Propeller-Opa - David Walliams - E-Book

Propeller-Opa E-Book

David Walliams

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Beschreibung

«Propeller-Opa» hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich mir zeitweise einen Enkel gewünscht habe. (Jürgen von der Lippe) Vor vielen Jahren, als noch Krieg herrschte, war Jacks Opa ein berühmter Pilot. Aber nun wird er immer verwirrter im Kopf. Und als Opa ins Altersheim Twilight Towers kommen soll, das von der finsteren Vorsteherin Miss Swine geführt wird, ist Jack entschlossen, seinem Opa zur Flucht zur verhelfen. Doch die böse Vorsteherin ist ihnen dicht auf den Fersen …

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David Walliams

Propeller-Opa

 

Aus dem Englischen von Bettina Münch

 

Illustriert von Tony Ross

Über dieses Buch

 

 

«Propeller-Opa» hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich mir zeitweise einen Enkel gewünscht habe. (Jürgen von der Lippe)

 

Vor vielen Jahren, als noch Krieg herrschte, war Jacks Opa ein berühmter Pilot. Aber nun wird er immer verwirrter im Kopf. Und als Opa ins Altersheim Twilight Towers kommen soll, das von der finsteren Vorsteherin Miss Swine geführt wird, ist Jack entschlossen, seinem Opa zur Flucht zur verhelfen. Doch die böse Vorsteherin ist ihnen dicht auf den Fersen …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

David Walliams ist der erfolgreichste britische Kinderbuchautor der letzten Jahre und gilt als würdiger Nachfolger von Roald Dahl. In England kennt ihn jedes Kind. Wenn er nicht gerade Kinderbücher schreibt, schwimmt er schon mal für einen guten Zweck 225 Kilometer die Themse hinab oder durch den Ärmelkanal. Außerdem spielt er in der englischen Comedyserie «Little Britain» mit und sitzt in der Jury von «Britain’s Got Talent».

Dieses Buch widme ich Sam & Phoebe,

die fast immer brav sind.

In Liebe, David x

Dankeschöns

Besonderen Dank schulde ich Charlotte Sluter und Laura Clouting vom Imperial War Museum, Tim Granshaw, Matt Jones, Andy Annabel und Gerry Jones vom Goodwood Aerodrome sowie meinem Royal-Air-Force-Berater John Nichol.

Dies ist die Geschichte von einem Jungen namens Jack und seinem Opa.

Vor langer Zeit war Opa Pilot bei der Royal Air Force (RAF).

 

Im Zweiten Weltkrieg flog er ein Jagdflugzeug vom Typ Spitfire.

 

Unsere Geschichte spielt im Jahr 1983. Das war eine Zeit, in der es weder Internet noch Handys oder Computerspiele gab, mit denen man sich wochenlang die Zeit vertreiben konnte. Opa war 1983 bereits ein alter Mann, aber sein Enkel Jack war gerade erst zwölf Jahre alt.

Das hier sind Jacks Eltern. Seine Mutter Barbara arbeitet an der Käsetheke im Supermarkt. Sein Vater Barry ist Buchhalter.

Raj ist der örtliche Kioskbesitzer.

Miss Veritas ist Geschichtslehrerin an Jacks Schule.

Das Polizisten-Duo Beef und Bone hat sich der Verbrechensbekämpfung verschrieben.

Das hier ist der Gemeindepastor Eber.

Dieser Wachmann arbeitet im Londoner Kriegsmuseum.

Miss Swine ist die Vorsteherin des örtlichen Altenheims Twilight Towers.

Einige der betagten Bewohner des Heims sind Mrs. Biskuit, der Major und der Konteradmiral.

Hier sind einige der in Twilight Towers beschäftigten Krankenschwestern: Schwester Rose, Schwester Iris, Schwester Jasmin.

Das Altenheim Twilight Towers.

Hier ist eine Karte von Jacks Stadtteil.

Prolog

Eines Tages fing Opa an, Dinge zu vergessen. Zuerst waren es nur Kleinigkeiten. Der alte Herr kochte sich eine Tasse Tee und vergaß dann, sie zu trinken. Wenig später reihte sich ein ganzes Dutzend Tassen mit kaltem Tee auf seinem Küchentisch. Oder er ließ sich ein Bad einlaufen und vergaß, den Wasserhahn zuzudrehen, sodass die darunterliegende Wohnung überschwemmt wurde. Oder er ging aus dem Haus in der festen Absicht, eine Briefmarke zu kaufen, kam aber mit siebzehn Packungen Cornflakes zurück. Dabei mochte er gar keine Cornflakes.

Mit der Zeit begann Opa, auch größere Dinge zu vergessen. Welches Jahr es war. Ob seine langverstorbene Frau Peggy noch lebte oder nicht. Und eines Tages erkannte er nicht einmal mehr seinen eigenen Sohn.

Das Erstaunlichste aber war, dass Opa komplett vergaß, dass er inzwischen ein Pensionär war. Der alte Mann hatte seinem kleinen Enkelsohn Jack schon immer gern Geschichten von den Abenteuern erzählt, die er vor langer Zeit im Zweiten Weltkrieg bei der Royal Air Force erlebt hatte. Doch nun wurden diese Geschichten für ihn immer realer. So sehr, dass er sie nicht mehr einfach nur erzählte, sondern sie auszuleben begann. Die Gegenwart verblasste zu körnigem Schwarzweiß, während die Vergangenheit in leuchtenden Farben wieder lebendig wurde. Es spielte keine Rolle, wo Opa sich befand, was er tat oder mit wem er zusammen war. In seiner Wahrnehmung war er immer noch ein verwegener junger Pilot am Steuer eines Spitfire-Kampffliegers.

Allen Menschen in Opas Leben fiel es schwer, das zu verstehen.

Allen, außer einem.

Seinem Enkel Jack.

Wie alle Kinder spielte Jack für sein Leben gern, und ihm kam es so vor, als würde auch sein Großvater spielen.

Jack begriff, dass er nichts weiter tun musste, als mitzuspielen.

1Frühstücksfleisch mit Sauce à la Vanille

Jack war eines der Kinder, die sich allein in ihrem Zimmer am wohlsten fühlten. Da er von Geburt an schüchtern war, besaß er nicht viele Freunde. Statt mit den anderen Kindern aus der Schule im Park Fußball zu spielen, blieb er lieber drinnen und beschäftigte sich mit seiner geliebten Modellflugzeugsammlung. Seine Favoriten stammten aus dem Zweiten Weltkrieg: der Lancaster-Bomber, die Hawker Hurricane und natürlich der alte Kampfflieger seines Opas, die inzwischen legendäre Spitfire. Von den Flugzeugen der Nazis besaß er einige Modelle des Dornier-Kampfbombers, der Junkers und der tödlichen Gegenspielerin der Spitfire, der Messerschmitt.

Jack lackierte seine Modelle mit größter Sorgfalt und befestigte sie dann mit Angeldraht an der Decke. Wenn sie dort in der Luft hingen, sah es aus, als befänden sie sich mitten in einer dramatischen Luftschlacht. Nachts starrte Jack von der oberen Koje seines Hochbetts zu ihnen hinauf, bis er einschlief und davon träumte, ein Fliegerass der Royal Air Force zu sein, wie sein Opa es gewesen war. Jack hatte ein Bild von ihm neben seinem Bett stehen. Auf dem alten Schwarzweißfoto, das irgendwann im Laufe des Jahres 1940 entstanden war, auf dem Höhepunkt der Luftschlacht um England, war Opa ein stolzer junger Mann in Uniform.

In seinen Träumen flog Jack auf, auf und davon, genau wie sein Opa. Jack hätte alles gegeben, seine Vergangenheit und seine ganze Zukunft, für einen einzigen Moment am Steuer von Opas legendärer Spitfire.

In seinen Träumen war er top.

Im Leben fühlte er sich als Flop.

Das Problem war, dass sich Jacks Tage glichen wie ein Ei dem anderen. Er ging jeden Morgen zur Schule, erledigte nachmittags seine Hausaufgaben und aß jeden Abend vor dem Fernseher zu Abend. Wäre er doch nur nicht so schüchtern. Hätte er doch nur einen Haufen Freunde. Könnte er doch nur aus seinem langweiligen Leben ausbrechen!

Der Höhepunkt von Jacks Woche war der Samstag. An diesem Tag setzten ihn die Eltern bei seinem Opa ab. Bevor die Verwirrung des alten Manns überhandnahm, hatte er mit seinem Enkel die zauberhaftesten Ausflüge unternommen.

Am liebsten waren sie ins Londoner Kriegsmuseum gegangen. Es lag nicht allzu weit entfernt und war eine wahre Fundgrube für alles, was mit Militär zu tun hatte. Die beiden bestaunten die alten Kriegsflugzeuge, die in der großen Halle von der Decke hingen. Und natürlich war die legendäre Spitfire ihr absoluter Favorit. Bei ihrem Anblick wurde Opa jedes Mal von Kriegserinnerungen übermannt. Und er gab die Geschichten an seinen Enkel weiter, der jedes Wort aufsaugte. Auf der langen Rückfahrt im Bus bombardierte Jack den alten Herrn mit Aberhunderten von Fragen …

«Was war das schnellste Tempo, das du je mit der Spitfire geflogen bist?»

«Musstest du mal mit einem Fallschirm abspringen?»

«Welches Flugzeug ist besser, die Spitfire oder die Messerschmitt?»

Opa liebte es, seine Fragen zu beantworten. Oft versammelte sich auf dem Oberdeck des Busses eine ganze Schar von Kindern um den alten Mann und lauschte seinen unglaublichen Geschichten.

«Es war der Sommer 1940», sagte Opa zum Auftakt. «Auf dem Höhepunkt der Luftschlacht um England. Eines Abends flog ich mit meiner Spitfire über den Ärmelkanal. Ich war von meiner Staffel getrennt worden. Hatte im Kampf etwas abbekommen und schleppte mich zurück zur Basis. Plötzlich höre ich hinter mir Maschinengewehrfeuer. RA TA TA TAT! Eine Messerschmitt der Nazis! Direkt hinter mir! Und wieder: RA TA TA TAT! Wir waren die Einzigen draußen über dem Meer. Es sollte eine Schlacht auf Leben und Tod werden in dieser Nacht …»

Es gab nichts, was Opa lieber tat, als seine Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Jack hörte ganz genau zu, jede noch so kleine Einzelheit faszinierte ihn. Mit der Zeit wurde er ein richtiger Experte, wenn es um die alten Kampfflugzeuge ging. Er würde eines Tages ein ausgezeichneter Pilot werden, sagte Opa oft zu seinem Enkel. Und jedes Mal platzte der Junge fast vor Stolz.

 

Wenn später am Tag im Fernsehen ein alter Kriegsfilm gezeigt wurde, kuschelten sich die beiden in Opas Wohnung zusammen aufs Sofa und sahen sich den Schwarzweißstreifen an. Allen Gewalten zum Trotz war einer der Filme, von denen sie gar nicht genug bekamen. In diesem Klassiker geht es um den Piloten Douglas Bader, der bei einem schrecklichen Unfall vor dem Zweiten Weltkrieg beide Beine verliert. Trotzdem gibt Douglas nicht auf und wird zu einer Fliegerlegende. Verregnete Samstagnachmittage waren wie gemacht für Filme wie Allen Gewalten zum Trotz, Duell in den Wolken, Wir sind alle verdammt oder Einer kam durch. Jack konnte sich nichts Schöneres vorstellen.

Leider war das Essen bei Opa immer grauenhaft schlecht. Er nannte es «Rationen», wie er es im Krieg getan hatte, und ernährte sich grundsätzlich nur von Konserven. Zum Abendessen holte er zwei x-beliebige Dosen aus dem Speiseschrank und kippte den Inhalt zusammen in einen Topf.

Die französische Ausdrucksweise verlieh dem Essen eine Vornehmheit, die es nicht verdiente. Zum Glück kam Jack nicht wegen des Essens her.

Der Zweite Weltkrieg war die wichtigste Zeit in Opas Leben gewesen. Eine Zeit, in der mutige RAF-Piloten wie er in der Luftschlacht um England für ihr Land gekämpft hatten. Die Nazis planten damals eine Invasion, die sie «Unternehmen Seelöwe» nannten. Es gelang ihnen jedoch nicht, die Lufthoheit zu erringen und dadurch ihre Bodentruppen zu schützen, daher schlug ihr Plan fehl. Tag für Tag und Nacht für Nacht hatten RAF-Piloten wie Opa ihr Leben riskiert, um die Menschen in England davor zu bewahren, den Nazis in die Hände zu fallen.

Statt seinem Enkel also vor dem Schlafengehen eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, erzählte der alte Mann dem Jungen lieber von seinen wahren Abenteuern im Krieg. Und diese Geschichten waren sehr viel aufregender als alles, was man in einem Buch finden konnte.

«Noch eine Geschichte, Opa! Bitte!», bettelte Jack an einem dieser Abende. «Ich will hören, wie du von der deutschen Luftwaffe abgeschossen wurdest und im Ärmelkanal notlanden musstest!»

«Es ist schon spät, kleiner Jack», erwiderte Opa. «Schlaf jetzt. Ich verspreche, dass ich sie dir morgen früh erzähle. Und noch mehr dazu.»

«Aber –»

«Wir sehen uns in deinen Träumen, Staffelkapitän», sagte der alte Mann, während er Jack zärtlich auf die Stirn küsste. «Staffelkapitän» war der Spitzname für seinen Enkelsohn. «Wir sehen uns oben am Himmel. Auf, auf und davon.»

«Auf, auf und davon!», wiederholte Jack, ehe er in Opas Gästezimmer einschlief und davon träumte, ebenfalls Kampfpilot zu sein. Die Zeit mit Opa hätte nicht schöner sein können.

Doch das sollte sich bald ändern.

2Pantoffeln

Mit der Zeit wurde Opa von seinem Verstand immer häufiger in seine glorreiche Vergangenheit zurückversetzt. Als unsere Geschichte ihren Anfang nimmt, war der alte Herr endgültig davon überzeugt, dass der Zweite Weltkrieg immer noch im Gange sei. Obwohl er in Wirklichkeit schon vor Jahrzehnten geendet hatte.

Opa war nun sehr verwirrt – ein Zustand, von dem nicht wenige ältere Menschen betroffen sind. Es sah nicht gut für ihn aus, und leider gab es auch kein Heilmittel. Vielmehr würde sich sein Zustand im Laufe der Zeit wohl immer mehr verschlechtern, bis er sich irgendwann womöglich nicht einmal mehr an seinen eigenen Namen erinnern konnte.

Aber wie bei allem im Leben hat jede Tragik oft auch ihre komischen Seiten. Und der Zustand des alten Mannes hatte in letzter Zeit zu einigen sehr lustigen Momenten geführt. Als die Nachbarn von nebenan in der Silvesternacht im Garten Raketen abschossen, bestand Opa darauf, dass die ganze Familie unverzüglich in den Keller hinunterging. Ein anderes Mal viertelte er mit seinem Taschenmesser ein hauchdünnes Pfefferminztäfelchen, um es wegen der «Lebensmittelrationierung» mit der ganzen Familie zu teilen.

Am bemerkenswertesten aber war der Tag, an dem Opa einen Einkaufswagen im Supermarkt für einen Lancaster-Bomber hielt. Er schoss auf streng geheimer Mission durch die Gänge und warf mit großen Mehlpaketen um sich. Diese «Bomben» explodierten überall: auf den Lebensmitteln, den Kassen, selbst die hochnäsige Marktleiterin wurde von Kopf bis Fuß eingestäubt. Sie sah aus wie ein gepuderter Geist.

Die Säuberungsarbeiten dauerten Wochen. Und Opa erhielt vom Supermarkt ein lebenslanges Hausverbot.

Mitunter war Opas Verwirrung aber auch bedrückend. Jack hatte seine Oma nie kennengelernt, weil sie vor fast vierzig Jahren gestorben war: in einer Nacht gegen Ende des Krieges, bei einem Bombenangriff der Nazis auf London. Jacks Vater war damals gerade erst geboren. Wenn Jack in der winzigen Wohnung seines Opas übernachtete, kam es dennoch hin und wieder vor, dass der alte Mann nach seinem «Peggy-Schatz» rief, als wäre sie im Zimmer nebenan. Es war so herzergreifend, dass Jack die Tränen kamen.

Trotz allem war Opa ein überaus würdevoller Mann.

Für ihn musste immer alles «so und nicht anders» sein.

Er trug stets eine makellose Uniform aus doppelreihigem Jackett, strahlend weißem Hemd und tipptopp gebügelten grauen Hosen. Außerdem war die braun-silber-blau gestreifte Krawatte der Royal Air Force, die er um den Hals trug, immer tadellos gebunden. Wie viele Piloten im Zweiten Weltkrieg hatte auch er den schmissigen Schnauzer eines Fliegerasses. Ein wahres Wunderwerk. Der Schnurrbart war so lang, dass er bis zu seinen Koteletten reichte. Fast wie ein Bart, nur ohne die Kinnpartie. Opa zwirbelte die Bartspitzen stundenlang mit den Fingern, bis sie genau im richtigen Winkel abstanden.

Was Opas verwirrten Zustand verriet, waren seine Pantoffeln. Der alte Mann zog keine festen Schuhe mehr an. Er vergaß einfach jedes Mal, sie anzuziehen. Das Wetter konnte sein, wie es wollte, es mochte regnen, hageln oder schneien, er trug stets seine braun karierten Pantoffeln.

Natürlich machten sich die Erwachsenen Sorgen über Opas exzentrisches Verhalten. Manchmal tat Jack, als würde er zu Bett gehen, um sich dann im Schlafanzug aus seinem Zimmer zu schleichen und oben an die Treppe zu setzen. Dort hörte er zu, wie seine Eltern unten in der Küche über Opa diskutierten. Sie benutzten große Worte, die Jack nicht verstand, mit denen sie den «Zustand» des alten Mannes beschrieben. Dann stritten Mum und Dad darüber, ob sie Opa in ein Altenheim bringen sollten oder nicht. Jack hasste es, wenn man über seinen Opa sprach, als wäre er eine Art Problem. Doch mit seinen zwölf Jahren fühlte er sich machtlos, etwas dagegen zu tun.

Allerdings konnte nichts von alledem die Begeisterung bremsen, mit der er Opas Kriegsgeschichten lauschte, auch wenn diese für den alten Mann inzwischen so real geworden waren, dass die beiden sie zusammen auslebten. Es waren Abenteuer, richtige Heldengeschichten.

Opa besaß einen uralten hölzernen Plattenspieler von der Größe einer Badewanne. Darauf spielte er dröhnende Marschmusik ab, wobei er die Lautstärke so weit aufdrehte, wie es nur ging. Militärkapellen mochte er am liebsten. Bis spät in die Nacht hörte sich Jack mit Opa berühmte englische Hymnen an: Rule, Britannia!, Land of Hope and Glory oder die Pomp and Circumstance-Märsche. Zwei alte Ohrensessel wurden zu ihren Cockpits. Und während sich die Musik in die Lüfte erhob, taten sie in ihren herbeiphantasierten Kampffliegern das Gleiche. Eine Spitfire für Opa und eine Hurricane für Jack, und schon flogen die beiden auf, auf und davon. Gemeinsam schossen sie hoch über die Wolken und schlugen den feindlichen Fliegern ein Schnippchen. Jeden Samstag gewannen die beiden Fliegerasse die Luftschlacht um England, ohne auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen.

Opa und Jack lebten in ihrer eigenen Welt und bestanden zahllose Phantasieabenteuer.

 

Doch an dem Abend, an dem unsere Geschichte beginnt, nahm ein echtes Abenteuer seinen Lauf.

3Käsearoma

In jener Nacht schlief Jack in seinem Zimmer und träumte wie jede Nacht davon, ein Pilot im Zweiten Weltkrieg zu sein. Er saß am Steuer seiner Hurricane und nahm es gerade mit einer Staffel todbringender Messerschmitts auf, als er das unverkennbare Klingeln eines Telefons hörte.

KLINGELINGELING.

Seltsam, dachte er, in den 1940er Jahren hatten Kampfflugzeuge noch gar kein Telefon an Bord. Trotzdem klingelte das Telefon weiter.

KLINGELINGELING.

Abrupt fuhr Jack aus dem Schlaf. Beim Aufsetzen stieß er sich den Kopf an seinem Lancaster-Bomber, der über ihm von der Decke hing.

«Au!», schrie er. Auf der vernickelten RAF-Piloten-Uhr, die sein Opa ihm geschenkt hatte, sah er nach, wie spät es war.

2.30 Uhr.

Wer um alles in der Welt rief um diese Uhrzeit an?

Jack sprang aus der obersten Koje seines Hochbetts und öffnete die Tür seines Zimmers. Unten in der Diele hörte er seine Mutter telefonieren.

«Nein, hier ist er nicht aufgetaucht», sagte sie.

Kurz darauf sagte seine Mutter wieder etwas. Aus ihrem vertraulichen Ton schloss Jack, dass sie mit seinem Vater sprach. «Also keine Spur von dem alten Herrn? Was willst du tun, Barry? Ich weiß, dass er dein Vater ist! Aber du kannst nicht die ganze Nacht nach ihm Ausschau halten!»

Jack hielt es keine Minute länger aus. Vom oberen Treppenabsatz rief er: «Was ist mit Opa?»

Mum sah zu ihm hinauf. «Na, wunderbar, Barry, gut gemacht. Jetzt ist Jack wach geworden!» Sie legte die Hand über die Muschel. «Geh sofort wieder ins Bett, junger Mann! Du hast morgen früh Schule!»

«Das ist mir egal!», erwiderte Jack trotzig. «Was ist mit Opa?»

Mum wandte sich wieder ihrem Anruf zu. «Ruf mich in zwei Minuten zurück, Barry. Hier geht es gerade drunter und drüber!» Damit knallte sie den Hörer auf.

«Was ist mit Opa?», fragte Jack noch einmal, während er zu seiner Mutter hinablief.

Mum seufzte theatralisch, als lasteten sämtliche Sorgen der Welt auf ihren Schultern. Das tat sie oft. In diesem Moment bemerkte Jack, dass es nach Käse roch. Nicht einfach nur nach normalem Käse, sondern nach Stinkekäse, Blaukäse, flüssigem Käse, Schimmelkäse, käsigem Käse. Seine Mutter arbeitete an der Käsetheke des örtlichen Supermarkts und verbreitete, wo immer sie gerade war, ein strenges Käsearoma.

Beide standen in Nachtwäsche in der Diele, Jack in seinem blau gestreiften Schlafanzug, seine Mutter in einem luftigen pinkfarbenen Nachthemd. Sie trug Lockenwickler und eine dicke Schicht Gesichtscreme auf Wangen, Stirn und Nase, die sie oft über Nacht einwirken ließ. Jack wusste nicht genau, warum. Seine Mutter hielt sich für eine ziemliche Schönheit und behauptete oft, das Glamourgesicht der Käsetheke zu sein, wenn es so etwas überhaupt gab.

Mum schaltete das Licht an, und in der plötzlichen Helligkeit mussten beide einen Moment lang blinzeln.

«Dein Opa ist wieder mal verschwunden!»

«O nein!»

«O doch!» Seine Mutter seufzte erneut. Der alte Mann ging ihr offensichtlich auf die Nerven. Manchmal verdrehte sie bei Opas Kriegsgeschichten sogar die Augen, als würde sie sich langweilen. Jack störte das gewaltig. Opas Geschichten waren tausendmal aufregender, als sich anhören zu müssen, welcher Käse sich in dieser Woche am besten verkauft hatte. «Dein Vater und ich wurden gegen Mitternacht vom Telefon geweckt.»

«Wer war das?»

«Der Nachbar, der unter ihm wohnt, du weißt schon, dieser Zeitschriftenhändler …»

Nachdem Opas großes Haus für ihn zu viel geworden war, hatte er im letzten Jahr eine kleine Wohnung über einem Ladengeschäft bezogen. Aber nicht über irgendeinem Ladengeschäft, sondern über dem Kiosk eines Zeitschriftenhändlers. Und nicht irgendeines Zeitschriftenhändlers, sondern Rajs.

«Raj?», fragte Jack nun.

«Ja, so heißt er. Raj hat gesagt, dass er gegen Mitternacht gehört hat, wie die Haustür deines Opas zuschlug. Er hat bei ihm geklopft, aber keine Antwort erhalten. Der arme Mann ist furchtbar in Panik geraten, also hat er hier angerufen.»

«Und wo ist Dad?»

«Er ist sofort ins Auto gesprungen und sucht seit zwei Stunden nach ihm.»

«Seit zwei Stunden?» Jack traute seinen Ohren nicht. «Warum hast du mich nicht geweckt?»

Mum seufzte SCHON WIEDER. Diese Nacht wurde allmählich zu einem Seufz-athon. «Dein Vater und ich wissen, wie gern du Opa hast, deshalb wollten wir nicht, dass du dir Sorgen machst.»

«Aber ich mache mir Sorgen!», erwiderte Jack. In Wirklichkeit stand ihm sein aufregender Opa näher als sonst jemand in der Familie, seine Eltern eingeschlossen. Die Zeit, die er mit seinem Opa verbrachte, war ihm heilig.

«Wir machen uns alle Sorgen!», erwiderte Mum.

«Ich mache mir aber große Sorgen.»

«Wir machen uns alle große Sorgen.»

«Aber ich mache mir ganz, ganz große Sorgen.»

«Tja, wir machen uns alle ganz, ganz große Sorgen. Jetzt lass uns bitte nicht darum wetteifern, wer sich die meisten Sorgen macht!», rief Jacks Mutter aufgebracht.

Jack konnte ihr ansehen, dass sie immer mehr in Stress geriet, daher hielt er es für das Beste, nicht auf ihre letzte Bemerkung einzugehen, obwohl er sich ganz, ganz, ganz große Sorgen machte.

«Ich habe deinem Vater schon hundertmal gesagt, dass dein Opa in ein Altenheim gehört!»

«Niemals!», sagte Jack. Er kannte den alten Mann besser als alle anderen. «Das würde Opa ganz schrecklich finden!»

Opa – oder Oberstleutnant Bunting, wie er während des Krieges geheißen hatte – war viel zu stolz, um seine letzten Tage mit einem Haufen alter Vögel zu verbringen, die den ganzen Tag nur Kreuzworträtsel lösten oder strickten.

Mum schüttelte seufzend den Kopf. «Du bist zu jung, um das zu verstehen, Jack.»

Wie alle Kinder hasste es Jack, sich das sagen lassen zu müssen. Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu streiten. «Bitte, Mum. Lass uns gehen und ihn suchen.»

«Bist du VERRÜCKT? Es ist eiskalt heute Nacht!», erwiderte seine Mutter.

«Aber wir müssen etwas unternehmen! Opa ist irgendwo da draußen und hat sich verirrt!»

KLINGELINGELING.

Jack hechtete zum Telefon und kam seiner Mutter zuvor. «Dad? Wo bist du? Auf dem Marktplatz? Mum hat gerade gesagt, dass wir losgehen und dir helfen sollen, Opa zu finden», log er, was ihm einen wütenden Blick seiner Mutter eintrug. «Wir kommen so schnell wie möglich.»

Er legte auf und nahm seine Mutter bei der Hand.

«Opa braucht uns …», sagte er. Dann öffnete er die Haustür, und die beiden rannten hinaus in die Dunkelheit.

4Das Secondhand-Dreirad

Die Stadt wirkte fremd und unheimlich bei Nacht. Alles war dunkel und still. Es war tiefster Winter. Nebel hing in der Luft, und der Boden war noch feucht von einem schweren Regenschauer.

Dad hatte das Auto genommen, daher strampelte Jack auf seinem Dreirad die Straße entlang. Eigentlich war es nur für Kleinkinder gedacht. Jack hatte es an seinem dritten Geburtstag als Gebrauchtrad geschenkt bekommen und war schon seit Jahren zu groß dafür. Doch da das Geld der Familie nicht reichte, um ihm ein neues Fahrrad zu kaufen, musste er eben dieses nehmen.

Mum stand hinten auf der Querstange und hielt sich an seinen Schultern fest. Sollte einer seiner Klassenkameraden sehen, wie Jack seine Mutter auf dem Dreirad mitnahm, konnte er sich für alle Zeiten in einer dunklen Höhle verkriechen, das war ihm klar.

Während er so schnell wie möglich die Straße entlangstrampelte, ging ihm Opas Marschmusik durch den Kopf. Für ein Dreirad war das Gefährt ein trügerisch schweres Teil, vor allem mit seiner Mutter hintendrauf, deren luftiges pinkfarbenes Nachthemd im Wind flatterte.

Wie die Räder seines Dreirads drehten sich auch Jacks Gedanken in seinem Kopf. Er stand seinem Opa näher als jeder andere Mensch; er konnte doch bestimmt erraten, wo Opa steckte?

Schließlich erreichten die beiden den Marktplatz, ohne dass sie unterwegs eine Menschenseele gesehen hatten. Ein jammervoller Anblick erwartete sie.

Jacks Vater saß in Schlafanzug und Morgenmantel zusammengesackt über dem Lenkrad ihres kleinen braunen Familienautos. Jack konnte schon von weitem erkennen, dass der arme Mann am Ende war. Opa war in den letzten beiden Monaten siebenmal aus seiner Wohnung verschwunden.

Als er das Dreirad kommen hörte, richtete Dad sich auf. Er war blass und hager, trug eine Brille und wirkte älter, als er tatsächlich war. Sein Sohn fragte sich oft, ob die Ehe mit Mum den armen Kerl wohl einige Jahre gekostet hatte.

Dad fuhr sich mit dem Ärmel seines Morgenmantels über die Augen. Es war offensichtlich, dass er geweint hatte. Jacks Vater war Buchhalter. Er addierte den ganzen Tag langweilige Zahlenkolonnen und tat sich schwer damit, seine Gefühle zu äußern. Lieber fraß er alles in sich hinein. Trotzdem wusste Jack, dass Dad seinen Vater sehr liebte, auch wenn er nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm hatte. Es war, als hätte die Abenteuerlust eine Generation übersprungen. Der Kopf des alten Mannes schwebte über den Wolken, während der seines Sohnes in Rechnungsbüchern vergraben war.

«Alles in Ordnung, Dad?», fragte Jack, ganz außer Atem vom Strampeln.

Als sein Vater die Scheibe herunterdrehen wollte, um mit ihnen zu reden, brach die Kurbel ab. Das Auto war uralt und verrostet, daher fielen häufig irgendwelche Teile ab.

«Ja, ja, mir geht’s gut», log Dad und hielt die Kurbel hoch, weil er nicht wusste, was er damit machen sollte.

«Es gibt also immer noch keine Spur vom alten Mann?», fragte Mum, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

«Nein», erwiderte Dad leise. Er wandte sich ab und starrte vor sich hin, damit sie nicht sahen, wie niedergeschlagen er war. «Ich habe in den letzten Stunden die ganze Stadt nach ihm abgesucht.»

«Hast du im Park nachgesehen?», fragte Jack.

«Ja», erwiderte Dad.

«Am Bahnhof?»

«Ja. Dort ist über Nacht alles abgeschlossen, aber draußen war niemand zu sehen.»

Plötzlich hatte Jack eine Eingebung, die er gar nicht schnell genug aussprechen konnte. «Beim Kriegerdenkmal?!»

Sein Vater wandte sich wieder zu ihm um und schüttelte traurig den Kopf. «Da habe ich als Erstes nachgeschaut.»

«Dann reicht es jetzt!», erklärte Mum. «Wir verständigen die Polizei. Sollen die doch die ganze Nacht aufbleiben und ihn suchen. Ich gehe wieder ins Bett! Wir veranstalten morgen an der Käsetheke eine große Werbeaktion für Wensleydale-Käse, da muss ich tipptopp aussehen!»

«Nein!», sagte Jack. Von den nächtlichen Gesprächen seiner Eltern, die er heimlich belauscht hatte, wusste er, dass das eine Katastrophe heraufbeschwören konnte. Wenn die Polizei ins Spiel kam, würden Fragen gestellt werden. Sie würden Formulare ausfüllen müssen. Und der alte Mann würde zu einem «Problem» werden. Ärzte würden ihn befummeln und betasten und Opa aufgrund seines Zustands bestimmt schnurstracks in ein Altenheim einweisen. Für jemanden wie seinen Opa, der ein Leben voller Freiheit und Abenteuer gelebt hatte, wäre das wie eine Gefängnisstrafe. Sie mussten ihn einfach finden.

«Auf, auf und davon …», murmelte Jack.

«Was ist, mein Junge?», fragte Dad ratlos.

«Das sagt Opa immer zu mir, wenn wir in seiner Wohnung Pilot spielen. Wenn wir abheben, sagt er jedes Mal: ‹Auf, auf und davon.›»

«Und …?», meinte Mum, wobei sie seufzend die Augen verdrehte.

«Und …», wiederholte Jack. «Ich wette, das hilft uns, Opa zu finden. Irgendwo hoch oben.»

Er überlegte lange und angestrengt, welches das höchste Gebäude ihres Stadtviertels war. Dann dämmerte es Jack.

«Folgt mir!», rief er, ehe er mit seinem Dreirad wild strampelnd die Straße entlangsauste.

5Dachschaden

Der höchste Punkt ihres Stadtteils war definitiv der Kirchturm. Er war eine Art Wahrzeichen und von weitem zu sehen. Jack vermutete, dass Opa versucht haben könnte, dort hinaufzuklettern. Als er die vorangegangenen Male verschwunden war, hatte man ihn ebenfalls häufig irgendwo hoch oben entdeckt: auf einem Klettergerüst, einer Leiter und einmal sogar auf dem Dach eines Doppeldeckerbusses. Es war, als müsste er den Himmel berühren, wie er es vor Jahren als Pilot der Royal Air Force getan hatte.

Sobald die Kirche in Sicht kam, erkannte man oben auf der Turmspitze die klar umrissene Silhouette eines Mannes, eingerahmt von einem silbrig schimmernden Mond.

Als Jack seinen Opa erblickte, wusste er sofort, was der alte Mann zu tun glaubte: Er flog seine Spitfire.

Vor der großen Kirche stand der kleine Pastor.

Pastor Eber hatte eine ziemlich offensichtliche Resthaarfrisur. Seine über die Glatze gekämmten Strähnen waren so schwarz gefärbt, dass sie fast blau wirkten. Und seine Augen, die nicht größer waren als Pennymünzen, versteckten sich hinter schwarz gerahmten Brillengläsern. Die Brille selbst saß auf einer dicken Himmelfahrtsnase, die der Pastor stets hoch in die Luft reckte, damit er auf andere Menschen herabschauen konnte.