft, wenigstens schneller voranzukommen und damit letztlich doch einen Vorteil herauszufahren. Die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt, aber in diesem Fall war sie bereits in Massachusetts, kurz hinter Boston, elendiglich krepiert, als er ewig im Stau gestanden hatte. Mit hübscher Aussicht auf den Atlantik zwar, aber auch an dem sah man sich in vier Stunden satt …