Psychodynamische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen - Arne Burchartz - E-Book

Psychodynamische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen E-Book

Arne Burchartz

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Beschreibung

'Depth psychology-based psychotherapy' is a form of treatment based on psychoanalysis and a therapeutic procedure that is often applied in children and young adults. As a systematic textbook on this form of treatment in paediatric and adolescent psychotherapy, the book closes a gap in the book market. It is presented in the form of systematic notes for use both during training in psychoanalytic and depth-psychology teaching institutes and also in everyday clinical practice. In addition to the scientific foundations, special emphasis is given to practical application in therapeutic reality and in practical care, as well as in institutional contexts (e.g., advisory centres). The structure of the presentation is therefore oriented towards the course of treatment, which is illustrated with numerous practical examples.

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Der Autor

Arne Burchartz, Dipl.-Päd., ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit eigener Praxis. Er ist als Dozent und Supervisor an den Psychoanalytischen Instituten Stuttgart und Würzburg sowie als KBV-Gutachter tätig. Er ist Redakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie«.

Arne Burchartz

Psychodynamische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen

Das tiefenpsychologisch fundierte Verfahren: Basiswissen und Praxis

3., erweiterte und aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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3., erweiterte und aktualisierte Auflage

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-038950-2

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-038951-9

epub:     ISBN 978-3-17-038952-6

Wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit und Abgeschlossenheit unseres Wissens und Könnens; wir sind, wie früher so auch jetzt, immer bereit, die Unvollkommenheiten unserer Erkenntnis zuzugeben, Neues dazuzulernen und an unserem Vorgehen abzuändern, was sich durch Besseres ersetzen läßt.

Sigmund Freud, Wege der Psychoanalytischen Therapie

Geleitwort

Mit dieser Publikation von Arne Burchartz über psychodynamische Therapie bei Kindern und Jugendlichen liegt zum ersten Mal ein Werk zu diesem Thema vor, das von einem erfahrenen Kinderanalytiker verfasst wurde. Der Untertitel »Das tiefenpsychologisch fundierte Verfahren: Basiswissen und Praxis« macht deutlich, dass es sich vor allem um ein Praxisbuch handelt. Ich freue mich sehr, zum Erscheinen dieses wichtigen Buches ein Geleitwort schreiben zu dürfen.

Wie Burchartz in seinem historischen Abschnitt ausführlich beschreibt, hatte bereits Freud vorausgesehen, dass es irgendwann notwendig würde, psychoanalytische Erkenntnisse und seelische Hilfeleistungen allen Menschen zur Verfügung zu stellen. Dann müsste gemäß Freuds Meinung auch die psychoanalytische Technik den neuen Bedingungen (vor allem mit Frequenz und Dauer) angepasst und der »einfachste und greifbarste Ausdruck der theoretischen Lehren« (Freud 1919a, S. 193) gesucht werden.

Fast könnte man glauben, Freud habe unsere Situation nach Schaffung eines Psychotherapeutengesetzes vorausgesehen. Tatsache ist zwar, dass schon vor dem Psychotherapeutengesetz sowohl analytische als auch tiefenpsychologisch fundierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie durchgeführt und abgerechnet werden konnte. Aber das wurde nur selten praktiziert, das Interesse an dieser spezifischen Behandlungstechnik blieb gering.

1999 wurde eine große Gruppe von Psychotherapeuten zugelassen, die ausschließlich tiefenpsychologisch fundiert behandeln und abrechnen durfte. Damit veränderte sich die Landschaft schlagartig. Mittlerweile kann ich drei Gruppen erkennen, die sich im Umgang mit und in der Akzeptanz von tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie grundlegend unterscheiden.

Unter den Psychoanalytikern, sowohl bei den Erwachsenenpsychotherapeuten als auch bei den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, existiert eine kleine Gruppe, welche die psychodynamischen Verfahren nach wie vor ablehnt und als weniger wertvolle Behandlungstechniken einschätzt. Ich halte es für durchaus notwendig, an den psychoanalytischen Standards festzuhalten. Aber es gibt noch andere Aspekte. Veränderte Behandlungstechniken können bei bestimmten Störungen durchaus indiziert und hilfreich sein. Auch stellt sich die Frage der Wirtschaftlichkeit: Wie können wir bei hohem Standard dennoch möglichst vielen Kindern und Jugendlichen hilfreich beistehen? Also gilt es auf der anderen Seite, die Grenzen von psychodynamischen Therapien anzunehmen, um andere Vorteile zu gewinnen. Diese Begrenztheit zu akzeptieren und auszuhalten, ist für Psychoanalytiker oft nicht leicht. Burchartz geht in einem Abschnitt des Buches ausführlich hierauf ein.

Dann gibt es eine zweite Gruppierung, deren Mitglieder ausschließlich zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie zugelassen sind. Die meisten von ihnen leisten gute Arbeit und unterscheiden sich kaum mehr von psychoanalytisch ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen, die tiefenpsychologisch fundiert arbeiten. Bei einigen hat sich jedoch mittlerweile eine gewisse Überzeugung, ja fast Identität entwickelt, eine Therapierichtung zu vertreten, die besser ist als die »verstaubte Analyse«. Psychoanalyse wird nicht selten als etwas betrachtet, das von vorgestern ist, zu umständlich, zu unwirtschaftlich, sie wird gelegentlich als »unbrauchbar« entwertet. Wenn es mittlerweile eine Gruppe gibt, die ausschließlich tiefenpsychologisch fundiert arbeiten kann, so ist schon darum eine Unterscheidung der Therapieformen innerhalb der Psychotherapierichtlinien sowie bei deren Kommentar dringlich zu treffen. Diese Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen werden in diesem Buch sorgfältig diskutiert.

Die dritte Gruppe sieht in allen psychodynamischen Verfahren eine Erweiterung unserer Behandlungskompetenzen und -techniken, und sie kann auch die Grenzen dieser Therapieform annehmen. Ein zentrales Ziel ist es, eine förderliche Ausbildung – eben nicht in irgendeiner Form – auch in den psychodynamischen Techniken anbieten zu können, denn bei der Lehre dieser Behandlungstechniken hat es in der Vergangenheit Versäumnisse gegeben. Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ist eine sinnvolle Variation von Behandlungstechnik und basiert auf den zentralen Grundannahmen oder »Essentials« der Psychoanalyse. Diesen Grundgedanken vertritt Arne Burchartz unbeirrt in seinem Buch, gemäß dem weisen Satz von Freud, dass die wirksamsten und wichtigsten Bestandteile jene bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psychoanalyse entlehnt worden sind.

Wer das Buch von Arne Burchartz liest, wird rasch zur Feststellung kommen, dass er der geeignete Autor für dieses gewichtige Buch über die psychodynamischen Therapien ist. In seinen Grundberufen ist Burchartz Theologe und Diplom-Pädagoge, aus beiden Berufen hat er seine überragenden Qualitäten für den Kinderanalytiker gewonnen, der auch wissenschaftlich tätig ist. Er ist kenntnisreicher Theoretiker, scharfer Denker und dazu eloquent. Vor allem ist er jedoch ein ausgezeichneter, empathischer Kinderanalytiker mit praktischen Erfahrungen in vielfältigen Bereichen. Diesem lang erwarteten Buch ist jener Erfolg zu wünschen, der ihm gebührt.

 

Mundelsheim, im Januar 2012

Hans Hopf

Ergänzung zur zweiten Auflage

Mittlerweile ist der größte Teil der in Deutschland über Krankenkassen finanzierten Psychotherapien tiefenpsychologisch fundiert. Ich habe diesem Buch damals jene Beachtung gewünscht, die es verdient. Zu meiner großen Freude ist eingetroffen, was ich damals gehofft hatte. Das Buch von Arne Burchartz ist das wichtigste Lehrbuch zum Thema »Psychodynamische Psychotherapien bei Kindern und Jugendlichen« geworden. Es begleitet Psychotherapien und hilft beim Entwurf von Behandlungsplänen bei den Berichten zum Gutachterverfahren. Es ist das Standardwerk, sowohl für niedergelassene Psychotherapeuten und Ärzte als auch für alle Institutionen, die künftige Psychotherapeuten ausbilden.

 

Mundelsheim, im Februar 2015

Hans Hopf

Inhalt

Geleitwort

Ergänzung zur zweiten Auflage

Einleitung zur dritten Auflage

1     Kurzer historischer Überblick

2     Zum Begriff Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TfP)

3     Theoretische Grundannahmen

3.1 Die Psychologie des Unbewussten

3.2 Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie

3.3 Die Neurosenlehre: Theorie über die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen

3.4 Die psychodynamische Auffassung von Konflikt und Objektbeziehungen

3.5 Das therapeutische Beziehungsgeschehen als Übertragung und Gegenübertragung

3.6 Die Theorie der Abwehr, die Auffassung des Widerstandes und deren Einbezug in die therapeutische Arbeit

3.7 Die Auffassung von Regression

3.8 Das Ziel, Heilung durch Einsicht und Sinngebung in einer therapeutischen Beziehungsmatrix zu erreichen

3.9 Das Gebot der Abstinenz des Therapeuten

4     Einführung in das Verfahren

5     Von der Erstbegegnung zur Therapieentscheidung

5.1 Die Anmeldesituation

5.2 Das Erstgespräch

5.2.1 Das Erstgespräch mit den Eltern bzw. Bezugspersonen

5.2.2 Die Erstbegegnung mit dem Kind

5.2.3 Besonderheiten im Erstgespräch mit Jugendlichen

5.2.4 Das Erstgespräch mit pädagogischen Bezugspersonen

5.3 Diagnostik

5.3.1 Das Erfassen der Symptomatik und ihrer Auslöser

5.3.2 Die biografische Anamnese

5.3.3 Die Beziehungsgestaltung

5.3.4 Die Psychodynamik des Konflikts

5.3.5 Psychische Struktur

5.3.6 Ressourcen

5.3.7 Behandlungsvoraussetzungen

5.4 Der Fokus in der Psychotherapie

5.5 Indikationsstellung

5.6 Therapieziele

5.7 Der Bericht zum Kassenantrag

6     Der Anfang der Therapie: Grundlagen für die therapeutische Arbeit

6.1 Der Rahmen

6.2 Das Arbeitsbündnis

6.2.1 Das Arbeitsbündnis mit dem Kind

6.2.2 Das Arbeitsbündnis mit den Eltern

6.2.3 Das Arbeitsbündnis mit Jugendlichen

6.3 Die Bedeutung der begrenzten Zeit

6.4 Das Problem in die Therapie bringen

6.5 Das Spiel als therapeutisches Medium

6.6 Der Konflikt in der spielerischen und szenischen Gestaltung

6.7 Die Eltern im Kind – das Kind in den Eltern

6.8 Paarkonflikte und kindliche Neurose

6.9 Die Ressourcen des Kindes/Jugendlichen und seiner Familie

7     Durcharbeiten

7.1 Übertragung und Gegenübertragung: ihre Handhabung in der TfP

7.1.1 Übertragung

7.1.2 Gegenübertragung

7.1.3 Wahrnehmen und Erkennen von Übertragung und Gegenübertragung

7.1.4 Negative Übertragungen

7.1.5 Technische Möglichkeiten der Arbeit mit der Übertragung

7.2 Widerstand

7.2.1 Formen des Widerstandes

7.2.2 Widerstandsphänomene und ihre Bearbeitung

7.3 Die Bedeutung der therapeutischen Beziehungserfahrung

7.3.1 Akzeptanz, Respekt, Wertschätzung

7.3.2 Empathie

7.3.3 Die haltende Funktion des Therapeuten

7.3.4 Containing

7.3.5 Modifizierte Reaktionen auf Emotionen und Affekte des Patienten

7.3.6 Die Reflexion des Beziehungsgeschehens in Übertragung und Szene

7.4 Deutungen

7.4.1 Deutungstechniken

7.4.2 Die Rolle des Therapeuten im Spiel

7.4.3 Den Affekten einen Namen geben

7.4.4 Mentalisieren

7.5 Die Arbeit mit Träumen

7.6 Die interpersonale Dynamik – Arbeit an den »Außenbeziehungen«

7.7 Der Dritte, der Vierte … Der reale Einbezug weiterer Bezugspersonen

7.8 Psychopharmaka und Psychotherapie

7.9 Stabilisieren und unterstützen

8     Die Beendigung der Therapie

8.1 Abschied und Trennung bearbeiten

8.2 Das Erreichte würdigen

8.3 Die Grenzen der Therapie annehmen

Literatur

Verzeichnis der Fallbeispiele

Stichwortverzeichnis

Einleitung zur dritten Auflage

Die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen wird heute als eines der zwei psychoanalytisch begründeten Verfahren angesehen (Dieckmann, Becker & Neher 2021, S. 92f.). Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Analytischer und Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie sind auch im Kindes- und Jugendalter in der Fachdiskussion differenziert herausgearbeitet und begründet. Im Bereich der Erwachsenen-Psychotherapie liegt eine Fülle von Werken vor, welche das tiefenpsychologisch fundierte Verfahren theoretisch und praktisch darstellen (z. B. Dührssen 1988, Heigl-Evers & Ott 1994, Wöller & Kruse 2020, Jaeggi, Gödde, Hegener & Möller 2003, Küchenhoff 2005, Reimer & Rüger 2006, Dreyer & Schmidt 2008, Jaeggi & Riegels 2008, Rudolf 2010, Boll-Klatt & Kohrs 2014, Beutel, Doering Leichsenring & Reich 2010, um nur einige zu nennen). Für Kinder- und Jugendlichen-Behandlungen hingegen ist die Literatur zur TfP immer noch eher spärlich (Seiffge-Krenke 2007, Poser 2010, als Beiträge in Zeitschriften Pfleiderer 2002, Rüger 2002, Streek-Fischer 2002, Einnolf 2004, Burchartz 2004). Dies gilt insbesondere für das Verständnis der TfP als psychoanalytisch begründetes Verfahren. Offensichtlich besteht bei psychoanalytisch orientierten Psychotherapeuten nach wie vor eine gewisse Scheu, sich dieser Thematik gründlich anzunehmen, wiewohl die TfP in der klinischen Praxis eine große Rolle spielt. Einer der möglichen Gründe hierfür mag in der Befürchtung liegen, den verlässlichen Boden der reichhaltigen und differenzierten Tradition der Psychoanalyse des Kindes zu verlassen. Gleichwohl sind in vielen psychoanalytischen Ausbildungsinstituten spezielle Curricula für die TfP, ihre Grundlagen, Indikationen und Behandlungstechniken entstanden. Parallel dazu wächst in vielen TfP-Ausbildungsinstituten das Interesse, sich mit den psychoanalytischen Grundlagen auseinanderzusetzen. Möglicherweise haben diese Entwicklungen dazu geführt, dass das vorliegende Grundlagenwerk mit seinem Bezug zur klinischen Praxis eine starke Nachfrage erfährt, so dass nun eine dritte Auflage erscheint.

Die Darstellung verbindet vor allem aus klinisch-praktischer Erfahrung geronnene Einsichten mit theoretischen Reflexionen, ein Lernzusammenhang, der für die Psychoanalyse typisch ist (vgl. Kahl-Popp 2011). Ein solches Vorhaben bietet den Vorzug der Praxisnähe. Das Buch verfolgt durchaus die Absicht, dem Psychotherapeuten ein Repertoire an gut begründeten Interventionsmöglichkeiten an die Hand zu geben, es ist also kein rein wissenschaftliches Werk und erhebt auch nicht den Anspruch einer umfassenden Darstellung des Standes der Forschung. (Hierzu sei auf Burchartz (2021) verwiesen, in diesem Buch ist auch ein Beitrag von E. Windaus zum Stand der empirischen Forschung.) Beispiele aus der Behandlungspraxis verdeutlichen die Zielrichtung des tiefenpsychologisch fundierten Verfahrens. Diese didaktische Form hat allerdings auch Schwächen. Es könnte der falsche Eindruck entstehen, als sei das vorgeschlagene Vorgehen das einzig »richtige« im Sinne des Verfahrens. Dies zu suggerieren, ist keineswegs die Absicht des Autors. Jeder Therapeut hat seinen eigenen Stil, seine eigene Erfahrung und die daraus gewonnene handlungsleitende Theorie. Die Darstellung von Sequenzen und Vignetten aus der Behandlungspraxis bietet einen Einblick in mögliche Vorgehensweisen, die sich der Autor aus einer gründlichen Beschäftigung mit dem Thema, im Diskurs mit Fachkollegen und aus eigener praktischer Erfahrung erarbeitet hat. Sie sollen ermutigen, in ähnlicher Weise die eigene Arbeit theoretisch und praktisch zu erweitern und zu vertiefen, auch wenn im konkreten Fall ganz andere Interventionen für sinnvoll gehalten werden. Die Authentizität des Therapeuten in seiner Vorgehensweise ist entscheidend, sie ist nicht zuletzt ein wesentlicher Wirkfaktor in der Therapie.

Die Anordnung des Stoffes folgt – das legt der Anspruch der Praxisbezogenheit nahe – dem Prozess der Therapie von ihrem Beginn bis zur Beendigung. Es ist daher kein Zufall, dass das Werk darin anderen Darstellungen ähnelt, die dem nämlichen Prinzip folgen (vgl. z. B. Wöller & Kruse 2020). Im Hintergrund stehen eine Fülle von Anregungen, die aus Arbeiten stammen, die sich mit Theorie und Technik der TfP bei Erwachsenen auseinandersetzen und die wertvolle Anknüpfungspunkte für die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen bieten.

Grundlage der hier vorgetragenen Auffassung der TfP ist das wissenschaftliche und klinische Gebäude der Psychoanalyse. Kollegen, die in der TfP ein von der Psychoanalyse abgetrenntes oder diese erübrigendes Verfahren sehen, werden das Buch vielleicht enttäuscht zur Seite legen. Andere Kollegen, die den Ansatz verfolgen, die Psychoanalyse als Verfahren möglichst ohne Beimischungen anscheinend verfahrensfremder Elemente anzuwenden, werden von einer anderen Richtung her ebenfalls kritische Einwände erheben. Freilich kann auch dann die vorgetragene Sichtweise zu einer – hoffentlich fruchttragenden – diskursiven Auseinandersetzung führen. Gemäß den Grundlagen der Psychoanalyse kann jede Erkenntnis nur vorläufigen Charakter haben, bis sie einer besseren Einsicht zugeführt wird.

Die TfP ist ein störungsübergreifender Behandlungsansatz, von dieser Sichtweise her ist das Buch konzipiert. Entsprechend stammen die Beispiele aus einer Vielfalt von Störungsbildern. Freilich gewinnt das Verständnis störungsspezifischer Dynamiken und ihrer Behandlung auch in psychodynamischen Verfahren an Bedeutung. Es wäre reizvoll, störungsspezifische Vorgehensweisen in der TfP darzustellen. Dies würde allerdings den Rahmen eines Grundlagenbuches sprengen. Die vorliegende dritte Auflage wurde ergänzt durch zwei Kapitel: »Psychopharmaka und Psychotherapie« und »Mentalisieren«. Das schwergewichtige Thema der spezifischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit einem unbewältigten Trauma musste aus dem gleichen Grund zurückstehen – vgl. hierzu Winkelmann (2007) und Burchartz (2019c). Der Leser sei verwiesen auf die Darstellung störungsspezifischer Interventionen in Hopf & Windaus (2007) und Heinemann und Hopf (2015) sowie auf die sukzessive Erscheinung der »Leitlinien« in der Zeitschrift »Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie«, deren Zusammenfassung in einem Band geplant ist. Eine kritische Sicht zur Störungsspezifität und Leitlinienorientierung legt Auchter (2003) dar.

Psychotherapeuten, die in den beiden Verfahren Analytische und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ausgebildet sind, werden an vielen Stellen feststellen: »Aber das machen wir doch in der Analytischen Psychotherapie auch.« Das hört man in theoretisch-technischen und kasuistischen Diskussionen häufig und es ist richtig. Zum einen ist die probatorische Phase bis zur Indikationsentscheidung identisch, auch manche Grundlage wie z. B. das Arbeitsbündnis spielt in beiden Verfahren eine gleichwertige Rolle. Zum anderen finden sich in einer Analyse oder in einer Analytischen Psychotherapie regelmäßig Elemente, die man eher einem tiefenpsychologisch fundierten Vorgehen zurechnen kann. Je nach dem Prozess innerhalb der Beziehung zum Patienten werden auch in einer Analytischen Psychotherapie z. B. zeitweise regressionsbegrenzende, antwortende oder auf das Arbeitsbündnis bezogene Interventionen weiterführend sein. Umgekehrt finden sich auch in einer tiefenpsychologisch fundierten Behandlung Elemente, die dem Vorgehen in einer Analytischen Psychotherapie entsprechen, z. B. Widerstands- und Übertragungsdeutungen. Wir müssen in beiden Verfahren von einer Ergänzungsreihe ausgehen, wobei deren Charakter darin besteht, welche therapeutische Haltung vorherrscht und welche Art der Intervention überwiegt.

Im Austausch mit Ausbildungskandidaten und erfahrenen Psychotherapeuten entsteht regelmäßig das Bedürfnis, im Rahmen einer Falldiskussion die unterschiedliche Arbeitsweise beider Verfahren anhand von Momenten der »Weichenstellung« in der Therapie praktisch darzustellen. Ein solcher Versuch misslingt meistens. Die Intervention eines bestimmten Therapeuten in einem bestimmten Moment der Behandlung mit einem bestimmten Patienten ergibt sich aus einem Prozess, der zwar anhand der Übertragungsdynamik reflektiert und vertieft verstanden werden kann. Was man in einem anderen Verfahren in diesem konkreten Moment hätte »anders machen« können, bleibt aber rein spekulativ. Jede Behandlungssequenz ist eingebettet in einen Prozess mit vielen, v. a. auch unbewussten Determinanten und lässt sich nicht isoliert verstehen oder gar manipulieren. Deshalb verzichtet der Autor darauf, diesem Bedürfnis entgegenzukommen, es erschiene allzu künstlich und entspricht nicht dem Verständnis der Psychotherapie als dynamisches Geschehen innerhalb einer spezifisch und individuell sich konstellierenden Beziehung.

Die meisten Fallbeispiele in diesem Buch sind als wörtliche Rede dargestellt. Das dient der Lebendigkeit und Prägnanz. Sie werden so übernommen, wie sie aus dem Gedächtnis des Therapeuten niedergeschrieben worden sind, entspringen also bereits einer Bearbeitung. Das ist unvermeidlich, denn auch bei größter Sorgfalt und Redlichkeit ist natürlich mit einer gewissen Verfälschung zu rechnen. Das entspricht der Realität eines niedergelassenen Psychotherapeuten, der aus grundsätzlichen, aber auch praktisch-behandlungstechnischen Erwägungen darauf verzichtet, Aufnahmegeräte während einer fortlaufenden Therapie zu verwenden. Aber dies ist kein Mangel. Es entspricht der Erkenntnis, dass das innere Bild, das im Therapeuten vom Behandlungsprozess entsteht, eine Quelle spezifischer Einsicht und Wirksamkeit darstellt. Wollte man ein exaktes äußeres Bild von Behandlungsausschnitten gewinnen, müsste man auf Videoaufzeichnungen zurückgreifen. Aber auch diese sind nicht »objektiv«, da sie auch lediglich Abbilder innerer Prozesse sind, die erschlossen werden müssen. Das gilt erst recht für das bloße gesprochene und aufgezeichnete Wort, bei dem wichtige Vorgänge wie Gestik und Mimik ausgeblendet bleiben.

Die Beispiele sind selbstverständlich anonymisiert und, wo nötig, in einigen Details verfremdet, die der Autor nicht für zentral hält. Der Leser wird ausdrücklich dazu eingeladen, in ihnen auch andere Facetten als die vom Autor benannten zu entdecken.

Das Verfassen eines Textes steht in einem unausweichlichen Konflikt zwischen flüssiger Lesbarkeit und gerechter Sprache. Um Ersterer willen wird durchgängig die männliche Form verwendet, wo auch die weibliche Form oder eine Kombination möglich wäre, in der Hoffnung, der Leser kann sich darauf einlassen, dass in solchen Textpassagen die weibliche Form mit gemeint und gedacht ist.

Viele haben das Buches mit Ermutigung, Gesprächen und kritischen Einwänden begleitet, ihnen sei hier herzlich gedankt; ganz besonders meiner Frau, Angelika Pannen-Burchartz, und Dr. Hans Hopf, dessen unermüdlicher Ansporn eine unverzichtbare Hilfe ist. Ein spezieller Dank geht an die Kolleginnen und Kollegen in der TfP-Forschungsgruppe des Psychonalytischen Instituts Stuttgart, die in langjähriger freundschaftlicher Kollegialität und Zusammenarbeit die Basis zu diesem Buch überhaupt erst gelegt haben. Last not least gilt der Dank auch den Ausbildungskandidaten, die sich dem gemeinsamen Lernen geöffnet haben. Sehr dankbar bin ich Kathrin Kastl, die die dritte Auflage als Lektorin geduldig und sorgfältig begleitet hat.

Wenn das Buch die Diskussion erweitert, die Praxis bereichert und dazu anregt, die vorgetragenen Gedanken kreativ weiterzuentwickeln, hat es seinen Zweck erfüllt.

 

Öhringen, im April 2021

Arne Burchartz

1          Kurzer historischer Überblick

In seinen sog. behandlungstechnischen Schriften (insbes. Freud 1912e, 1913c, 1914g) fasste Sigmund Freud zusammen, welches technische Vorgehen er aufgrund seiner klinischen Erfahrung, die er bis dahin gesammelt hatte, für die Psychoanalyse für grundlegend hält. Damit war ein vorläufiger Kodex für die psychoanalytische Behandlung formuliert. Aber bereits im Jahr 1918 stellte Freud – anknüpfend an Gedanken zur »Aktivität« des Analytikers, wie sie in jener Zeit auch Ferenczi äußerte (1919a, 1919f) – Überlegungen an, »den Stand unserer Therapie zu revidieren … und Ausschau zu halten, nach welchen neuen Richtungen sie sich entwickeln könnte« (Freud 1919a/1918). Das massenhafte neurotische Elend nach dem Ersten Weltkrieg mag hierbei eine Rolle gespielt haben. Anlass war der 5. Internationale Psychoanalytische Kongress in Budapest, bei dem auch Regierungsvertreter anwesend waren; dies mag Freud bewogen haben, seinen Vortrag vorher schriftlich zu fixieren (was er sonst nicht tat). Freud entwickelte seine Gedanken in drei Richtungen: Zum einen, indem er die Möglichkeit ins Auge fasst, die Abstinenzregel zuergänzen, indem der Analytiker die »äußerlich konstellierenden Umstände« (S. 187), die einer Heilung im Wege stehen, zu beeinflussen versucht. Der Analytiker müsse etwa den Verzicht auf Ersatzbefriedigungen fordern, welche die Neurose ablösen, aber nicht zur Heilung führen (z. B. die Reinszenierung in Beziehungen), er müsse aber auch der Verwöhnung durch eine übermäßige Wunscherfüllung in der Übertragung entgegentreten.

Zum anderen betrifft die Aktivität Behandlungen von Patienten, »die so haltlos und existenzunfähig sind, dass man bei ihnen die analytische Beeinflussung mit der erzieherischen vereinigen muss.«(S. 190) Was Freud hier ins Auge fasst, ist mit den Worten der heutigen psychoanalytischen Theoriebildung eine Modifizierung der Behandlungstechnik bei strukturell schwer gestörten Patienten.

Eine dritte Form der Aktivität ist nach Freud in der Symptomatik selbst begründet: »… die verschiedenen Krankheitsformen, die wir behandeln, (können) nicht durch die nämliche Technik erledigt werden« (S. 191). Freud nennt als Beispiel die Phobien, zu deren erfolgreicher Behandlung die Patienten dazu gebracht werden müssten, sich der phobischen Angst-Situation auszusetzen, erst dann werde der Kranke »jener Einfälle und Erinnerungen habhaft, welche die Lösung der Phobien ermöglichen« (S. 191; vgl. Hopf 2009). Weitere technische Modifikationen schlägt er für die Zwangserkrankungen vor.

In demselben Vortrag befasst sich Freud mit der Frage, wie die Psychoanalyse unter den Bedingungen einer breiten Anwendung (»Psychotherapie fürs Volk«, S. 193f.) aussehen werde – wobei er auch »die Kinder, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und Neurose bevorsteht«, im Auge hatte. »Dann wird sich für uns die Aufgabe ergeben, unsere Technik den neuen Bedingungen anzupassen« (S. 193).

Leider hat S. Freud diese Gedanken später nicht mehr aufgegriffen. Allerdings hat er damit wesentliche Probleme der Kontroversen um die Technik in der weiteren Entwicklung der psychoanalytischen Verfahren benannt: die Aktivität des Analytikers in der Behandlung bestimmter Krankheitsbilder und die Anwendung der Psychoanalyse als versorgungsrelevantes Verfahren für psychisch kranke Menschen, die sich den Bedingungen der »tendenzlosen Psychoanalyse« (a. a. O., S. 194) nicht ohne weiteres anpassen können. Cremerius (1993) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich hier der Konflikt zwischen dem Arzt und dem Forscher in der Person Sigmund Freuds selbst zeigt.

1924 erschien der Band »Entwicklungsziele der Psychoanalyse« von Sándor Ferenczi und Otto Rank, beide Schüler und enge Mitarbeiter S. Freuds. Ausgehend von der Überlegung, dass die Wiederholung des neurotischen Konflikts in der Übertragung nicht allein als Widerstand gegen das »Erinnern« zu verstehen ist, sondern folgerichtig ein Ergebnis des Wiederholungszwanges und deshalb unvermeidlich ist und oft gerade die Stücke enthält, »die als Erinnerung überhaupt nicht zu haben sind, so dass dem Patienten kein anderer Weg übrig bleibt, als sie zu reproduzieren« (Ferenczi & Rank 1924, S. 14), fordern die Autoren eine Aktivität des Analytikers »im Sinne einer direkten Förderung der bisher vernachlässigten, ja als störende Nebenerscheinung betrachteten Reproduktionstendenz in der Kur« (S. 15). Damit fordern sie eine aktive Haltung des Analytikers, die sich darauf richtet, das Wiederholen als eine spezifische Form des präverbalen Erinnerns in der Analyse gezielt zu fördern, ja zu provozieren. In seiner Schrift »Weiterer Ausbau der ›aktiven Technik‹ in der Psychoanalyse« empfiehlt Ferenczi, in bestimmten Phasen der Analyse diese Reproduktionstendenzen, um sie innerhalb der Analyse zu halten, dadurch zu fördern, dass dem Patienten bestimmte Gebote oder Verbote auferlegt werden (Ferenczi 1921). Die Ideen von Ferenczi und Rank fanden in der psychoanalytischen Diskussion wenig Resonanz; Freud äußerte sich skeptisch, die Mehrheit der Analytiker lehnte die aktive Methode ab (vgl. Haynal 2000). So blieb das Anliegen über 20 Jahre lang unbearbeitet, bis es von Franz Alexander (damals einer der Kritiker Ferenczis und Ranks) und seinem Kollegen Thomas Morton French, beide am Chicagoer Psychoanalytischen Institut, wieder aufgegriffen wurde (Alexander & French 1946). Alexander und French versuchten eine Komprimierung und Verkürzung des analytischen Verfahrens dadurch zu erreichen, dass sie den Patienten durch gezieltes eigenes Verhalten des Analytikers zu bestimmten Übertragungen provozierten. Bezog sich die Aktivität des Analytikers bei Ferenczi und Rank noch darauf, den Patienten überhaupt zu Reproduktionen in der Analyse zu bewegen bzw. diese zu intensivieren, notfalls durch Eingriffe in sein alltägliches Verhalten, so schlagen Alexander und French vor, bestimmte Übertragungskonstellationen durch gezielte Einflussnahme innerhalb der Analyse hervorzurufen. Beiden Ansätzen gemeinsam ist die Betonung, dass Deutungen allein, sofern sie auf der Ebene des kognitiven Verstehens verharren, keine Veränderung im Patienten hervorbringen; vielmehr bedürfe es einer emotionalen Beteiligung des Patienten, was auch eine emotionale Beteiligung des Analytikers voraussetze (Ferenczi 1999: »Ohne Sympathie keine Heilung«). Die Analyse solle dem Analysanden eine korrigierende emotionale Erfahrung ermöglichen (Alexander & French 1946). Die Autoren betonten, dass in jeder Psychotherapie, sei sie streng analytisch oder abgewandelt, die gleichen psychodynamischen Prinzipien wirksam seien bzw. die Grundlage des therapeutischen Vorgehens abgeben würden.

Wiederum fand der Ansatz von Alexander und French in der analytischen Diskussion keine Aufnahme; die Mehrheit der Analytiker lehnte das Vorgehen als »unanalytisch« ab. Die Antwort erfolgte wenige Jahre später durch die Festlegung einer »rite-Psychoanalyse« durch Kurt Eissler (1953). Setting, Behandlungsfrequenz usw. waren damit für die Psychoanalyse vorläufig in einer Art Ideal-Technik festgelegt, es etablierte sich eine Unterscheidung von »strikter« Psychoanalyse und daraus abgeleiteten Verfahren, die als mehr oder weniger »analytisch« anerkannt bzw. als »unanalytisch« abgelehnt wurden. Im amerikanischen Sprachraum wurden diese Verfahren oft unter dem Begriff »Psychodynamic Psychotherapy« zusammengefasst und sie gewannen hinsichtlich der Versorgungsrelevanz bald größere Bedeutung als die »klassische« Psychoanalyse1 (vgl. zum Begriff »klassisch« in diesem Zusammenhang Haynal 2000, S. 126ff.). Im deutschen Sprachraum war es v. a. Annemarie Dührssen (1988, 1995), die unter dem Begriff »Dynamische Psychotherapie« diese Verfahren weiterentwickelte.

In den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts fand sich eine kleine Arbeitsgruppe um Michael Balint, einem Ferenczi-Schüler, Enid Balint und David Malan zusammen, die eine Verkürzung und Konzentration der analytischen Therapie bei bestimmten Patientengruppen mittels einer Fokusbildung vorschlugen. Ziel der Kurzzeittherapie oder Fokaltherapie sollte es sein, einen umschreibbaren aktivierten zentralen Konflikt zu bearbeiten, ohne einen langwierigen regressiven Prozess einzuleiten. Dazu wurde in der Arbeitsgruppe für einen Patienten ein möglichst prägnanter Fokalsatz gefunden, der den Brennpunkt (Fokus), das Zentrum des Konfliktgeschehens beschreibt und der als roter Faden in der Behandlung dient. Dem Patienten steht es natürlich jederzeit offen, das Material in die Stunden zu bringen, das ihm im Moment naheliegt, weder ist das Prinzip der freien Assoziation noch das der Abstinenz des Analytikers aufgehoben. Auch die Verwertung der Erkenntnisse aus Übertragung, Gegenübertragung sowie Widerstand als Basis des psychoanalytischen Prozesses bleiben erhalten. Die Aufgabe des Analytikers besteht allerdings darin, das Material hinsichtlich des fokalen Konflikts zu sortieren und das aufzugreifen, was zu dessen Bearbeitung dienlich ist. Die Aktivität des Analytikers bezieht sich also auf ein »selektives Aufgreifen« und damit auf eine Konzentration des Prozesses auf das zentrale Konfliktthema des Fokus. Damit war eine Technik gefunden, welche einerseits die analytischen Prinzipien aufrechterhält und auf manipulatives Eingreifen in den Übertragungsprozess verzichtet und andererseits eine Konzentration und Verkürzung des therapeutischen Prozesses erlaubt. Die Bildung eines Fokus kann als das zentrale Arbeitsmittel nicht allein von Kurzzeittherapien, sondern von Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien überhaupt angesehen werden.2

Merke

•  Die heutige Auffassung der TfP ist historisch auf dem Boden der Psychoanalyse gewachsen.

•  Sie entspringt Bemühungen, die Analyse in bestimmten Aspekten weiterzuentwickeln, etwa in der Frage der Aktivität des Analytikers oder der Konzentration des therapeutischen Prozesses.

•  Sie ist das Ergebnis einer Suche nach einem technischen Vorgehen, das solchen Patienten hilft, die aus unterschiedlichen Gründen einer Analyse nicht zugänglich sind.

1     Der Begriff »klassische Psychoanalyse« ist irreführend, impliziert er doch eine Festlegung, die der Psychoanalyse ihrem Wesen nach eigentlich widerspricht. Die psychoanalytische Technik war, ähnlich wie ihr jeweiliger wissenschaftlicher Erkenntnisstand, immer im Wandel. Seit Eissler ist man geneigt, ein bestimmtes Verfahren als »klassische Psychoanalyse« zu bezeichnen, das ist zur Unterscheidung von anderen psychoanalytischen Verfahren hilfreich, sollte aber nicht zu der Ansicht verführen, als sei dieses »Standardverfahren« schon immer die »eigentliche« Psychoanalyse gewesen. S. Freud (1919a): »… wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit und Abgeschlossenheit unseres Wissens und Könnens; wir sind, wie früher so auch jetzt, immer bereit, die Unvollkommenheiten unserer Erkenntnis zuzugeben, Neues dazuzulernen und an unserem Vorgehen abzuändern, was sich durch Besseres ersetzen läßt« (S. 183).

2     Zur Fokusbildung Kap. 5.4 »Der Fokus in der Psychotherapie«.

2          Zum Begriff Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TfP)

In Deutschland wurde die Psychotherapie 1967 als Heilungsverfahren in die Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Neben der psychoanalytischen Therapie wurden auch die Verfahren kassenrechtlich anerkannt, die bislang unter der Begrifflichkeit »Dynamische Psychotherapie« Eingang in die Sprachregelung gefunden hatten. Aus einer gewissen Verlegenheit heraus, wie man Kurzzeitpsychotherapie, Fokaltherapie, Dynamische Psychotherapie und langfristig stützende Verfahren unter einen Begriff fassen kann, wurde die gleichsam »künstliche« Wortkombination »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« eingeführt und festgelegt. Damit entstand eine Begrifflichkeit, die zwar in Deutschland im Rahmen des Kassenrechts verständlich und zur Differenzierung von der Analytischen Psychotherapie notwendig und hilfreich ist, die allerdings keine Entsprechung im internationalen Psychotherapie-Diskurs hat. Von der Analytischen Psychotherapie werden solche Behandlungsverfahren unterschieden, die sich durch eine niedrige Behandlungsfrequenz, Begrenzung der Regression und die Fokussierung auf einen umschriebenen, bewusstseinsnahen Konflikt kennzeichnen lassen (Ermann 2004). Unklar blieb, wie weit sich in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie die TfP von der Analytischen Psychotherapie abgrenzen lässt. In einer früheren, der 6. Auflage des »Kommentar(s) Psychotherapie-Richtlinien« hieß es noch, dass eine »exakte Unterscheidung dieser Behandlungsarten – insbesondere in der Kinderpsychotherapie – nicht begründet werden konnte« (Rüdiger, Dahm & Kallinke 2003, S. 41). Die Tatsache aber, dass seit Einführung des Psychotherapeutengesetzes 1999 einerseits die Zahl der Anträge zur Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter wächst (vgl. Streek-Fischer 2002), andererseits – damit zusammenhängend – eine nennenswerte Zahl der zugelassenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten ausschließlich über eine Qualifikation in diesem Verfahren verfügt, sollte Anlass sein, über diese Auffassung neu nachzudenken. Diese Entwicklung hat ja nicht nur äußere, in der Verfassung des Gesundheitswesens und dessen Interessenkonflikten liegende Gründe. Vielmehr haben sich – wie gezeigt – auf dem Boden der Psychoanalyse eine Reihe von Behandlungsverfahren herausdifferenziert und haben an Bedeutung gewonnen, welche solchen Patientengruppen gerecht werden können, bei denen aufgrund ihrer Struktur, ihres Störungsbildes, ihrer Selbstreflexionsfähigkeit oder auch aus äußeren Gründen eine Analytische Psychotherapie nicht indiziert ist, die aber von einem psychodynamischen Vorgehen (Einsichtsförderung, positive Beziehungserfahrung, Affektdifferenzierung, intrapsychische Konfliktaufdeckung, Analyse der bewusstseinsnahen interpersonellen (Außen-)Konflikte des Patienten, Ressourcenaktivierung etc.) profitieren können (kurze Übersicht in: Wöller & Kruse 2020, S. 9–17, vgl. auch Rüger 2002, Burchartz 2004).

Der Versuch, Analytische und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie auch im Kindes- und Jugendalter schärfer voneinander zu unterscheiden und die jeweiligen Profile herauszuarbeiten, relativiert allerdings den Usus, beiden Verfahren die gleichen Stundenkontingente zuzuordnen. Es sollte neu begründet werden, welcher zeitliche Umfang bei den jeweiligen Verfahren im Rahmen des psychodynamischen Spektrums für sinnvoll gehalten wird. Dabei muss differenziert werden zwischen Kurzzeitpsychotherapien (wie bisher auch), tiefenpsychologisch fundierten und fokussierten Langzeittherapien und langfristig angelegten stützenden und strukturbezogenen Psychotherapien. In jedem Fall sollte beachtet werden, dass Patienten für Veränderungsprozesse ihrer psychischen Konstellationen auch unabhängig von der Frequenz ihren eigenen Zeitrahmen brauchen.

Merke

•  Der Begriff »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« entstand im Zusammenhang mit der Aufnahme der Psychotherapie ins deutsche Kassenrecht.

•  Er bezeichnet von der Psychoanalyse abgeleitete Verfahren, die regressionsbegrenzend und konzentriert auf einen Aktualkonflikt oder auf strukturelle Funktionsstörungen arbeiten.

3          Theoretische Grundannahmen

Das vorliegende Werk versteht die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (im Folgenden abgekürzt »TfP«) als ein psychoanalytisches Behandlungsverfahren. Wenn wir die Psychoanalyse als ein wissenschaftliches System begreifen, das von einer spezifischen Anthropologie und damit auch von einer beschreibbaren Metapsychologie ausgeht, so finden wir unter diesem Dach eine Reihe von Behandlungsverfahren, die sich im Laufe der psychoanalytischen Theorie- und Praxisentwicklung herausdifferenziert haben. Dazu gehören Krisenintervention, psychoanalytisch orientierte Beratung, Kurzzeitpsychotherapie, Fokaltherapie, Dynamische Psychotherapie, TfP, psychoanalytische Paar- und Familientherapie, strukturbezogene Psychotherapie, Analytische Psychotherapie, »tendenzlose« (Freud) Psychoanalyse u. a. Sie alle bilden hinsichtlich der technischen Handhabung von Übertragung und Gegenübertragung, Widerstand und Regression ein Kontinuum und sind nicht vorstellbar ohne die Grundannahmen der psychoanalytischen Theorie und Praxis, die im Folgenden skizziert werden. (Wer sich vertieft mit dem aktuellen Stand der psychoanalytischen Theoriebildung und Behandlungspraxis auseinandersetzen will, dem sei das dreibändige Werk von Mertens (2010–2012), Psychoanalytische Schulen im Gespräch empfohlen). Einen Überblick bietet Burchartz (2021) sowie Burchartz, Hopf und Lutz (2016).

3.1       Die Psychologie des Unbewussten

Die Psychoanalyse fußt auf der Erkenntnis, dass die Motive menschlichen Verhaltens, Fühlens und Denkens sowie deren Einordnung in einen individuellen und kollektiven Sinnzusammenhang der bewussten Wahrnehmung entzogen sind: Sie sind unbewusst. Wie der Mensch sein Leben gestaltet, hängt von einem psychischen Kräftespiel ab, das sich unserer direkten Beeinflussung entzieht. Dies betrifft unsere psychische Befindlichkeit, psychosomatische Phänomene, unseren Alltag, die Organisation unseres familiären und gesellschaftlichen Zusammenlebens und eben auch all das, was wir als psychische Störung oder Krankheit beschreiben. Das Unbewusste lässt sich nicht einfach »bewusst« machen (dann wäre es ja nicht mehr »unbewusst«) – dies wäre auch ein Missverständnis der psychoanalytischen Therapie. Es lässt sich allerdings anhand seiner Manifestationen erkennen und erforschen und teilweise in das Ich integrieren – ein Anliegen, dem sich S. Freud lebenslang gewidmet hat und das in der Geschichte der Psychoanalyse bis heute zu beeindruckenden Ergebnissen geführt hat. S. Freud selbst hat seine Auffassung vom Unbewussten anhand dreier Manifestationen, die auch die Themen seiner grundlegenden psychologischen Schriften bilden, entwickelt: Der Traum, die Fehlleistungen und -handlungen im Alltag und der Witz3. In diesen Untersuchungen konnte er wesentliche Funktionsweisen des Unbewussten herausarbeiten: Das Fehlen sprachlich-logischer Verknüpfungen, stattdessen assoziative Verknüpfungen, Bilder- und Symbolsprache; Verdichtung, Verschiebung und sekundäre Bearbeitung, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Differenzierung in einen Primärprozess, in dem eine direkte Wunscherfüllung gesucht wird, und einen Sekundärprozess, in dem sich entwickelnde Ich-Strukturen und -Fähigkeiten zunehmend die Realitätswahrnehmung und -bewältigung durch Beherrschung der Motilität, Triebaufschub, frühe Denkprozesse, Symbolisierungsfähigkeit etc. übernehmen, gehört ebenfalls zu den ersten Erkenntnissen über das Unbewusste. In einer späteren Phase der Theoriebildung entwickelte Freud das strukturale Modell des Unbewussten: Es, Ich und Über-Ich, wobei ein Teil des Ich – mit der Grenzlinie des Vorbewussten – dem bewussten Erleben und Verhalten zuzuordnen ist. Erweiterungen erfuhr die Theorie des Unbewussten durch die Ich-Psychologie mit der Beschreibung von Abwehrmechanismen (A. Freud 1936) und durch die Objektbeziehungstheorie, v. a. durch M. Klein, D.W. Winnicott u. a., in der die Bildung innerer Objektrepräsentanzen aus dem frühen Austausch zwischen dem Individuum und seinen primären Bezugspersonen untersucht und beschrieben werden. Von den neueren Beiträgen zum Verständnis unbewusster Determinanten sind v. a. die Selbstpsychologie (Kohut 1977), Narzissmus-Theorien (Kohut 1971, Kernberg 1975, Kernberg & Hartmann 2006), die Bindungstheorie (Bowlby 1969, Ainsworth 1977, Grossmann & Grossmann 2004, Brisch 1999 u. a.) und die Untersuchung der Entwicklung der Mentalisierungsfunktion (Fonagy u. a. 2002) hervorzuheben. War lange Zeit in der psychoanalytischen Theoriebildung die Triebtheorie mit ihren Beschreibungen unbewusster Konflikte vorherrschend, so liegt heute ein großes Gewicht auf der Untersuchung psychischer Strukturen, die sich aus unbewussten Verarbeitungsweisen früher Erfahrungen ergeben und die wiederum die Funktionsweise des Ich und die Selbst- und Objektrepräsentanzen beeinflussen. Solche strukturellen Bedingungen sind z. B. die Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt, die Fähigkeit, symbolische Repräsentanzen zu bilden, die Mentalisierungsfähigkeit, Affektwahrnehmung und -steuerung und einige mehr (vgl. OPD-KJ-2 2016).

3.2       Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie

S.Freud teilte die psychische Entwicklung des Menschen triebtheoretisch in psychosexuelle Entwicklungsphasen ein: die orale Phase, die anale Phase, die phallisch-ödipale Phase, die Latenz sowie Pubertät und Adoleszenz. Jeder dieser Phasen ist die Aufgabe der Bewältigung spezifischer Konflikte aus der triebhaften Entwicklung sexueller und aggressiver Natur zugeordnet. Dabei geht es nicht allein um die Integration spezifischer Lust- und Unlusterfahrungen, die durch das Primat der jeweiligen körperlichen erotischen Zonen vermittelt werden. Vielmehr entwickeln sich auch psychosoziale Modi, die diesen sexuellen und aggressiven Triebbefriedigungen bzw. deren Versagung entsprechen: Aufnehmen und Empfangen, das Erleben von Versorgung, Geborgenheit und Sicherheit, aber auch Gier, destruktiver Neid etc. in der oralen Phase; Geben und Nehmen, Zurückhalten und Loslassen, Macht und Kontrolle, Expansionsdrang und Begrenzung von Grandiosität in der analen Phase; die Integration von Liebe und Hass, Rivalität und Ausschluss, die Anerkennung des Dritten etc. in der phallisch-ödipalen Phase.

Freud spricht von einer »zweizeitigen« sexuellen Entwicklung des Menschen: Die Bewältigung der frühkindlichen psychosexuellen Konflikte und die Integration von sexuellen Partialtrieben erfahren in der Pubertät mit der körperlichen sexuellen Reifung eine Neuauflage mit der endgültigen Einordnung der Partialtriebe unter dem Primat der genitalen Sexualorganisation, dem Finden eines (ganzheitlichen) außerfamiliären Sexualobjekts und damit der Ablösung von den primären Objekten. Unterbrochen wird diese Entwicklung von der Latenz, in der die frühen psychosexuellen Konflikte vorläufig zur Ruhe gekommen sind und sich das Kind mit Wissbegier der realitätsgerechten Erfassung der Welt zuwendet mitsamt der Reifung seines Realitätssinns, der kognitiven, körperlichen und kreativen Fähigkeiten.

Das Freud’sche Modell der psychosexuellen Entwicklung hat v. a. E.H. Erikson (1966) mit einem »epigenetischen Entwicklungsmodell« aufgenommen und erweitert. Zum einen beschrieb er die psychische Entwicklung des Menschen über Kindheit und Jugend hinaus bis ins Alter. Zum anderen bezog er die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft in seine Entwicklungstheorie mit ein. Auch Erikson geht von Phasen in der Entwicklung aus, denen er aber bestimmte »Entwicklungsaufgaben« zuordnet. Entwicklungsaufgaben bestehen in der Lösung phasenspezifischer Entwicklungskonflikte, wobei jedoch diese Konflikte in der jeweiligen Phase besonders hervortreten, in anderen Phasen aber implizit wirksam sind.

Im Unterschied zu entwicklungspsychologischen Konzeptionen von Entwicklungsstufen mit je spezifischen Entwicklungsaufgaben (z. B. Erikson 1966) geht A. Freud von Entwicklungslinien aus. Dabei misst A. Freud dem Ich große Bedeutung bei der Meisterung der Entwicklung bei. Entwicklungslinien beschreiben (chronologische und topische) Entwicklungsabfolgen bestimmter Bereiche der Triebentwicklung, der Ich-Entwicklung und der Über-Ich-Entwicklung, die gesondert betrachtet werden können:

Trieb

•  Sexualtrieb: mit der Aufeinanderfolge der libidinösen Phasen: oral, anal-sadistisch, phallisch, Latenz, Vorpubertät, Pubertät, Genitalität

•  Aggressionstrieb: i. d. R. weitgehend der Libidoentwicklung zugeordnet

Ich

•  »Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinns« (Ferenczi 1913)

•  von »primitiven« zu »reifen« Abwehrmechanismen

Über-Ich

•  Aufeinanderfolge von Identifizierungen (Inkorporation – Introjektion – Identifizierung)

•  fortschreitende Internalisierung der elterlichen Autorität

Intellektuelle Entwicklung

•  gemäß den Erkenntnissen der akademischen Psychologie (z. B. Piaget)

Weitere Entwicklungslinien

•  Nahrungsaufnahme

•  Reinlichkeit

•  Körperliche Hygiene/Pflege

•  Beziehung zu Gleichaltrigen

•  Spiel

•  Abhängigkeit

•  …

Anna Freud fasst in der Beschreibung von Entwicklungslinien die Sichtweise der Triebentwicklung und der Entwicklung von Objektbeziehungen zusammen. Entwicklungslinien unterliegen einer Wechselwirkung. In der Betrachtung der individuellen Entwicklung stellt sich die Frage, wie die einzelnen Entwicklungslinien zu einer gemeinsamen Wirkung zusammentreffen. Insgesamt findet eine fortschreitende Anpassung an die Außenwelt (äußere Realität) statt: von der Trieb- und Phantasiefreiheit zur Triebbeherrschung und Rationalität.

Entwicklungslinien sind als »latente Möglichkeit« vorgezeichnet. Ihre Abfolge und die Harmonie bzw. Disharmonie zwischen ihnen werden bestimmt durch die Außenwelt, in der frühen Kindheit durch (innere) Haltungen der Mutter, sowie durch Variationen von Regressionen. Sie verlaufen also nicht einfach linear, sondern eher in Regelkreisen zwischen Innen und Außen, Regression und Progression.

Neuere Sichtweisen in der Entwicklungspsychologie betonen den aktiven Beitrag des Individuums an seiner Entwicklung. Der Mensch verfügt von Geburt an über die Kompetenz, sich nicht allein dem psychischen Milieu seiner Beziehungsumwelt durch spezifische Bewältigungsmuster anzupassen, es formt und gestaltet dieses auch durch psychische Aktivität. Entwicklung lässt sich verstehen als ein intra- und interpsychischer Austausch. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass ein Kind auch die Entwicklung der Eltern, Großeltern und Geschwister prägt, auch die Peergroup, das soziale Milieu usw. spielen eine gewichtige Rolle. Nicht zuletzt setzt sich der Mensch auch von Beginn an mit seinem Körper bzw. dessen Repräsentanzen auseinander, ebenso mit seinen kognitiven Fähigkeiten und den Begegnungen mit der dinglichen Umwelt, schließlich ist die Verarbeitung elementarer Erfahrungen wie natürliche Begrenztheit, Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit entwicklungsprägend.

3.3       Die Neurosenlehre: Theorie über die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen

Nach psychoanalytischem Verständnis bilden sich in der (lebenslangen) psychischen Entwicklung des Menschen psychische Strukturen, die auf basalen Fähigkeiten in der Wahrnehmung, Regulierung und Steuerung affektiver Zustände, des Selbst- und Objekterlebens, des Verhaltens und der Kommunikation beruhen (Strukturmodell). Diese Strukturen werden im Wesentlichen durch frühe Beziehungserfahrungen des Säuglings und Kleinkindes encodiert und bilden eine grundlegende Matrix für die Verarbeitung von Reizen aus innerem und äußerem Erleben.

Ein typisches Strukturmerkmal ist die Fähigkeit, bei Versagungen auf die sofortige Befriedigung eigener Wünsche zu verzichten und deren Erfüllung aufzuschieben. Die dabei auftretenden Affekte wie Ärger, Missmut, Wut können zwar gespürt und geäußert werden, werden aber im Wesentlichen als gesunde aggressive Energie kanalisiert, um in Auseinandersetzung mit der Umwelt realistische Wege zur Wunscherfüllung zu suchen.

Psychische Krankheit auf der Strukturebene entsteht, wenn bestimmte Funktionen dauerhaft unterentwickelt bleiben. Dies geschieht hauptsächlich aufgrund überwiegend defizitärer früher psychischer und interpersonaler Austauschprozesse, in denen basale Entwicklungsbedürfnisse nicht angemessen befriedigt werden konnten, sowie durch Traumatisierungen (Burchartz 2019c). Die Psyche greift dann als Schutz vor Desintegration zu Kompensationsvorgängen, die sich hauptsächlich in misslingenden sozialen Beziehungen, sexualisierten und/oder destruktiven Verhaltensweisen oder Grandiositäts- bzw. Minderwertigkeitsvorstellungen niederschlagen, oft begleitet von psychosomatischen Erkrankungen.

Von Beginn an ist das psychische Geschehen des Menschen aber auch von Kräften geprägt, die miteinander in Widerstreit treten (Konfliktmodell, vgl. Mentzos 1984, 2009). Entwicklung lässt sich – wie gezeigt – beschreiben als eine phasentypische Entfaltung und Bewältigung von Grundkonflikten zwischen antagonistischen intrapsychischen Strebungen einerseits sowie solchen zwischen primärprozesshaften Wünschen und Trieben und der äußeren Realität andererseits.

Ein typischer intrapsychischer Konflikt ist derjenige zwischen dem Bedürfnis nach Anlehnung, Abhängigkeit undZusammengehörigkeitmit signifikanten Anderen einerseits und dem Bedürfnis nach Autonomie, Abgrenzung und Eigenständigkeit andererseits. Die intrapsychische Regulation strebt eine Homöostase dieser beiden Antipoden an, dies schlägt sich auch in der Art der Beziehungsgestaltung nieder.

Die Reifung des Ich besteht dabei in der zunehmenden Fähigkeit, die antagonistischen intrapsychischen Strebungen zu integrieren, eine verträgliche Balance zwischen ihnen zu etablieren und die aus ihnen resultierenden Ängste in ich-verträglichen Abwehren zu binden sowie zwischen Innen und Außen, Wunschphantasien und Realität, Bedürfnissen und ihrer realen Befriedigung so zu vermitteln, dass ein dynamisches Gleichgewicht aus Assimilation an die gegebenen Realitäten, zunächst vermittelt durch die Eltern, und deren kreativer Gestaltung im Sinne eigener elementarer Bedürfnisse entsteht (Adaptation).

Psychische Krankheit auf der Konfliktebene entsteht, wenn die Integration des inneren und äußeren Konfliktgeschehens scheitert, wenn sich das Individuum etwa unter dem Ansturm übermäßiger innerer Affekte oder unter einem einseitigen Anpassungsdruck an äußere defizitäre (Beziehungs-)Realitäten genötigt sieht, einen Pol des Konfliktes abzuspalten, zu verleugnen oder zu verdrängen, und sich innerlich auf den antagonistischen Pol zurückzieht und dort in einer Fixierung verharrt. Die Psyche erstarrt dann in der Etablierung rigider Abwehren, die nicht Ich-verträglich und meist auch nicht sozialverträglich sind und welche die weitere Entwicklung behindern, wenn nicht sogar blockieren. Zur Aufrechterhaltung dieser pathologischen Konfliktlösungen und zur Angstbewältigung entwickeln sich Symptome als Kompromissbildungen.

3.4       Die psychodynamische Auffassung von Konflikt und Objektbeziehungen

Modelle des psychischen Geschehens gehen davon aus, dass dieses ein Feld verschiedener Kräfte (dynamis, griech.: Kraft) darstellt, die aufeinander einwirken. Das bezieht sich nicht allein auf Es, Ich und Über-Ich in den ersten psychoanalytischen Modellen, in der weiteren Theoriebildung auf die Abwehrleistungen des Ich, sondern auch, wie gezeigt, auf primäre Bedürfnisse aus den grundlegenden motivationalen Strebungen sowie auf die frühen Regulationsvorgänge in der Ausbildung der psychischen Struktur. Mit der psychodynamischen Sichtweise lassen sich auch Objektbeziehungen beschreiben sowie deren Niederschlag als innere Repräsentanzen. Gerade für das Verständnis der inneren Objektwelt ist entscheidend, dass diese nicht einfach als Abbild realer Objekte anzusehen sind, sondern vielmehr die Modi einer dynamischen Verarbeitung des Beziehungsgeschehens mit den primären Bezugspersonen enthalten, also durch subjektives Erleben, Wünsche und Affekte geprägt sind. Psychisches Geschehen ist also mit – bewussten und unbewussten – Bedeutungen versehen, die das Individuum seinen lebensgeschichtlichen Erfahrungen mit der Objektwelt verleiht. Psychische Krankheit hat es somit immer mit einem subjektiven Bedeutungsgefüge zu tun, das die Lösung innerer und äußerer Konfliktfelder behindert.

3.5       Das therapeutische Beziehungsgeschehen als Übertragung und Gegenübertragung

Der Mensch gestaltet die Beziehung zu einem anderen Menschen in Entsprechung zu seinen früheren Beziehungserfahrungen, die sich als Objektbeziehungsphantasien in seiner Psyche sedimentiert haben. Er überträgt also mehr oder weniger umfangreiche Anteile oder Aspekte, die auf frühere Objekte gerichtet waren, z. B. Wünsche, Bedürfnisse, Befürchtungen, Phantasien, Gefühle und Affekte, auf den gegenwärtigen Anderen. Er wiederholt so unbewusst die Beziehungsmuster, die sich durch frühe Regulationsprozesse in seiner psychischen Struktur niedergeschlagen haben. Dieser Vorgang der Übertragung ist ubiquitär und in allen Beziehungen zu beobachten; Übertragung ist also nicht per se pathologisch. In der Regel stellt sich durch den realen reziproken Austausch in aktuellen alltäglichen Beziehungserfahrungen eine Korrektur der Übertragung ein, so dass wir – bis auf einige Reste abgesehen – meist zu realistischen Objektbeziehungen fähig sind oder immer wieder fähig werden. Voraussetzung ist freilich, dass auch der Andere seine Reaktion auf unsere Übertragung und seine eigene Übertragung auf uns zu korrigieren imstande ist.

In der therapeutischen Beziehung spielt die Übertragung eine zentrale Rolle, denn der Therapeut wird unweigerlich zu einem Übertragungsobjekt.

Die siebenjährige Ines, die den Vater durch Trennung verloren hat, malt ein Herz und schenkt es dem Therapeuten. Der Therapeut wird so zu einem Objekt der Sehnsucht wie der Vater. Übertragen wird aber auch die Verlustangst (die durch den Erweis der Liebe beruhigt wird) und die Enttäuschungswut (»wem ich meine Liebe erweise, der könnte mich verlassen; das erzürnt mich schon jetzt – aber ich schenke ihm etwas Schönes, dann bemerkt er meine böse Aggression nicht und behält mich lieb«).

S. Freud hatte dies zunächst als eine Störung der psychoanalytischen Therapie identifiziert, denn eine intensive Übertragung trat immer auf in Verbindung mit einer Stagnation des Auftauchens und der Erinnerung verdrängten Materials. Freud erkannte, dass der Patient in der Übertragung die infantile Situation und die damit verbundenen verpönten Regungen mit der Person des Therapeuten wiederholt, anstatt sie zu erinnern und in die Persönlichkeit zu integrieren. Damit war auch eine Erklärung gefunden für die ungewöhnliche Heftigkeit der Übertragung in der therapeutischen Situation: Sie dient dem Widerstand, ja ist Teil desselben, der gegen das Eindringen verdrängter Inhalte ins Bewusstsein aufgerichtet werden muss. Je gelockerter die Abwehr (s. u.) in der therapeutischen Situation, desto intensiver also muss die Übertragung werden. Was anfänglich als Störung empfunden wurde, erwies sich für Freud schon bald von höchstem Nutzen. Denn in der Übertragung sammelt sich das Verdrängte in einer aktuellen Wiederauflage in einer lebendigen, gegenwärtigen Beziehung; die Bearbeitung der Übertragung ermöglicht dem Patienten ein unmittelbares Erleben, das dem Bewussten als psychische Wirklichkeit zugänglicher ist als blasse Erinnerungen.

Die Übertragung wurde zu dem eigentlichen und wichtigsten Agens der Psychoanalyse. »Das entscheidende Stück der Arbeit wird geleistet, indem man im Verhältnis zum Arzt, in der ›Übertragung‹, Neuauflagen jener alten Konflikte schafft, in denen sich der Kranke benehmen möchte wie er sich seinerzeit benommen hat, während man ihn durch das Aufgebot aller verfügbaren seelischen Kräfte zu einer anderen Entscheidung nötigt. Die Übertragung wird also das Schlachtfeld, auf welchem sich alle miteinander ringenden Kräfte treffen sollen« (Freud 1916–1917, S. 472). Indem sich die Krankheit in der Beziehung mit der Person des Therapeuten wiederholt, sich in ihr konzentriert, entsteht die »Übertragungsneurose« – also eine in der psychoanalytischen Therapie erwünschte Verschiebung des Krankheitsgeschehens weg von den Alltagssituationen und ihren dortigen Objekten in das »Hier und Jetzt« des therapeutischen Beziehungsraumes. Parallel zu diesem Vorgang ist häufig tatsächlich ein Rückgang der Symptomatik im Alltagsleben des Patienten zu beobachten, es wäre jedoch falsch, eine solche »Übertragungsheilung« schon als den eigentlichen Heilungserfolg anzusehen. Eine Therapie, die zu einem solchen Zeitpunkt beendet würde, brächte nichts anderes zustande als ein Wiederaufflackern aller Krankheitsphänomene, u. U. noch heftiger als zuvor, da nun auch noch das Trauma einer unbearbeiteten und verfrühten Trennung von dem Objekt heftiger libidinöser sowie aggressiver Regungen hinzukommt.

Ines, die im letztenBeispielerwähnte Patientin, litt unter einer schweren Angststörung. Die Mutter beendete die Therapie, als deutlich wurde, dass das Mädchen daran festhielt, den Vater sehen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt war die Angst des Kindes so weit zurückgegangen, dass es die Schule selbständig besuchen konnte. Später erfuhr der Therapeut, dass sich danach das Symptom einer Schulphobie entwickelt hatte.

Die Übertragung wiederum evoziert im Therapeuten eine spezifische emotionale oder affektive Reaktion, er antwortet gleichsam mit seiner Innenwelt auf die übertragene Innenwelt des Patienten. Dieser Vorgang wird als Gegenübertragung bezeichnet und ereignet sich – ebenso wie die Übertragung – zunächst unbewusst. Das Wahrnehmen und die Analyse von Übertragung und Gegenübertragung sind zentrale Aufgaben und übrigens auch das wichtigste diagnostische Hilfsmittel in psychodynamischen Psychotherapien, denn sie erlauben ein erlebendes Verstehen der (unbewussten) inneren Welt des Patienten.

In der Übertragung zeigen sich nicht allein (verdrängte) libidinöse Wünsche und Regungen, sondern auch feindselige und destruktive Impulse. Voraussetzung für deren Bearbeitung freilich ist zunächst eine positive Übertragung. Von besonderer Bedeutung ist die positive Übertragung – also die Erwartung des Patienten, im Therapeuten ein überwiegend gutes Objekt zu finden, das die auf ihn gerichteten libidinösen Strebungen liebevoll und verständnisvoll aufnimmt – in der TfP, da in dieser Therapieform die Übertragung zwar beachtet und verstanden, jedoch nicht zum eigentlichen therapeutischen Agens wird.

In einer erweiterten Sicht der Übertragung lässt sich das Geschehen zwischen Patient und Therapeut als Szene (Lorenzer 2000, Argelander 1970, Eckstaedt & Klüwer 1999, Raue 2007, Windaus 1999, Burchartz 2020) verstehen. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass sich bereits frühe Interaktionserfahrungen in Repräsentanzen von Interaktionsmustern niederschlagen, die in der aktuellen Begegnung zwischen Patient, dessen Eltern und Therapeut in Handlung und Phantasie aktualisiert, inszeniert werden und je spezifische Gegenübertragungsreaktionen hervorrufen. Die Psyche ist szenisch organisiert. Die Szene ist ein Interaktionsgeschehen, umfasst bewusste und unbewusste Anteile und offenbart eine psychische Realität. Ihr Verstehen und ihre Analyse erlauben dem Therapeuten nicht allein eine tiefe (diagnostische) Einsicht in unbewusste konflikthafte Erlebens- und Verarbeitungsweisen, sondern auch in der Therapie einen für den Patienten evidenten Zugang zu seinen unbewussten Phantasien, wie sie sich in seiner Beziehungsgestaltung offenbaren.

3.6       Die Theorie der Abwehr, die Auffassung des Widerstandes und deren Einbezug in die therapeutische Arbeit

Innere Realität und äußere Realität treten von Beginn der Entwicklung an in einen Widerspruch: Die Befriedigung elementarer Triebwünsche, das Stillen unabweisbarer Bedürfnisse, die Bewältigung von Ängsten können von den primären Bezugspersonen nicht uneingeschränkt sichergestellt werden, die soziale und dingliche Realität stellen sich der direkten Erfüllung in den Weg. Das Individuum sieht sich einer doppelten Aufgabe gegenüber: Einerseits muss es Fähigkeiten erwerben und einsetzen, die Umwelt so zu gestalten, dass ein möglichst optimales Milieu zur psychischen Entwicklung entsteht, andererseits muss es die innere Welt so modulieren, dass sie sich in die sozialen Erfordernisse einpasst. Die innere Instanz, welche diese Vermittlung zwischen Innen und Außen leistet, wurde von Freud Ich genannt. Psychische Reifung lässt sich als ein Fortschreiten dieser Ich-Fähigkeit beschreiben, die innere Modulation der psychischen Strukturen erfolgt durch Vorgänge, die als Abwehr bezeichnet werden. Zu Beginn der psychoanalytischen Theoriebildung wurde diese Abwehr als Verdrängung beschrieben und an einem zentralen Konflikt besonders verdeutlicht: der Verdrängung inzestuöser libidinöser Strebungen im Rahmen des Ödipuskomplexes. Aber nicht allein diese Strebungen fallen der Verdrängung anheim, eigentlich ist die Arbeit der Verdrängung lebenslang wirksam und entzieht jegliche unerwünschten Anteile des motivationalen Geschehens dem Bewusstsein des Menschen, indem sie diese im Unbewussten gleichsam deponiert und damit sowohl für das Individuum als auch für seine Umwelt unkenntlich macht. Bereits die Ersetzung der Vorherrschaft des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip lässt sich als Verdrängung beschreiben. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Bildung des Über-Ich, einer inneren Instanz, in der sich die – tatsächlichen und/oder phantasierten – Versagungen und Verbote der Umwelt niederschlagen. Aus zunächst äußeren Konflikten werden somit innere Konflikte zwischen Triebwunsch und Verbot. Für das Ich entsteht damit nicht nur Angst aus realen Versagungen und Gefahren, sondern auch Angst aus inneren, als inkompatibel empfundenen Reizen, die dem Lustprinzip folgen. Es war das Verdienst von A. Freud (1936), die Arbeit der Verdrängung sehr differenziert beschrieben und als eine Reihe von Abwehrmechanismen zusammengefasst zu haben. Dazu gehören neben der Verdrängung im eigentlichen Sinn Vorgänge wie Affektabwehr bzw. Affektisolierung, Verleugnung, Ich-Einschränkung, Identifizierung mit dem Aggressor, Altruismus als Reaktionsbildung, in der Pubertät Askese und Intellektualisierung; nicht zuletzt Verschiebung der Triebregungen auf andere Objekte. M. Klein (1952c) hat besonders Spaltung und projektive Identifizierung als elementare Abwehrmechanismen hervorgehoben. Abwehr ist eine Ich-Leistung und zur Herstellung einer Balance zwischen individueller Psyche und sozialer Realität lebenslang wirksam, sie ist deshalb nicht primär pathologisch. Im heutigen Sprachgebrauch hat sich der umfassendere Begriff der Bewältigung etabliert, insbesondere bei strukturellen Störungen beobachten wir Bewältigungsversuche, die sich im ungünstigen Fall als psychosomatische Erkrankungen oder als maladaptive Arrangements in der Beziehungsgestaltung niederschlagen. Hier wird der Körper bzw. die soziale Umwelt zum Schauplatz der Inszenierung unerträglicher Angst, die aus unbewältigten Konfliktspannungen entsteht.

Gleich ob die lebensgeschichtlich etablierten Abwehrstrukturen dem Menschen ein zufriedenes Leben in lebendigem Austausch mit seiner Umwelt ermöglichen oder ob sie ihn krank und unglücklich machen, immer handelt es sich um Versuche, psychisches Leben und Überleben in einer spezifischen Umgebung zu organisieren, wobei immer auch die Komponente enthalten ist, unbewusst zu machen, was für das Selbstbild und für die Vorstellung vom Anderen unvereinbar scheint. Die unbewussten Abwehrleistungen schützen damit das Ich vor der Gefahr, das Erleben einer Selbst-Kohärenz zu verlieren, sowie vor der Gefahr, von anderen Menschen, die für uns überlebensnotwendig sind, isoliert zu werden. Nun ist dieses Unkenntlichmachen im Unbewussten nie vollständig möglich. Zu groß wäre der ständige psychische Energieaufwand, Unerwünschtes in der Verdrängung zu halten. Dessen Auftauchen jedoch signalisiert Gefahr, weshalb die Psyche dagegen einen Widerstand organisiert. Auch der Widerstand gegen das Auftauchen von unbewussten Elementen ins Bewusstsein ist deshalb ein notwendiger und keinesfalls primär pathologischer Vorgang und er dient dem Schutz der psychischen Integrität und Kohärenz. Das dynamische Kräftespiel von Verdrängtem, Abwehr und Widerstand bindet Angst und ergibt Kompromissbildungen, die sich in unseren Träumen, in Alltagshandlungen, in spezifischen Charakterstrukturen und Symptombildungen zeigen. Sofern Letztere zu manifestem Leiden führen, steht das Individuum vor der Aufgabe – womöglich mit Hilfe eines Therapeuten –, eine neue Balance zu finden zwischen einer Abwehr, die der Persönlichkeit und der Umwelt förderlich ist, und einer Realisierung bisher übermäßig eingeschränkter Lebensmöglichkeiten. Eine solche Aufgabe ist nicht leicht zu bewältigen, denn hier wird sich aller Widerstand mobilisieren, um die Entbindung von (neurotischer) Angst zu verhindern. In psychoanalytisch orientierten Therapieverfahren rechnen wir mit diesem Widerstand und müssen ihm besondere Aufmerksamkeit widmen, auch über technische Möglichkeiten verfügen, um ihn zu bearbeiten.

3.7       Die Auffassung von Regression

Zeit unseres Lebens verläuft die Entwicklung nicht linear. Neue Entwicklungsaufgaben, neue Erfahrungen oder Statusübergänge rufen nicht allein Neugier und Kreativität auf den Plan, sondern auch Angst. Wir neigen dazu, vor angsterregenden Vorgängen und Phantasien zurückzuweichen (regressus, lat.: rückläufige Bewegung). Wir suchen damit einen sicheren inneren Ort auf, der uns vertraut ist, an dem wir uns auskennen, und nehmen alle Verhaltensweisen an, die zu dieser früheren Stufe der Entwicklung gehören.

Sehr augenfällig kann sich eine solche Regression zeigen, wenn ein Kind die Geburt eines Geschwisterkindes erlebt. Plötzlich verlangt der Vierjährige wieder nach einer Flasche, verfällt in Babysprache, verliert Alltagsfähigkeiten, wie etwa das Anziehen oder bestimmte Bewegungskoordinationen, kann nicht allein sein oder nässt wieder ein.

Auch die regressive Bewegung ist kein pathologisches Phänomen, sie kann ausgesprochen entwicklungsfördernd sein, indem sich die Psyche vor Überforderung schützt und gleichsam Kraft tankt für einen nächsten großen Schritt. So werden z. B. Kinder besonders dann krank, wenn sie einen Schutz- und Schonraum brauchen, bevor sie eine neue Entwicklungsaufgabe in Angriff nehmen können (vgl. Hopf 2007). Überhaupt ist psychische Entwicklung ein Schwanken auf einem Kontinuitätsspektrum von Regression und Progression, wobei die beiden Pole spiralförmig immer wieder durchlaufen werden. Problematisch wird eine einseitige Regression dann, wenn ein Mensch dauerhaft in ihr verharrt, sich in gewissen Aspekten auf eine Entwicklungsstufe fixiert und er damit dauerhaft die Angst vor progressiven Tendenzen zu binden versucht.

Der oben erwähnte vierjährige Junge hat es mit einem heftigen inneren Konflikt zu tun bekommen: Einerseits empfindet er Wut und Enttäuschung, dass er nun nicht mehr der allein Wichtige für seine Eltern sein kann, Rivalitätsgefühle zu dem Neugeborenen tauchen auf, nachdem nun feststeht, dass dieser kleine Schreihals nicht nur dauerhaft bleibt, sondern offenbar den Eltern, die dem Säugling natürlich besondere Aufmerksamkeit widmen müssen, auch besonders wichtig ist. Die Angst vor dem Verlust der elterlichen Liebe breitet sich in seinem inneren Erleben aus. Andererseits liebt er auch seine Eltern und möchte keinesfalls die Sicherheit und Geborgenheit verlieren, die sie ihm schenken. Als Lösung dieses Konflikts beginnt er sich zu einem braven, angepassten und hilfsbereiten kleinen Ritter zu entwickeln; unter seinem Altruismus werden seine aggressiven und feindseligen Regungen sorgfältig verborgen und verdrängt, freilich um den Preis der Symptombildung: Er klebt an der Mutter, kann nicht mehr in den Kindergarten gehen, schränkt sich also in seinen Ich-Fähigkeiten ein, dazu nistet sich eine Enuresis nocturna als dauerhaftes Symptom ein. Bei seiner Einschulung mit sieben Jahren hat sich an diesen Problemen nichts verändert, nur dass sie jetzt, unter dem Druck der sozialen Erwartungen, zu kaum mehr handhabbaren Schwierigkeiten führen. In der Entwicklung gesunder und ins Ich integrierter aggressiver Kräfte ist der Junge regrediert und fixiert auf eine frühere Entwicklungsstufe.

Wenn Kinder oder Jugendliche zur Therapie vorgestellt werden, beobachten wir immer solche Formen mehr oder weniger pathologischer Regression. Nun stellt die Therapie selbst auch ein regressives Milieu her: Indem sich Kinder und Jugendliche in einem geschützten Rahmen frei spielend, assoziierend oder kreativ gestaltend äußern können, finden sie sich in einer Situation wieder, welche zunächst von dem Druck, den die äußere Realität mit ihren Forderungen und Erwartungen erzeugt, entlastet. Dieses therapeutische Milieu fördert also per se schon regressive Tendenzen, resultierend verstärkt sich die Bereitschaft zu Übertragungen. Auch die Übertragung ist ein regressives Phänomen, insofern sie die Wahrnehmung des Therapeuten nach den inneren Repräsentanzen des Patienten organisiert und eben nur sehr eingeschränkt nach der Realität seiner Persönlichkeit. In der Analytischen Psychotherapie machen wir uns die Regression zunutze, indem wir mit dem Patienten an die früheren Fixationspunkte der Entwicklung zurückgehen und die dort entstandenen Konflikte reaktivieren und durcharbeiten. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zur Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie: In dieser Behandlungsform grenzen wir durch ein spezifisches Setting regressive Prozesse ein, um einen aktuellen Konflikt realitätsnah zu bearbeiten, ohne jedoch die regressiven Bewegungen außer Acht zu lassen. Damit sei hier vorweggenommen, was weiter unten genauer ausgeführt wird: Die TfP eignet sich für solche Patienten, deren Leiden ohne eine tiefergehende therapeutische Regression gelindert oder geheilt werden kann oder bei denen aus bestimmten Gründen eine solche nicht angezeigt ist.

3.8       Das Ziel, Heilung durch Einsicht und Sinngebung in einer therapeutischen Beziehungsmatrix zu erreichen

Allen psychoanalytisch begründeten Verfahren ist gemeinsam, dass sie die Beziehung zwischen Patient und Therapeut als Kern der therapeutischen Wirkung auffassen. Neben der angeborenen psychischen Konstitution (etwa der Reizempfindlichkeit) ist die Beziehung zwischen Kind, Eltern, Geschwistern und weiterem sozialem Umfeld entscheidend für die Ausprägung der seelischen Entwicklung des Menschen und seiner adaptiven Möglichkeiten. Aufgrund seiner Plastizität bilden sich im menschlichen Gehirn insbesondere durch frühe Beziehungserfahrungen individuell geprägte Strukturen heraus. Umgekehrt können psychische Fehlentwicklungen auch durch eine spezifische neue, nicht alltägliche Beziehungserfahrung korrigiert werden. Dies umso mehr, da sich Kinder und Jugendliche noch in einer rasanten Entwicklung befinden und sie für solche korrigierenden Beziehungserfahrungen meist sehr empfänglich sind.

Damit kommt der therapeutischen Beziehungsgestaltung eine zentrale Stellung in der Therapie zu. In der TfP arbeiten wir näher an der Realbeziehung bzw. an den bewusstseinsfähigen Anteilen der szenischen Gestaltung unter Beachtung der Übertragung und Gegenübertragung, während die analytische Therapie die Übertragung in ihrer Intensität fördert und als zentrales therapeutisches Agens nutzt.

Von Beginn an formulierten psychoanalytische Verfahren den Anspruch, durch wachsende Einsicht des Patienten in seine Innenwelt und ihre dynamischen Vorgänge eine Integration der abgewehrten Inhalte ins Ich zu erreichen und damit die Symptombildung überflüssig zu machen. Freud: »Wo Es war soll Ich werden« (Freud 1933a, S. 86). Dieses Verfahren stößt, wie gezeigt, auf das Problem des Widerstandes. Die Funktion der neurotischen Symptombildung ist u. a., die abgewehrten Inhalte vom Bewusstsein fernzuhalten und damit Angst zu binden. Deshalb geht die fortschreitende Einsicht mit Entbindung von Angst einher, die wiederum abgewehrt werden muss – etwa durch die Intensivierung der Übertragung, die so gesehen die Funktion des Widerstandes annimmt, weil sie eine direkte Wunscherfüllung anstrebt anstatt einer psychischen Integration. (Dass anders das wesentliche Konfliktmaterial meist gar nicht in die Beziehung kommt, darauf hat – wie gezeigt – v. a. Ferenczi hingewiesen.) Eine andere Form des Widerstandes ist die Isolierung des Affekts von dem ursprünglichen Konflikt. Es entsteht dann eine theoretische Einsicht, die aber keine Veränderungen nach sich zieht. Deshalb gehört zu einer Einsicht im therapeutischen Sinne immer auch die zugehörige emotionale Erfahrung. Eine solche ist nur im Rahmen eines Beziehungsgeschehens möglich, das die Ängste aufnimmt, hält, versteht und ich-verträglich bearbeitet. Die »holding function« des Therapeuten bzw. seine Fähigkeit, sich als Container im Bion’schen Sinn zur Verfügung zu stellen (Bion 1959), ist in einer TfP deshalb unverzichtbare Grundlage.