Projekt Lightspeed - Joe Miller - E-Book

Projekt Lightspeed E-Book

Joe Miller

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Beschreibung

Uğur Şahin und Özlem Türeci, Wissenschaftler und Mitgründer von BioNTech, haben den weltweit ersten zugelassenen Covid-19-Impfstoff entwickelt – und damit Medizingeschichte geschrieben. Der Financial Times-Journalist Joe Miller hat die beiden seit März 2020 begleitet und erzählt ihre Geschichte von den ersten Stunden des Kampfes gegen Covid-19 bis zur Zulassung des Impfstoffs. Miller beschreibt, wie Şahin und Türeci mit einem kleinen internationalen Team von Spezialisten in kürzester Zeit 20 Impfstoff-Kandidaten hergestellt haben, wie sie große Pharmaunternehmen überzeugt haben, ihre Arbeit zu unterstützen, wie sie Verhandlungen mit der EU und der US-Regierung führten und wie sie es mit BioNTech als kleinem Mainzer Unternehmen schafften, mehr als zwei Milliarden Impfdosen zu produzieren. Neben Şahin und Türeci hat Miller mit über 50 Wissenschaftlern, Politikern und Mitarbeitern von BioNTech über diese einmalige und unvergessliche Zeit gesprochen: über ihre Erfahrungen, ihre Herausforderungen und den Triumph.   Das Buch zeigt, wie die beiden Wissenschaftler auf 30 Jahre Forschung an der neuartigen mRNA-Technologie aufbauen konnten, um einen Ausweg aus der Corona-Pandemie zu finden. Und es teilt die Vision der Mediziner, mit der mRNA-Technologie Therapien gegen viele andere Krankheiten wie Krebs, HIV oder Tuberkulose zu finden. Eine beeindruckende Geschichte zweier außergewöhnlicher Menschen.

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Seitenzahl: 465

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Joe Miller • Özlem Türeci • Uğur Şahin

Projekt Lightspeed

Der Weg zum BioNTech-Impfstoff – und zu einer Medizin von morgen

 

 

Aus dem Englischen von Henriette Zeltner-Shane, Hainer Kober, Elisabeth Liebl, Sylvia Bieker, Rita Seuß, Barbara Steckhan und Thomas Wollermann

 

Vita

Joe Miller ist Korrespondent der «Financial Times» in Frankfurt. Zuvor arbeitete er bei der BBC in London, und als Korrespondent in New York, Berlin und New Delhi. Joe Miller hat bei der BBC ebenfalls als Enthüllungsjournalist an den Paradise Papers gearbeitet. Er hat einen Abschluss in Englischer Literatur der Universität Leeds.

 

Prof. Dr. Uğur Şahin ist Arzt und Wissenschaftler. Zusammen mit seiner Ehefrau Özlem Türeci gilt er als einer der Pioniere und weltweit führenden Forscher auf den Gebieten der mRNA-Impfstoffe und individualisierten Krebsimmuntherapien. 2008 gründete er zusammen mit seiner Ehefrau und Prof. Dr. Christoph Huber BioNTech und ist seitdem CEO des Unternehmens. Gründer ist er geworden, um wissenschaftliche Ideen in medizinische Innovationen umzusetzen, die Menschen helfen. Er war an der Entstehung und Weiterentwicklung von mehr als 500 Erfindungen beteiligt. Prof. Şahin initiierte und leitete die Entwicklung des ersten mRNA-Impfstoffs gegen COVID-19, der in weniger als einem Jahr vom Labor zur Notfallzulassung geführt wurde und somit als die schnellste in der Geschichte der Medizin gilt. Der Immunologe lehrt seit 20 Jahren an der Universität Mainz und betreut Doktoranden bei ihren wissenschaftlichen Arbeiten. Er ist verheiratet mit Özlem Türeci.

 

Dr. med. Özlem Türeci ist Ärztin, Immunologin und Unternehmerin. Sie hat BioNTech mitgegründet und ist seit 2018 Vorstand Medizin des Unternehmens. Dr. Türeci forscht seit mehr als 20 Jahren zur mRNA-Technologie und leitete bei BioNTech die klinische Entwicklung des ersten mRNA-basierten Impfstoffs gegen COVID-19. Davor war sie CEO des Biotech-Unternehmens Ganymed Pharmaceuticals, das vom selben Gründerteam ins Leben gerufen und bei seinem Verkauf 2016 mit mehr als einer Milliarde US-Dollar bewertet wurde und somit als zweites Unicorn gilt. Dr. Türeci ist an Non-Profit-Organisationen beteiligt, die Forschung zu Immuntherapien vorantreiben. Sie ist verheiratet mit Prof. Dr. Uğur Şahin.

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Prolog Das Wunder von Coventry

Kapitel 1 Der Ausbruch

Kapitel 2 Projekt Lightspeed

Kapitel 3 Die Unwägbarkeiten

Kapitel 4 Die Biohacker

Kapitel 5 Testphase

Kapitel 6 Allianzen schmieden

Kapitel 7 Die erste Studie am Menschen

Kapitel 8 Auf sich allein gestellt

Kapitel 9 Er funktioniert!

Kapitel 10 Die neue Normalität

Epilog

Was ist im Impfstoff enthalten?

Anmerkungen

Danksagungen

Als wir von ...

Die Übersetzerinnen und Übersetzer

Für meine Eltern: Danke, dass ihr euch geschützt habt

Vorwort

Ich würde lügen, wenn ich behauptete, ich hätte Anfang 2020 gewusst, dass ein kleines Biotech-Unternehmen 40 Kilometer von meinem Wohnort Frankfurt entfernt im Begriff war, den weltweit ersten und besten Corona-Impfstoff herzustellen. Tatsächlich hatte ich von BioNTech kaum je gehört, als ich von meinem Kollegen Clive Cookson, dem Wissenschaftsredakteur der Financial Times in London, eine E-Mail erhielt, in der er mich bat, mit den Leuten dort doch mal zu reden. Schon am nächsten Tag wurde ich Uğur vorgestellt, der mir geduldig die mRNA und ihr Potenzial erklärte. Ich selbst hätte nie beurteilen können, ob diese Technologie ausgereift genug oder ob BioNTech seinen Mitstreitern gegenüber im Vorteil war. Aber etwas an der Gelassenheit, mit der Uğur mir die Ideen darlegte, die hinter seiner und Özlems Ambition standen – nämlich bis Ende des Jahres einen Impfstoff gegen das noch sehr weit entfernte SARS-CoV-2 zu entwickeln –, sagte mir, dass dies eine Geschichte war, die erzählt zu werden lohnte, ganz egal, wie sie ausging.

Glücklicherweise beschlossen Uğur und Özlem, mir diese Geschichte in den nachfolgenden anderthalb Jahren sehr ausführlich zu erzählen. Wir entwickelten schnell ein gutes Verhältnis zueinander, das, wie Uğur zu sagen pflegte, ganz auf Vertrauen basierte. Nachdem ich Uğur im März 2020 in einem großen Zeitungsartikel porträtiert hatte, meldete ich mich alle paar Wochen bei ihm und dem Unternehmen, als das «Projekt Lightspeed» an Fahrt gewann. Meine Fragen wurden immer präzise beantwortet – ein ermutigendes Zeichen. Im Juli/August 2020 zeichnete sich dann ab, dass BioNTech nicht nur zu den Ersten gehören würde, die die Zulassung für einen Covid-19-Impfstoff erhielten, sondern dass dieses innovative deutsche Unternehmen auch einen unglaublich wirksamen Impfschutz anbieten könnte. Uğur war auf jeden Fall zuversichtlich, und ich hatte inzwischen gelernt, dass seine Prognosen ernst zu nehmen waren. In der internationalen Presse wurde immer noch nicht viel darüber berichtet, aber ich wusste, dass ich mehr schreiben musste, und begann, mich auf die «Stunde der Wahrheit» vorzubereiten, wenn die Wirksamkeit des Impfstoffs der Phase-III-Studien bekanntgegeben werden würde.

Am 9. November 2020, während alle Welt das Drama der amerikanischen Präsidentschaftswahlen verfolgte, rief ich Clive Cookson an. Nur neun Monate, nachdem er mich auf die Spur von BioNTech gesetzt hatte, sagte ich ihm, dass das zwölf Jahre alte Unternehmen auf spektakuläre Weise «geliefert» habe. Augenblicke später stand die Nachricht von der Entwicklung eines bemerkenswert wirksamen Impfstoffs ganz oben auf der Website der Financial Times – und auf der aller anderen Zeitungen weltweit. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich das hatte, wovon jeder Journalist träumt: einen Logenplatz bei einem epochalen Durchbruch.

Dank der Geduld von Özlem und Uğur in den Monaten zuvor hatte ich einen Vorsprung, als es darum ging, über BNT162b2, den erfolgreichen Impfstoffkandidaten, zu berichten. Auf meinem Schreibtisch lag ein Notizheft, in dem ich das «Lightspeed-Projekt» in Echtzeit dokumentiert hatte. Einige dieser Notizen verarbeitete ich in zwei großen Beiträgen für meine Zeitung, aber es gab noch viel mehr zu erzählen.

Während der kommenden sieben Monate verbrachte ich viele Stunden mit den beiden Ärzten, sprach mit ihnen und lernte sie besser kennen. Ich führte Gespräche mit rund sechzig Personen bei BioNTech und anderswo: mit Wissenschaftlern, Führungskräften, Politikern, Mitarbeitern von Regulierungsbehörden und des öffentlichen Gesundheitswesens, insgesamt mehr als 150 Stunden lang. Ich bin dankbar für ihre Zeit, ihre Offenheit und ihre Freundlichkeit, mit der sie einem Nichtfachmann begegneten. Sie erklärten mir jeden Sachverhalt immer und immer wieder, bis ich das Gefühl hatte, ihn gut genug verstanden zu haben, um ihn anderen zu vermitteln. Mir wurde klar, dass es tausend Wege gibt, diese Geschichte zu erzählen. Jeder von denen, die ich interviewt habe, hätte ein eigenes Buch verdient, und das ereignisreiche Leben von Uğur und Özlem lässt sich nicht in ein einziges Buch pressen. Dies ist nur ein erster Entwurf für die Annalen.

 

Während einer Pandemie ein Buch über eine Pandemie zu schreiben, war eine surreale Erfahrung. Nur eine Handvoll meiner Interviewpartner konnte ich persönlich treffen. Und ich konnte nur an zwei Orte reisen, nach Mainz und nach Marburg.

Infolgedessen stützen sich meine Skizzen von Personen und Orten gelegentlich auf Beschreibungen Dritter. Die Erinnerungen an ein schwieriges Jahr waren manchmal zwangsläufig unvollständig und die von den Beteiligten ein und derselben Ereignisse gemachten Datums- und Zeitangaben gelegentlich widersprüchlich. Wo immer möglich, habe ich die Fakten unabhängig überprüft, aber meine Schilderung einiger Ereignisse beruht auf den bestmöglichen Erinnerungen von ein paar wenigen Beobachtern. Auch die wörtlichen Zitate sind nur eine Näherung an das Gesagte. Sie stützen sich auf Berichte der Beteiligten und wurden, wenn möglich, mit den Aussagen anderer abgeglichen, die im (oft virtuellen) Raum anwesend waren.

Einige Ortsnamen und Erkennungsmerkmale wurden auf Wunsch der Sicherheitsdienste, die BioNTech und seine Zulieferer vor aktuellen Drohungen schützen sollen, geändert oder weggelassen. Aus demselben Grund wurden andere Teile der Lieferkette nicht im Detail beschrieben. Nichts davon tut dem Wahrheitsgehalt der Geschichte in irgendeiner Weise Abbruch.

PrologDas Wunder von Coventry

Diese Impfung sah die ganze Welt.

An einem kalten Dezembermorgen, kurz nachdem die Uhr im Universitätsklinikum von Coventry 6 Uhr 30 angezeigt hatte, streifte sich die 90-jährige Maggie Keenan ihren getupften grauen Cardigan von der Schulter und schob den kurzen Ärmel ihres T-Shirts hoch, auf dem «Merry Christmas» stand. Sie wandte den Blick ab, während die Krankenschwester eine Spritze an ihrem linken Oberarm ansetzte.[1] Unter dem grellen Licht Dutzender Kamera-Scheinwerfer wurde die pensionierte Schmuckverkäuferin, deren Augen über der OP-Maske lebhaft funkelten, zur ersten Geimpften weltweit, die den umfassend getesteten und zugelassenen Impfstoff gegen ein Virus erhielt, das bereits 1,5 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Elf Monate lang war die Welt gegen Covid-19 ebenso machtlos wie gegen die Spanische Grippe vor gut einhundert Jahren, die viele Millionen Menschenleben gefordert und auch Coventry nicht verschont hatte. Nun aber schlug die Wissenschaft zurück. Auf dem Parkplatz des Krankenhauses rückten die Journalisten ihre Kopfhörer zurecht, blickten in die Kamera und verkündeten den müden Zuschauern in aller Welt die frohe Botschaft: Hilfe ist unterwegs!

Maggie Keenan, die in der Folgewoche 91 Jahre alt werden sollte und sich im Krankenhaus bei einer Tasse Tee ausruhte, verriet den Reportern, der Piks sei «das beste vorzeitige Geburtstagsgeschenk», das sie sich hätte wünschen können. Sie erzählte, wie sehr sie sich darauf freue, nach Monaten der Selbstisolation endlich wieder ihre vier Enkelkinder in den Arm nehmen zu können.[2] Noch bevor Maggie Keenan von Krankenschwestern in ihrem Rollstuhl durch das Ehrenspalier von Ärzten und Pflegekräften aus dem Klinikum geschoben wurde, fuhr man die leere Ampulle sowie die für diese historische Injektion verwendete Spritze ins Londoner Science Museum. Dort würden sie für immer einen Platz bekommen – neben der Lanzette von Edward Jenner[3], der 1796 als Erster der modernen Impftechnik den Weg geebnet hatte, als er den Sohn seines Gärtners gegen Pocken impfte, nur ungefähr 100 Kilometer von jenem Ort entfernt, an dem man Keenan das lebensrettende Vakzin verabreicht hatte. Die Kuratoren hofften, dass das Exponat die Menschen daran erinnern würde, wie in der dunkelsten Stunde, welche die Menschheit seit mehr als einer Generation erlebt hatte, der Sieg über Covid-19 gelungen war – durch ein medizinisches Wunder.

Was Ampulle und Spritze jedoch nicht vermitteln können, ist, wie unwahrscheinlich es noch kurz zuvor gewesen ist, dass es je einen derartigen Impfstoff geben würde. Obwohl die Technik des Impfens seit Jenners Experimenten enorme Fortschritte gemacht hatte, waren die Entwicklung und die klinische Prüfung jedes Impfstoffs immer noch mit enormen Risiken behaftet. Eine Auswertung Tausender klinischer Versuche, die in den zwanzig Jahren vor der Entdeckung des neuen Coronavirus stattgefunden hatten, ergab, dass etwa 60 Prozent dieser Projekte scheiterten, selbst wenn die Versuche mit Geldern aus den Kassen der weltweit größten Pharmakonzerne in Milliardenhöhe finanziert wurden.[4] Im Februar 2020 hatte Anthony Fauci, Amerikas führender Spezialist für Infektionskrankheiten, die Öffentlichkeit gewarnt, dass ein Impfstoff gegen das neue Coronavirus «bestenfalls» in einem Jahr zur Verfügung stehen würde, obwohl Pharmaunternehmen und Regulierungsbehörden aufgrund der weltweiten Notsituation mit Hochdruck daran arbeiteten, den Entwicklungsprozess zu beschleunigen.[5] Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO, meinte gar, es würde mindestens 18 Monate dauern, ein wirksames Vakzin zu finden. Und selbst dann müsste es noch die behördlichen Zulassungen erhalten.

Neun Monate später war ein außerordentlich wirksamer Impfstoff verfügbar, der auf einer Plattform basierte, die noch nie zuvor für ein zugelassenes Medikament eingesetzt worden war. Alles dank der Bemühungen zweier wenig bekannter Ärzte aus der Stadt Mainz. Das Wissenschaftlerteam aus Ehefrau und Ehemann hatte seit langem fest daran geglaubt, dass ein kleines Molekül, das vom pharmazeutischen Establishment immer gemieden wurde, eine medizinische Revolution einleiten würde, indem es sich die Kräfte des Immunsystems zunutze machte.

Allerdings hätten die beiden nie damit gerechnet, dass ausgerechnet eine tödliche Pandemie ihre Theorie bestätigen würde.

Kapitel 1Der Ausbruch

Zum ersten Mal seit Wochen war der Kalender von Uğur Şahin leer. Es war ein Freitagmorgen, und in der Dreizimmerwohnung, in der er gemeinsam mit seiner Frau Özlem Türeci und Tochter lebte, herrschte eine ungewohnte Stille. Er scrollte durch Spotify und entschied sich für eine seiner liebsten Playlisten. Als er sich mit einer Tasse dampfend heißem Oolong-Tee an seinen Computer setzte, erfüllten beruhigende Klänge von aufgenommenem Vogelgezwitscher das provisorische Büro des türkischstämmigen Immunologen.

Sein E-Mail-Postfach quoll über. Er hatte sich gerade an die Durchsicht von Einsendungen seiner Doktoranden gemacht, als Özlem und seine Tochter von Arbeit und Schule heimkamen, den Kopf durch die Tür steckten und ihn auf die Zeit hinwiesen: Es war vier Uhr nachmittags und damit Zeit für Pho und Bánh mì bei ihrem Lieblingslokal, einem Vietnamesen. Das war ein fester Termin in der Woche, den die Familie kaum jemals ausließ – am wenigsten, wenn einer von ihnen gerade von einer Reise zurückgekehrt war. Als Uğur sich später wieder an seinen Schreibtisch setzte, war es früher Abend. Nun konnte er sich seinem einzigen wirklichen Hobby widmen – dem Studium von neuen Artikeln und Berichten.

Als immer wacher Geist konnte er sich so am ehesten entspannen. Zeitverschwendung war ihm ein Gräuel – nicht nur ihm, sondern auch Özlem. Er hatte seine Frau vor dreißig Jahren auf einer Krebsstation kennengelernt, als er ein junger Arzt, sie eine Medizinstudentin im letzten Studienjahr war. Inzwischen arbeiteten, forschten und lebten sie zusammen. Einen Fernseher hatten sie nie besessen, und von den sozialen Medien hielten sie nicht viel, stattdessen informierten sie sich über ausgewählte Online-Publikationen, die sie für beachtenswert hielten. Uğurs Heimarbeitsplatz, bestehend aus zwei riesigen Bildschirmen, wie sie auch auf dem Börsenparkett einer Investmentbank nicht fehl am Platz wären, war ihr Portal zum Rest der Welt.

Uğur loggte sich ein und klickte sich systematisch durch seine gespeicherten Websites. Es war der 24. Januar 2020, und in Deutschland kam das Jahr nur schwerfällig in Gang. Die lokalen Medien in seiner Wahlheimat Mainz berichteten von Umweltprotesten von Schülerinnen und Schülern, die zu kilometerlangen Verkehrsstaus geführt hatten. Der Spiegel titelte auf seiner Homepage mit einer Geschichte über den Aufstieg und die fragwürdigen Inhalte des Deutschrap. Die Digitalausgabe des Magazins spekulierte, ob Querelen innerhalb der Demokratischen Partei Donald Trump zur Wiederwahl verhelfen könnten; außerdem analysierte sie den von den Vereinigten Arabischen Emiraten angestrengten Cyberkrieg und Beschuldigungen, dass auch Amazon-Gründer Jeff Bezos’ Handy gehackt worden war. Unter «ferner liefen» berichtete ein Artikel im Wissenschaftsteil aus der chinesischen Millionenstadt Wuhan, in der sich eine neuartige Form der Atemwegsinfektion ausbreitete.

Bislang hatte die örtliche Verwaltung rund fünfzig Fälle verzeichnet, die allesamt zum Huanan Seafood Market zurückverfolgt werden konnten. Dort wurden nicht nur Meeresfrüchte verkauft, sondern auch Geflügel, Fledermäuse, Schlangen und Murmeltiere; viele Tiere wurden gleich vor Ort geschlachtet. Obwohl man es zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend beurteilen konnte, wies vieles auf einen Vorgang hin, den Epidemiologen fürchteten wie sonst nichts auf der Welt – auf die sogenannte «artenübergreifende Übertragung». Mit anderen Worten: Möglicherweise war ein Virus vom Tier auf den Menschen übergesprungen – und damit auf einen Wirt, der gegen dieses Virus keine Abwehrkräfte besaß. Das löste in der Regel ein evolutionäres Wettrüsten aus zwischen diesem neuen Feind und den vereinten Streitkräften des menschlichen Immunsystems.

Uğur, der sein ganzes Berufsleben der Frage gewidmet hatte, wie unser Immunsystem seine diversen Mechanismen zur Bewältigung von Krankheiten einsetzt, fiel dieser Artikel auf. Das Unternehmen BioNTech, das Özlem und er elf Jahre zuvor gemeinsam gegründet hatten, arbeitete zwar auch an Impfstoffen gegen Grippe, Aids und Tuberkulose, doch da der 54-jährige Immunologe sein Hauptaugenmerk nicht auf Infektionskrankheiten richtete, forschte an diesen Viren lediglich rund ein Dutzend ihrer über tausend Angestellten. Die übrigen befassten sich mit dem eigentlichen Forschungsschwerpunkt des Paares: der Behandlung von Krebs. Und sie standen, wie es schien, endlich kurz vor einem Durchbruch.

Mit dieser Botschaft – dass in absehbarer Zeit mit einer neuartigen und aussichtsreichen Behandlung bestimmter Krebsarten zu rechnen sei – war Uğur neunzehn Tage zuvor nach San Francisco gereist. Seit über zehn Jahren begann sein Arbeitsjahr mit einem Vortrag in einem der ihm inzwischen vertraut gewordenen fensterlosen Festsäle des Hotels Westin St. Francis in San Francisco, wo er penibel genau seine Fortschritte in der Entwicklung einer neuen Krebstherapie darlegte. Dies geschah beim wichtigsten Branchenevent der Biotechnologie, der J.P. Morgan Healthcare Conference.

Diese Veranstaltung hatte sich zum Mekka der Pharmaindustrie entwickelt, bei dem einmal im Jahr eine Riesenshow veranstaltet wurde, die Zehntausende von Wissenschaftlern und Investoren sowie Unternehmen anlockte. Hunderte von Start-ups nahmen Hotelpreise von mehr als tausend Dollar pro Nacht in Kauf[1], weil sie auf einen Abschluss mit finanzkräftigen Fondsmanagern hofften. Uğur, der keinen Alkohol trank, Übertreibungen hasste und fast schon allergisch gegenüber dem Networking war, das während des viertägigen Symposiums eine so wichtige Rolle spielte, stand nur selten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der Medienrummel konzentrierte sich eher auf seine Lieblinge aus dem Silicon Valley und auf die, die vorgaben, die Formel für exponentielles Wachstum gefunden zu haben. Zu den faktenorientierten Vorträgen von BioNTech fanden sich gewöhnlich nur ein paar Dutzend Manager aus der mittleren Führungsebene und Risikokapitalgeber ein, die zum Teil so wirkten, als seien sie aus Versehen in die falsche Veranstaltung geraten.

In diesem Januar hatte man Uğur jedoch einen anderen Empfang bereitet. Als er aufs Podium stieg – seine gewohnte Uniform aus einfarbigen T-Shirts hatte er gegen Hemd und Jackett getauscht –, blickten annähernd zweihundert Menschen gespannt auf die Projektionsfläche über ihm.

Seine Präsentation, die entsprechend den Vorgaben der Marktaufsichtsbehörden vor dem Vortrag ins Internetportal hochgeladen werden musste, hatte er wie üblich im letzten Moment fertiggestellt. Uğur wollte keine ganzen Tage an den Jetlag verlieren und versuchte, auf Kurzreisen nach deutscher Zeit zu leben. Nach seiner sechzehn-stündigen Reise von Mainz nach Kalifornien hatte er sich schlafen gelegt, ohne seine Folien fertigzustellen. Stattdessen stand er in der Nacht vor seinem großen Auftritt um zwei Uhr auf und machte sich an die Arbeit. Er hatte Mühe, alle wichtigen Fakten in einem zwanzig-minütigen Vortrag unterzubringen. Als seine Kollegen einige Stunden später bei ihm vorbeischauten, fanden sie ihren Boss inmitten von Kaffeebechern und den Resten von Starbucks-Brownies vor, die er von daheim mitgebracht hatte, immer noch dabei, seiner PowerPoint-Präsentation den letzten Schliff zu verpassen.

Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. BioNTechs Aktien waren gefragt; seit ihrem enttäuschenden Börsengang an der New Yorker Nasdaq, der während einer wirtschaftlichen Abschwungphase stattgefunden hatte, hatte sich ihr Wert verdreifacht. Das Unternehmen stand kurz vor dem Start von sieben klinischen Studien für Medikamente gegen diverse Krebserkrankungen wie Melanome im fortgeschrittenen Stadium. Uğur ging während seines Vortrags detailliert auf ihre Fortschritte ein, ohne sich jedoch zu sehr in die Wissenschaft zu vertiefen, obwohl er sie weit mehr liebte als das Unternehmen. Seine Zuhörer, vornehmlich Experten auf seinem Gebiet, folgten ihm aufmerksam. Uğur erklärte seinem Publikum, 2020 sei das Jahr, in dem BioNTech seine Skeptiker überzeugen werde.

Es gab keine Zeit zu verlieren. Kaum hatte er seinen Vortrag beendet, flog er nach Seattle zu einem Treffen mit Vertretern der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, die BioNTech für die Entwicklung einer Reihe neuer Impfstoffe kürzlich 100 Millionen Dollar zugesichert hatte. Einige Stunden später ging es weiter nach Boston zu einem Zwischenstopp bei einem auf Krebs-Immuntherapie spezialisierten Unternehmen, das BioNTech gerade für 67 Millionen Dollar kaufen wollte. Uğur wollte den Mitarbeitern, Wissenschaftler wie er, zusichern, dass er ihre Neuerungen weiterentwickeln würde und nicht ein Kapitalgeier im Laborkittel war, der es darauf anlegte, das Unternehmen auszunehmen und die Belegschaft auszudünnen. Was in Wuhan geschah, nahm er in jenen Tagen nur am Rande wahr. Er schlenderte durch die Eingangshalle, stellte sich seinen zukünftigen Angestellten vor und gab jedem von ihnen die Hand.

Auf seinen Zwischenstationen hatte Uğur immer wieder von dem Ausbruch in China gehört und am Rande mit Freunden und Kollegen über die neue Infektionskrankheit gesprochen. Wirklich interessiert hatte es ihn jedoch nicht. Es kam nicht selten vor, dass ein Krankheitserreger – ein sogenanntes zoonotisches Virus – die Artenschranke übersprang, und es schien nicht sehr wahrscheinlich, dass sich ein kleines Infektionscluster zu einer weltweiten Gesundheitskrise auswachsen würde. So unter Druck, wie er war, und angesichts der geschäftigen Wochen, die vor ihm lagen, dachte sich Uğur nicht viel dabei.

Das änderte sich an jenem Freitagabend nach seiner Rückkehr, nach einem guten Essen beim Vietnamesen und mit mehr Muße, die er jetzt hatte. Während Uğur seine sorgsam gespeicherten Tabs durchsah, gelangte er schließlich zu seinem bevorzugten Lesestoff: renommierte wissenschaftliche Zeitschriften wie Nature und Science – die auch häufiger Beiträge von seinem und Özlems Team veröffentlichten – und The Lancet, eine der ältesten und angesehensten Medizinzeitschriften überhaupt. Hier stieß er auf einen Text von über zwanzig in Hongkong ansässigen Medizinern und Forschern zu einer «familiären Häufung von Lungenentzündungen, bedingt durch das 2019 neu aufgetretene Coronavirus …». Dann kam der zweite Teil der Überschrift, der Uğur bewog, den Artikel aufzurufen: «… das auf eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung hinweist»[2].

Die zehnseitige Analyse beschrieb die Infektion von fünf Angehörigen einer Familie, die von einem einwöchigen Ausflug nach Wuhan in ihren Wohnort, Chinas Technologiemetropole Shenzhen, zurückgekehrt waren. Die fünf waren den Forschern aufgefallen, als sie mit Symptomen wie Fieber, Durchfall und schwerem Husten in das große Universitätskrankenhaus von Hongkong eingeliefert wurden. Sie veranlassten eine Reihe von Blut-, Urin- und Stuhluntersuchungen sowie Röntgenaufnahmen der Lunge. Sie testeten die Patienten auf alles Mögliche, von normaler Erkältung über Grippe bis hin zu bakteriologischen Infektionen wie die durch Chlamydien, fanden jedoch nichts.

Ratlos nahmen die Wissenschaftler den erkrankten Familienmitgliedern Proben der Nasenflüssigkeit und des Speichels und analysierten die Gensequenz des rätselhaften Krankheitserregers. Wie sich herausstellte, wies sie große Ähnlichkeit zu verschiedenen Coronaviren auf, insbesondere zu einem Coronavirus, das man bislang nur bei Fledermäusen gefunden hatte. Dieser Erreger entsprach der neuen Krankheit, die kürzlich in Wuhan gefunden worden war. Doch auf entsprechende Fragen erklärten die Erkrankten hartnäckig, bei ihrem Besuch in Wuhan niemals auch nur in die Nähe eines der Märkte gekommen zu sein. Außerdem hätten sie keinen Kontakt zu Tieren gehabt, weder lebendigen noch toten, und keine Wildspezialitäten in den örtlichen Restaurants gegessen. Während ihres gesamten Aufenthalts hätten sie lediglich von ihren drei Tanten selbst zubereitete Speisen verzehrt.

Allerdings hatten zwei von ihnen – Mutter und Tochter – Verwandte im Krankenhaus von Wuhan besucht, wo diese wegen fiebriger Lungenentzündung behandelt wurden. Kurz darauf brach bei ihnen die Krankheit aus. Gleich anschließend bei Vater, Schwiegersohn und Enkel. Eine weitere Angehörige, die sie nicht auf der Reise begleitet hatte, hatte nach ihrer Rückkehr nach Shenzhen über Rückenschmerzen und Schwächegefühl geklagt. Als sie dann Fieber und einen trockenen Husten bekam, wurde auch sie ins Krankenhaus eingeliefert.

Das ließ Uğur aufhorchen. Er rollte den Stuhl von seinem Schreibtisch zurück, sah durchs Fenster auf die Turmspitzen des tausendjährigen Mainzer Doms in der Ferne und überlegte. Diese Informationen bedeuteten, dass der Kontakt zu Tieren lediglich der Ursprung der Infektion war, dass sie jedoch nun, nachdem sie einmal den Sprung in den Menschen geschafft hatte, von Mensch zu Mensch übertragen wurde, wie ein Lauffeuer um sich griff und eine breitere Bevölkerung in Städten in ganz China ansteckte. Dies allein war schon beunruhigend genug, doch Uğur hatte in dem Artikel noch ein anderes Detail bemerkt, das er weit besorgniserregender fand. An dem Besuch in Wuhan hatte eine sechste Person teilgenommen – die siebenjährige Enkeltochter der Familie. Zwar ging es ihr ausgesprochen gut, doch als die Ärzte sie testeten, stellte sich heraus, dass sie das neue Virus ebenfalls in sich trug. Anders als bei dem SARS-CoV-Ausbruch von 2002[3] konnte dieser Erreger unerkannt von symptomfreien Menschen weitergegeben werden. Es war ein stiller Angreifer.

Uğurs Gedanken überschlugen sich. Infektionskrankheiten waren nicht sein Spezialgebiet, aber er hatte den Ausbruch des ersten SARS-CoV und dessen Nachfolger, der ein Jahrzehnt später in Saudi-Arabien auftrat und Middle East Respiratory Syndrome oder MERS genannt wurde, verfolgt. Aus Neugier hatte er die Datenmodellierungen für die Vorhersagen der raschen Ausbreitungsmuster studiert.

Wenn dieses neue Virus inkognito um sich greifen konnte, ließ sich von den Gesundheitsbehörden nicht feststellen, wer eventuell ansteckend war, und die Krankheit konnte sich innerhalb weniger Tage unkontrollierbar ausbreiten. Uğur wurde bewusst, welche düstere Schlussfolgerung sich zwangsläufig daraus ergab: Jeglicher Kontakt unter Menschen war als gefährlich einzustufen. Weitergedacht könnte dies Familien und Gesellschaften auseinanderreißen und die Weltwirtschaft in eine Krise stürzen. Diese dramatische Offenbarung, die damals von den meisten Menschen als realitätsfern abgetan worden wäre, erwies sich nur einige Monate später als bemerkenswert präzise.

Die wichtigste Frage lautete: Welcher Schaden war bereits angerichtet? Die Verfasser der Studie schienen überzeugt, dem «Frühstadium einer Epidemie» gegenüberzustehen, und drängten die Verantwortlichen, «Patienten zu isolieren und deren Kontaktpersonen schnellstmöglich aufzuspüren, um sie unter Quarantäne zu stellen». Instinktiv glaubte Uğur, dass sie die Bedrohung unterschätzten. Aber er brauchte weitere Fakten. Bislang wusste er so gut wie gar nichts über Wuhan; er hielt es für eine eher kleinere Stadt. Da sie, wie es oft hieß, in der «Provinz» Hubei lag, hielt er die Metropole automatisch für ländlich. Eine kurze Google-Recherche brachte Klarheit. Wuhan hatte über elf Millionen Einwohner und damit mehr als London, New York oder Paris. Auf YouTube konnte man sehen, wie modern und gut ausgebaut sein U-Bahn-Netz war. Als sich Uğur über die Flug- und Bahnanschlüsse der Stadt informierte, hätte er wohl am liebsten laut geflucht, wenn es denn seine Art gewesen wäre. Es gab 2300 Linienflüge pro Woche, nicht nur von und zu Zielen in ganz China, sondern auch zu globalen Drehkreuzen wie New York, London und Tokio. Und obwohl er die zumeist in Mandarin aufgeführten Zugfahrpläne nicht lesen konnte, wurde ihm klar, dass Wuhan Knotenpunkt von drei wichtigen Eisenbahnlinien war und über Anschlüsse in die gesamte Region verfügte. Zu allem Überfluss war in China gerade Chunyun, wie man den Reiseverkehr zum chinesischen Neujahrsfest nennt. Arbeiter, die in die Megastädte gezogen waren, fuhren zu diesem Anlass heim in die eher ländlichen Gegenden, um Freunde und Familie zu besuchen. Etwa drei Milliarden Reisen werden in dieser gewissermaßen größten Migrationsbewegung der Welt unternommen.

Uğur erkannte, dass sich hier ein Albtraumszenario abspielte, wie es Kollegen beschrieben, die sich mit solchen Krisenthemen befassten. Nachdem sich Infektionskrankheiten über Jahrhunderte hinweg nur im Tempo von Wanderern, Pferden oder Segelschiffen verbreiten konnten[4], hatten sie heute, im Zeitalter der Globalisierung, leichtes Spiel. Ausbrüche von solchen Krankheiten kamen nun häufiger vor und wurden mit alarmierender Häufigkeit zu Epidemien. Dass dieser neue Erreger in einer der am besten vernetzten und bevölkerungsreichsten Städte der Welt unwissentlich von scheinbar völlig gesunden Menschen weitergegeben werden konnte, bot die besten Voraussetzungen für das Entstehen einer Pandemie.

Die lokalen Eindämmungsmaßnahmen – etwa dass Menschen mit Fieber nicht mehr die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen durften – waren unzureichend. Uğur konnte zwar keine verlässlichen Angaben über die Zunahme des weltweiten Reiseverkehrs seit dem Ausbruch der ersten SARS-Epidemie finden, doch er schätzte, dass zehn Mal mehr Passagiere nach China ein- oder ausreisten sowie im Land unterwegs waren als im Jahr 2003. Uğur rechnete mit einigen einfachen Annahmen: dass die gesamte menschliche Bevölkerung für dieses Coronavirus anfällig ist, das eine Übertragungsrate von zwei bis sieben haben könnte, was bedeutet, dass jede Person, die die Krankheit in sich trägt, sie auf mehrere Personen übertragen würde. Wegen der wenigen verfügbaren Daten über Todesfälle durch die neue Krankheit rechnete er mit einer Sterblichkeitsrate von 0,3 bis 10 von hundert Infizierten, wobei die Älteren wohl am oberen Ende dieser makabren Skala liegen würden. Im günstigsten Fall würde dies weltweit zwei Millionen Todesfälle bedeuten, was die letzten Epidemien weit übertreffen würde.

Nach dieser Rechnung könnte Uğur und seiner Familie demnächst die gleiche Gefahr drohen wie den Einwohnern von Wuhan. Aber das war nicht sein erster Gedanke. In seiner Zeit als praktizierender Arzt war er selbst immer wieder dem Risiko ausgesetzt gewesen, sich anzustecken. Die Gefahr, in der sich die Menschheit befinden könnte, sah er mit den Augen eines nüchternen Wissenschaftlers, nicht eines Hypochonders. Uğur erzählte einem Freund kurz darauf: «Mir wurde sofort klar, dass es zwei Szenarien gibt: entweder eine sich äußerst rasch ausbreitende Pandemie, bei der innerhalb weniger Monate Millionen Menschen sterben, oder eine sich länger hinziehende Epidemie, die etwa sechzehn bis achtzehn Monate dauern würde.» Damit Wissenschaftler zumindest die Chance hätten, das Virus zu bekämpfen, hoffte er «auf Zweiteres».

Uğur wandte sich von seinem Computer ab. Er fragte sich, ob nicht gerade seine Phantasie mit ihm durchging. Auch wenn Fernreisen per Flugzeug inzwischen relativ günstig und intensiv genutzt waren, entwickelten sich Pandemien höchst selten. Die beiden letzten neuen Coronaviren, bei SARS und MERS, hatten Medien und Gesundheitsbehörden in Aufregung versetzt. Zwar hatte die Eindämmung dieser Epidemien einen großen Aufwand erfordert, doch nach einigen örtlich begrenzten Lockdowns und einer Maskenpflicht waren sie fast ebenso rasch abgeebbt, wie sie aufgetreten waren. Uğur war zwar kein Epidemiologe, dafür aber ein begeisterter Mathematiker. Ende der 1980er Jahre hatte er neben dem Medizinstudium noch einen Fernkurs in Mathematik belegt. Das Interesse an diesem Fach war nie erloschen. «Er liest komplizierte mathematische Fachbücher wie andere Romane», erinnert sich Helma Heinen, zwei Jahrzehnte lang Assistentin des Paars. Die Situation, die sich vor Uğur im Januar 2020 ausbreitete, führte ihn zu einer relativ eindeutigen Beurteilung: eine Virusvariante einer bekannten Gruppe, die bereits für zwei tödliche Ausbrüche verantwortlich war – SARS hatte über 770 Opfer[5] gefordert und MERS mindestens 850[6] –, plus eine Bevölkerung, die keine Abwehrkräfte gegen dieses Virus besaß, plus eine rasante und symptomfreie Mensch-zu-Mensch Übertragung, plus Infizierte, die wahrscheinlich bereits um die ganze Welt jetteten. Die Lage war ernst.

Noch während er dies durchspielte, wurde seine Hypothese von Meldungen aus der realen Welt bestätigt: Französische Behörden gaben bekannt, dass drei kürzlich aus China angekommene und in Krankenhäusern in Bordeaux und Paris aufgenommene Personen positiv auf das neue Coronavirus getestet worden waren. Somit gab es die ersten bestätigten Fälle in Europa. Das Universitätskrankenhaus Mainz, in dem auch Uğur und Özlem lehrten, erklärte, die durch die Nähe zum Flughafen Frankfurt mit seinen damals noch 190000 Passagieren täglich notwendigen Vorkehrungen für die Behandlung von Coronavirus-Patienten getroffen zu haben.[7][8]

Zögernd begann Uğur mit einer E-Mail an BioNTechs Aufsichtsratsvorsitzenden Helmut Jeggle, der für den Kontakt zu den Geldgebern des Unternehmens verantwortlich war. Die beiden Männer telefonierten am Wochenende regelmäßig miteinander, und so war es auch für den nächsten Tag geplant. Nach dem schwierigen Börsengang schwamm BioNTech nicht gerade in Geld, und Uğur wusste, dass er den Boden bereiten müsste. «Es gibt ein neues Virus, das von Mensch zu Mensch übertragen wird», schrieb er. «Es ist schwer einschätzbar.» Er erwog, stärker ins Detail zu gehen, doch da er Helmut Jeggle kannte, entschied er, besser zu warten, bis sie persönlich miteinander sprachen. Es war schon fast Mitternacht, als Uğur die Mail abschickte.

Als er am Morgen, nach einer unruhigen Nacht, in die Küche kam, bereiteten Özlem und seine Tochter gerade das Frühstück vor. Sie waren auf dem Markt gewesen und hatten frisches Brot und Eier mitgebracht. Während er ihnen beim Braten des Gemüses und der Omeletts half, sprudelten seine Erkenntnisse aus ihm hervor. Das war nichts Ungewöhnliches – die Freitage, Samstage und Sonntage galten in der Familie als «Wissenschaftstage». «Wir sprechen eigentlich nie über irgendetwas anderes», scherzt die Tochter. Ungestört von Meetings und E-Mails konnten sie sich gegenseitig auf den neusten Stand bringen und sich über die jüngsten Forschungsergebnisse in ihrem Gebiet austauschen.

Auch die Kühnheit von Uğurs Prognose – dass eine Pandemie ausgebrochen war, ohne dass die Welt es wahrgenommen hatte – war nicht überraschend für seine Familie. Bereits 1990, als sich das Paar kennengelernt hatte, zitierte der junge Arzt aus wissenschaftlichen Publikationen und leitete weitreichende Schlussfolgerungen über die daraus folgenden Entwicklungen in der Medizin ab. Anfangs hatte sich Özlem – selbst Ärztin und Wissenschaftlerin – über Uğurs Hang zu solchen Vorhersagen geärgert. Doch nach Jahrzehnten, in denen die beiden Hunderte wissenschaftlicher Artikel verfasst, Hunderte von Patenten entwickelt, zwei gemeinnützige Organisationen ins Leben gerufen und unter den teilweise skeptischen Blicken des medizinischen Establishments ein Zwei-Milliarden-Dollar-Unternehmen gegründet hatten, vertrauten beide dem Instinkt des jeweils anderen.

«Ich habe ihn sehr ernst genommen, weil er eine hohe Trefferquote hat, wenn es darum geht, aus komplexen Daten oder komplizierten Situationen mögliche Schlussfolgerungen abzuleiten», sagt Özlem.

In seiner bedächtigen Art skizzierte Uğur detailliert, worauf sie sich einstellen müssten. Das Virus würde sich in dichtbesiedelten Gebieten so rasch ausbreiten, dass ein Lockdown unvermeidlich wäre. «Höchstwahrscheinlich müssen im April Schulen geschlossen werden», sagte er. Zu einem Zeitpunkt, an dem außerhalb Asiens fünf Fälle gemeldet worden waren, darunter zwei in den USA, schien eine solche Prognose gewagt. «Experten mit fundiertem Wissen über vergangene Epidemien schienen zuversichtlich, dass auch der jetzige Ausbruch kommen und wieder vergehen würde», erklärt Uğur. «Aber ich habe zu Özlem gesagt: ‹Diesmal ist es anders!›» Schon bald, war er überzeugt, würde die Menschheit vor der Aufgabe stehen, das Virus mit den einfachen Mitteln zu bekämpfen, die bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt worden waren: Quarantäne, Kontaktvermeidung, elementare Hygienemaßnahmen und Einschränkung der Bewegungsfreiheit.

Es sei denn, es gäbe einen Impfstoff.

In seinem Telefongespräch mit Helmut Jeggle später am Tag würde Uğur, wie er wusste, noch einige Überzeugungsarbeit leisten müssen. BioNTech hatte lediglich etwas mehr als 600 Millionen Euro in der Kasse (keine hohe Summe in der Biotech-Branche), und das Unternehmen musste schon jetzt genau überlegen, wofür es seine Mittel in diesem Jahr, in dem sie viel vorhatten, verwenden wollte. Doch seit ihrem Handschlag bei einem Klausurtreffen in der Nähe von Frankfurt vor zwölf Jahren, als Jeggles Chefs einwilligten, 150 Millionen Euro in das zu gründende BioNTech zu investieren, hatten die beiden ein enges Verhältnis entwickelt. Jeggle wusste, dass Uğur und Özlem wissenschaftliche Fragen stets mit größtmöglicher Sorgfalt behandelten; deshalb verwarf er selten eine ihrer Ideen, auch wenn sie zunächst weit hergeholt schienen. Erst ein Jahr zuvor hatte Uğur ihn im Anschluss an die J.P. Morgan Healthcare Conference davon überzeugt, für BioNTech eine kleine, auf Antikörper spezialisierte Firma aus San Diego zu kaufen, die gerade Konkurs angemeldet hatte, obwohl deren Produkte mit denen in Mainz nur wenig gemein hatten. Da sein jetziges Anliegen um einige Dimensionen größer war, begann Uğur vorsichtig: «Ich glaube, wir können etwas dafür entwickeln.»

Jeggle, ein Ökonom, fand es erstaunlich, dass Uğur das neue Virus dermaßen ernst nahm. Nach Eintreffen der E-Mail am vergangenen Abend hatte er selbst zu dem Ausbruch in Wuhan recherchiert. Außerhalb Chinas hatte sich, wie er feststellte, keine Regierung wirklich besorgt gezeigt. Uğur aber beharrte auf seinem Standpunkt: Dieser Ausbruch hatte das Zeug, sich ebenso verheerend zu entwickeln wie die Asiatische Grippe, die Ende der 1950er Jahre die Welt erschüttert hatte. «Das ist nicht einfach nur eine Vorahnung», beharrte Uğur. Er vertraute auf sein Talent, Muster zu identifizieren, Verbindungen herzustellen. «Muster», erklärte er entschieden, «lügen nicht.» Nachdem er aufgelegt hatte, informierte sich Jeggle als Erstes bei Wikipedia über die Asiatische Grippe. Zu seinem Erstaunen las er, dass sie bis zu vier Millionen Opfer gefordert hatte. Da er es nicht glauben wollte, schrieb er Uğur eine SMS und fragte, ob er wirklich von einer solchen Katastrophe ausgehe, trotz der immensen Fortschritte von Medizin und Gesundheitswesen in den vergangenen Jahrzehnten. «Ja», antwortete Uğur nach wenigen Minuten. «Es könnte sogar noch schlimmer werden.»

Ohne dass Jeggle es wusste, war Uğur bereits zur Tat geschritten. Ehe er sich gemeinsam mit Frau und Tochter einen Marvel-Film ansah – ein anderes wöchentliches Ritual der Familie –, hatte er einigen Experten von BioNTech noch die Gensequenz des neuen Virus geschickt und sie gebeten, sich auf eine ausführliche Besprechung früh am Montagmorgen vorzubereiten.

Rückblickend erscheint es heute, im Sommer 2021, da ich dies schreibe, schon so gut wie selbstverständlich, dass das Coronavirus durch einen Impfstoff kontrolliert werden kann. Doch an jenem Samstagabend, als Uğur und Özlem in ihrem überladenen Wohnzimmer mit Bücherregalen bis zur Decke saßen, war ihnen bewusst, dass es mit herausragender Wissenschaft allein nicht getan war. Ohne eine gehörige Portion Glück war diese Aufgabe nicht zu bewältigen.

Zunächst einmal gab es gar keine Garantie dafür, dass ein neues Virus überhaupt durch einen Impfstoff bekämpft werden könnte. Versuche, eine Impfung gegen HIV/Aids zu entwickeln, schlugen beispielsweise nicht bloß fehl, sie verschlimmerten in einigen Fällen die Krankheit sogar. Zudem war über das neue Coronavirus so gut wie nichts bekannt. Niemand wusste, welche Mechanismen des komplexen menschlichen Immunsystems eine natürliche Infektion mit diesem Virus bekämpfen oder ob Genesene mit einer langanhaltenden Immunität rechnen konnten. Auch gab es bislang keine Impfstoffe gegen verwandte Coronaviren, die Uğur und Özlem bei der Einschätzung der Erfolgsaussichten gegen den Erreger aus Wuhan hätten helfen können. Bei den Ausbrüchen von SARS und MERS hatten Wissenschaftler in aller Eile versucht, Impfstoffe zu entwickeln, doch die Infektionswellen waren verebbt, bevor man das Stadium klinischer Tests erreicht hatte. Es gab keine Blaupause, keinen Plan und keine Vorerfahrung für die Bekämpfung dieses Krankheitserregers.

Aus Erfahrung wussten Uğur und Özlem, dass es eine halbe Ewigkeit dauern konnte, Impfstoffe von Grund auf neu zu entwickeln und sie für den Einsatz in Notfällen zur Zulassung zu bringen. Im Jahr 1967 hatte der amerikanische Mikrobiologe Maurice Hilleman die Rekordmarke mit der Zulassung eines Vakzins gegen Mumps gesetzt – knapp fünf Jahre, nachdem seine Tochter an der Infektion erkrankt war. In jüngerer Zeit hatte die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Ebola fünf Jahre gedauert, und das, obwohl das Projekt unter der Leitung von Merck gestanden hatte, dem weltgrößten und erfahrensten Impfstoffentwickler, mit Hunderten Millionen Dollar gefördert wurde und der Zulassungsprozess im Schnellverfahren abgelaufen war.

Selbst die Anpassung etablierter Impfstoffe ist ein langwieriger Prozess. Als im Jahr 2009 die «Schweinegrippe» ausbrach, modifizierten die Hersteller auf Ersuchen der Obama-Regierung in Windeseile existierende Impfstoffe. Sie setzten im Kampf gegen den neuen Influenzastamm auf eine über Jahrzehnte bewährte Methode mit bebrüteten Hühnereiern. Ihr Impfstoff erhielt eine Notfallzulassung innerhalb von sechs Monaten, immer noch zu spät, um die zweite Welle der Krankheit in den USA brechen zu können. Nur dreißig Millionen Impfdosen standen dem Land Ende Oktober 2009 zur Verfügung,[9] und das, obwohl es sich um eine Virusfamilie handelte, die von Vakzinologen gut untersucht war, und man eine erprobte und bewährte, weithin verbreitete Impfstofftechnologie genutzt hatte. Der Ausbruch kostete Schätzungen zufolge 12500 Personen das Leben. Der Impfstoff, so berechnete die amerikanische Gesundheitsbehörde später, konnte lediglich 300 Menschenleben retten.[10]

Im Unterschied zu den Pharmagiganten, die diese Impfstoffe entwickelten, hatten Uğur und Özlem ein Ass im Ärmel, auf das sie ihre gesamte fachliche Reputation gesetzt hatten. Wie Uğur es in San Francisco dargestellt hatte, hofften sie, damit die Behandlung von Krebserkrankungen revolutionieren zu können. Diese richtig eingesetzt, glaubten sie, könnte auch eine Pandemie stoppen, und das in Rekordzeit. Dieser Trumpf war ein winziges, oft wenig beachtetes Molekül namens mRNA.

Die erste Begegnung des Paars mit mRNA war beinahe so zufällig wie ihr eigenes Kennenlernen. Uğur und Özlem kamen beide in den 1960er Jahren als Kinder türkischer Eltern zur Welt, die sich ein Leben in Westdeutschland aufgebaut hatten. Die Bundesregierung hatte mit Ankara ein Anwerbeabkommen geschlossen, um den Arbeitskräftemangel der Nachkriegsjahre zu überwinden. Die beiden wuchsen 250 Kilometer entfernt voneinander auf und entschieden sich für eine verblüffend ähnliche Laufbahn, die sie schließlich auf fast märchenhafte Weise zusammenführen sollte.

Während sein Vater bei den Ford-Werken in Köln arbeitete, verfolgte Uğur, das ältere von zwei Kindern, populäre Wissenschaftssendungen im Fernsehen, moderiert von Hoimar von Ditfurth. «Das haben alle Nerds geschaut», erklärt Özlem, damals ebenfalls eine von ihnen. Dazu las Uğur englischsprachige Zeitschriften wie Scientific American. Schon im Alter von 11 Jahren war er von der Schönheit und Komplexität des Immunsystems begeistert. Er wollte unbedingt mehr darüber lernen, was nicht so einfach war. «Google gab es nicht», erinnert sich Uğur, «also bin ich in die Buchhandlung gegangen, immer wenn meine Mutter und ich in der Stadt waren.» Außerdem kannte er die nette örtliche Bibliothekarin, die die neuesten Bücher zu wissenschaftlichen und mathematischen Themen bestellte und für ihn beiseitelegte.

«Ich wollte schon immer Arzt werden», sagt Uğur. Eine Tante in der Türkei litt an Brustkrebs, und er erinnert sich noch gut, wie ihn das beschäftigte. «Bereits als Kind konnte ich einfach nicht akzeptieren, dass Menschen, die Krebs bekommen, obwohl sie gesund aussehen, todkrank sind.» Die Erwachsenen schienen sich mit dieser Realität abzufinden, doch Uğur verspürte früh den Drang, etwas dagegen zu unternehmen.

Drei Autostunden nördlich von Köln hatte Özlems Vater, ein Chirurg mit großem Interesse an Technologie und Wissenschaft, einen direkteren Einfluss auf das frühe Interesse seines Kindes an Medizin. Zwei Jahre vor der Geburt seiner Tochter war er nach Deutschland gekommen, um nicht von der türkischen Regierung zum Dienst in der mehrheitlich von Kurden bewohnten Region des Landes verpflichtet zu werden, in der starke politische Spannungen herrschten. Er hatte nicht in Deutschland Medizin studiert, und es hing vom Gutdünken der Ärztekammern ab, wo in Deutschland er als Arzt praktizieren durfte. So kam Özlems Familie nach Lastrup, eine Kleinstadt in einer ländlichen Region Niedersachsens, wo ihr Vater der einzige Arzt des örtlichen Krankenhauses wurde. Früher war es ein Kloster gewesen, und noch immer arbeiteten dort Nonnen. «Mein Vater war dort der einzige Mann und der einzige Arzt, und zudem Türke und Muslim», erinnert sich Özlem.

So weit ab vom Schuss und ganz auf sich gestellt, wurde Özlems Vater bald zum Meister aller medizinischen Klassen, praktisch zum Allround-Mediziner für alle Fälle, ob nun ein Bulle einen Bauern mit den Hörnern verletzt hatte oder eine Bauchoperation anstand. Gelegentlich hatte er einen Einsatz als Tierarzt. Özlem begleitete ihn schon in jungen Jahren zur Arbeit – das Krankenhaus lag direkt gegenüber ihrer Wohnung – und manchmal bis in den Operationssaal. Das ältere von zwei Kindern schaute mit sechs Jahren erstmals bei einer Blinddarmoperation zu. Der Anblick von Blut dämpfte ihre Begeisterung für den Arztberuf keineswegs, und als sie heranwuchs, nahm sie sich auch die Nonnen als Vorbild. Sie schaute ihnen bei all den Arbeiten zu, die heute das Krankenhauspersonal, die Pflegekräfte und die Assistenzärzte erledigen, vom Kochen für die Patienten, Anlegen von Gipsverbänden bis zu Handreichungen bei Operationen. Sie sehnte sich danach, selbst eine Rolle in diesem Team zu spielen.

In einer Gesellschaft, die Immigranten, insbesondere solche mit anderem ethnischen Hintergrund, damals mit gewissen Vorbehalten begegnete, zeigten sich Uğur und Özlem als exzellente Schüler. «Es bedeutete meinen Eltern sehr viel, dass ich studierte», sagt Uğur. «Sie arbeiteten jeden Tag, standen morgens um halb fünf auf, um den Traum zu verwirklichen, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.»[11] Dieser Traum ging in Erfüllung, als Uğur im Jahr 1984 als Bester seiner Klasse am heutigen Erich Kästner-Gymnasium in Köln das Abitur machte, als erstes Kind eines sogenannten «Gastarbeiters» an dieser Schule. Özlem, die ihre Schulzeit in den Kurorten Bad Driburg und später Bad Harzburg verbrachte – beide zählen weniger als 20000 Einwohner –, wuchs als einziges Kind mit Migrationshintergrund in ihrer Altersgruppe auf. Auch in ihrem weiteren Umfeld gab es kaum Türken, die meisten Landsleute ihres Vaters hatten ihr Auskommen eher im Ruhrgebiet und anderen Zentren der Schwerindustrie gefunden. Auch die außerschulischen Aktivitäten der introvertierten und fleißigen Schülerin drehten sich um Naturwissenschaften.

Uğur war ein begabter Fußballer, «unermüdlich im Mittelfeld», wie er selbst sagt, aber es gab wenig Zweifel, wo seine Zukunft lag. Als bei seiner Abiturfeier Zigaretten herumgereicht wurden, meinte ein Mitschüler scherzhaft: «Warum sollen wir mit dem Rauchen aufhören? Uğur geht doch eh in die Medizin.»[12] Schon als Teenager wusste Uğur, dass er die Forschung mit medizinischer Praxiserfahrung verbinden wollte. An der Kölner Universität, gegründet 1388 als eine der ersten des Heiligen Römischen Reichs, begann Uğur ein Medizinstudium und kombinierte dies mit einer Doktorarbeit zur Entwicklung neuer Immuntherapien.

Zwei Jahre später schlug Özlem nach ihrem Abitur eine beinahe identische Laufbahn ein. Sie studierte Medizin an der Universität des Saarlandes, und ihre Doktorarbeit führte sie tief in die molekularbiologische Forschung.

Der Zufall verschlug auch Uğur ins Saarland. Er bekam eine Stelle am Uniklinikum in Homburg, einer 30 Kilometer von der französischen Grenze entfernt gelegenen Kleinstadt. Dort, hin- und herpendelnd zwischen Vorlesungen, dem Krankenhaus und Labors, lernten sich die beiden 1991 kennen. Es war «eine Szene wie aus einem Film», erinnert sich Özlem, wenn auch das Umfeld nicht sonderlich romantisch war. Sie war im Praktischen Jahr auf einer Onko-Hämatologie-Station, wo Krebskrankheiten behandelt werden. Uğur war dort als Assistenzarzt tätig und ihr Betreuer. Die meisten ihrer Patienten litten an Krebs im Endstadium, und nicht selten mussten die beiden ihnen eröffnen, dass alle therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Tag für Tag erlebten sie, wie Menschen dieser erbarmungslosen Krankheit erlagen, oft, ohne dass ihnen jemand in ihrem letzten Moment die Hand hielt. Es war inmitten dieser ernüchternden Umgebung auf der Nachmittagsvisite, dass sie aufeinander aufmerksam wurden.

Das junge Paar fand bald heraus, dass zwischen ihnen viel mehr Gemeinsamkeiten bestanden als bloß ihre Herkunft und die Ausbildung. Beide litten darunter, dass ihnen zur Behandlung von Patienten im Spätstadium nur begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung standen. Den Ärzten blieb die Wahl zwischen den drei nicht sehr präzisen Verfahren Operation, Chemotherapie und Bestrahlung – auch grob bezeichnet als «Schneiden, Vergiften, Verbrennen». Durch ihre parallele Forschungstätigkeit erhaschten Uğur und Özlem einen Blick auf die fortschrittlichsten Technologien, die die Krebsmedizin vielleicht einmal revolutionieren würden. Der große Abstand zwischen wissenschaftlich Möglichem und klinischem Alltag in diesem Bereich, in dem es immer um Leben und Tod ging, machte ihnen zu schaffen. Sie wollten sich nicht damit zufriedengeben, die Symptome zu behandeln, sondern sehnten sich danach, an Vorbeugung und der Suche nach Heilungsmöglichkeiten dieser Krankheiten mitwirken zu können. Ihr Anliegen war es, den Patienten neue Medikamente so früh wie möglich zugänglich zu machen, sie also praktisch direkt vom Labor ans Krankenbett zu bringen, ein Ansatz, der später als Translationale Medizin bezeichnet werden würde. Daraus entwickelte sich ein ganz neuer Zweig der Heilkunde. Damals, in den frühen 1990er Jahren, hätten die beiden es nicht in solch großen Worten beschreiben können. Sie wussten lediglich, dass sie nicht bloß um der Forschung willen forschen wollten. In seinem Innersten war Uğur immer noch der Junge, der sich nicht damit abfinden konnte, wie die Erwachsenen die tödliche Diagnose hinnahmen. Und Özlem war immer noch das Mädchen, das seinem Vater, dem Universalmediziner, nacheiferte. Sie taten sich zusammen, um gemeinsam gegen die grausame Krankheit anzutreten, an der in ihrem Umfeld so viele Menschen starben.

Krebs, vom Onkologen Siddhartha Mukherjee als «König aller Krankheiten» bezeichnet, stellt eine Herausforderung ohnegleichen dar. Im Unterschied zu Viren oder Bakterien, die von außerhalb des Körpers kommend in ihn eindringen, werden Krebszellen in atemberaubender Geschwindigkeit von eigenen zunächst gesunden, dann aber zufällig mutierten Zellen gebildet. Diese beginnen, den Körper auf maximale Weise zu schädigen. Man könnte sie als Verräter in den eigenen Reihen betrachten, als Feind, der die eigene Uniform trägt und den das Immunsystem daher nicht als Bedrohung erkennt.

Schon seit mehr als zwei Jahrhunderten ist bekannt, dass der Körper darauf trainiert werden kann, einen äußeren Feind, wie ihn ein Krankheitserreger darstellt, zu erkennen. Man kann ihm beibringen, sich auf zukünftige Begegnungen mit ähnlichen Angreifern vorzubereiten. Es war diese Einsicht, die zur Entwicklung von Impfstoffen führte, die Hunderte Millionen Menschenleben retteten. Anfang der 1990er Jahre begann eine noch kleine internationale Gemeinschaft von Immunologen zu verstehen, dass das Immunsystem vielleicht auch darauf trainiert werden kann, innere Bedrohungen zu erkennen und zu bekämpfen, und dass dies den Weg für eine neue Klasse von Krebsmedikamenten ebnen würde. Doch die Krebsimmuntherapie, wie das aufkeimende Fachgebiet genannt wurde, blieb bis dahin hauptsächlich auf die Universitäten beschränkt und war in der Pharmaindustrie noch weitgehend unbekannt.

Uğur und Özlem waren Mitglieder dieses Nischenclubs. Die Patienten, die auf ihren Stationen starben, hatten die Waffen für den Kampf gegen die Tumoren bereits in ihrem Körper, davon waren sie überzeugt. Es galt herausfinden, wie man diese Kräfte entfesseln und auf die heimtückische Krankheit ansetzen konnte.

Das Immunsystem besteht aus einer Streitkraft bestens organisierter, hochspezialisierter Einheiten. Sie alle erhalten ihre Befehle auf ganz eigene Weise, tragen unterschiedliche Uniformen und verwenden eine spezielle Kampftechnik. Sobald ein Feind eindeutig identifiziert ist, werden diese Einheiten gemeinsam mobilisiert und führen einen massiven, mehrschichtigen, koordinierten Gegenschlag auf allen Ebenen.

Einmal losgelassen, vereint das Immunsystem in besonderer Weise Schlagkraft mit Präzision. Waffen wie Antikörper und T-Zellen, die Scharfschützen der Immunarmee, greifen mit aller Macht an, sobald sie ein spezifisches Molekül als ihr Ziel ausgemacht haben. In der Zeit, als Uğur und Özlem sich der Krebstherapie zuwandten, begann man gerade zu verstehen, dass Tumorzellen mit ganz spezifischen Molekülen besetzt waren, die man bei gesunden Zellen nicht finden konnte. Wenn es gelang, dem Immunsystem beizubringen, diese Moleküle zu erkennen, dann konnten seine Scharfschützen die Krebszellen ins Visier nehmen und das Feuer auf sie eröffnen.

Nachdem Özlem ihr Medizinstudium 1994 beendet hatte, um sich vollständig der Forschung zu widmen, verbrachten die beiden «Immunsystemflüsterer» – wie sie sich und ihren Partner scherzhaft nennt – Jahre auf der Suche nach diesen Erkennungsmerkmalen, den sogenannten Antigenen. Ihr Ziel war es, sie im Labor zu reproduzieren und dann in den Körper der Patienten einzuschleusen, wo sie die Funktion eines «Fahndungssteckbriefs» erfüllen sollten: eine klare Anweisung, alles zu ergreifen und zu eliminieren, was diesem Feind ähnelt. Die Hoffnung war, dass der Körper ein scharfes Auge auf diesen Übeltäter warf, eine umfassende Immunantwort produzierte und, nachdem er die Ähnlichkeit der Antigene mit dem Tumor erkannt hatte, dessen Zellen ebenfalls als Feinde betrachten würde.

Im Prinzip gab es verschiedene Möglichkeiten, ein Antigen in den Körper einzuschleusen, und das Paar probierte sie alle durch. «Wir sind eben echte Nerds», gibt Özlem, die gelegentlich ein T-Shirt mit der Darstellung des Paradoxons von Schrödingers Katze trägt, offen zu. «Wir interessierten uns damals für alle möglichen Techniken, und keine davon gehörte zu den gängigen.» Doch je mehr sie sich in die Materie einarbeiteten, desto klarer wurde ihnen, dass Ansätze wie synthetische Peptide, rekombinante Proteine, DNA oder virale Vektoren (wie sie später in Oxford erforscht und von AstraZeneca für seinen Covid-19-Impfstoff verwendet wurden) nicht den gewünschten Zweck erfüllten. Entweder erforderten sie Zellkulturen, die man in einer Petrischale heranzüchten musste, was kompliziert und langwierig war, oder sie führten nicht zu der erwünschten schnellen, starken und anhaltenden Reaktion des Immunsystems.

Doch Mitte der 1990er Jahre fanden Uğur und Özlem in der abseitigsten Ecke von allen ihre Trumpfkarte, die sie viele Jahre später bei der Entwicklung des Coronavirus-Impfstoffs ausspielen würden. Es handelte sich um ein Molekül mit dem Namen Ribonukleinsäure, kurz RNA (Ribonucleic Acid).

Die Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte RNA halten manche für das ursprüngliche Biomolekül, aus dem sich alles Leben entwickelte. Sie verfügt über außergewöhnliche Eigenschaften. Wie ihre bekanntere Verwandte, die Desoxyribonukleinsäure, kurz DNA (Deoxyribonucleic Acid), kann sie genetische Informationen speichern. Aber RNA kann auch als chemischer «Katalysator» wirken und ohne die Hilfe anderer Moleküle Kopien von sich selbst produzieren.[13] In grauer Vorzeit, so die Theorie, besaß ein RNA-Molekül eine Zell-Blaupause und schuf die chemischen Reaktionen, die nötig waren, um sie umzusetzen. Es war zugleich das erste Huhn und das erste Ei.

Uğur und Özlem interessierten sich jedoch für eine weitaus prosaischere Funktion der RNA, die zum ersten Mal von einer Gruppe von Akademikern skizziert wurde, die zu Beginn der Swinging Sixties[14] im britischen Cambridge an einem Beistelltisch inmitten einer ausgelassenen Party zusammenkauerten. Diese hatten entdeckt, dass eine bestimmte Art der RNA, die in den Zellen aller Menschen und Tiere vorkommt, im Wesentlichen das biologische Äquivalent eines mit einem Code ausgestatteten Kuriers darstellt. Dieser Code enthält einen Satz von Anleitungen von der DNA einer Zelle für die «Fabrik» dieser Zelle zur Herstellung der nötigen Proteine, die die Gewebe und die Organe des Körpers aufbauen und kontrollieren. Sobald diese Aufgabe erfüllt ist, wird die einzelsträngige, bandähnliche Struktur zerstört, oft innerhalb von Minuten. Im Herbst 1960 erhielt sie einen Namen: messenger-RNA oder Boten-RNA. Das Molekül, bald kurz mRNA genannt, faszinierte zwar alle, die nach einem besseren Verständnis der Natur strebten, blieb aber von der klinisch-pharmazeutischen Forschung unbeachtet. Niemand erhielt einen Nobelpreis für die mRNA-Entdeckung, und auch die Pharmaindustrie ignorierte sie weitgehend. Wer auf wissenschaftlichen Tagungen von Medikamenten auf der Basis von mRNA sprach, musste mit Achselzucken oder gar Spott rechnen – und das nicht unbedingt ohne Grund.

Nackte RNA wird außerhalb von Zellen innerhalb von Sekunden abgebaut, dank allgegenwärtiger Enzyme in der Luft und auf Oberflächen, die eine kryptonitähnliche Wirkung auf das Molekül haben. Ein einfacher Husten kann RNA eliminieren. Aber selbst wenn es gelang, das Molekül unter sogenannten Reinraumbedingungen stabil zu erhalten, war der Abbau nicht aufzuhalten, sobald die mRNA in einen lebendigen Körper eingeführt wurde. Erst recht nicht, wenn es darum ging, sie in eine Zelle einzuschleusen, die dann ihre Anweisungen in ein Protein umsetzte. Und selbst wenn alle diese Hürden überwunden wären, war die Menge an Protein, die in der Zelle unter Anleitung der synthetischen mRNA produziert wurde, viel zu gering.

In der Folge wurde das Molekül von den Wissenschaftlern daher salopp oft als «messy» RNA bezeichnet. Wer sich weiterhin mit mRNA beschäftigte, wurde von der akademischen Welt nicht sonderlich beachtet. Uğur und Özlem aber ließen sich davon nicht abschrecken. Sie glaubten an das außergewöhnliche Potenzial dieses hässlichen kleinen Entleins.

«Es wurde klar, dass mRNA ganz spezifische Eigenschaften hat, die wir uns zunutze machen können», sagt Özlem. Da ein mRNA-Medikament nur Zeilen genetischer Codes enthält, konnte es innerhalb von Wochen statt Monaten entwickelt und hergestellt werden. Die relative Einfachheit der Technologie erleichterte es, Antigene oder Teile von Antigenen zu isolieren und ihren genetischen Code in synthetische mRNA-Muster zu übertragen. Sobald der Strang in den Körper eines Patienten eingebracht wurde, diente er als Vorlage, und die körpereigenen Zellen würden den Rest der Arbeit übernehmen.

Falls es gelang – und dahinter stand ein großes Fragezeichen –, einen Weg zu finden, die mRNA direkt zu den richtigen Immunzellen im menschlichen Körper zu bringen und sie in diesen lange genug aktiv zu halten, boten sich beinahe unendliche Möglichkeiten. Man kaperte damit gewissermaßen einen natürlich vorhandenen Mechanismus zur Übersetzung des Codes. So konnte man den Patienten dazu bringen, sein eigenes Medikament zu produzieren.

Uğur und Özlem hatten den Plan, den Code der spezifischen Erkennungsmerkmale auf Krebszellen zu identifizieren und ihn als mRNA-Vakzine an die Kommandozentrale des Immunsystems weiterzugeben. Mit dieser Information sollte der Körper dann die Scharfschützen des Immunsystems mit seinem spezifischen Fahndungssteckbrief versorgen.

Die Leidenschaft der beiden wurde von einer breiteren wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht geteilt. Der mRNA war für viele Jahre ein Nischendasein beschieden. Die Aussichten, dass eine Aufsichtsbehörde die klinische Erprobung eines mRNA-Medikaments zulassen würde, waren gering, zumal die meisten Arzneimittelexperten nicht im Detail verstanden, wie das Molekül seine Arbeit verrichtete.

Ohne die mRNA-Technologie für Krebsimpfungen aus den Augen zu verlieren, verfolgten Uğur, Özlem und ihr Team parallel eine ganze Reihe verschiedener Ansätze der Immuntherapie. Manche schienen auf kürzere Sicht sogar weitaus vielversprechender. Einer davon entwickelte sich zum Grundstein für ihr erstes Unternehmen, Ganymed Pharmaceuticals, das sich auf die Entwicklung monoklonaler Antikörper konzentrierte, Proteine also, die sich an die Krebszellen anheften können, um eine präzise Attacke auf sie zu koordinieren. Das Unternehmen war außerordentlich erfolgreich und wurde schließlich im größten Deal der deutschen Biotech-Branche für 1,4 Milliarden Dollar verkauft.

Doch obwohl die Investoren von Ganymed direkt miterlebt hatten, wie Uğur und Özlem allen Widrigkeiten trotzten, sahen einige die Ambitionen in Richtung mRNA mit Skepsis. Als die beiden dem Risikokapitalgeber Matthias Kromayer 2005 ihre Pläne zu mRNA-Therapien eröffneten, dachte er, dass sie den Verstand verloren hätten. «Ich habe Uğur unverblümt gesagt, dass ich das schlichtweg für verrückt halte», erinnert sich Kromayer, der als Mikrobiologe selbst mRNA-Forschung betrieben hatte. «Für mich war das reine Science-Fiction.»

Doch die beiden Ärzte und eine kleine Gruppe von Forschern, die sie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz um sich versammelt hatten, gaben die mRNA nicht auf – ebenso wenig wie eine Handvoll kaum beachteter Wissenschaftler auf der ganzen Welt.

Als Uğur im Oktober 2018 den Saal eines umgebauten Kinos im Ostteil von Berlin betrat,[15] hatten sich die vielen Vorbehalte der akademischen Gemeinschaft gelegt. BioNTech, von Uğur und Özlem ein Jahrzehnt zuvor gegründet, hatte inzwischen über 400 Krebspatienten mit mRNA-Technologie behandelt. In Deutschland, den USA, England und anderswo hatten klinische Tests begonnen. Dies hatte auch die Aufmerksamkeit der Immunologin Lynda Stuart geweckt, eine Vizedirektorin der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung. «Sie haben eine ganze Reihe verschiedener Ansätze verfolgt und ein wirklich interessantes Instrumentarium verschiedenster Krebstherapien», sagt sie. Neugierig geworden, lud die Stiftung Uğur in letzter Minute zu einem Plenarvortrag auf ihrer jährlichen «Grand Challenges»-Tagung ein, einer Veranstaltung, die zur Lösung globaler Gesundheits- und Entwicklungsprobleme beitragen sollte und an der Würdenträger wie Angela Merkel teilnehmen würden.

Für Uğur kam die Einladung überraschend. BioNTech beschäftige sich nicht mit Infektionskrankheiten, wandte er ein. Er könne lediglich Daten präsentieren, die zeigten, wie das Unternehmen mittels mRNA-Impfungen eine starke Immunantwort gegen Krebszellen auslöst. Doch Stuarts Team erklärte ihm, dass die Stiftung oft auch die «Nachbarfelder» ins Auge fasste, deren Innovationen helfen könnten, Infektionskrankheiten zu besiegen – darunter insbesondere die Immun-Onkologie, die damals gerade von sich reden machte. Die Gates-Stiftung hatte erst kürzlich in ein HIV-Programm investiert, das am Ende Krebspatienten zugutekam. Vielleicht konnte die Krebstherapie nun einen Beitrag dazu leisten, die Welt von einigen Viren zu befreien? «Wir hielten ständig Ausschau nach dem, was gerade im Trend war, was sich veränderte, wer wo die Nase vorn hatte», sagt Stuart, «und da stach uns BioNTech ganz klar ins Auge.»