Protecting You & Fighting for Us - Claire Kingsley - E-Book
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Protecting You & Fighting for Us E-Book

Claire Kingsley

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Beschreibung

Die emotionale Geschichte von Asher und Grace erstmals in einem E-Book Bundle. Protecting You - Eine Nacht vereint sie. Eine Nacht trennt sie. In ihrer Kindheit waren Asher und Grace beste Freunde, die sich alles erzählt und alles miteinander geteilt haben. Jetzt sind sie erwachsen und Grace studiert in einer anderen Stadt. Asher vermisst sie sehr und als sie im Sommer nach Hause kommt, ist plötzlich alles anders. Er sieht nicht mehr nur die beste Freundin in ihr, sondern auch die wunderschöne, erwachsene Frau. Doch Asher möchte ihre Freundschaft nicht riskieren. Nicht in einer Kleinstadt wie Tilikum, in der sich alle kennen und Klatsch und Tratsch ein Volkssport ist. Dazu noch seine wilden Brüder, denen nichts entgeht, und Intrigen, die sich über Generationen erstrecken. Ihre Liebe hätte wahrscheinlich keine Chance. Grace zu lieben ist ein Risiko. Sie zu verlieren ist seine größte Angst … Fighting for Us - Wie lange würdest du auf die Liebe deines Lebens warten? Asher ist nicht mehr derselbe Mann wie damals, als er Grace den Ring gab. Zuviel ist seitdem geschehen. Doch er hat sich nicht unterkriegen lassen und ist größer, härter und stärker geworden. Nun ist er zurück in Tilikum und für den ganzen Ort das einzige Gesprächsthema. Mit Klatsch und Tratsch hat Asher gerechnet, nicht aber damit, dass Grace immer noch seinen Ring trägt und all die Jahre auf ihn gewartet hat. Doch Asher fällt es schwer zu lieben, zu vertrauen und jemanden in sein Herz lassen. Für Grace war ihr Märchen nur unterbrochen und sie will ihn eines Besseren belehren. Wird es Asher gelingen, die Dämonen in seinem Inneren zu bezwingen? Die ersten beiden Bände der "Bailey Brothers" Reihe von Bestsellerautorin Claire Kingsley. Wir empfehlen die Titel in der richtigen Reihenfolge zu lesen.

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Seitenzahl: 852

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über das Buch

Protecting You.

Eine Nacht vereint sie. Eine Nacht trennt sie.

In ihrer Kindheit waren Asher und Grace beste Freunde, die sich alles erzählt und alles miteinander geteilt haben. Jetzt sind sie erwachsen und Grace studiert in einer anderen Stadt. Asher vermisst sie sehr und als sie im Sommer nach Hause kommt, ist plötzlich alles anders. Er sieht nicht mehr nur die beste Freundin in ihr, sondern auch die wunderschöne, erwachsene Frau. Doch Asher möchte ihre Freundschaft nicht riskieren. Nicht in einer Kleinstadt wie Tilikum, in der sich alle kennen und Klatsch und Tratsch ein Volkssport ist. Dazu noch seine wilden Brüder, denen nichts entgeht, und Intrigen, die sich über Generationen erstrecken. Ihre Liebe hätte wahrscheinlich keine Chance.

Grace zu lieben ist ein Risiko. Sie zu verlieren ist seine größte Angst …

Fighting for Us

Wie lange würdest du auf die Liebe deines Lebens warten?

Asher ist nicht mehr derselbe Mann wie damals, als er Grace den Ring gab. Zuviel ist seitdem geschehen. Doch er hat sich nicht unterkriegen lassen und ist größer, härter und stärker geworden. Nun ist er zurück in Tilikum und für den ganzen Ort das einzige Gesprächsthema. Mit Klatsch und Tratsch hat Asher gerechnet, nicht aber damit, dass Grace immer noch seinen Ring trägt und all die Jahre auf ihn gewartet hat. Doch Asher fällt es schwer zu lieben, zu vertrauen und jemanden in sein Herz lassen. Für Grace war ihr Märchen nur unterbrochen und sie will ihn eines Besseren belehren.

Wird es Asher gelingen, die Dämonen in seinem Inneren zu bezwingen?

Die ersten beiden Bände der "Bailey Brothers" Reihe von Bestsellerautorin Claire Kingsley. Wir empfehlen die Titel in der richtigen Reihenfolge zu lesen.

Über Claire Kingsley

Claire Kingsley schreibt Liebesgeschichten mit starken, eigensinnigen Frauen, sexy Helden und großen Gefühlen. Ein Leben ohne Kaffee, E-Reader und neu erfundene Geschichten ist für sie nicht vorstellbar. Claire Kingsley lebt mit ihrer Familie im pazifischen Nordwesten der USA.

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Claire Kingsley

Protecting You & Fighting for Us

Die ersten beiden Bände der "Bailey Brothers" Reihe von Bestsellerautorin Claire Kingsley.

Übersetzt von Nicole Hölsken aus dem amerikanischen Englisch

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

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Protecting You

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Bonus-Epilog

Fighting for Us

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Epilog

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.

Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Claire Kingsley

Protecting You

Übersetzt von Nicole Hölsken aus dem amerikanischen Englisch

Kapitel 1Asher

Im Alter von elf Jahren

Als ich die lauten Stimmen der Erwachsenen hörte, schrak ich zusammen. Mein Stock fiel in den kleinen Bach, und ich wandte mich um, konnte aber nur meine Brüder entdecken. Evan war auf den Baum geklettert, wahrscheinlich in dem Versuch, sich vor den Zwillingen in Sicherheit zu bringen. Levi und Logan platschten etwas weiter bachabwärts im Wasser, zusammen mit Gavin, der von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt war.

Wieder schrie jemand – eine Männerstimme, laut und dröhnend –, und mir wurde ganz anders. Aus irgendeinem Grund bekam ich immer Bauchweh, wenn ich hörte, wie Erwachsene miteinander stritten, auch wenn es gar nichts mit mir selbst zu tun hatte.

Gram und Grandad erhoben nie die Stimme, geschweige denn, dass sie einander anschrien. Also musste es sich um Grace’ Mom, Miss Naomi, und ihren Vater, Mr. Miles, handeln.

Wie so manche Väter lebte Grace’ Dad nicht mit ihnen zusammen, aber manchmal kam er zu Besuch. Das fand ich jedes Mal ätzend. Nicht, weil Grace dann beschäftigt war und nicht mit mir draußen spielen konnte, obwohl natürlich auch das frustrierend war. Sie war meine beste Freundin, und wir sahen einander jeden Tag, nur eben dann nicht, wenn ihr Vater da war.

Das Problem war, dass es immer Ärger gab, wenn er sie besuchte. Selbst Gram hatte ich mal sagen hören, dass er grundsätzlich ein Chaos hinterließ. Als ich klein war, dachte ich, dass er womöglich sein Zimmer nicht aufräumte, doch heute fragte ich mich, ob sie nicht eine ganz andere Art von Durcheinander damit gemeint hatte. Diese Erwachsenen …

Das Geschrei wollte nicht aufhören, und die lauten Stimmen waren sogar unten am Bach noch deutlich zu hören. Ich sprang über den flachen Wasserlauf ans andere Ufer und rannte den Hang hinauf und auf Grace’ Haus zu. Wenn ich davon schon Bauchweh bekam, war sie mittlerweile wahrscheinlich fix und fertig.

Ich musste sie unbedingt finden.

Es klang, als befänden sich ihre Eltern draußen vor dem Haus, also hastete ich über die Grasfläche. Gram arbeitete im Garten, aber sie rief nicht nach mir, als ich vorbeirannte und dann zwischen unseren Häusern abbog.

Grace befand sich nicht im Garten, und auch auf dem kleinen Seitenstreifen, der unserem Haus gegenüberlag, war sie nicht zu entdecken. Ich ging langsamer und schlich mich vorsichtig zur Vorderseite. Dann spähte ich auf ihre Veranda, doch auch dort war sie nicht.

Plötzlich kam ich mir blöd vor. Natürlich saß sie nicht auf der Veranda, während ihre Eltern einander anbrüllten.

Wahrscheinlich hatte sie sich versteckt.

Wir hatten eine Menge Verstecke. Gavin fand immer die besten, aber er war zudem auch der jüngste von uns und hätte sich wahrscheinlich sogar in eine Schlangenhöhle zwängen können. Die meisten unserer Lieblingsplätze waren weiter von unseren Häusern entfernt. Sie befanden sich hinter den Gärten, auf Grams und Grandads Grundstück.

Ich hoffte, dass Grace den Hügel hinabgerannt und über den Bach gesprungen war. Vielleicht saß sie auf einem Baum und wartete dort, bis es vorbei war. Oder sie war an der Stelle, die sie als Feengarten bezeichnete und wo sie das Gezänk ihrer Eltern definitiv nicht hören konnte.

Aber ich hatte bereits den ganzen Morgen am Bach gespielt – was ohne sie ziemlich langweilig gewesen war –, ohne auch nur eine Spur von ihr zu entdecken. Wenn sie traurig war und sich dort hätte verstecken wollen, dann wäre sie zuerst zu mir gekommen.

Also musste sie sich hier in der Nähe verstecken. Sah zu. Und lauschte ihrem Streit.

Meine Bauchschmerzen wurden noch heftiger.

Hinter einem Busch verborgen funkelte ich Mr. Miles wütend an. Warum musste er nur ständig so herumbrüllen? Er war groß, hatte breite Schultern und war immer gekleidet wie die Erwachsenen in den Fernsehsendungen. Seine Hemden waren nicht aus Flanell wie die von Grandad, sondern hatten Knöpfe, und manchmal trug er sogar eine Krawatte.

Ich hasste ihn. Ich hasste seine laute Stimme und sein schickes Auto. Aber am meisten hasste ich, dass Grace bei jedem seiner Besuche in Tränen ausbrach.

Ich mied die Vorderseite des Hauses, damit sie mich nicht sahen, und schlug den Weg nach hinten ein. Zwischen den Büschen und ihrem Haus war Grace nicht zu entdecken. Und auch in den kleinen Hohlraum unter der Hintertreppe hatte sie sich nicht gequetscht.

Auf der anderen Seite des Hauses gab es keine Versteckmöglichkeit. Trotzdem sah ich nach – erfolglos. Also war sie wahrscheinlich drinnen.

Das Geschrei wollte nicht aufhören, und ich vermutete, dass man auch trotz der geschlossenen Fenster im Haus jedes Wort verstehen konnte. Ich rannte zur anderen Seite des Hauses und sammelte ein paar kleine Steine. Dann blickte ich zu Grace’ Zimmerfenster hinauf und warf ein paar der Kiesel gegen das Glas.

Sie klickten dagegen, und ich wartete. Aber sie kam nicht. Ich versuchte es erneut – nichts geschah. Vielleicht war sie ja auch gar nicht in ihrem Zimmer.

Ich ließ den letzten Kiesel fallen und rannte zur Hintertür. Da sie wie immer unverschlossen war, betrat ich das Haus. Sie saß auch nicht vor dem Fernseher oder naschte irgendetwas in der Küche. Ich hastete die Treppenstufen hinauf, und mein Bauchweh wurde mit jeder Sekunde stärker.

Ihre Zimmertür stand einen Spalt offen, also spähte ich hinein. »Grace?«

Eine große Beule unter ihrer Bettdecke bewegte sich.

»Gracie, was machst du denn da?« Ich betrat das Zimmer und hob die Decke.

Sie kauerte darunter, die Arme fest um die angewinkelten Knie geschlungen. Ihre Augen waren ganz verquollen, die Wangen tränenverschmiert.

Am liebsten hätte ich auf irgendetwas eingedroschen.

»Darf ich mit in deine Deckenfestung?«

Sie schniefte. »Sie ist aber nicht besonders gut.«

»Willst du eine bessere bauen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Es machte mich fuchsteufelswild, sie so traurig zu sehen.

Ich hob die Decke noch ein Stück weiter an und kroch darunter. Sie rückte beiseite, um mir Platz zu machen, und wir legten die Decke wieder über unsere Köpfe. Darunter war es warm, aber es roch gut. Nach Waschseife.

»Meine Mom ist sauer auf meinen Dad«, erklärte sie mit leiser Stimme.

»Weißt du, wieso?«

»Er sollte mit mir in den großen Zoo in Seattle gehen. Jetzt sagt er, dass er nicht kann.« Sie schniefte wieder. »Warst du schon mal in diesem Tierpark?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Mom meinte, dort gäbe es Zebras, Giraffen und Gorillas. Und man kann den Pinguinen dabei zusehen, wie sie im Wasserbecken schwimmen.«

Ich dachte kurz nach. »Na ja, wenn dein Dad dich nicht dorthin mitnehmen kann, dann mach ich das eben. Es dauert nur noch fünf Jahre, bis ich den Führerschein mache. Ich wette, Grandad leiht mir den Truck, dann fahren wir hin. Nur wir beide.«

Sie lächelte zaghaft. Sogleich fühlte ich mich besser. Und wollte sie noch mehr zum Lächeln bringen.

Ich kramte in meiner Tasche. Vielleicht fand ich da ja noch irgendeinen Rest von unserem letzten Ausflug zum Sugar Shack, unserem Süßwarenladen. Ich ertastete ein paar leere Papierchen, fand aber dann noch einen letzten Streifen Kaugummi.

»Hier.« Ich hielt ihn ihr hin. »Ist mein letzter. Willst du ihn?«

Sie lächelte wieder und nahm ihn. »Danke. Teilen wir ihn uns doch.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, öffnete sie die Silberfolie und riss den pinkfarbenen Streifen in zwei Teile. Einen gab sie mir und steckte sich den anderen in den Mund.

Kaugummi machte eine Menge wieder gut.

Nun, da wir beide darunter hockten, wurde die Luft unter der Decke immer heißer und stickiger. Ich warf sie beiseite und hüpfte vom Bett herunter.

»Komm. Gehen wir.«

Sie richtete sich auf und wischte sich die Augen. »Wohin?«

»Raus.«

Ich griff nach ihrer Hand und half ihr vom Bett herunter. Kaugummischmatzend rannten wir die Treppe hinunter und schlüpften durch die Hintertür ins Freie.

Vorn dröhnte immer noch die Stimme ihres Dads, und sie zuckte zusammen. Mein erster Instinkt war, sie von dem Gezänk wegzuschaffen, aber er machte mich so megasauer. Er sollte mit ihr in den Zoo gehen, und stattdessen brachte er sie zum Weinen. Was für ein blödes Arschloch!

Ich nahm ihre Hand und führte sie am Haus entlang zum Vordereingang.

»Wo gehen wir hin?«, flüsterte sie.

»Ich habe eine Idee.«

Neben der Veranda hielten wir an und duckten uns ganz tief, damit sie uns nicht entdeckten. Miss Naomi hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah wütend aus. So wütend, dass man Angst bekommen konnte. Wenn Grace’ Mom so ein Gesicht machte, standen die Zeichen auf Sturm. Dann saß man ganz schön in der Tinte.

Ihr Dad stand mit dem Rücken zu uns und verschränkte die Arme vor der Brust. Aber was noch wichtiger war: Sein Auto parkte ganz in der Nähe.

Ich holte den Kaugummi aus dem Mund und streckte meine Hand aus: »Gib mir deinen auch.«

»Aber er schmeckt noch.«

Ich grinste. »Vertrau mir.«

Als könne sie meine Gedanken lesen – und manchmal glaubte ich, dass sie es tatsächlich konnte –, erwiderte sie mein Lächeln und gab mir ihren zerkauten Kaugummi. »Tu’s.«

Ich matschte unsere beiden Kaugummistücke zusammen und beobachtete Miss Naomi. Ich würde mich beeilen müssen und konnte nur hoffen, dass sie mich nicht entdecken würde.

»Lass dich nicht erwischen«, flüsterte Grace.

»Bestimmt nicht. Aber falls doch, lauf einfach weg. Ich werde ihnen nicht verraten, dass du hier warst.«

In gebückter Haltung hastete ich zum Wagen. Die Erwachsenen stritten unverdrossen weiter. Ich zog den klebrigen Kaugummi in die Länge, damit er breiter wurde, und klebte ihn über den Türgriff an der Fahrerseite, genau an die Stelle, wo er zupacken würde.

Grace schlug sich mit der Hand vor den Mund, um ein lautes Kichern zu unterdrücken, als ich zu ihr zurückrannte.

»Los, weg hier!«

Wir fassten einander an den Händen und rannten, was das Zeug hielt, geradewegs auf den Bach zu. Als wir durch das Wasser platschten, weinte Grace nicht mehr. Ihr blondes Haar floss hinter ihr her, und sie lächelte breit.

Wenn sie das tat, bekam ich immer so ein komisches Gefühl im Bauch.

Wir liefen, bis die Stimmen ihrer streitenden Eltern leiser wurden. Das Gras und die Blumen in unseren Gärten gingen in ein Wäldchen aus schmalen Pinien über, deren Nadeln den ganzen Boden bedeckten. Das hier war immer noch unser Territorium, obwohl wir darauf achten mussten, uns nicht zu weit vorzuwagen. In den Bergen gab es Bären und Kojoten und wer weiß noch alles. Ich war ziemlich sicher, dass ich Grace vor einem Kojoten würde beschützen können, aber mit einem Bären wollte ich es nun doch nicht aufnehmen müssen.

Außerdem würden wir Ärger bekommen, wenn wir Gram nicht mehr hören konnten, die uns irgendwann zum Abendessen rufen würde. Der erwartete mich sowieso, weil ich Mr. Miles’ Auto mit Kaugummi verziert hatte, aber das war mir egal. Es war die Sache wert gewesen.

An einem großen Ahornbaum hielten wir an. Es war ein toller Baum zum Klettern. Grace stieg als Erste nach oben, wobei sie flink die niedrig hängenden Zweige erklomm. Sie war die beste Bäumekletterin in ganz Tilikum. Und Höhenangst kannte sie überhaupt nicht. Das war keineswegs der Hauptgrund, warum sie meine beste Freundin war, aber auf jeden Fall einer davon.

Danach folgte ich ihr und kletterte eilig auf einen dicken Zweig, um mich neben sie zu setzen. Ich hatte einen frischen Kratzer am Bein, wahrscheinlich von der Borke, doch er blutete nicht und brannte nur ein bisschen, also ignorierte ich ihn.

Unsere Beine baumelten hoch über dem Boden. Man hatte das Gefühl, dass einem hier oben nichts und niemand etwas anhaben konnte. Niemand konnte uns wehtun. Hier gab es bloß Grace und mich – wir beide gegen den Rest der Welt.

Schweigend lehnte sie den Kopf an meine Schulter und griff nach meiner Hand. Ich legte meine Wange auf ihren Scheitel. Es gefiel mir, wenn sie so bei mir saß. Dann bekam ich das gleiche komische Gefühl im Bauch wie bei ihrem Lächeln. Doch es war ein schönes Gefühl, kein schlechtes.

Ich wünschte, ich hätte ihr noch mehr Kaugummi geben können, aber ich hatte keinen mehr. Also saß ich einfach nur so mit ihr da, ließ die Beine baumeln und hielt ihre Hand.

Kapitel 2 Asher

Im Alter von 21 Jahren

Ich stand am Fenster im Obergeschoss und schaute sehnsüchtig hinaus. Um besser sehen zu können, reckte ich den Hals und hielt mein Gesicht ganz nah an die Scheibe. Ursprünglich hatte ich gar nicht vorgehabt, hier oben herumzustehen. Doch jetzt drückte ich die Hände an den Fensterrahmen und beugte mich weit vor, um einen guten Blick auf das Haus meiner Nachbarn zu haben. Warum ich überhaupt in die erste Etage gegangen war, hatte ich vergessen.

Grace war nach Hause gekommen und wollte den Sommer hier verbringen.

Meine Lippen zuckten und verzogen sich beinahe zu einem Lächeln, während ich beobachtete, wie sie aus ihrem verbeulten Toyota Corolla stieg. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, und sie trug ein weites T-Shirt, abgeschnittene Jeans und Flip-Flops. Vor dem Auto blieb sie stehen, die Hände auf der geöffneten Tür, und sah sich um, als wolle sie alles ganz genau betrachten.

Unsere Häuser standen am Ende eines Privatweges, einer schmalen, holprigen, mit Schlaglöchern übersäten Straße. Das Haus ihrer Mom war neuer als unseres, sah aber nicht so aus. Die vordere Veranda bestand aus einem Flickenteppich aus recyceltem Altholz, mit dem meine Brüder und ich sie repariert und abgestützt hatten, und hätte einen frischen Anstrich dringend nötig gehabt. Der Garten war gepflegt, vornehmlich weil Gram ihn im Grunde wie ihren eigenen umsorgte. In den Blumenkästen grünte und blühte es, und der Rasen wurde regelmäßig von meinen Brüdern und mir gemäht. Dennoch wirkten Haus und Garten müde und erschöpft.

Was wohl Grace darüber denken mochte? Freute sie sich, wieder daheim zu sein? Oder wäre sie lieber in Pullman geblieben, wo sie studierte? Vielleicht wünschte sie sich gerade, dort einen Sommerjob angenommen zu haben, nur um nicht zurückkommen zu müssen. Dann hätte sie sich auch weiterhin mit ihrem Freund treffen können.

Das Lächeln erstarb auf meinen Lippen, und grimmig runzelte ich die Stirn. Grace war mit irgend so einem Scheißkerl zusammen, der mit ihr aufs College ging. Genau genommen hatte ich gar keine Ahnung, ob er wirklich ein Scheißkerl war. Sie hatte ihn nie mit nach Hause gebracht, weshalb ich ihn gar nicht kannte.

Mein Blick huschte zum Beifahrersitz ihres Autos herüber, und mir kam ein furchtbarer Gedanke. Hatte sie ihn etwa mitgebracht?

Ich umklammerte den Fensterrahmen fester. Die Vorstellung, den Sommer damit zu verbringen, Grace mit ihrem College-Freund zu beobachten, war so ätzend, dass ich am liebsten meine Faust ins Glas gerammt hätte.

Nicht dass ich das Recht gehabt hätte, wütend darüber zu sein, dass sie einen festen Freund hatte.

Grace Miles war der Inbegriff des Mädchens von nebenan. Süß, hübsch, klug und ein wenig störrisch, im Grunde so unwandelbar war wie die Berge, in denen wir lebten. Wir waren zusammen aufgewachsen. So lange war es noch gar nicht her, dass das Land, das unsere beiden Häuser umgab, unsere ganze Welt gewesen war. Wir waren einen Großteil unseres Lebens befreundet, aber nie ein Paar gewesen. Und ganz sicher lief da auch jetzt nicht mehr zwischen uns.

Ich lockerte den Griff um den Fensterrahmen. Ihr Beifahrersitz war leer. Kein Freund, kein Scheißkerl oder Schlimmeres.

Ehrlich gesagt wollte ich gar nicht, dass der Typ ein Scheißkerl war. Lieber sollte er ein cooler Typ sein, denn ich wünschte mir vor allem, dass Grace glücklich war. Sie brauchte einen Mann, der phantastisch war – und der sie wie einen Schatz behandelte. Ja, genau das hatte sie verdient.

»Du drückst dir noch die Nase platt.«

Ich wirbelte herum und warf Logan einen wütenden Blick zu. Die Bodendielen hier oben knarrten. Mein Bruder hatte sich also entweder angeschlichen, oder ich war zu abgelenkt gewesen, um ihn zu hören. Wahrscheinlich Letzteres.

»Hey, du fängst gleich eine!«

Er grinste mich an, der großspurige kleine Scheißer. Nicht, dass er immer noch klein gewesen wäre. Er war jetzt achtzehn, und seit ein paar Jahren waren wir gleich groß. Meine Brüder und ich – wir waren zu fünft – hatten allesamt die Statur unseres Vaters geerbt. Keiner von uns war viel kleiner als eins neunzig, nicht mal Gavin, der erst sechzehn war.

Aber ich war der Älteste, hatte also die Stellung und Macht des großen Bruders inne.

»Ein andermal. Heute Abend will ich ausgehen. Schließlich will ich mir das hier nicht versauen.« Logan deutete auf sein Gesicht. »Obwohl ein blaues Auge natürlich ein toller Trick ist, um Mädels kennenzulernen. Vielleicht sollte ich dich ja doch beim Wort nehmen.«

»Du bist ein Idiot.«

Er grinste wieder. »Vielleicht, aber zumindest bin ich kein Stalker.«

Ich machte einen Schritt vom Fenster weg. »Ich stalke sie nicht.«

»Ja, klar.«

Womöglich würde ich ihm ja doch ein Veilchen verpassen. »Halt’s Maul, Arschloch!«

»Jungs, keine Kraftausdrücke!«, drang Grams Stimme nach oben.

Logan und ich runzelten die Stirn. Wir hätten den alten Truck unseres Grandads anwerfen können, dessen Motor so laut war, dass er die Fenster zum Klappern brachte, und sie hätte es kaum registriert. Aber wenn uns in Grams Haus auch nur ein einziger Fluch herausrutschte, der lauter war als ein Flüstern, putzte sie uns herunter.

»Sorry, Gram«, rief ich nach unten.

Logan wanderte zum Fenster hinüber und sah hinaus. »Trotzdem cool, dass sie wieder da ist.«

»Ja.«

Auch wenn mein Gesicht nun nicht mehr an der Scheibe klebte, konnte ich sie gut erkennen. Sie hatte den Kofferraum geöffnet und holte einen großen Koffer heraus. Ihr kleiner Bruder, Elijah, stürmte aus dem Haus, stürzte sich auf sie und umarmte sie überschwänglich. Sie beugte sich herab und gab ihm einen Kuss auf den Scheitel.

»Benimm dich doch nicht so komisch, Mann!«, sagte Logan. »Ist doch nur Grace.«

»Ich weiß, dass es Grace ist, und ich bin nicht komisch.«

Er hob die Augenbrauen. »Das sehe ich.«

Bevor er reagieren konnte, legte ich ihm den Arm um den Hals, zerrte ihn zu Boden und nahm ihn in den Schwitzkasten. Aber er entwand sich meinem Griff und legte mir den Arm um die Taille. Mit den Beinen stieß er sich ab und drängte mich so lange nach hinten, bis mein Rücken gegen die Wand prallte.

Ich richtete mich wieder auf und veränderte meinen Griff. Dann beugte ich mich herab, drehte mich um und warf ihn über meine Schulter. Er landete hart auf dem Bett und riss mit dem Fuß irgendetwas auf dem Nachttisch krachend zu Boden. Wieder drehte ich mich um und warf mich über ihn, Brust an Brust, um meine Überlegenheit zu behalten. Auf der Highschool war ich Ringer gewesen, und jetzt machte ich Jiu Jitsu in einem Kampfsportstudio, war also beim Grappling nach wie vor fit.

In dieser Familie war das auch nötig.

Er grunzte, als ich ihn mit meinem ganzen Körpergewicht auf dem Bett festhielt.

»Könntet ihr vielleicht aufhören, meine Sachen kaputt zu machen?«

Logans Ebenbild funkelte uns von der Eingangstür aus wütend an. Es war sein Zwillingsbruder Levi, der uns mit vor der Brust verschränkten Armen musterte. Die beiden sahen mir ziemlich ähnlich, aber ihre Züge waren kantiger als meine, ihre Wangenknochen schärfer geschnitten. Obwohl sie eineiige Zwillinge waren, hatte ich nie Probleme, sie auseinanderzuhalten. Levi war immer ernst, während Logan stets verschmitzt aussah, als führe er irgendetwas im Schilde.

»Sorry.« Ich stand auf und half auch Logan auf die Beine. Wir befanden uns im Zimmer der Zwillinge, und ich hatte gerade Logan auf Levis Bett geschleudert.

Levi stöhnte und ging an mir vorüber, um die Lampe aufzuheben, die wir heruntergeworfen hatten. Zumindest schien sie nicht kaputt zu sein.

»Grace ist wieder zu Hause«, sagte Logan.

»Ja«, antwortete Levi, ohne seinen Zwillingsbruder anzusehen.

»Wir müssen sie angemessen begrüßen.« Logan grinste und tat, als wolle er sich die Hose herunterziehen und seinen Hintern entblößen.

»Warum sollten wir das tun?«

»Weil es witzig wäre.«

Ich gab Logan einen Schubs. »Lass sie in Ruhe!«

»Ihr beiden seid echt stinklangweilig«, murmelte er leise. Anschließend hielt er kurz inne, als lausche er, ob Gram ihn gehört hatte. Es folgte keine Schimpftirade, woraufhin er grinste. »Gavin macht sicher mit.«

Ich wollte mich gerade erneut auf Logan stürzen – oder vielleicht auch auf Levi, einfach so –, als der Duft nach Erdbeeren aus der Küche nach oben wehte.

Wir erstarrten und rissen vor Begeisterung die Augen auf.

»Backt Gram etwa?«, fragte ich.

Logan nickte. »Riecht wie …«

»Erdbeer-Rhabarber-Kuchen«, führte Levi den Satz zu Ende.

Ich lief zur Tür, aber Logan rempelte mich mit der Schulter an. Levi schob sich an uns vorbei, und dann drängelten wir uns hinaus, denn jeder wollte als Erster in der Küche sein.

Wir polterten die alte Holztreppe hinab, wobei wir uns anstießen und schubsten wie eine Horde ungezogener Jungs und nicht wie drei im Grunde erwachsene Männer. Der verlockende Geruch wurde stärker. Wir platzten gerade in dem Augenblick in die Küche, als Gram einen Kuchen aus dem Ofen zog und ihn auf ein Abkühlgitter neben einen weiteren stellte. Trotz des Lärms, den wir auf der Treppe veranstaltet hatten, warf sie uns nur einen kurzen Blick über die Schulter zu.

Ihr ehemals langes schwarzes Haar war mittlerweile silbergrau. So lange ich denken konnte, trug sie es zu einem langen Zopf geflochten, der ihr den Rücken hinabhing. Obwohl sie erst vor Kurzem siebzig geworden war, war ihre dunkle Haut kaum gealtert, und sie hielt sich nach wie vor kerzengerade. Was ein wenig überraschend war, wenn man bedachte, dass sie fünf widerborstige Jungs hatte aufziehen müssen, Jahre nachdem ihre eigenen Kinder schon erwachsen gewesen waren.

Sie behauptete, die Bergluft, Unmengen von Bacon und die Tatsache, dass sie die Nachfahrin amerikanischer Ureinwohner war, hätten sie jung gehalten. Ich neigte eher zu dem Schluss, dass sie einfach zu halsstarrig war, um sich vom Alter unterkriegen lassen zu wollen.

Seit zwei Jahrzehnten nannte jeder, der sie kannte – ob mit ihr verwandt oder nicht – sie einfach nur Gram. Aber bevor sie meinen Grandad Frank Bailey geheiratet hatte, hieß sie Emma Luscier, Nachfahrin der Chelan und Wenatchi. Ihre Vorfahren hatten unzählige Generationen lang in den Cascade Range Mountains gelebt.

Gavin saß bereits an dem großen rechteckigen Küchentisch, den unser Großvater aus dicken Planken selbst gebaut hatte. Die Stühle davor waren stabil, jedoch vom jahrelangen Gebrauch abgenutzt. Kerben im Holzboden zeugten von den zwei Generationen von Kindern, die in diesem Haus aufgewachsen waren.

Unser jüngster Bruder sah aus wie ein Klon von uns anderen. Dunkle Haare, braune Augen, olivfarbene Haut. Und er grinste ständig vor sich hin. Momentan trug er das Haar so lang, dass es ihm bis in die Augen fiel, und sein Gesicht war ein bisschen rundlich, weil er seinen Babyspeck noch nicht ganz abgelegt hatte. Wenn ich ihn richtig auf die Palme bringen wollte, nannte ich ihn Babyface.

»Der Kuchen muss erst mal abkühlen«, verkündete Gram. »Und ihr braucht euch gar nicht darum zu streiten. Ich habe jede Menge gebacken. Zwei sind noch gar nicht fertig.«

Dass nicht genug für alle da war, war auch gar nicht der Grund gewesen, warum wir auf dem Weg nach unten versucht hatten, einander abzudrängen. Mit fünf Jungs im Haus machte Gram immer genug, um eine ganze Armee satt zu bekommen. Wir taten es einfach aus Gewohnheit. Bei Brüdern gehörten Raufereien nun mal dazu, ganz nach dem Motto: Was sich liebt, das neckt sich.

Logan stellte sich hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Wenn es so köstlich riecht, können wir einfach nicht anders. Außerdem bin ich kurz vorm Verhungern.«

»Du hast doch gerade erst zu Mittag gegessen.«

»Ich bin heute Morgen fast acht Kilometer gelaufen.« Er lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und nahm sich einen Apfel aus einer Schüssel.

»Willst du etwa eine Medaille dafür?«, fragte Levi.

Grinsend warf ihm Logan den Apfel an den Kopf. Levi fing ihn auf und warf ihn zurück.

»Lauf und hol Evan!«, meinte Gram.

Logan biss in den Apfel. »Wer von uns?«

»Ihr alle.«

»Wo ist er denn hin?«, fragte Levi.

Gavin deutete mit dem Daumen auf die Tür. »In den Wald. Ich habe vorhin mitbekommen, wie er in die Richtung gegangen ist.«

Evan war gern allein und wanderte durch die Wälder hinter unserem Haus. Seit zwei Jahren ging er aufs College und war vor ein paar Tagen nach Hause gekommen, aber obwohl wir uns ein Zimmer teilten, wenn er hier war, hatte ich bislang nicht allzu viel von ihm zu sehen bekommen.

»Na los«, rief Gram und verscheuchte uns mit dem Backhandschuh. »Es gibt nicht eher Kuchen, bis ihr euren Bruder zurückgeholt habt, denn sonst esst ihr Vielfraße alles auf und lasst ihm gar nichts übrig.«

Wir stöhnten im Chor, untermalt von dem Kratzen von Gavins Stuhl über den Boden.

Während meine Brüder zur Tür strebten, zögerte ich. Wenn Gram uns wirklich alle vier los sein wollte, würde sie mich auch hinausscheuchen. Aber ich hatte keine Lust, auf der Suche nach Evan in den Wäldern herumzulaufen, also trödelte ich etwas und blieb am Tisch stehen, bis sie mich ebenfalls davonjagen würde.

Doch das tat sie nicht.

Die Hintertür schlug zu. Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich, während sie zwei weitere Kuchen in den Ofen schob.

»Hast du deine Abschlussprüfungen hinter dir?«, fragte sie.

»Ja. Alles durch. Jetzt geht es erst im September wieder los.«

»Wie ist es gelaufen?«

»Ich bin ziemlich sicher, dass ich überall eine Eins kriege.«

Sie schloss den Backofen und legte ihre Backhandschuhe auf die Theke. »Natürlich.«

Im Gegensatz zu Grace und meinem Bruder Evan war ich nach der Highschool in der Stadt geblieben und hatte mich am Tilikum College eingeschrieben. Die Hochschule war gut und verfügte über den besten Studiengang zur Feuer- und Brandbekämpfung im ganzen Land. Logan und Levi würden im Herbst dort ebenfalls anfangen. Wir drei hatten vor, im Brandschutz zu arbeiten. Schon seit meinem Highschool-Abschluss hatte ich bei der freiwilligen Feuerwehr gedient und wollte diesen Weg auch beruflich einschlagen, zunächst Brandschutzingenieur werden und vielleicht sogar irgendwann Feuerwehrhauptmann.

Aber auch wenn das College nicht ganz so gut gewesen wäre, wäre ich geblieben, denn ich hätte es nicht übers Herz gebracht, Gram oder meine Brüder allein zu lassen. Unsere Eltern waren bei einem durch einen Kabelbrand ausgelösten Feuer ums Leben gekommen, als wir noch sehr klein gewesen waren – wir Kinder hatten Glück gehabt, dass wir zu diesem Zeitpunkt nicht im Haus gewesen waren. Danach hatten Gram und Grandad uns bei sich aufgenommen.

Wir hatten ihnen die Sache nicht gerade leicht gemacht. Ob es nun normal war für eine Familie mit fünf Jungs oder ob es daran lag, dass uns der Verlust unserer Eltern zu schaffen machte – wahrscheinlich war es beides –, jedenfalls waren wir ziemliche Rabauken gewesen. Genau genommen sogar richtige Hooligans.

Aber mit der Zeit waren wir erwachsen und ruhiger geworden, zumindest ein wenig. Im Moment jedenfalls strengte ich mich an, mich zusammenzureißen und mein Leben in geregelte Bahnen zu lenken. Als Ältester war ich nach Grandads Tod vor ein paar Jahren nun mal der Mann im Haus. Dabei hatte ich mich nicht immer mit Ruhm bekleckert, doch ich gab mir Mühe.

Trotzdem überlegte ich, ob ich nicht ausziehen und mir eine Wohnung in der Stadt nehmen sollte. Ich war jetzt einundzwanzig und sehnte mich nach einer eigenen Bude.

Aber noch konnte ich mich nicht dazu durchringen, auch nur zwei oder drei Kilometer weit weg zu ziehen.

Gram schnitt ein Stück von dem noch heißen Kuchen ab und trug es zum Tisch. Sie schob mir den Teller hin und reichte mir mit einem Augenzwinkern die Kuchengabel.

»Was ist los, Schatz?«

»Nichts.«

»Hmmm.« Sie holte sich ihre Teetasse von der Anrichte und nahm mir gegenüber Platz. »Grace ist nach Hause gekommen und will den Sommer hier verbringen.«

»Ja, ich weiß.«

»Du solltest nebenan mal anklopfen und sie besuchen.«

Ich schob mir einen Bissen in den Mund, ohne ihr in die Augen zu sehen. »Wahrscheinlich hat sie jede Menge zu tun. Irgendwann schaue ich sicher mal vorbei.«

Gram gab keine Antwort, sondern beobachtete mich lediglich scharf, während ich aß.

»Was?«

»Nichts.« Sie nippte an ihrem Tee.

»Gram, hör auf. Das machst du jedes Mal, wenn sie in den Ferien heimkommt. Wir sind Freunde, mehr nicht.«

»Auch Freunde können sich freuen, sich nach langer Zeit wiederzusehen.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Es ist okay, dass du sie vermisst, Schatz«, sagte sie mit sanfter Stimme.

Damit meinte sie nicht, dass ich sie vermisste, weil ich sie seit Weihnachten nicht mehr gesehen hatte, und das wusste ich. Sie meinte, dass ich unser früheres Zusammensein vermisste. Wir hatten einander nicht einfach nur nahegestanden, wir waren unzertrennlich gewesen. Als Kinder waren Grace und ich die besten Freunde gewesen.

Aber diese Zeiten waren vorbei.

Schweigend saßen wir eine Weile da. Gram nippte an ihrem Tee, während ich das Kuchenstück verschlang. Es war die perfekte Mischung aus säuerlich und süß mit einer knusprigen Kruste, die auf der Zunge zerging.

Doch auch als ich aufgegessen hatte, wollte mir Grace nicht aus dem Kopf gehen. Bei unserem letzten Zusammentreffen hatte sich der Abstand zwischen uns so groß wie eine Schlucht angefühlt. Das war ätzend gewesen, aber danach war sie wieder an die Uni zurückgekehrt, und ich hatte jeden Gedanken an sie verdrängt. Da ich ziemlich beschäftigt gewesen war, war mir das nicht schwergefallen. Jetzt war sie allerdings wieder zu Hause, und ich musste mich der Wahrheit stellen.

Ich hatte eine Schwäche für Grace. Schon seit Langem. Aber das hatte ich ihr nie gesagt. Ich hatte es überhaupt niemandem verraten.

Dafür hatte ich durchaus meine Gründe gehabt, die nun jedoch keine Rolle mehr spielten. Sie war mit einem anderen zusammen. Bereits in ein paar Monaten würde sie wieder nach Pullman zurückkehren. Und der kommende Sommer würde womöglich der erste sein, in dem sie überhaupt nicht wieder heimkam.

Die Vorstellung, dass Grace nicht mehr in meinem Leben wäre, verdarb mir die Laune vollends. Vielleicht brauchte ich noch ein Stück Kuchen.

»Schmeckt toll.« Ich deutete auf den leeren Teller, stand auf und trug ihn zur Theke, auf der die anderen Kuchen gerade abkühlten.

»Denk nicht mal dran, Schatz.« Gram drohte mir mit dem Finger. »Wenn du noch mehr willst, dann lauf und pflück mir noch ein paar Erdbeeren.«

»Es sind doch noch zwei Kuchen im Ofen.«

»Bestimmt haben wir bald Gesellschaft.« Sie nippte wieder an ihrem Tee. »Am besten gehst du jetzt nach nebenan und bittest Naomi und die Kinder, herüberzukommen, bevor deine Brüder zurückkommen und über alles herfallen.«

Ich warf Gram einen Blick zu. Als sie mir das erste Kuchenstück gab, hätte ich bereits wissen müssen, dass sie irgendetwas im Schilde führte.

»Na los«, rief sie und scheuchte mich mit einer Handbewegung aus dem Zimmer. »Ich will dir das nicht zweimal sagen müssen.«

Mit leisem Lachen stellte ich meinen Teller ins Spülbecken und hob ergeben beide Hände. »Okay, okay. Ich gehe ja schon.«

Ich gab Gram einen Kuss auf den Scheitel, dann verließ ich das Haus, um Naomi und Elijah – und Grace – zum Kuchenessen einzuladen.

Kapitel 3 Grace

Wenn ich von der Uni nach Hause kam, hatte ich stets gemischte Gefühle.

Einerseits war es schön, meine Familie wiederzusehen. Meine Mom und ich standen einander nahe, und während ich in Pullman war, vermisste ich sie. Mein kleiner Bruder Elijah wuchs so schnell, dass er jedes Mal, wenn ich ihn sah, wieder ein Stück größer geworden war. Und ich liebte meine Heimatstadt. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die weggezogen waren, weil ihnen der Ort, an dem sie aufgewachsen waren, verhasst war. Tilikum war zwar skurril, aber dort war ich daheim.

Andererseits hatte ich mich durch das Studium weiterentwickelt, und zurückzukehren fühlte sich stets wie ein großer Rückschritt an. Als ob dieses Haus und diese Stadt sich meinen Bemühungen, erwachsen zu werden, widersetzten. Ich war dabei, herauszufinden, wer ich war und was ich mir vom Leben wünschte. Und hier fiel mir das schwer.

Ich nahm einen Stapel T-Shirts aus meinem Koffer und legte sie in die geöffnete Schublade meiner Kommode. Dass ich jetzt wieder in meinem alten Kinderzimmer wohnte, verstärkte nur das Gefühl, von der Vergangenheit eingeholt zu werden. Hier hatte sich nicht allzu viel verändert. Immer noch das gleiche Doppelbett an der Wand. Die gleiche pinkfarbene Tagesdecke, die schon seit Jahren darüberlag. Eine weiß getünchte Kommode und ein ebensolches Nachttischchen mit pinkfarbenen Schubladenknöpfen. Ein verschrammter Schreibtisch, den wir bei einem Garagenverkauf gefunden hatten, als ich zwölf war. Letztes Jahr hatte ich zumindest mal meine ganzen alten Poster abgenommen. Darauf waren vornehmlich Boygroups und die Schauspieler einer meiner damaligen Lieblingsserien zu sehen gewesen. Nun waren die Wände beinahe nackt.

Mein Blick huschte zu der Pinnwand über meinem Schreibtisch. Dort hing nach wie vor eine Fotocollage. Ich als Siebzehnjährige, in den Armen den neugeborenen Elijah. Ein weiteres Bild von meinem kleinen Bruder, das letzten Sommer in Grams Küche aufgenommen worden war. Ein paar Aufnahmen von mir mit meinen Freundinnen aus der Highschool, natürlich in unseren Abschlusskleidern. Wir waren als Gruppe auf den Abschlussball gegangen, statt uns mit Jungs zu verabreden.

Aber vornehmlich zeigten die Fotografien mich zusammen mit Asher.

Wir beide bei der Abschlussparty, die die Baileys in Grams Garten für mich gegeben hatten. Wir beide als Mittelschüler auf dem Rücksitz des alten Trucks seines Grandads. Ein Bild von uns mit zehn und elf, mit schmutzigen Gesichtern und abgeschürften Knien, wie wir auf den Zweigen des großen Baumes draußen am Bach herumsitzen.

Mein Lieblingsfoto ist eines, das meine Mom an meinem achten Geburtstag aufgenommen hat. Asher hatte sich über irgendetwas aufgeregt – heute konnte ich mich nicht mehr erinnern, was ihn so auf die Palme gebracht hatte – und war allein hinausgestürmt. Ich hatte ihm einen Luftballon mitgebracht, um ihn aufzuheitern. Als ich ihm den Luftballon gab, hatte Mom einen Schnappschuss gemacht: Wir beide standen etwa einen Meter auseinander, streckten einander die Arme entgegen, während der Luftballon zwischen uns schwebte.

Ich hörte auf, auszupacken, und wanderte zum Fenster hinüber. Mein Zimmer war das kleinste in unserem kleinen Haus, aber ich hatte immer darauf bestanden, auch weiter hier drin zu wohnen. Und zwar wegen der Aussicht. Dieser Raum lag genau gegenüber von Grams Haus – und Ashers Zimmerfenster.

Als Kinder hatten wir einander immer zugewinkt. Hatten uns im Dunkeln mit Taschenlampen verständigt. Hatten Happy Birthday- und Frohe Weihnachten-Schilder gebastelt und für den jeweils anderen an die Scheiben geklebt.

Irgendwann hatten wir damit aufgehört. Doch jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, ertappte ich mich dabei, wie ich zu dem gläsernen Viereck gegenüber hinübersah. Wie sehr ich diese Zeiten vermisste.

Ihn vermisste.

Zum letzten Mal hatte ich mich mit Asher an Weihnachten getroffen. Ich hatte mich zwar darüber gefreut, ihn wiederzusehen, wurde aber gleichzeitig auch schmerzhaft daran erinnert, wie sehr sich alles verändert hatte. Wie sehr wir uns voneinander entfernt hatten.

Ich musste an eine Geschichte denken, die Gram mir einmal erzählt hatte – von einem Samenkorn, das in der Erde ruht. Sie hatte gesagt, dass etwas in diesem Samenkorn wisse, wann die Temperatur genau richtig sei, und genau dann würde der Trieb die Hülle durchbrechen. Dann müsse er sich eine Weile durch die Erde kämpfen, sich an Kieseln und anderen Wurzeln vorbeikämpfen, bevor er endlich die Oberfläche durchstoße und der Sonne entgegenstrebe.

Damals hatte ich nicht kapiert, was sie mir damit hatte sagen wollen, doch inzwischen verstand ich es. Erwachsen zu werden war schwer, und manchmal mussten wir uns erst durch Dunkelheit und Schmutz nach oben kämpfen, um unseren Weg zu finden. Asher und ich würden unterschiedliche Wege beschreiten. Letztlich würden wir beide das Sonnenlicht finden, nur an verschiedenen Orten.

»Hey, Grace?« Meine Mom steckte den Kopf durch die Tür. Wie immer trug sie das dunkelblonde Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, als hätte sie weder die Zeit noch die Energie, sich auch mal eine andere Frisur zu machen. Das hellgraue T-Shirt und die Jeans hatte sie wahrscheinlich schon gehabt, als ich noch klein war. Aber selbst in dieser Kluft sah sie wunderschön aus. »Ich habe Pizza zum Abendessen mitgebracht. Willst du runterkommen?«

»Klar, ich bin gleich da.«

Sie lächelte. »Schön, dich wieder hierzuhaben.«

»Danke, Mom.«

So versessen ich auch darauf gewesen war, meinen eigenen Weg ins Sonnenlicht zu finden, so schwer hatte ich mir die Entscheidung gemacht, anderswo zu studieren. Hier in Tilikum gab es ein durchaus passables College, und ich hätte mir viel Geld sparen können, wenn ich mich dort eingeschrieben hätte. Als Kind einer alleinerziehenden Mutter und eines meist abwesenden Vaters war ich mir der finanziellen Belastung, die ein Studium mit sich brachte, äußerst bewusst.

Aber ich sehnte mich nach Veränderung. Nach einer neuen Umgebung, neuen Leuten, neuen Erfahrungen. Und meine Mom hatte mich ermutigt, in eine andere Stadt zu ziehen. Sie war sogar ganz begeistert von der Idee gewesen. Vielleicht wollte sie verhindern, dass ich letztlich auch hier hängen blieb – so wie sie selbst.

Wieder warf ich einen Blick zu Ashers Fenster hinüber. Ich hatte es nie laut ausgesprochen, aber den entscheidenden Anstoß hatte letztlich er gegeben. In meinem letzten Jahr auf der Highschool war er bereits auf dem College gewesen, und er hatte angefangen, sich mit einem Mädchen zu treffen, das er dort kennengelernt hatte. Da wurde mir eins klar: Wenn ich hierbliebe, dann bedeutete das, Asher dabei zusehen zu müssen, wie er sich ein Leben an der Seite einer anderen aufbaute. Vielleicht nicht mit diesem Mädchen – letzten Endes hatte die Beziehung tatsächlich nicht gehalten –, auf jeden Fall aber mit jemand anderem. Ich wünschte ihm das. Ich wollte, dass er glücklich war. Doch es jeden Tag mit ansehen zu müssen, wäre die reine Folter für mich gewesen.

Auf der Highschool hatte ich wie eine Irre gebüffelt, um gute Noten zu bekommen. Hatte an jeder Menge außerschulischer Aktivitäten teilgenommen, um meine Bewerbungen attraktiver gestalten zu können. Und hatte mich für jedes Stipendium, das es gab, beworben.

Und ich hatte es geschafft. Ich wurde an der Washington State University in Pullman angenommen, die vier Stunden entfernt von zu Hause lag, und hatte genug Fördergelder zusammenbekommen, um über die Runden zu kommen. Mittlerweile hatte ich schon zwei Studienjahre hinter mir. Zwei Jahre hatte ich woanders gewohnt – an einem Ort, an dem niemand meine Vorgeschichte kannte. Wo keiner wusste, dass mein Vater meine damals neunzehnjährige Mutter geschwängert und ihr dann versprochen hatte, sie zu heiraten, was er aber niemals getan hatte. Wo keiner wusste, dass ich immer die Brave gewesen war. Die Streberin, die auf der Highschool mehr Zeit damit verbracht hatte, an ihrem Lebenslauf herumzufeilen, als mit Freunden auszugehen.

Es war ein Neuanfang gewesen. Ich fand neue Freunde. Hatte Dinge getan, die mir in meinem Heimatort sicher niemand zugetraut hätte. Ich hatte mir einen falschen Ausweis besorgt und damit Bars besucht. Hatte mein Haar eine Weile pink gefärbt. War als Meerjungfrau verkleidet auf die Party einer Studentenverbindung gegangen. In den Osterferien hatte ich einen spontanen Roadtrip mit ein paar Freunden nach New York unternommen. Wir hatten uns am Steuer abgewechselt und in zweiundvierzig Stunden über viertausend Kilometer zurückgelegt. Hatten ein paar Tage in der Stadt verbracht und waren dann den ganzen Weg wieder zurückgefahren.

Ich war sogar mit ein paar Typen ausgegangen. Auf der Highschool hatte ich mit Dating nicht allzu viel am Hut gehabt, weshalb das eine ganz neue Erfahrung für mich gewesen war. Und es hatte Spaß gemacht. Keine der Beziehungen hatte allzu lange gehalten, aber ich hatte auch gar kein Interesse an etwas Ernstem. Und mit meinem letzten Ex war ich immer noch befreundet; es funktionierte also hervorragend.

Obwohl ich mich ausgiebig amüsierte – und zugegeben: gerade am Anfang meiner Studienzeit war ich ziemlich ausgeflippt –, blieben meine Noten gut. Ich wollte schließlich meine Stipendien nicht riskieren. Bis zum Abschluss hatte ich mindestens noch zwei Jahre vor mir, und dann … eigentlich hatte ich keine Ahnung. Nach wie vor schien die Zukunft in weiter Ferne zu liegen – wie etwas, das ich nur dann undeutlich ausmachen konnte, wenn ich angestrengt die Augen zusammenkniff. Zwar wusste ich nicht so recht, wie sie aussehen würde, war allerdings fest entschlossen, meinen eigenen Weg zu gehen.

Ich räumte noch ein paar weitere Gepäckstücke ein – vornehmlich Klamotten, Bücher und irgendwelche Kleinigkeiten. Manches aber beließ ich in der Plastiktüte, die ich auf dem Rücksitz meines Autos hertransportiert hatte – und schob diese vorläufig nur in eine Ecke. Im Grunde hatte es keinen Zweck, alles auszupacken, denn in ein paar Monaten würde ich ohnehin wieder abreisen.

Elijah rannte die Treppe hinauf und machte dabei so viel Lärm wie ein ganzes Rudel fast Vierjähriger. Er platzte in mein Zimmer, und sein dunkles Haar hing ihm tief in die Augen.

»Kommst du?«

»Ja, Kleiner. Gleich.«

»Mom sagt, es ist Essenszeit.«

»Okay, okay, ich komm ja schon.«

Ich folgte Elijah die Treppe hinab und durch das chaotische Wohnzimmer. Die Spielzeugkiste quoll förmlich über, so dass das Spielzeug vor Couch und Sessel den gesamten Boden bedeckte. Das Mobiliar war neuer als das, was wir in meiner Kindheit gehabt hatten. Ein paar Jahre vor Elijahs Geburt war mein Vater plötzlich wieder in Moms Leben aufgetaucht und hatte versucht, sie zurückzugewinnen. Er hatte alles Mögliche im Haus repariert und uns neue Möbel gekauft. Und eine Zeit lang war es ihm sogar gelungen, uns zum Narren zu halten.

Dann hatte er uns auf eine Kreuzfahrt mitgenommen, und neun Monate später hatte ich einen kleinen Bruder bekommen. Aber Dad war nicht geblieben – natürlich nicht. Elijah war noch ein Baby gewesen, als Mom sich ein für alle Mal von ihm losgesagt hatte – zumindest hoffte ich das. Seither hatten wir bis auf die Unterhaltsleistungen nichts mehr mit ihm zu tun.

Irgendwie hasste ich diese Möbel. Sie erinnerten mich ständig daran, dass ich meinem Vater niemals genug bedeutet hatte, um zu bleiben.

Der Küchentisch jedoch war ein Geschenk von Gram und Grandad Bailey gewesen, das sie uns gemacht hatten, als ich noch klein war. Um das runde dunkelbraun gebeizte Stück standen vier dazu passende Stühle. Im Vorbeigehen fuhr ich mit den Händen über eine der Rückenlehnen.

Mom war in der Küche und goss Elijah gerade ein Glas Milch ein. Die Pizzaschachtel lag auf der Arbeitsfläche.

»Hoffentlich magst du immer noch so gern Salami«, meinte Mom.

Ich entdeckte den Namen auf der Schachtel – Home Slice Pizza – und runzelte die Stirn. »Salami ist super, aber du darfst dort keine Pizza kaufen. Die Pizzeria gehört schließlich den Havens.«

Sie holte drei Teller aus dem Schrank und stellte sie auf die Theke. »Mensch, Grace! Ich habe keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, wem welche Pizzeria gehört oder auf wessen Seite sie stehen. Diese dämliche Fehde ist sowieso lächerlich.«

Misstrauisch beäugte ich die Pizzaschachtel, als könne sich eine Klapperschlange darin befinden.

Trotzdem hatte sie nicht unrecht. Die Tilikum-Fehde war echt lächerlich. Dennoch ging es hier um Loyalität.

In Tilikum gab es zwei Lager. Das College und seine Umgebung galten als neutrale Zone, aber der Rest der Stadt war gespalten. So war es schon seit Generationen, und es hatte Einfluss auf sämtliche Lebensbereiche. Wo man einkaufte oder aß. Mit wem man befreundet war. Wo man arbeitete. Sogar wo man wohnte. Das alles hing davon ab, auf welche Seite man sich schlug, beziehungsweise für welche Seite die eigene Familie sich einmal entschieden hatte.

Für die Baileys oder die Havens.

Die Ursprünge dieser Fehde waren in den Untiefen der Geschichte und der Stadtmythologie verloren gegangen. Einige behaupteten, alles habe mit einem Mord angefangen. Wieder andere glaubten zu wissen, eine Affäre sei der Ursprung des Ganzen gewesen. Es gab Gerüchte über einen Schatz, der irgendwo in den Bergen vergraben worden war. Über ein junges Paar, das einen Zug bestiegen und auf Nimmerwiedersehen verschwunden war und wütende Familien zurückgelassen hatte. Die Theorien waren ebenso kontrovers wie die gegnerischen Parteien. Sämtliche Stadtbewohner hatten eine Lieblingsseite, und darüber konnte man sich auch schon mal in die Wolle bekommen.

Mittlerweile war die Fehde nicht mehr halb so dramatisch. Es gab keine flüchtigen Liebespaare, keine glühenden Affären und ganz sicher keine Mordfälle mehr. Dennoch gab es klare Grenzen.

Was mich betraf, gehörte ich von jeher zum Team Bailey, und nichts konnte meine Loyalität erschüttern.

»Ich habe sie jetzt nun mal gekauft«, erklärte sie. »Was macht das für einen Unterschied?«

Elijah verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich will nichts davon.«

Mom legte ein Stück auf einen Teller und warf mir einen Blick zu.

Ich nahm den Teller und brachte ihn zum Tisch. »Komm schon, Elijah. Es war nur ein Versehen, dass Mom die falsche Pizza gekauft hat. Es wäre doch Verschwendung, sie einfach wegzuwerfen.«

Seine kleine Stirn legte sich in Falten. »Werden sie sauer auf uns sein?«

»Wer denn?«

»Die Baileys.«

Ich zerzauste ihm das Haar. »Nein, Kleiner. Sie werden nicht sauer sein. An unserer Stelle würden sie die Pizza ebenfalls essen.«

Das schien ihn zu überzeugen. Er schlüpfte auf seinen Stuhl und begann, sich die Pizza in den Mund zu schaufeln.

Ich nahm mir ebenfalls ein Stück, und auch Mom setzte sich zu uns an den Tisch.

»Apropos Baileys. Es überrascht mich, dass sie nicht schon längst hier eingefallen sind, nun, da du wieder zu Hause bist«, meinte Mom.

Ich zuckte mit den Schultern. »Wir sind keine Kinder mehr. Inzwischen kommen sie nicht alle gleich herausgelaufen, wenn ich vorfahre.«

»Wenn ich groß bin, werde ich Feuerwehrmann«, verkündete Elijah mit vollem Mund.

»Ach ja?«, fragte ich.

Er nickte so energisch, dass das Haar auf seiner Stirn auf und ab wippte. »Wie Asher. Und Logan und Levi.«

Mom seufzte. »Wenn ich ihn ließe, würde er diesen Jungs überallhin folgen. Er will alles genauso machen wie sie.«

»Wer ist dein drittliebster Dinosaurier?«, erkundigte er sich.

»Ich …« Ich runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Wer ist denn dein drittliebster Dinosaurier?«

»T-rex.« Er biss noch ein Stück von seiner Pizza ab.

Mom zuckte mit den Schultern. Anscheinend war die Frage nach dem drittliebsten Dinosaurier völlig normal. »Wie geht es Daniel? Vermisst er dich bereits?«

Ich wischte mir mit einer Serviette den Mund ab. »Aber nein. Wir haben uns schon vor einer Weile getrennt.«

»Wirklich? Das tut mir leid. Nach allem, was du mir erzählt hast, schien er ein ganz netter Kerl zu sein.«

»Schon gut. Er war nett, aber das zwischen uns war nichts Ernstes. Und wir sind nach wie vor Freunde.«

»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«

»Ja, Mom. Alles bestens.«

»Wer ist Daniel?«, fragte Elijah.

»Er war Grace’ Freund«, erklärte Mom.

Elijah legte seine Pizzakruste auf den Teller und machte ein ernstes Gesicht. »Ist ein Freund so was zum Heiraten?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Mom. »Manchmal mögen ein Junge und ein Mädchen einander sehr und verbringen viel Zeit miteinander. Und möglicherweise heiraten sie irgendwann sogar, aber vielleicht auch nicht.«

»Oh. Okay, denn Grace wird Asher heiraten.«

Ich sah Mom in die Augen, und im gleichen Moment spürte ich, wie ich rot wurde. »Was?«

Mom lächelte amüsiert. »Ach ja? Warum denkst du das?«

»Ist einfach so. Bekomme ich noch ein Stück Pizza?«

»Ich hole es.« Ich nahm seinen Teller und erhob mich, froh, vom Tisch aufstehen zu dürfen.

Warum hatte diese Bemerkung mich nur so aus dem Konzept gebracht? Ich hätte einfach darüber lachen sollen. Was wusste er schon mit seinen nicht mal vier Jahren?!

Aber es hatte durchaus eine Zeit gegeben, in der ich gedacht hatte, dass ich tatsächlich Asher Bailey heiraten würde.

Ich hatte bereits akzeptiert, dass Asher nicht so für mich fühlte. Wir waren zusammen aufgewachsen. Wie konnte ein Typ eine Frau attraktiv finden, mit der er im Bach Frösche gefangen oder grasbewachsene Hügel hinuntergekugelt war? Mit der er Schneeballschlachten gemacht und Festungen im Wald gebaut hatte? Wahrscheinlich war ich für ihn so etwas wie eine Schwester.

Auf jeden Fall behandelten mich seine Brüder wie eine Schwester, und das hatte sich immer ganz selbstverständlich angefühlt. Im Grunde waren wir schließlich wie Geschwister.

Aber Asher … ihm gegenüber hatte ich immer anders empfunden. In ihm hatte ich nie den Bruder gesehen, nicht mal als wir klein waren. Bester Freund? Ja. Bruder? Nein.

Als ich ein Teenie war, fielen mir ein paar Äußerlichkeiten an ihm auf. Seine muskulösen Arme und seine athletischen Schenkel. Seine braunen Augen, die scharf geschnittenen Wangenknochen und das markante Kinn. Sein bezauberndes Lächeln. Asher sah wahnsinnig gut aus, und es wäre unmöglich gewesen, mich nicht in meinen besten Freund zu vergucken.

Aber er hatte nicht das Gleiche für mich empfunden. Im Gegenteil: Je älter wir wurden, umso mehr trennten sich unsere Wege. Wahrscheinlich war das eine ganz normale Entwicklung. Er hatte andere Mädchen daten und nicht länger mit ein und demselben auf Bäume klettern oder in Schlammpfützen herumplatschen wollen. Und da er niemals mit mir hatte ausgehen wollen, war die Lage jetzt eben so, wie sie nun mal war.

Ich warf Elijah einen verstohlenen Blick zu. Er war noch zu klein, um sich an die Zeit zu erinnern, da Asher und ich unzertrennlich gewesen waren. Warum also hatte er es sich in den Kopf gesetzt, dass wir eines Tages heiraten würden?

Wahrscheinlich, weil mein kleiner Bruder nicht allzu viele Leute außer mich, Mom und die Baileys kannte. Ihm war einfach nicht klar, dass es da draußen eine ganze Welt von Menschen gab und die Tatsache, dass man zusammen mit dem Nachbarn aufwuchs, nicht automatisch bedeutete, einander eines Tages zu heiraten.

Da klopfte es an unsere Haustür, und der Knirps sprang von seinem Stuhl herunter. »Ich mache auf!«

Ich stellte den Teller mit Elijahs zweitem Pizzastück vor seinen leeren Stuhl hin. Er riss die Tür auf, und plötzlich hatte ich Schmetterlinge im Bauch.

Es war Asher.

Kapitel 4Asher

»Asher!« Elijah riss die Tür auf. »Wir haben Pizza, und Grace ist wieder zu Hause.«

»Hey, Kleiner.« Geistesabwesend zerzauste ich ihm das Haar.

Grace stand am Küchentisch und hatte die Hand auf eine Stuhllehne gelegt. Wie üblich trug sie diesen süßen Pferdeschwanz und war barfuß. Sie hatte leuchtend blaue Augen und eine Stupsnase. Mit leicht geöffneten Lippen lächelte sie mich an.

Verdammt, diese Augen. Und dieses Lächeln. Sie brachte das ganze Zimmer zum Strahlen.

Ich machte den Mund auf, um Hi zu sagen – ich musste aufhören, sie anzustarren, bevor die Sache peinlich wurde –, aber Elijah klammerte sich mit den Händen an meinen Unterarm und hob die Beine vom Boden, so dass er daran hing wie an einem Zweig.

»Wow.« Ich spannte die Muskeln an, um ihn festzuhalten, und hob ihn in die Höhe. »Ich habe einen Affen am Arm.«

»Elijah, lass das!«, meinte Grace.

Ich trug den an meinem Arm baumelnden Jungen herein. »Wie schade, dass hier nur dieser Affe ist und keine kleinen Jungs.«

Elijah lachte. »Warum?«

»Weil Gram Kuchen gebacken hat, und Affen bekommen keinen Kuchen.«

Sofort landeten die Füße des Jungen auf dem Boden, und er ließ mich los. »Ich bin ein Junge. Bekomme ich Kuchen?«

»Keine Ahnung. Da musst du wohl Gram fragen.«

Ohne noch etwas zu sagen, stürmte Elijah zur offenen Tür hinaus.

»Tut mir leid, dass ich euch beim Essen störe. Gram hat mich gebeten, euch zum Kuchenessen herüberzuholen, bevor meine Brüder alles verputzt haben.« Ich deutete mit dem Daumen auf das Haus hinter mir.

»Kein Problem. Elijah ist sicher schon satt, immerhin hat er ja ein Stück gegessen.« Naomi lächelte und erhob sich, wobei sie sich die Hände an einer Serviette abwischte. »Ich trag ihm mal besser seine Schuhe hinterher. Er ist nämlich auf Socken unterwegs.«

Naomi griff nach Elijahs Schuhen und verließ das Haus, und wieder wanderte mein Blick zu Grace hinüber. Sie hatte sich auf mich zubewegt, oder ich mich auf sie, oder vielleicht auch beides gleichzeitig. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, nur dass wir keine dreißig Zentimeter mehr voneinander entfernt standen.

»Hey. Schön, dich zu sehen.«

Ihre Mundwinkel hoben sich, und der Ausdruck ihrer Augen versetzte mir einen kleinen Stich. »Find ich auch.«

Die Luft war plötzlich stickig, als stünde eine unsichtbare Wand zwischen uns. Sie stand nur einen Schritt von mir entfernt, aber genauso gut hätte es ein Kilometer sein können. Ätzend.

Ich breitete die Arme aus und trat auf sie zu, um sie zu umarmen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schlang mir die Arme um den Nacken.

Oh-oh.

Ich hatte Grace bestimmt schon tausendmal umarmt, aber diesmal war es anders. Wir waren anders. Sie war nicht mehr das Mädchen mit den Rattenschwänzen, das mich knuffen würde, sobald ich sie losließ. Sie war eine Frau. Und es fühlte sich gefährlich gut an, ihren Körper an meinem zu spüren.

Ich schloss die Augen und atmete ihren Duft ein. Dann schlang ich die Arme noch enger um sie. Ich musste sie wieder loslassen, wenn die Situation nicht peinlich werden sollte. Denn das war nicht die Art von Umarmung, die man für eine Freundin übrig hatte, die man lange nicht mehr gesehen hatte. Sie war alles andere als freundschaftlich – zumindest nicht von meiner Seite.

Mein Gott, wie sehr ich sie vermisst hatte!

Ein paar Sekunden noch genoss ich die Berührung, dann ließ ich die Arme sinken. Ihre eigenen glitten ebenfalls herab, und sie trat einen Schritt zurück.

»Also …« Sie wandte den Blick ab und zurrte ihren Pferdeschwanz fest. »Gram hat Kuchen gebacken?«

Nach der Umarmung war mir ein wenig schwindelig, doch das ließ ich mir natürlich nicht anmerken. »Ja, alle wollen dich sehen. Kommst du mit nach nebenan?«

Sie ging an mir vorbei und schlüpfte in ihre Flip-Flops. »Wie war das Sommersemester?«

»Gut, aber anstrengend. Ich bin froh, es hinter mir zu haben.«

»Ist bei mir ähnlich. Wie geht es Gram?«

Ich folgte ihr zur Tür hinaus. »Gut. Wie immer eigentlich.«

»Schön. Ich habe sie vermisst.«

»Ja, sie dich auch.«

Wir gingen nebeneinanderher, und sie warf mir einen Blick zu. Eine Sekunde lang hoffte ich, sie würde mir versichern, mich auch vermisst zu haben. Das hätte mir einen Grund gegeben, es ebenfalls auszusprechen. Aber sie wandte nur den Kopf ab und wanderte weiter durch das Gras.

Kaum hatten wir die Veranda erreicht, wusste ich, dass meine Brüder uns zuvorgekommen waren. Lärm drang aus der geöffneten Eingangstür. In den Chor männlicher Stimmen mischte sich das helle Kreischen von Elijah und Naomis Lachen. Grace und ich blieben stehen und tauschten einen Blick, bevor wir uns zu ihnen gesellten.

Wenn sie gesteckt voll war, war Grams Küche immer am gemütlichsten. Als sei sie, anders als andere Küchen, genau dafür gemacht. Elijah thronte am Kopf des Tisches und verspeiste fröhlich ein riesiges Stück Kuchen. Logan saß neben ihm und grinste über das, was der Kleine anscheinend gerade gesagt hatte. Gavin lehnte an der Arbeitsfläche und hielt sich den Teller dicht vors Gesicht, während er Kuchen in sich hineinschaufelte. Selbst Levi runzelte jetzt nicht mehr die Stirn; Grams berühmter Erdbeer-Rhabarber-Kuchen vertrieb sogar seine schlechte Laune.

Offensichtlich hatten meine Brüder Evan gefunden. Er saß am Tisch, aber selbst im Sitzen wirkte er riesig. Mit seinen eins dreiundneunzig und den breiten Schultern schien er jedermann zu überragen. Er war nur ein Jahr jünger als ich selbst, hatte mich allerdings schon vor geraumer Zeit an Größe überholt. Wir Baileys waren alle hochgewachsen, doch Evan sprengte sämtliche Maßstäbe.

»Grace!«

Ich wusste nicht so genau, wer ihren Namen zuerst gerufen hatte. Aber eine Sekunde später wurde sie von meinen Brüdern umringt und umarmt. Elijah hüpfte von seinem Stuhl herunter und schlang die Arme um die Beine eines jeden, dessen er habhaft werden konnte. Der kleine Kerl war immer am liebsten mittendrin.

Genau dieses Szenario war der Grund gewesen, warum ich nie einen Vorstoß bei Grace gewagt hatte. Sie gehörte zur Familie. Ebenso wie ihre Mom und ihr kleiner Bruder. Unsere Leben und die eines jeden, den wir beide liebten, waren eng miteinander verwoben.

Mein Verantwortungsgefühl meiner und ihrer Familie gegenüber hatte mich immer zurückgehalten. Denn was würde sein, wenn irgendetwas schieflief? Wenn Grace und ich eine Zeit lang ein Paar waren, dann aber feststellten, dass es nicht funktionierte – was dann? Menschen, die bereits lange tot waren, hatten aus Gründen, an die sich keiner mehr erinnern konnte, den Grundstein für eine Fehde gelegt, die die Stadt nach wie vor teilte. Schon damals auf der Highschool hatte ich gewusst, dass ich es nicht riskieren konnte, unsere Familien auf ähnliche Weise auseinanderzureißen.

Ich hatte das immer für einen guten Grund gehalten, nur mit ihr befreundet zu bleiben, und es dabei zu belassen. Aber während ich sie nun betrachtete, ihr Lächeln sah und beobachtete, wie sie und meine Brüder einander umarmten, fragte ich mich, ob ich mich geirrt hatte. Ob ich einen Fehler gemacht und meine Chancen bei ihr verspielt hatte.

Denn was, wenn wir zusammen waren und es doch funktionierte?

Seit der Highschool hatte ich mich durchaus mit dem einen oder anderen Mädchen getroffen, doch keine der Beziehungen war ernst gewesen. Tief im Innern hatte ich gewusst, dass es nicht an ihnen lag, sondern an mir. Ich wollte keiner zu nahekommen – trennte mich stets, bevor die Beziehung zu intensiv wurde.

Das Problem war, dass Grace sich schon vor langer Zeit in meinem Herzen eingenistet hatte, so dass es dort keinen Platz mehr für jemand anderen gab.

Diese beschissene Erkenntnis traf mich ausgerechnet jetzt, während ich in Grams Küche stand, umgeben von all den Gründen, warum ich nie aktiv geworden war.