Psychodynamische Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter - Arne Burchartz - E-Book

Psychodynamische Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter E-Book

Arne Burchartz

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Beschreibung

Die Psychoanalyse geht von einem dynamischen Unbewussten aus. Dieses steht im Zentrum der Psychodynamischen Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter. Unter ihrem Dach haben sich zwei therapeutische Verfahren entwickelt: die Analytische Psychotherapie und die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Das Buch gibt einen grundlegenden Überblick über das Thema, die Geschichte, theoretische und behandlungstechnische Konzepte, den Stand der wissenschaftlichen Forschung und einen Einblick in die therapeutische Praxis. Damit vermittelt es fundierte Kenntnisse der Verfahren und bietet darüber hinaus berufs- und ausbildungspraktische Informationen

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Der Autor

Arne Burchartz, Dipl.-Päd., ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit eigener Praxis. Er ist als Dozent und Supervisor an den Psychoanalytischen Instituten Stuttgart und Würzburg sowie als KBV-Gutachter tätig. Er ist Redakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie«.

Der Autor des Beitrags »Wissenschaftliche Evidenz der psychodynamischen Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter«

Eberhard Windaus, Dr. phil., Dipl.-Päd., ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit eigener Praxis. Er ist als Dozent und Supervisor am Anna-Freud-Institut Frankfurt am Main, an der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie und am Winnicott-Institut Hannover sowie als KBV-Gutachter tätig. Er ist Forschungsbeauftragter der Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten (VAKJP), Herausgeberbeirat der Zeitschrift »Kinderanalyse« und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat nach § 8 PsychThG.

Arne Burchartz

Psychodynamische Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter

Mit einem Beitrag von Eberhard Windaus

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032645-3

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-032646-0

epub:     ISBN 978-3-17-032647-7

mobi:     ISBN 978-3-17-032648-4

Inhalt

 

 

Geleitwort zur Reihe

1   Einleitung

2   Ursprung und Entwicklung des Verfahrens

2.1   Die Anfänge

2.2   Die infantile Sexualität

2.3   Die Phasen der infantilen Sexualentwicklung

2.4   Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand

2.5   Die Ursprünge der Kinderanalyse

2.5.1   »Tarquinius Superbus«

2.5.2   Der »Fall Dora«

2.5.3   Der »Kleine Hans«

2.6   Die »Züricher Schule«

2.7   Die »Wiener Schule«

2.7.1   Hermine Hug-Hellmuth

2.7.2   Anna Freud

2.7.3   Melanie Klein

2.8   Die Kinderanalyse in Deutschland

2.9   Die Britischen Schulen

2.9.1   Michael Balint

2.9.2   Wilfred R. Bion

2.9.3   Donald W. Winnicott

2.9.4   John Bowlby und die Bindungstheorie

2.10 Michael Fordham

2.11 Heinz Kohut und die Selbstpsychologie

2.12 Relationale Psychoanalyse

2.13 Triangulierung

2.14 Säuglingsforschung

2.15 Das Konzept der Mentalisierung

2.16 Die Entwicklung der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie im Nachkriegsdeutschland

3   Verwandtschaft mit anderen Verfahren

3.1   Jakob Moreno und das Psychodrama

3.1.1   Grundlagen des Psychodramas

3.1.2   Psychotherapeutisches Vorgehen

3.1.3   Psychoanalyse und Psychodrama

3.2   Virginia Axline: Nicht-direktive Spieltherapie

3.3   Gestalttherapie: Fritz und Laura Perls

4   Wissenschaftliche und therapietheoretische Grundlagen

4.1   Die Psychologie des Unbewussten

4.2   Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie

4.3   Die Neurosenlehre

4.4   Übertragung, Gegenübertragung und Szene

4.5   Abwehr

4.6   Das Spiel

4.7   Bindung

5   Kernelemente der Diagnostik

5.1   Nosologische Diagnostik

5.2   Psychodynamische Diagnostik

5.2.1   Konflikt

5.2.2   Struktur

5.3   Abwehrmechanismen

5.4   Bindung

5.5   Ressourcen

5.6   Behandlungsvoraussetzungen

5.7   Mittel der psychodynamischen Diagnostik

5.7.1   Spielbeobachtung, Projektive Testverfahren

5.7.2   Übertragung, Gegenübertragung, Szene

5.7.3   Die OPD-KJ 2

6   Kernelemente der Therapie

6.1   Therapeutische Beziehung

6.1.1   Rahmen

6.1.2   Setting

6.1.3   Arbeitsbündnis

6.1.4   Gleichschwebende Aufmerksamkeit, Abstinenz und Neutralität

6.2   Halten, Containing, Mentalisierung

6.3   Spiel, Spielen und kreative Gestaltungen

6.4   Deuten

6.4.1   Wie entsteht eine Deutung?

6.4.2   Deutungsebenen

6.4.3   Deutungstechniken

6.5   Elternarbeit

7   Klinisches Fallbeispiel

8   Hauptanwendungsgebiete

9   Settings

10 Klinische Evidenz

10.1 Psychotherapieforschung und klinischer Alltag

10.2 »Junktim zwischen Heilen und Forschen«

10.3 Die Rolle von Authentizität und Spontanität

10.4 Die Evaluation von Deutungen

10.5 Wie valide sind (Re-)Konstruktionen in der Analyse?

11 Institutionelle Verankerung in Deutschland

12 Aus-, Fort- und Weiterbildung

Literatur

Wissenschaftliche Evidenz der psychodynamischen Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter

Eberhard Windaus

1   Einleitung

2   Anwendungsbereiche der Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen

2.1   Affektive Störungen (F3); einschließlich F94.1; F53

2.2   Angststörungen und Zwangsstörungen (F40–F42; F93 und F94.0)

2.3   Somatoforme Störungen und dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) (F44-F48)

2.4   Abhängigkeiten und Missbrauch (F1, F55)

2.5   Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen (F6)

2.6   Anpassungs- und Belastungsstörungen (F43)

2.7   Essstörungen (F50)

2.8   Nicht-organische Schlafstörungen (F51)

2.9   Sexuelle Funktionsstörungen (F52)

2.10 Psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (F54)

2.11 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F2)

2.12 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (F0)

2.13 Psychische und soziale Faktoren bei Intelligenzminderung (F7) und tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84)

2.14 Hyperkinetische Störungen (F90) und Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen (F91, F93, F94.2–F94.9)

2.15 Umschriebene Entwicklungsstörungen (F80–F83)

2.16 Störungen der Ausscheidung (F98.0, F98.1)

2.17 Regulationsstörungen/ Fütterstörungen (F98.2)

2.18 Ticstörungen und Stereotypien (F95 und F98.4)

Literatur

Stichwortverzeichnis

Geleitwort zur Reihe

 

 

Die Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: In den anerkannten Psychotherapieverfahren wurde das Spektrum an Behandlungsansätzen und -methoden extrem erweitert. Diese Methoden sind weitgehend auch empirisch abgesichert und evidenzbasiert. Dazu gibt es erkennbare Tendenzen der Integration von psychotherapeutischen Ansätzen, die sich manchmal ohnehin nicht immer eindeutig einem spezifischen Verfahren zuordnen lassen.

Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass es kaum noch möglich ist, die Theorie eines psychotherapeutischen Verfahrens und deren Umsetzung in einem exklusiven Lehrbuch darzustellen. Vielmehr wird es auch den Bedürfnissen von Praktikern und Personen in Aus- und Weiterbildung entsprechen, sich spezifisch und komprimiert Informationen über bestimmte Ansätze und Fragestellungen in der Psychotherapie zu beschaffen. Diesen Bedürfnissen soll die Buchreihe »Psychotherapie kompakt« entgegenkommen.

Die von uns herausgegebene neue Buchreihe verfolgt den Anspruch, einen systematisch angelegten und gleichermaßen klinisch wie empirisch ausgerichteten Überblick über die manchmal kaum noch überschaubare Vielzahl aktueller psychotherapeutischer Techniken und Methoden zu geben. Die Reihe orientiert sich an den wissenschaftlich fundierten Verfahren, also der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen und der Systemischen Therapie, wobei auch Methoden dargestellt werden, die weniger durch ihre empirische, sondern durch ihre klinische Evidenz Verbreitung gefunden haben. Die einzelnen Bände werden, soweit möglich, einer vorgegeben inneren Struktur folgen, die als zentrale Merkmale die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes, die Verbindung zu anderen Methoden, die empirische und klinische Evidenz, die Kernelemente von Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele umfasst. Darüber hinaus möchten wir uns mit verfahrensübergreifenden Querschnittsthemen befassen, die u. a. Fragestellungen der Diagnostik, der verschiedenen Rahmenbedingungen, Settings, der Psychotherapieforschung und der Supervision enthalten.

Nina Heinrichs (Bremen)

Rita Rosner (Eichstätt-Ingolstadt)

Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)

Carsten Spitzer (Rostock)

Rolf-Dieter Stieglitz (Basel)

Bernhard Strauß (Jena)

Die Buchreihe wurde begründet von Harald J. Freyberger, Rita Rosner, Ulrich Schweiger, Günter H. Seidler, Rolf-Dieter Stieglitz und Bernhard Strauß.

1          Einleitung

 

 

Die Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen fußt auf der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse und deren Erweiterungen. Wesentliche Impulse zur Entwicklung der Psychoanalyse sind von der Kinderanalyse ausgegangen. Bis in die 70er Jahre des 20. Jhd. hat sich die Psychoanalyse zwar mit schulenspezifischen Varianten, jedoch wissenschaftlich, methodologisch und behandlungstechnisch relativ konsistent dargestellt. Zunehmend aber stellten sich Behandlungsnotwendigkeiten ein, die mit der »klassischen Psychoanalyse« nicht mehr ohne Weiteres zu bewältigen waren. Zudem bildeten sich Ärztinnen und Ärzte in Psychoanalyse weiter und arbeiteten damit in Praxen und Kliniken, ohne sämtliche Ausbildungsstandards zu erfüllen. Die Psychoanalyse musste also – wollte sie weiterhin möglichst vielen Patientinnen und Patienten zugänglich sein – Modifikationen erfahren. Mit der Zulassung der Psychoanalyse als kassenfinanzierte Krankenbehandlung 1971 wurden zwei Verfahren definiert: Die analytische und die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (AP und TfP). Analog dazu gab es diese Differenzierung von nun an auch in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Lange Zeit ging man davon aus, dass sich in diesem Anwendungsbereich die beiden Verfahren schwer voneinander unterscheiden lassen, klare Unterscheidungskriterien hinsichtlich der Differentialindikation und der Behandlungstechnik fehlten. Diese Unschärfen drängten zur Klärung, als mit dem Psychotherapeutengesetz 1999 endgültig zwei Verfahren mit zwei Ausbildungen etabliert wurden und Institute entstanden, die ausschließlich in TfP für Kinder und Jugendliche ausbildeten. Es mussten also auch im Kinder- und Jugendlichenbereich beide Verfahren in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden begründet, differenziert dargestellt und in der klinischen Praxis verankert werden (Burchartz 2015).

Die verschiedenen Anwendungen der Psychoanalyse in der Krankenbehandlung bezeichnet man heute als »Psychodynamische Psychotherapie(n)«, weil allen gemeinsam die Annahme eines innerseelischen Kräftespiels, einer Psychodynamik ist, die Fühlen, Fantasieren, Denken und Verhalten des Menschen prägt. Dieses Buch stellt also zwei verwandte psychoanalytische Verfahren dar. Wo von deren Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Geschichte, der wissenschaftlichen Grundlagen und der metapsychologischen Annahmen die Rede ist, wird im Text nicht differenziert; Unterschiede v. a. in der Behandlungstechnik werden in den entsprechenden Kapiteln markiert.

In den Anfängen der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sprach man von Kinderanalyse. Sie wurde von Analytikerinnen und Analytikern durchgeführt, die auch Erwachsene behandelten. Es hat mit der geschichtlichen Entwicklung zu tun ( Kap. 2.16), dass es strittig ist, wer sich heute »Kinderanalytiker« nennen kann und was als »Kinderanalyse« bezeichnet wird. In der IPA (International Psychoanalytic Association) wird dieser Begriff ausschließlich für solche Behandlungen reserviert, die von Analytikerinnen und Analytikern durchgeführt werden, die auch für Erwachsenenanalysen ausgebildet sind und die hochfrequent – also mindestens dreistündig – erfolgen ( Kap. 2.9,  Kap. 2.16). Diese Einengung leuchtet nicht ein: Zum einen, weil sich eine Analyse nicht allein durch die Frequenz definiert, zum anderen weil sich nach einem langen Weg der Emanzipation der kinderanalytischen Arbeit (Müller-Brühn 2003 (1998); Holder 2002) jeder, der eine Ausbildung zum analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit einer Lehranalyse durchlaufen hat, als Analytiker bezeichnen kann.

Kinderanalytiker arbeiten mit vielfältigen Anwendungsformen und Settings ( Kap. 9). Ziel in der Analytischen Psychotherapie ist die Umstrukturierung der Persönlichkeit bzw. der Persönlichkeitsentwicklung, in der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie eine aktuelle Konfliktlösung oder die Reifung der Struktur.

Definition

Dieses Werk versteht unter »Psychoanalyse« das wissenschaftliche und anthropologische Gebäude, dessen Fundamente von Sigmund Freud gelegt wurden und das sich seither in einem gemeinsamen Diskurs von Psychoanalytikern, zu denen auch und gerade Kinderanalytiker gehören, laufend fortentwickelt. Unter dem Dach dieses Gebäudes wohnen nicht allein verschiedene therapeutische Anwendungsformen, sondern auch kulturanthropologische, soziologische und pädagogische Ansätze und Forschungen – z. B. die Ethnopsychoanalyse, die Psychoanalytische Pädagogik, die Psychoanalytische Sozialarbeit usw.

Für die TfP müssen sich Kinderanalytiker speziell qualifizieren – meist in einer sog. »verklammerten« Ausbildung, in der sowohl AP als auch TfP gelehrt wird. Kinderanalytiker sind also Psychotherapeuten, ebenso wie Psychotherapeuten, die sich allein in TfP ausgebildet haben, jedoch nicht Kinderanalytiker sind. Der Text beachtet diese Differenzierung, wo sie sachlich notwendig ist.

Psychoanalytiker kamen über viele Jahrzehnte aus einem breiten Spektrum von Grundberufen (Freud 1926e). Kinderanalytiker kamen mehrheitlich aus pädagogischen Berufen – sie brachten also eine fundierte Sichtweise auf das gesunde Kind und seine Entwicklung mit. Mit der grundlegenden Novellierung der Psychotherapeutenausbildung 2019 sind solche Zugänge verschlossen. Psychotherapeut wird, wer einen Masterabschluss in dem neu etablierten Hochschulstudium der Psychotherapie absolviert hat. Das bedeutet für die Psychoanalyse einen herben Verlust an Vielfalt fachlicher und persönlicher Kompetenzen. Es wird sich zeigen, wie sich diese sowohl an den Hochschulen als auch in der vertieften postgradualen Ausbildung erwerben lassen.

Das Verfassen eines Textes steht vor einem Konflikt zwischen einer gerechten Sprache, in der Geschlechter gleichwertig vorkommen, und einer flüssigen Lesbarkeit. Ich habe mich dafür entschieden, dort zwischen den Geschlechtern zu differenzieren, wo es für das Verständnis geboten ist, ansonsten aber die traditionelle Sprache beizubehalten mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass damit keine Diskriminierung anderer Geschlechter verbunden ist.

2          Ursprung und Entwicklung des Verfahrens

 

 

2.1       Die Anfänge

Am 4. April 1986 betrat ein junger Arzt nach einem halbjährigen Studienaufenthalt in Paris und Berlin Wiener Boden. Fasziniert von der hypnotischen Behandlungsmethode, die der berühmte Professor Jean Martin Charcot an der Pariser Salpêtrière bei Hysterie anwandte, versuchte er, das Wiener medizinische Establishment davon zu überzeugen – stieß jedoch auf Skepsis und Abwehr.

Kurz darauf, im April 1886, ließ sich Sigmund Freud – damals in der Rathausgasse 7 – nieder. Die Zahl seiner Patientinnen und Patienten war spärlich, sein Einkommen mager, seine wissenschaftliche Reputation bescheiden. Gleichwohl hielt er an der Behandlungsmethode fest und erzielte einige beachtliche Erfolge.

Ein wichtiger Weggefährte war der Studienfreund und Arzt Josef Breuer. Breuer war überzeugt, dass unbewältigte seelische Konflikte psychische Krankheiten hervorrufen können. Er arbeitete mit der Hypnose, später mit der »kathartischen Technik«, welcher die Vorstellung zugrunde lag, psychische Spannungen durch das Reden darüber mit dem Arzt abzuführen. Über die Behandlung seiner Patientin Bertha Pappenheim (»Anna O.«) ab dem Jahr 1880 tauschte er sich intensiv mit Freud aus. Dieser Fall gilt als die Geburtsstunde der Psychoanalyse. Mit Breuer zusammen gab Freud 1895 die »Studien über Hysterie« (Freud 1895d) heraus, dieses Werk kann man als erste psychoanalytische Veröffentlichung ansehen. Die Beziehung zu Breuer kühlte ab, als Freud verdrängte sexuelle Motive am Grunde der Hysterie postulierte – dem wollte Breuer nicht folgen. Ex post muss jedoch festgehalten werden, dass die »Redekur« lediglich die Anfänge dessen waren, was Freud später als Psychoanalyse ausgearbeitet hat. Es musste noch ein zweites Moment hinzukommen.

Freud wurde zunehmend unzufrieden mit der Hypnose. Nicht alle seiner Patientinnen konnten mit der Methode erfolgreich behandelt werden (Whitebook 2018, S. 157 f.). Da war die kathartische Technik willkommen. Es lässt sich nicht genau rekonstruieren, wer die Entwicklung der kathartischen Technik für sich beanspruchen dürfe – Freud selbst nahm dazu später widersprüchlich Stellung – (Freud 1910a, S. 3; 1914d, S. 46; 1916–1917, S. 289; 1925g, S. 562). In ihr liegen bereits zwei wesentliche Elemente der späteren Psychoanalyse vor: zum einen die Annahme, dass psychoneurotische Symptome aus früheren verdrängten Erlebnissen resultieren – Freud postulierte, diese Erlebnisse beruhen auf einer sexuellen Stimulierung des Kindes oder des Jugendlichen, mithin auf einem sexuellen Übergriff durch Erwachsene, also einem Trauma (die sog. »Verführungstheorie«). Zum anderen der Behandlungsansatz, dass sich durch eine Wiederbelebung dieser Erlebnisse in der »Kur« eine Katharsis durch Bewusstwerdung ereignet. Die Reproduktion der ursprünglichen Szene geschieht über assoziative Vorgänge, die durch deren Analyse einer kausalen Verknüpfung zugänglich werden. Damit wird der Befragung im Gespräch eine vorgeordnete Stellung eingeräumt – anstelle der hypnotischen Überwältigung (Alt 2016, S. 199).

Die Verführungstheorie beschreibt ein komplexes Geschehen: Das Trauma kann durch psychische Tätigkeit wie Spannungsabfuhr oder »kontrastierende Vorstellungen« nicht vollständig erledigt werden (Freud 1893h, S. 192 f.) und bleibt in »Reminiszenzen« erhalten. Diese werden durch aktuelle Erlebnisse wachgerufen und verknüpfen sich mit diesen zum Symptom, ohne die Verdrängung aufzuheben. Freud nannte diesen Vorgang die »Nachträglichkeit« (Freud 1885/1950a, S. 444 ff.) (Burchartz 2019b, S. 16).

Die Verführungstheorie erfuhr eine Erschütterung, als Freud erkannte, dass nicht jede neurotische Erkrankung auf reale Kindheitstraumata zurückzuführen ist. Er relativierte sie zugunsten einer Trieb-Konflikt-Theorie, in welcher er eine Ätiologie der Neurose aufgrund intrapsychischer Vorgänge postulierte. In einem Brief an Wilhelm Fließ, einem vertrauten Freund und Gesprächspartner, (Nr. 139 vom 21. September 1897) heißt es, »daß man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann« (Freud 1986, S. 284; vgl. Gay 1999, S. 108, 112 f.). Die Triebtheorie brachte das zentrale psychoanalytische Theorem des Ödipuskomplexes hervor. Weiterhin waren die sexuellen Motive in den Neurosen unabweisbar. Zumindest mischen sich in der Entstehung der Neurosen reale Ereignisse mit sexuellen Fantasien und Wünschen des Kindes. Es gibt also eine infantile Sexualität, die nicht an die unmittelbare genitale Triebbefriedigung gekoppelt ist.

Mit der Triebtheorie liegt ein erstes psychoanalytisches Modell des psychischen Geschehens und darauf basierend ein Behandlungsverfahren vor. Zentral ist die Annahme des Unbewussten im ersten »topischen Modell«: Unbewusstes, Vorbewusstes und Bewusstes wirken zusammen in der Bearbeitung des Triebgeschehens, etwa durch Vorgänge wie der Verdrängung, der Verkehrung ins Gegenteil, der Sublimierung usw. Die Funktionsweisen des Unbewussten – z. B. Verdichtung und Verschiebung – arbeitete Freud in der »Traumdeutung« (Freud 1900a) heraus. Er unterschied zwischen Lust- und Realitätsprinzip, Primär- und Sekundärvorgang.

Im zweiten topischen Modell oder Strukturmodell rückt das Ich an bedeutende Stelle zwischen dem nun sogenannten Es und dem Über-Ich. Das Ich – teils bewusst, teils unbewusst – vermittelt zwischen den Triebansprüchen des Es, den moralischen und kulturellen Forderungen des Über-Ichs und der vorfindlichen Realität. Es nimmt dazu Abwehrvorgänge zu Hilfe.

Merke

Die Psychoanalyse begann als Traumatherapie. Aufbauend auf der Verführungstheorie entwickelte Freud die Triebtheorie, die mit der Entdeckung der infantilen Sexualität einherging. Die Struktur der Psyche wurde in den beiden topischen Modellen beschrieben.

2.2       Die infantile Sexualität

Für die Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen ist das psychoanalytische Verständnis der infantilen Sexualität von großer Bedeutung. Sie ist durch drei Merkmale gekennzeichnet (Burchartz et al. 2016, S. 61 ff.).

Sie vollzieht sich in Anlehnung an Körperfunktionen. Sexuell sind nicht die Körperfunktionen selbst, wie etwa das Stillen, sondern die begleitenden Lustempfindungen. Diese Lustempfindungen verlangen nach Wiederholung, sie lösen sich von den Körperfunktionen und können auch hervorgerufen werden etwa durch das Lutschen an anderen Körperteilen oder Gegenständen, unabhängig von Funktionen wie z. B. der Nahrungsaufnahme (Freud 1905d, S. 82).

Damit sind die Körperteile und Gegenstände nicht selbst lusterregend oder einfach Ersatz für die Mutterbrust, vielmehr entsteht die Erregung an sog. erogenen Zonen, z. B. der Mundschleimhaut, später dem Analbereich oder den Genitalien. Die erogenen Zonen sind nicht Ursprung des Sexualtriebes, sondern Orte der Erregungsabfuhr.

Die infantilen Sexualbetätigungen sind autoerotisch, kennen noch kein Objekt, an dem ein Triebziel erreicht wird.

In dieser Konzeption ist der Trieb vornehmlich ein psychisches Geschehen, das sich körperlicher Vorgänge bedient. Die infantile Sexualität ist noch nicht von Scham, Ekel oder kulturellen Verboten gehemmt, sie ist vielgestaltig und primär objektlos. Erst im Verlauf der Umgestaltungen der Sexualität in der Pubertät ordnen sich die »Partialtriebe« dem »Primat der Genitalität« unter (Freud 1905d, S. 92, 109 ff.), ohne jedoch gänzlich in dieser aufzugehen.

Allmählich aber taucht ein Objekt auf, welches das Kind findet oder besser: wiederfindet. Freud geht noch einen Schritt weiter: Das Kind erschafft sich das Sexualobjekt, das es mit seinen libidinösen Strebungen besetzt.

Umgekehrt aber besetzen auch die Eltern das Kind in sublimer Form als Sexualobjekt. »Der Verkehr des Kindes mit seiner Pflegeperson ist für dasselbe eine unaufhörlich fließende Quelle sexueller Erregung und Befriedigung von erogenen Zonen aus, zumal da letztere – in der Regel doch die Mutter – das Kind selbst mit Gefühlen bedenkt, die aus ihrem Sexualleben stammen, es streichelt, küßt und wiegt und ganz deutlich zum Ersatz für ein vollgültiges Sexualobjekt nimmt.« (Freud 1905d, S. 124). Die infantile Sexualität hat demnach seine Wurzel in einer Beziehung, in welcher das Begehren von den Erwachsenen ausgeht. Diesen Gedanken griff später Jean Laplanche in seiner »allgemeinen Verführungstheorie« auf (Laplanche 2004, 2017).

2.3       Die Phasen der infantilen Sexualentwicklung

Im Lauf der kindlichen Entwicklung treten bestimmte erogene Zonen in den Vordergrund. Nach ihnen benennt die frühe psychoanalytische Entwicklungstheorie Phasen. Freud geht von einer »zweizeitigen Sexualentwicklung« des Menschen aus: die frühkindlichen Sexualkonflikte kommen in der Latenz vorläufig zur Ruhe, um in einem zweiten Entwicklungsschub in Pubertät und Adoleszenz zur erwachsenen genitalen Sexualität zu reifen.

Die einzelnen Phasen, angelehnt an körperliche Vorgänge, beschreiben psychische Modalitäten, die lebenslang das Seelenleben des Menschen begleiten, jedoch in der jeweiligen Phase in den Vordergrund treten.

In der oralen Phase geht es um Modi des Aufnehmens und Empfangens, um emotionale Sicherheit und Vertrauen in eine haltende und lebensspendende Umwelt, aber auch um die Modulation von Gier und Neid.

Die anale Phase ist geprägt von Konflikten um Zurückhalten und Loslassen, Macht und Kontrolle, Beherrschung und Unterwerfung, Geben und Nehmen.

In der genital-ödipalen Phase rückt das Thema Liebe und Hass in einer Dreiecksbeziehung in den Mittelpunkt. Stolz, Schau- und Zeigelust, Rivalität und Ausschluss und die Anerkennung der grundlegenden triadischen Struktur des Lebens stellen sich als Entwicklungsaufgaben.

In der Latenz entfaltet das Kind Lern- und Wissbegier, den Wunsch, die Dinge der Welt zu entdecken, Fähigkeiten zu verfeinern und Können zu erwerben, Selbstvertrauen zu verankern. Die Affektsteuerung ist nun gereift, neue soziale Räume und außerfamiliäre Beziehungen werden wichtiger.

Die Pubertät und Adoleszenz stellt den jungen Menschen vor die zwei zentralen Aufgaben der Ablösung von den Primärobjekten und des Aufbaus einer eigenen Identität.

Erik H. Erikson (1966) arbeitete diese psychoanalytische Entwicklungspsychologie weiter aus zu einem »epigenetischen Entwicklungsmodell«. Ähnlich wie Havighurst (1972), vgl. OPD-KJ 2 (2016, S. 30), ordnet er jeder Phase einen spezifischen Grundkonflikt zu, den zu lösen sich dem Individuum als Entwicklungsaufgabe stellt. Dabei dehnt er das Konzept der Entwicklung über das Kindheits- und Jugendalter aus auf den gesamten Lebenszyklus des Menschen. Es ist die Leistung des Ichs, das in der Balance von Konflikten auch zwischen Individuum und den Anforderungen der Gesellschaft vermittelt ( Kap. 4.2).

Neuere psychodynamische Entwicklungsmodelle sind in der OPD-KJ 2 (2016) eingearbeitet ( Kap. 4.2,  Kap. 5.7.3).

Ein zentrales Theorem der Psychoanalyse ist der Ödipuskomplex. Sein Name leitet sich her vom antiken Mythos von Ödipus, der ohne Wissen seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet. In der Entwicklung tritt er hervor, wenn dem Kind etwa ab dem Alter von 2,5 Jahren der Geschlechtsunterschied bedeutend wird. Das Kind möchte Teil des Elternpaares sein und richtet sein erotisches Begehren auf den gegengeschlechtlichen Elternteil. Nun entsteht Rivalität zum gleichgeschlechtlichen Elternteil. Das Kind hat es mit zwei Strebungen zu tun: Es empfindet Rivalität und Hass, möchte aber doch die Liebe zu beiden Eltern nicht missen. Das zieht Schuldgefühle nach sich. Freilich muss es auch erkennen, dass es einerseits zu klein ist, um diesen erotischen Wünschen wirklich gerecht zu werden, andererseits wird es gewahr, dass – wenn alles gut geht – das begehrte Liebesobjekt den anderen Elternteil erotisch vorzieht und es aus der sexuellen Elternbeziehung ausgeschlossen ist. »Der Verzicht auf das begehrte Sexualobjekt, die Verschiebung und der Aufschub des Triebwunsches auf nicht-inzestuöse Liebespartner und die Identifizierung mit dem eigenen Geschlecht und seinen Rollenausprägungen sind die Lösung dieser vertrackten Konstellation.« (Burchartz et al. 2016, S. 64). Damit sind die Voraussetzungen geschaffen für eine reife Geschlechtsidentität und eine Ausbalancierung von Nähe und Distanz sowie ein Internalisieren kultureller Verbote als Über-Ich.

Der Ödipuskomplex ist als metapsychologische psychoanalytische Konstruktion umstritten. Gleichwohl enthält er einige Grundbedingungen menschlicher Existenz: die Zweigeschlechtlichkeit, die grundlegend triadische Struktur der Psyche, das Inzestverbot, die Ambivalenz dem anderen gegenüber. Ödipale Verstrickungen lassen sich im Laufe des Heranwachsens unschwer beobachten. Im Rahmen der Neubetrachtung der geschlechtlichen Identitäten (hinsichtlich Kerngeschlechtsidentität, Sexualpartnerwahl und Geschlechtsrollen) ist – im Anschluss an Jaques Lacan – festzuhalten, dass der/die Dritte nicht unbedingt ein gleichgeschlechtlicher Elternteil ist, sondern dass es hier vielmehr um eine Funktion geht, die auch andere, auch gesellschaftliche Instanzen einnehmen können. Immer aber geht es um die Begrenzung omnipotenter Ansprüche an das Liebesobjekt und die Errichtung einer Generationengrenze.

Merke

Die infantile Sexualität ist ein psychisches Geschehen, das einer Beziehung erwächst. Sie lehnt sich an Körperfunktionen an. Erogene Zonen dienen der Erregungsabfuhr. Zentrale psychosexuelle Entwicklungsaufgaben strukturieren die frühe psychoanalytische Entwicklungspsychologie, in welcher der Ödipuskomplex eine zentrale Position einnimmt.

2.4       Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand

In seiner analytischen Arbeit entdeckte Freud schon bald ein Phänomen, das er Übertragung nannte.

Definition

Übertragungen »sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen des Patienten, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewußt gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes.« (Freud 1905e (1901), S. 279).

Übertragen werden nicht allein einzelne »Regungen«, sondern ganze Beziehungsmuster, die aus anderen Quellen als der Analyse stammen. Zunächst war dies für Freud ein ärgerliches Phänomen. Bald aber erkannte er, dass in der Übertragung sich etwas wiederholte, was dem Patienten unbewusst ist – sei es verdrängt, sei es noch nie bewusst. Was nicht erinnert werden kann, muss mit dem Analytiker in Szene gesetzt werden. So lässt sich die Übertragung als Teil einer unbewussten Kommunikation begreifen, eine Mitteilung, die in keiner anderen Form möglich ist. Die Übertragung »wird zum mächtigsten Hilfsmittel (der Psychoanalyse), wenn es gelingt, sie jedesmal zu erraten und dem Kranken zu übersetzen« (Freud 1905e (1901), S. 281).

Damit ist ein zentraler Behandlungsparameter der psychodynamischen Psychotherapien gefunden. Es gilt, ein Setting zu etablieren, in dem durch die Analyse der Übertragung im »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten« (Freud 1914g) die Neurose aufgelöst werden kann.

Die Übertragung drängt dem Analytiker eine bestimmte Rolle in der inneren Szene des Patienten auf. Da kann es nicht ausbleiben, dass der Analytiker auf die Übertragung des Patienten mit eigenen Regungen teils unbewusster Natur reagiert.

Definition

Die Gegenübertragung ist die »Gesamtheit der unbewußten Reaktionen des Analytikers auf die Person des Analysanden und ganz besonders auf dessen Übertragung« (Laplanche und Pontalis 1973/1973, S. 164).

Auch dieses Phänomen war Freud verdächtig. Die Gegenübertragung verstelle den Blick des Analytikers auf seinen Patienten, deshalb müsse jener die Gegenübertragung »in sich erkennen und bewältigen« (Freud 1910d, S. 108).

Erst Ende der 1940er Jahre veränderte sich der Blickwinkel. Paula Heimann begriff die Gegenübertragung in einem Vortrag (On Countertransference 1949/1950, Heimann 1964) als eine Schöpfung des Patienten. Damit wurde sie zu einem wesentlichen Teil der Diagnostik: Anhand der Gegenübertragung lassen sich die momentanen unbewussten Regungen, Wünsche, Ängste des Patienten erkennen, gleichsam in einer Kommunikation von Unbewusst zu Unbewusst. Die Gegenübertragung sei »Ausdruck einer in höchstem Maß dynamischen Rezeption der Stimme des Patienten« (Heimann 2016 [1950], S. 113). Die Gegenübertragung kann konkordant erfolgen – dann spürt der Analytiker die gleichen Gefühle wie der Patient. Sie kann komplementär erfolgen, dann spürt der Analytiker Regungen, welche der Reaktion einer Person aus einer früheren oder gegenwärtigen Beziehung des Patienten entsprechen. Damit wurde die Gegenübertragung zu einem zentralen Erkenntnismittel in den psychodynamischen Psychotherapien.

Ein erweitertes Verständnis von Übertragung und Gegenübertragung finden wir heute in der relationalen Psychoanalyse ( Kap. 2.12).

Ein drittes Phänomen schien sich dem Fortschreiten des Heilungsprozesses in der Psychoanalyse in den Weg zu stellen: Der Widerstand. Jedes neurotische Symptom stellt eine kreative Lösung der Psyche des Patienten dar, womit sich dieser gegen Angst und weitergehende Dekompensationen schützt. So wird verständlich, dass er seine Krankheit nicht ohne weiteres aufgeben will. Eine psychodynamische Psychotherapie mutet dem Patienten zu, seine Abwehr zu lockern, zu modifizieren und bestimmte Abwehrformen ganz aufzugeben. Damit wird der Patient konfrontiert mit schmerzhaften Emotionen und peinlichen Einsichten, mit Gefühlen der Schutzlosigkeit. Wenn auch der Patient bewusst eine Heilung oder Besserung seines Zustandes anstrebt, so sträubt sich doch ein anderer, unbewusster und oft mächtiger Teil seines Seelenlebens dagegen. Niemand gibt gerne eine Heimat auf, auch wenn sie unbequem geworden ist, für den Übergang in ein fremdes, noch unbekanntes Land, dessen Gefahren man kaum einzuschätzen weiß.

Insbesondere Kinder wehren sich gegen Veränderungen, vor allem dann, wenn sie sich angstvoll an eine Illusion umfänglicher Befriedigungszufuhr klammern. Sie suchen ja auch nicht von sich aus einen Psychotherapeuten auf. Ihr Leben kommt ihnen meist ganz »normal« vor, sie kennen es nicht anders, die Beschwerden und Probleme haben die anderen, die Erwachsenen. Besonders im Jugendalter sträubt sich alles in den Heranwachsenden, als »psychisch krank« definiert zu werden, das kommt einer schweren narzisstischen Kränkung gleich – weshalb die Widerstände so groß sein können, dass eine Psychotherapie trotz signifikanten Symptomdrucks erst gar nicht zustande kommt. Die Verweigerung lässt sich als eine letzte Bastion der Verteidigung der Autonomie verstehen.

Aber auch in Eltern regen sich Widerstände gegen die Therapie ihres Kindes. Häufig hat ein Kind und seine psychische Erkrankung eine regulierende Funktion im psychischen Gefüge der Eltern oder im Familiensystem. Eine Veränderung im Kind kann deshalb ein bisher leidlich aufrechterhaltenes Gleichgewicht labilisieren. Mit Fortschreiten des Heilungsprozesses werden im Familiensystem Ängste aktiviert. Nun werden der Therapie Hindernisse in den Weg gelegt, unter Umständen droht dann auch ein Abbruch.

Nicht zuletzt muss berücksichtigt werden, dass sich auch im Therapeuten Widerstände regen können, etwa dann, wenn in der Therapie Themen auftauchen, die für den Therapeuten angstbesetzt sind. Es ist Aufgabe jedes Therapeuten, diese Eigenanteile sorgfältig zu reflektieren und mithilfe einer Supervision zu bearbeiten.

Widerstände können vielfältige Formen annehmen. Zu erkennen sind sie, wenn äußere Vereinbarungen unterlaufen werden, wenn die Therapie stagniert oder wenn wichtige Themen vermieden werden.

So gesehen ist auch der Widerstand ein ärgerliches Phänomen. Gleichwohl steht er im Dienste des Schutzes der Beteiligten. Wie bei Übertragung und Gegenübertragung ist der Widerstand eine Sprache des Unbewussten und deshalb ein wertvoller Vorgang, wie in einem Brennpunkt zeigen sich darin die entscheidenden Konfliktherde. Die Bearbeitung des Widerstandes und die Entschlüsselung seiner Bedeutung ergibt besonders evidente Einsichten in das unbewusste Geschehen, ereignet er sich doch zwischen zwei (oder mehreren Personen) im Hier und Jetzt und lässt sich nicht ohne weiteres verleugnend beiseiteschieben.

Damit sind einige wichtige Grundlagen seit den Anfängen der Psychoanalyse dargestellt, die für die Entwicklung der psychodynamischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie von Bedeutung sind. Die Psychoanalyse hat sich seither in mehrere Hauptströmungen verzweigt, die auch in Theorie und Praxis von Kinder- und Jugendlichenbehandlungen Eingang gefunden haben: Triebtheorie, Ich-Psychologie, Objektbeziehungspsychologie, Selbstpsychologie und die intersubjektive Psychoanalyse. Es würde allerdings den Rahmen dieser Darstellung sprengen, wollte man sie detailliert nachzeichnen.

Vertiefung: Einen Überblick über die psychoanalytischen Schulen gibt: Burchartz et al. (2016); ausführlich: Mertens 2010–2012.

Merke

Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand und deren Bearbeitung sind zentrale Behandlungsparameter in psychodynamischen Psychotherapien.

2.5       Die Ursprünge der Kinderanalyse

2.5.1     »Tarquinius Superbus«

Die analytische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beginnt mit Sigmund Freud. Das früheste Zeugnis einer analytischen Kinderbehandlung finden wir in der »Psychopathologie des Alltagslebens« (Freud 1901b, S. 220 ff.). Ein knapp 13-jähriger Junge war mit einer schweren Symptomatik bei ihm in Behandlung. »Er musste nach meiner Voraussetzung sexuelle Erfahrungen gemacht haben«. Freud beobachtete eine »Symptomhandlung«: Der Junge knetete aus einem Klumpen Brotkrumen eine Menschenfigur mit einem »Fortsatz zwischen beiden Beinen, den er in eine lange Spitze auszog«. Freud erzählte ihm daraufhin die Geschichte von Tarquinius Superbus und seinem Sohn. Der Junge nahm das auf und reagierte mit einer weiteren Symbolhandlung, die zeigte, dass er sich von Freud verstanden fühlte (Müller 2012).

Diese kleine Vignette zeigt bereits einige Prinzipien der psychodynamischen Kindertherapie: Alles, was in der Therapie geschieht, ist von Bedeutung und ist mit der Symptomatik verbunden. Freud lud den Jungen ein, mithilfe seiner Erzählung die Bedeutung selbst zu entdecken – die Deutung ist eine gemeinsame Schöpfung von Therapeut und Patient. Indem sich Freud auf das Spiel des Jungen einließ und seinerseits einen spontanen Einfall beisteuerte, entstand ein vitaler Bezug zwischen beiden, der einen Raum zum Fantasieren und Nachdenken eröffnete. Eine sehr moderne Behandlungskonzeption: wichtig für den Erfolg einer Therapie ist die Mentalisierung und Symbolisierung, ebenso die Authentizität des Therapeuten.

2.5.2     Der »Fall Dora«

Freuds »Bruchstück einer Hysterie-Analyse«, 1905 veröffentlicht, enthält die Behandlung der zu Beginn der Analyse 17-jährigen Adoleszenten »Dora« (Ida Bauer). Die Jugendliche wurde von ihrem Vater – einst selbst bei Freud in Analyse – zu Freud gebracht, nachdem sie, die bereits seit längerem an hysterischen Symptomen litt, einen Brief hatte herumliegenlassen, in dem sie Suizidabsichten äußerte. Nachdem sie in einem Gespräch mit dem Vater bewusstlos wurde, »wurde trotz ihres Sträubens bestimmt, daß sie in meine Behandlung treten sollte«, so Freud (S. 168). Im Hintergrund steht eine verwickelte Familiengeschichte: Die Eltern von Ida waren befreundet mit einem Ehepaar K. Der Vater hatte ein Verhältnis mit Frau K., Herr K. stellte der Jugendlichen mit sexuellen Avancen nach, zuletzt, als Ida 16 war, schlug er ihr ein heimliches Liebesverhältnis vor. Ihrer Offenbarung wurde von den Eltern nicht geglaubt, Herr K. bestritt alles, Frau K. warf ihr vor, »liebestoll« zu sein.

Die Behandlung wurde nach etwa drei Monaten von der Patientin abgebrochen.

Diese Behandlung gab Anlass zu leidenschaftlicher Auseinandersetzung zwischen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern und ist vielfach kommentiert worden (Burchartz et al. 2016). Einige fundamentale Erkenntnisse für Jugendlichen-Behandlungen lassen sich festhalten:

Freud wollte mit der Veröffentlichung v. a. auf den Zusammenhang von Traum, Hysterie und Sexualität hinweisen. Was ihm noch nicht zur Verfügung stand, war ein tieferes Verständnis von Übertragung und Gegenübertragung – immerhin hat er das Phänomen der Übertragung anhand des Falles präzise herausgearbeitet. Sein wissenschaftliches Interesse hat ihm vermutlich den Blick verstellt, dass Ida nur widerwillig zu ihm in Analyse gekommen war: mit einer »negativen Übertragung«, einem Misstrauen – musste sie doch vermuten, dass Freud mit den Erwachsenen im Bunde steht.

Freud behandelte Ida wie eine Erwachsene – hatte jedoch eine Jugendliche vor sich, die sich vermutlich wünschte, dass er ihr in den Machenschaften der Erwachsenen empathisch beistehen und ihrer Wahrheit Beachtung schenken würde.

Konzepte für Jugendlichen-Behandlungen, auch für die weibliche Sexualität, mussten erst noch entwickelt werden.

Ein typischer Konflikt zeigte sich bereits in dieser Behandlung: Der Auftrag des Vaters, seine Tochter vom Symptom zu befreien, war nicht deckungsgleich mit dem Wunsch der verletzten Adoleszenten. Auch dies hat bis heute Gültigkeit: Die Aufträge und Ziele der Behandlung sind zwischen Eltern und jugendlichen Patienten selten in Einklang zu bringen.

Auch und gerade eingeschränkt erfolgreiche Behandlungen haben in der Psychoanalyse immer zu Fortschritten und neuen Erkenntnissen geführt – darin ist der Wert auch dieses »Bruchstücks« und seiner mutigen Veröffentlichung zu sehen.

2.5.3     Der »Kleine Hans«

Am 30. März 1908 erhielt Freud Besuch von Max Graf, einem Musiker, Journalist, Schriftsteller und Professor am Wiener Konservatorium, der seit 1902 zu Freuds Diskussionszirkel der »Mittwochsgesellschaft« gehörte, und seinem fünfjährigen Sohn Herbert (»Der kleine Hans«). Herbert litt seit Januar 1908 an einer Pferdephobie. Freud widmete sich dem kleinen Jungen, indem er ihn als vollgültigen Gesprächspartner ernst nahm und alles, was das Kind ihm mitteilte, in seine Überlegungen einbezog. Fortan besuchte der Vater Freud über fünf Wochen regelmäßig und erstattete ihm Bericht über die Gespräche mit seinem Sohn. Unter Freuds Anleitung gelang es dem Vater, die unbewusste Bedeutung der Symptomatik des Jungen zu entschlüsseln und ihm so zur Erledigung der Phobie zu verhelfen. (Freud 1909b; vgl. Alt 2016, S. 424 ff.; Burchartz et al. 2016, S. 25 ff.)

Der Junge hatte ein erschreckendes Erlebnis: er beobachtete, wie ein beladener Pferdewagen mitsamt den Pferden umkippte. Er hielt eines der beiden Pferde für tot. Von Angst überwältigt, wollte er fortan kaum mehr aus dem Haus, vermied Situationen, bei denen er Pferden begegnen könnte (schwierig zu einer Zeit, in welcher Pferde als Transportmittel allgegenwärtig waren). Er fürchtete, die Pferde könnten umfallen oder er könnte von einem Pferd gebissen werden. Freud verstand die Angst als mehrfach determiniert: Zum einen hatte Herbert ein verstärktes Interesse an seinem Penis entwickelt und verglich sie mit den entsprechenden Organen der Tiere. Zum anderen erwachte in dem Jungen ein ödipales Begehren der Mutter gegenüber, womit er in einen Konflikt mit dem geliebten Vater geriet. Die Mutter verbot dem Jungen die Beschäftigung mit seinem »Wiwimacher« unter Kastrationsdrohungen. Schließlich hatte es das Kind auch mit der Eifersucht auf seine kleine Schwester zu tun, die geboren wurde, als Herbert 3,5 Jahre alt war. Es gab also genug Grund, eine Strafe für seine verbotenen Wünsche zu fürchten. Der Pferdeunfall diente nun dazu, Hass, Angst vor Rache und Rivalität auf ein phobisches Objekt zu verschieben und sich damit in die schützenden Beziehungen zu seinen vertrauten Objekten zurückzuziehen – mit der Fantasie, mit der Mutter ein Kind hervorzubringen. Erst nachdem die Eltern eine entspanntere Haltung einnehmen konnten und der Junge seine Fantasien angstfreier äußern konnte, legte sich die Phobie.

Freud betonte, dass ödipale Wünsche und Fantasien zu einer normalen Entwicklung gehören. Für ihn hatten die Aussagen des Kindes genauso viel Gewicht wie diejenigen von Erwachsenen. Herbert, ein kluges und wissbegieriges Kind, nahm die Erklärungen des Professors eifrig auf. Nach der Sitzung bemerkte er: »Spricht denn der Professor mit dem lieben Gott, daß er das alles vorher wissen kann?« (Freud 1909b, S. 278). Wir können darin eine idealisierende Übertragung erkennen, die es dem Jungen leicht