Psychologen im Beruf -  - E-Book

Psychologen im Beruf E-Book

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2007
Beschreibung

In diesem Band werden die verschiedenen Berufsfelder, in denen Psychologen tätig sind, anschaulich dargestellt. Die beruflichen Aspekte der Wissenschaftsdisziplin Psychologie werden vermittelt, und es wird aufgezeigt, welche Herausforderungen, Möglichkeiten und Probleme mit einer psychologischen Berufsausübung verbunden sind. Vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen schildern die Autoren Ausbildung, Berufsweg und Berufsalltag sowie Chancen und Grenzen der beruflichen Karrierewege. Durch diese Bottom-Up-Perspektive erhält der Leser einen realistischen und differenzierten Einblick in die facettenreiche Berufswelt von Psychologen.

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In diesem Band werden die verschiedenen Berufsfelder, in denen Psychologen tätig sind, anschaulich dargestellt. Die beruflichen Aspekte der Wissenschaftsdisziplin Psychologie werden vermittelt, und es wird aufgezeigt, welche Herausforderungen, Möglichkeiten und Probleme mit einer psychologischen Berufsausübung verbunden sind. Vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen schildern die Autoren Ausbildung, Berufsweg und Berufsalltag sowie Chancen und Grenzen der beruflichen Karrierewege. Durch diese Bottom-Up-Perspektive erhält der Leser einen realistischen und differenzierten Einblick in die facettenreiche Berufswelt von Psychologen.

Dr. Karin Sternberg ist Research Associate an der School of Public Health and John F. Kennedy School of Government der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. Prof. em. Dr. Manfred Amelang ist Professor für Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung an der Universität Heidelberg.

Karin Sternberg Manfred Amelang (Hrsg.)

Psychologen im Beruf

Anforderungen, Chancen und Perspektiven

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrofilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © 2008 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Data Images GmbH Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

Print: 978-3-17-018850-1

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-022827-6

epub:

978-3-17-028052-6

mobi:

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Klinische Psychologie

1 Klinische Psychologie, Psychodiagnostik und Psychotherapie

2 Notfallpsychologie

3 Begleitung Schwerkranker und Sterbender

4 Gerontopsychologie

5 Neuropsychologe in einer Rehabilitationsklinik für Kinder und Jugendliche

6 Gesundheitspsychologie

Arbeits- und Organisationspsychologie

7 Markt- und Meinungsforschung

8 Personalauswahl und -entwicklung

9 Unternehmensberatung

10 Medienpsychologie und Marketing

11 Selbstständige Psychologen

Pädagogische Psychologie

12 Erziehungsberatung

13 Schulpsychologie

Wissenschaft

14 Psychologie an der Hochschule

15 Wissenschaftler an einem Max-Planck-Institut

16 Neuro- und Biopsychologie

Sonstiges

17 Verkehrspsychologie

18 Forensische Diagnostik

19 Psychologie im Strafvollzug

20 Umweltpsychologie

21 Psychologie bei der Polizei

22 Sportpsychologie

23 Militärpsychologie

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Stichwortverzeichnis

Einleitung

Das Berufsbild von Psychologen ist heutzutage außerordentlich vielseitig. Das Psychologiestudium ermöglicht den Absolventen, sich auf eine Vielzahl von Berufen und Tätigkeiten zu bewerben oder auf seiner Grundlage aufbauend Fortbildungen zu besuchen, die weitere Erwerbsmöglichkeiten bieten. Das Tätigkeitsspektrum reicht von klinisch tätigen Psychotherapeuten über Verkehrspsychologen bis hin zu forensischen Gutachtern und Sportpsychologen. Wer die Wahl hat, hat aber auch die Qual. Es ist schwierig sowohl für Studenten als auch für Konsumenten, einen Überblick über die sich ihnen darbietenden Möglichkeiten zu gewinnen.

Als die Erstherausgeberin in den Jahren 1998–2003 Psychologie an der Universität Heidelberg studierte, war sie angetan von den vielfältigen Möglichkeiten, die sich ihr mit dem Studium auftaten. Ein weiterer Grund für die Anziehungskraft der Psychologie war die Tatsache, dass es sich hierbei kaum um eine »fertige« Wissenschaft handelt, sondern dass die Psychologie ganz wesentlich im Werden begriffen ist. Oftmals findet man beispielsweise konkurrierende Theorien zur Erklärung von Sachverhalten; mit dieser manches Mal unbequemen Eigenschaft gehen allerdings auch extensive Möglichkeiten für die Forschung einher, so dass sich jeder ganz nach Interesse und Begabung einbringen und verwirklichen kann. Aus dieser Situation und der Vielfältigkeit der Subdisziplinen heraus resultiert auch eine große Vielzahl von Berufen, die ihrerseits selbst oft noch im Entstehen und Wandel begriffen sind. Nicht immer gibt es den einen vorgeschriebenen Weg, wenn man als Psychologe oder Psychologin, z. B. bei der Polizei oder im Verkehrswesen, arbeiten will. Oftmals gibt es noch nicht einmal klare Richtlinien für die Ausbildung von Psychologen in der einen oder anderen Sparte. Dadurch freilich wird die Berufswahl schwierig und der Plan erschwert, seine Ausbildung genau seinen Berufswünschen (sofern man denn genaue Vorstellungen hat) anzupassen und darauf hinzuarbeiten.

Genau hieran soll unser Buch ansetzen. Es soll allen Interessierten, seien es Studenten, Psychologen mit dem Wunsch nach Weiterentwicklung oder einfach interessierte Laien, einen praxisnahen und doch fundierten Einblick in die Vielfalt der psychologischen Berufe ermöglichen. Praktiker und Wissenschaftler aus 23 verschiedenen Berufsfeldern erzählen aus ihrem Arbeitsalltag, von Herausforderungen und Hindernissen, aber auch Chancen und Bereicherungen, die sie in ihrem und durch ihren Beruf erfahren. Des Weiteren wird ein Überblick über die Geschichte und Entwicklung des jeweiligen Berufsfeldes sowie die Ausbildung gegeben und werden dem interessierten Leser Informationen an die Hand gegeben, anhand derer er weitere Recherchen betreiben kann. Jedes der Kapitel umfasst daher grundrissartig die folgenden Themen:

Geschichte des Berufsbildes,

Aufgaben und Inhalte des Berufsbildes,

Ausbildung für das Berufsbild, Trainings etc.,

Settings/Institutionen, in denen man arbeiten kann,

Aufstiegschancen,

finanzielle Vergütung,

Motivation der Autoren für die Berufswahl,

Herausforderungen, Chancen, Hindernisse, Probleme,

typischer Tages-/Wochenablauf,

professionelle Vereine, Fachzeitschriften, Informationsquellen,

Ausblick, Entwicklung des Berufsfeldes,

Zusammenfassung, Schlussfolgerungen,

Referenzen.

Neben allen objektiven Informationen war es uns ein besonderes Anliegen, den Autoren unter Einhaltung dieses Grundrisses die Freiheit zu lassen, das zu schildern, was ihnen besonders am Herzen liegt. Dadurch ist jedes Kapitel ein sehr persönliches, das eine individuelle Perspektive zeigt und vor allem dadurch für den Leser zu einer Bereicherung werden kann. Insbesondere im Zusammenhang mit der Schilderung von Tages- oder Wochenabläufen möchten wird darauf hinweisen, dass die Berufsbilder oft sehr vielfältig sind und sich eine Arbeitsstelle durchaus von einer anderen im selben Fachbereich hinsichtlich der anfallenden Tätigkeiten unterscheiden kann. Zudem sind die Tagesabläufe selbst innerhalb einer Stelle oft von Tag zu Tag so unterschiedlich, dass es kaum möglich ist, einen prototypischen Tag oder eine prototypische Woche zu beschreiben. Dennoch haben wir Wert auf solche Schilderungen gelegt, selbst wenn sie denn nicht als ganz »typisch« gelten können, um damit einen lebhaften und illustrativen Eindruck des jeweiligen Arbeitsgebietes zu geben.

Um den Überblick über die verschiedenen Beiträge etwas zu erleichtern, haben wir die Kapitel verschiedenen Kategorien zugeordnet. Der Aufbau des Buches ist daher der folgende:

Klinische Psychologie:

Klinische Psychologie, Psychodiagnostik und Psychotherapie,

Notfallpsychologie,

Begleitung Schwerkranker und Sterbender,

Gerontopsychologie,

Neuropsychologe in einer Rehabilitationsklinik für Kinder und Jugendliche,

Gesundheitspsychologie.

Arbeits- und Organisationspsychologie:

Markt- und Meinungsforschung,

Personalentwicklung und -auswahl,

Unternehmensberatung,

Medienpsychologie und Marketing,

Selbstständige Psychologen.

Pädagogische Psychologie:

Erziehungsberatung,

Schulpsychologie.

Wissenschaft:

Psychologie an der Hochschule,

Wissenschaftler an einem Max-Planck-Institut,

Neuro- und Biopsychologie.

Sonstiges:

Verkehrspsychologie,

Forensische Psychologie (Gutachtertätigkeit),

Psychologie im Strafvollzug,

Umweltpsychologie,

Psychologie bei der Polizei,

Sportpsychologie,

Militärpsychologie.

In diesem Sinne wünschen wir allen unseren Lesern eine spannende und informative Lektüre beim Explorieren all dessen, was die Psychologie zu bieten hat, und hoffen, dass der eine oder andere Einsichten und neue Perspektiven erfährt, die ihm bis dahin unbekannt waren.

Herbst 2007

Karin Sternberg Manfred Amelang

Klinische Psychologie

1 Klinische Psychologie, Psychodiagnostik und Psychotherapie

Martin Hautzinger

Einleitung und Gegenstandsbestimmung

1

Eigener Werdegang

2

Aufgaben und Tätigkeiten

3

Tagesablauf, Wochenablauf

4

Ausbildung

5

Institutionen, Berufsfelder, Karrieren und Vergütungen

6

Was braucht man, um erfolgreich zu sein

7

Zukunftsperspektive

8

Informationsquellen, Fachgesellschaften, Fachzeitschriften

Literatur

Einleitung und Gegenstandsbestimmung

Klinische Psychologie ist jener Teilbereich der Psychologie, der sich mit der Epidemiologie, der Klassifikation, der Diagnostik, der Ätiologie, dem Verlauf und der Entwicklung, der Vorbeugung und der Behandlung psychischer und physiologischer Störungen (Krankheiten) zu allen Lebensphasen und über die gesamte Lebensspanne hinweg wissenschaftlich und praktisch beschäftigt. Zwar kann der Begriff »klinische Psychologie« schon auf eine hundertjährige Geschichte zurückblicken (Hautzinger, 2007a), doch entwickelte sich dieser Anwendungsbereich der Psychologie erst seit etwa 50 Jahren. Heute gehört er zu dem wissenschaftlich dominierenden Teilgebiet der Psychologie mit Verbindungen zu allen Bereichen der Medizin, doch insbesondere zur Psychiatrie und Psychosomatik (Verhaltensmedizin), und ist der Hauptbeschäftigungsbereich der Hochschulabsolventen. Etwa die Hälfte aller Diplompsychologen arbeitet später im klinischen Bereich.

Klinisch-psychologische Wissenschaftler beschäftigen sich mit Fragen der Verteilung und der Häufigkeit von (psychischen) Krankheiten, den sozialen, biologischen und psychologischen Risiko-, Entstehungs- und Auslösefaktoren von seelischen und körperlichen Krankheiten sowie der Entwicklung und Evaluation von Therapie-, Rehabilitations- und Präventionsprogrammen. Dazu benützen sie Methoden, die von der Einzelfallbetrachtung über Gruppenstudien bis hin zu Experimenten an Tieren und am Menschen reichen. Als Informationsquelle werden Beobachtungen, Befragungen, Einschätzungen, Tests, Apparate, elektrophysiologische und bildgebende Verfahren sowie Verhaltensproben erdacht und eingesetzt. Klinisch-psychologische Wissenschaftler greifen auf endokrinologische, humorale, physiologische, neurobiologische, sozial- und persönlichkeitspsychologische, entwicklungspsychologische, kognitive, lern-, emotions- und motivationspsychologische Theorien zurück, ohne die wissenschaftliche Erkenntnisse nicht möglich sind.

Klinisch-psychologische Praktiker wenden psychologische Erkenntnisse der Diagnostik und der Intervention auf die unterschiedlichsten klinischen Probleme bei Zielgruppen jeden Lebensalters an. Die Tätigkeitsfelder befinden sich in Kliniken und Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen, Heimen, Beratungsstellen, Justizvollzugsanstalten, Versicherungen, Gesundheitsämtern, Betrieben, Verwaltungen und Organisationen, Schulen und Hochschulen sowie niedergelassen in eigener Praxis als Psychotherapeuten oder als klinisch-psychologische Gutachter. Diese Vielfalt an Tätigkeitsfeldern bringt höchst unterschiedliche Aufgaben hervor, die im weiteren Verlauf des Berufslebens zur Spezialisierung und – durch z. T. durch gesetzliche Regelungen erzwungene Fort- und Weiterbildungen (Psychotherapie, Neuropsychologie) – zur vertiefenden Professionalisierung und Qualifizierung führen.

1Eigener Werdegang

Bereits während meines Studiums (1971–1976) begann ich mich für psychische Erkrankungen, damals besonders für die Entstehung und die Behandlung von Agoraphobien, Zwangsstörungen und Depressionen zu interessieren. Das lag vor allem an den Dozenten, die es schafften, einen Bogen von den Grundlagenfächern und den Theorien zur Praxis, zu Krankheiten, zu Verhaltensänderungen und zu Behandlungsmöglichkeiten zu schlagen. Ich wurde von einem Dozenten eingeladen, an einer kleinen, privaten Runde teilzunehmen, um mich mit der aktuellen, damals erst entstehenden verhaltenstheoretischen und kognitionspsychologischen Fachliteratur zu befassen. Eine kleine Gruppe von interessierten fortgeschrittenen Studenten traf sich regelmäßig, um die gelesenen Forschungsberichte zu diskutieren. Dies fand ich faszinierend. Vor allem fand ich es spannend, dass es möglich wurde, mit den experimentellen und empirischen Methoden die Entstehung und die Behandlung psychischer Störungen zu untersuchen. Bei klassischen psychiatrischen Erkrankungen (Depressionen, Ängste, Zwänge, Autismus, geistige Behinderung, Alkoholismus usw.) waren plötzlich psychologische Konzepte verfügbar, die außerdem Interventionen ermöglichten, die sich in kontrollierten Studien den klassischen bzw. medizinischen Maßnahmen als ebenbürtig oder sogar überlegen erwiesen. Ich bekam die Möglichkeit, diese Methoden zu erlernen und an Patienten unter Anleitung zu erproben und an Forschungsprojekten als studentische Hilfskraft, später als Doktorand, mitzuarbeiten. Einige der mich interessierenden ausländischen Wissenschaftler kamen sogar an mein damaliges Institut, und so konnte ich aus erster Hand erleben, wie Neues entstand und wie faszinierend die Verbindung von Forschung und Praxis war.

Da die damalige Ausbildung in klinischpsychologischer Diagnostik und in psychotherapeutischen Methoden noch fest in den traditionellen psychiatrischen bzw. psychoanalytischen Händen war, blieb mir nur das »Ausweichen« zu den Erneuerern, also in die USA. Dort lernte ich aus erster Hand, wie moderne klinische Forschung und Therapie funktioniert, und konnte sehen, wie mir das gefiel. Meine klinisch-diagnostische und psychotherapeutische Ausbildung erhielt ich dadurch, dass wir uns die Methoden wechselseitig beibrachten, Workshops bei den Erfindern bzw. Autoren dieser Methoden (wo immer diese Workshops auch stattfanden) besuchten, und bei den jeweiligen Kliniken und Wissenschaftlern einige Zeit verbrachten, um Anleitung zu erfahren. Ich hatte das Glück, dass ich fast unmittelbar das Gelernte in der Praxis erproben konnte. Dabei bestand die Praxis nicht nur aus der Durchführung von Behandlungen, sondern aus diagnostischen Untersuchungen (Interviews, Tests, Verhaltensbeobachtungen) und vor allem auch aus der Beteiligung an Forschungsprojekten, der Entwicklung von Fragestellungen sowie von Versuchsplänen. Bis zu meiner Promotion arbeitete ich in der Erwachsenenpsychiatrie, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der Hochschulambulanz, bei einer niedergelassenen Psychiaterin und im Psychologischen Institut als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent für die praxisnahen Fallseminare der Hauptfachstudierenden.

Ein Stipendium (1981–1983) erlaubte mir dann, für fast zwei Jahre in den USA zu forschen, Patienten zu sehen und zu versorgen, Studenten zu unterrichten, mich in neue Bereiche (z. B. die klinische Gerontopsychologie) einzuarbeiten und dazu praktische Erfahrungen zu sammeln. Seit dieser Zeit hat mich die Verbindung von Wissenschaft und Praxis, von Lehre und Forschung nicht mehr losgelassen.

Heute bin ich seit über 20 Jahren an verschiedenen Universitäten als Hochschullehrer in der Entwicklung und Evaluation diagnostischer Instrumente und Beurteilungssysteme und unterschiedlichster Präventions- und Therapieverfahren sowie in der Unterrichtung von Studierenden und Doktoranden tätig. Ich sehe Patienten, leite Studierende an, supervidiere Therapeuten, beantrage und verwirkliche klinische Forschungsprojekte, schreibe Anträge auf Forschungsmittel, verfasse Berichte und wissenschaftliche Veröffentlichungen, publiziere Lehrbücher und praktische Anleitungen (sog. Therapiemanuale). Ein großer Teil meiner Zeit ist auch durch Verwaltung, Sitzungen, Besprechungen, Begutachtungen und Prüfungen gefüllt.

Ich finde es unverändert bereichernd, Dinge zu ergründen, das Zusammenwirken von körperlichen und seelischen Vorgängen zu begreifen, alte Konzepte aufzugeben und Neues zu entwickeln, das Erleben und Verhalten von Menschen und insbesondere Krankheitsprozesse zu verstehen, dafür Behandlungsprogramme zu entwickeln, diese zu evaluieren und, wenn nötig, wieder aufzugeben bzw. zu verändern. Ich gebe mein Wissen und die Forschungsergebnisse gerne weiter, sehe Patienten und wende dort unterschiedliche diagnostische und psychotherapeutische Methoden an. Ich freue mich darüber, wenn dies zu Verbesserungen und Problemüberwindung führt. Ich schreibe gerne (außer Gutachten!), halte Vorlesungen und Vorträge, führe Workshops und Seminare durch und stelle mich den Fragen der Studenten und der Praktiker. Der Austausch mit und die vielfältigen Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in der ganzen Welt verstärken und erzeugen ein Gefühl der Befriedigung. Dies alles füllt mich nun seit 30 Jahren aus und hat zu keiner Zeit an Faszination verloren, auch wenn mein Arbeitstag oft zwölf und mehr Stunden hat und ich selten ein Wochenende oder einen Urlaub ohne »Arbeit« verbringe.

2Aufgaben und Tätigkeiten

Als verantwortlicher Klinischer Psychologe, Psychodiagnostiker und Psychotherapeut an einem Universitätsinstitut ergeben sich folgende Aufgaben:

Durchführung von Lehrveranstaltungen für Haupt- und Nebenfachstudierende in den Fächern klinische Psychologie (Vorlesung, Seminare, Praktika, Kolloquien), klinisch-psychologische Diagnostik (Seminare, Praktika), psychologische Interventionen (Vorlesung, Seminare) und Psychosomatik (Vorlesung, Seminar) im Umfang von neun Stunden pro Woche in jedem Semester;

Abnahme von mündlichen und schriftlichen Prüfungen in diesen Fächern (ein Prüfungstag mit acht Stunden pro Monat);

Beratung von Studierenden in den genannten Fächern (wöchentlich ca. drei Stunden);

Betreuung von Diplomarbeiten und Dissertationen (wöchentlich ca. acht Stunden);

Begutachtung von Manuskripten für Fachzeitschriften, Herausgeberschaft von Fachzeitschriften und Büchern, Begutachtung von Forschungsanträgen und Schreiben von Gutachten für Studierende, für nationale und internationale Stiftungen und Forschungsorganisationen u. Ä. (wöchentlich ca. sechs Stunden);

Supervision und Betreuung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Therapeutinnen und Therapeuten, Ärzte und Ärztinnen der psychotherapeutischen Hochschulambulanz und anderer klinischer Einrichtungen. In der zur Abteilung gehörenden psychotherapeutischen Hochschulambulanz werden pro Jahr ca. 300 Patienten (Kinder, Erwachsene, Familien, Gruppen) psychodiagnostisch und psychotherapeutisch betreut (ca. zehn Stunden wöchentlich);

Untersuchung und Behandlung von (eigenen) Patienten (wöchentlich ca. vier Stunden);

Planung und Durchführung von wissenschaftlichen Forschungsprojekten, Betreuung der darin tätigen Mitarbeiter, Besprechung mit Fachkollegen und anderen Wissenschaftlern (wöchentlich ca. sechs bis acht Stunden);

Vorträge und Einladungen an andere Institutionen (wöchentlich ca. vier Stunden);

Vorbereitung der Lehrveranstaltungen, der Vorträge und Präsentationen, Verfassung von wissenschaftlichen Publikationen und Fachbüchern (wöchentlich ca. zehn Stunden);

Verwaltungstätigkeiten und Sitzungen im Institut, in der Fakultät und im Rektorat (wöchentlich ca. sechs Stunden).

Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Aufgaben nicht innerhalb einer normalen Arbeitswoche zu schaffen sind. Klinische Psychologie und Psychodiagnostik ist ein sehr vielfältiges und lebendiges, ein sehr (!) beliebtes Fach, das den Absolventen interessante Berufsperspektiven bietet. Dementsprechend ist die Zahl der Studierenden und Doktoranden groß, die Nachfrage nach Betreuung (Supervision) auch der Berufstätigen (Postgraduierten) in unterschiedlichen Bereichen hoch, die Nachfrage nach Beratung und Behandlung von Patienten wachsend und kaum zu bewältigen und die Möglichkeiten für Forschung bzw. Antragstellung auf Forschungsmittel vielfältig. Selbst wenn man als klinischer Psychologe vor allem psychotherapeutisch tätig ist, ergeben sich die unterschiedlichsten Aufgaben und Anforderungen, die beispielhaft an einem Ablaufdiagramm erkennbar werden (siehe Abb. 1). In dem Schaubild sind bezogen auf einen Patienten in einer Ambulanz, einer Beratungsstelle oder einer klinischen Einrichtung die diagnostischen und therapeutischen Aufgaben dargestellt, ferner die Evaluation und Erfolgskontrolle sowie die Antrags- bzw. Berichterstellung. Wenn man sich nun klar macht, dass in einer Einrichtung oder einer Praxis pro Woche sehr viele Patienten gesehen werden, und man sich außerdem verdeutlicht, dass auch die Praktiker und Therapeuten angehalten sind, Fortbildungskurse zu besuchen, Fachliteratur zu lesen, Berichte und Gutachten zu erstellen und Vorträge und Informationsveranstaltungen zu halten, dann wird schnell deutlich, dass viele der zuvor genannten Aufgaben auch dort, wenngleich mit unterschiedlichem Umfang, anfallen.

Abb. 1: Diagnostische Aufgaben und Entscheidungen im Rahmen einer Psychotherapie. Die hervorgehobenen Aspekte bezeichnen die Aufgaben eines klinischen Psychologen im Rahmen einer Beratung bzw. Therapie (nach Hautzinger 2004).

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

9:00–10:00

Büro Verwaltung

9:00–12:00

Hochschulambulanz, Fallkonferenz, Supervision

9:00–12:00

Büro Verwaltung, Vorstandsitzung

9:00–12:30

Vorlesung

9:30–14:00

Büro Verwaltung, Besprechung, Anrufe, Gutachten

7:00

Abflug nach Hamburg

10:00–13:00 Prüfungen

10:00–17:30

Fortbildungsveranstaltung (Kurs) für Psychologische Psychotherapeuten (im Rahmen der staatlichen Ausbildung Psychotherapie)

13:00–14:00

Pause

12:00–13:00

Pause

12:00–13:00

Doktorandin

13:00–14:00

Pause Büro, Anrufe

14:00–16:00

Prüfungen

13:00–17:00

Sprechstunde Doktoranden Diplomanden

13:00–14:00

Doktorandin

14:00–18:00

Seminare

14:00–15:00

Patient (Notfall)

16:00–18:00

(Nebenfach-) Vorlesung

14:00–15:00

Büro Verwaltung

15:00–18:30

Forschungsbesprechung im Klinikum

18:00–20:00

Diplomandenkolloquium

17:00–18:00

Büro Verwaltung

15:00–18:00

stündlich Patienten

18:00–20:00

Büro Verwaltung

20:00–22:00

Büro, Verwaltung, Gutachten

18:00–21:00

Institutskolloquium Abendessen mit Gast

18:00–21:00

Büro Verwaltung, Vorbereitung der Lehre für den nächsten Tag

20:00–21:30

Therapeuten Supervision (Psychiater, Psychologen)

19:00–20:00

Büro Verwaltung, Vorbereitung für den nächsten Tag

19:00

Rückflug

22:00

Rückkehr nach Hause

Abb. 2: Typische Woche eines klinischen Psychologen an der Universität

3Tagesablauf, Wochenablauf

Die oben geschilderten Aufgaben lassen sich gut an einer typischen Woche illustrieren (siehe Abb. 2). Der Montag ist von 10 bis 16 Uhr verplant mit (mündlichen) Diplomprüfungen in klinischer und in diagnostischer Psychologie. Bei jeder dieser Prüfungen muss eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter als Protokollant anwesend sein.

Davor fallen bereits Verwaltungsaufgaben an. Nach den Prüfungen finden Lehrveranstaltungen (Nebenfachvorlesung und Diplomanden- und Doktorandenkolloquium) statt. Erst nach 20 Uhr komme ich dazu, die im Laufe des Tages eingegangene Post zu beantworten, was mich noch bis nach 22 Uhr beschäftigt.

Der Dienstagvormittag ist verplant für Besprechungen und die Supervision der Hochschulambulanz. Es werden Patienten vorgestellt, diagnostische und therapeutische Fragen besprochen und Eingangs- und Abschlussuntersuchungen diskutiert. Ab 13 Uhr kommen Diplomanden und Doktoranden, doch auch alle möglichen anderen Leute, während der wöchentlichen Sprechstunde zu mir, um Fragen und Anliegen zu klären, Pläne und Vorhaben zu diskutieren und Auswertungen vorzustellen. Je nach Anliegen habe ich für jeden zwischen 15 und 30 Minuten Zeit. Dazwischen klingelt immer wieder das Telefon. Diese Sprech- und Beratungszeit geht bis 17 Uhr. Schnell erledige ich noch einige Verwaltungsdinge, leiste Unterschriften und telefoniere, bevor um 18 Uhr das Institutskolloquium mit einem ausländischen Gast beginnt, was mich bis 20 Uhr beschäftigt. Der Mittwoch ist am Vormittag mit Verwaltungsaufgaben, Briefen und Telefonaten gefüllt. Um 12 Uhr kommt eine auswärtige Doktorandin vorbei. Sie stellt mir ihre Untersuchungsergebnisse vor, und wir besprechen weitere Auswertungsmöglichkeiten. Gegen 13 Uhr folgt eine weitere Doktorandin, die jedoch noch in der Planungs- und Vorbereitungsphase ihres Forschungsvorhabens ist. Sie überrascht mich damit, dass sie möglichst bis Ende der Woche ein Gutachten von mir braucht, damit sie sich bei einer Stiftung um ein Stipendium bewerben kann. Ab 15 Uhr habe ich bis 18 Uhr im Stundentakt Patienten einbestellt. Zwei davon sehe ich schon längere Zeit, während eine Patientin zur Abklärung und Diagnostik von einer lokalen Nervenärztin überwiesen wurde. Erst danach komme ich dazu, mich für die Vorlesung und die Seminare am nächsten Tag vorzubereiten. Es wird wieder fast 23 Uhr, bis ich zu Hause bin. Der gesamte Donnerstag (von 9 bis 18 Uhr) ist mit Lehrveranstaltungen gefüllt. Danach bin ich »geschafft«, und ich erledige rasch noch meine Post, bevor ich um 20 Uhr das Büro verlasse. Der Freitag fängt später (9:30 Uhr) an. Ich habe in der Verwaltung und im anderen Institutsgebäude zu tun. Gegen Mittag habe ich mich mit einem früheren Doktoranden verabredet, der mit mir zusammen ein Forschungsvorhaben plant, dessen Antrag bis Monatsende fertiggestellt sein muss. Um 14 Uhr habe ich einen Patienten »dazwischen geschoben«, daher komme ich kurz nach 15 Uhr verspätet zu einer Besprechung mit ärztlichen Kollegen, um einen Antrag für die Ausschreibung »Gesundheit im Alter« zu überlegen und schließlich zu verabreden. Für diesen Antrag haben wir immerhin noch vier Wochen Zeit, doch die Weihnachtsferien werden wohl wieder darunter leiden. Am Samstag früh besteige ich bereits um kurz nach 7 Uhr das Flugzeug, das mich nach Hamburg bringt, denn dort ist für den ganzen Tag eine Fortbildungsveranstaltung für psychologische Psychotherapeuten verabredet. Ohne viel von der Stadt gesehen zu haben, fliege ich danach, abends um 19.30 Uhr, zurück. Für den Sonntag habe ich mir nichts vorgenommen, doch liegen noch drei Diplomarbeiten zur Benotung und zwei Forschungsanträge zur Stellungnahme für eine Forschungsförderorganisation auf meinem Schreibtisch.

In der darauf folgenden Woche war ich am Mittwochnachmittag in Frankfurt als Mitglied einer Berufungskommission, am Freitag in München in einer Leitungsgremiumssitzung des Kompetenznetzes Depression (Forschungsverbund) und am Samstag in Zürich (Supervision von Psychotherapeuten). In der Woche zuvor war ich von Donnerstagnachmittag (gleich nach der Vorlesung) bis Samstagabend in Berlin auf einem großen Kongress mit zwei Vorträgen und einem halbtägigen Forschungstreffen zur Organisation eines neu bewilligten multizentrischen Forschungsprojekts beschäftigt. Dementsprechend mussten Patiententermine verlegt und für zwei Seminare Vertretungen organisiert werden.

4Ausbildung

Klinische Psychologie und Psychodiagnostik sind wichtige Teile des Psychologiestudiums, die nach dem Vordiplom im Diplomstudiengang Psychologie oder im Bachelorstudium und im Masterstudium Psychologie angeboten, besucht und geprüft werden. Psychodiagnostik ist zum einen ein grundlegendes Methodenfach der Psychologie und damit für alle Teil- und Anwendungsbereiche der Psychologie relevant. In jedem Anwendungsbereich gibt es jedoch spezifische psychodiagnostische Fragestellungen und Methoden, die meist Teil der Ausbildung, z. B. in der klinischen Psychologie, sind.

Bachelorstudium Diplomstudium (meist im 5. und 6. Semester bzw. im 3. Studienjahr)

Vorlesung: Grundlagen der psychologischen Diagnostik

Übung: Psychometrie, Testtheorie, Testkonstruktion

Seminare (wahlweise):

Leistungsdiagnostik Persönlichkeitsdiagnostik Computergestützte Diagnostik

Masterstudium Diplomstudium (Anwendungsbereiche meist im 7. bis 9. Semester)

Vorlesung: Psychologische Intervention

Seminare (wahlweise):

Klinische/Neuropsychologische Diagnostik, Entwicklungs-/Pädagogische Diagnostik, Arbeitspsychologische Diagnostik

Praktikum:

Begutachtung und Gutachtenerstellung, Diagnostik und Intervention in diversen Anwendungsbereichen

Abb. 3: Mögliche (typische) Ausbildungsinhalte im Fach Psychodiagnostik und Intervention (Diplom und Bachelor/Master). Je nach lokalen Schwerpunkten und der damit verbundenen Studienordnung variieren diese Veranstaltungen in Inhalt und Umfang.

Die Ausbildung in Psychodiagnostik umfasst Vorlesungen, Seminare und Übungen zur Theorie des Diagnostizierens, zu den Problemen und Merkmalen diagnostischer Entscheidungen, zur Psychometrie, zur Testkonstruktion, zur Skalierung, zur Persönlichkeits-, Leistungs- und Intelligenzdiagnostik, zur apparativen und computergestützten Diagnostik und zur Begutachtung und Gutachtenerstellung sowie zu Fragen der Indikation und Intervention. Dabei beziehen sich diese Fragen auf grundlegende Probleme, z. B. welche Folgerungen aus dem diagnostischen Befund zu ziehen sind und welche Maßnahmen zur Behebung von Defiziten, zur Erreichung von Zielen oder zur Stabilisierung des Erreichten sinnvoll und angezeigt sind. Beispielhaft sind in Abbildung 3 typische Lehrveranstaltungen zur Psychodiagnostik im Rahmen einer universitären Ausbildung aufgeführt.

Psychodiagnostik ist meist kein eigenständiges Berufsfeld, sondern es ist eine zentrale psychologische Tätigkeit in bestimmten psychologischen Tätigkeitsbereichen, etwa in der Schulbehörde, in den Personalabteilungen von Betrieben, in medizinischen Kliniken oder in der Begutachtung für Behörden, Gerichte und Versicherungen. Die jeweiligen psychodiagnostischen Aufgaben erfordern dabei immer das inhaltliche Wissen und die fachliche Kompetenz des Tätigkeitsfeldes (z. B. Glaubwürdigkeit, forensische Psychiatrie, berufliche Aufgaben in dem Betrieb, Ergonomie, Werbepsychologie, Verkehrspsychologie usw.).

Bachelorstudium Diplomstudium (meist im 5. und 6. Semester bzw. im 3. Studienjahr)

Vorlesung (zwei- bis dreistündig): Klinische Psychologie I und II

Seminar (zweistündig):

Vorlesungsbegleitendes bzw. vertiefendes Seminar zu ausgewählten Themen der klinischen Psychologie und Psychotherapie

Masterstudium Diplomstudium (Anwendungsbereiche meist im 7. bis 9. Semester)

Vorlesung/Übung (zwei- bis dreistündig):

Klinische Psychologie und Psychotherapie (Vertiefung) Verhaltensmedizin und Psychosomatik (Vertiefung)

Forschungsseminare (zweistündig):

Angststörungen

affektive Störungen

Störungen im Kindes- und Jugendalter

Substanzabhängigkeiten

psychophysiologische

und somatoforme Störungen

schizophrene und psychotische Störungen

hirnorganische und kognitive Störungen

Dabei kommt der Forschungsbezug neben dem Anwendungsbezug stärker zur Geltung.

Praktikum/Fallseminar (vierstündig):

Praxis und Anwendung ausgewählter Themen der klinischen Psychologie und Psychotherapie. Dabei können einzelne Störungsbilder oder psychotherapeutische Methoden oder auch Diagnostik und Begutachtung im Mittelpunkt stehen.

Abb. 4: Typische Ausbildungsinhalte im Fach Klinische Psychologie und Psychotherapie (Diplom und Bachelor/Master). Je nach lokalen Schwerpunkten und der damit verbundenen Studienordnung variieren diese Veranstaltungen in Inhalt und Umfang.

Die Ausbildung in klinischer Psychologie umfasst Vorlesungen, Seminare und Fallseminare (Übungen, Praktika). Die Vorlesungen befassen sich mit den wissenschaftlichen und theoretischen Grundlagen, der klinischen und klassifikatorischen Diagnostik, den Störungsbildern, den psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, den Forschungsbefunden zur Entstehung, zum Verlauf und zu den Risikofaktoren psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, der Differentialdiagnostik, den Behandlungsmöglichkeiten, der Psychotherapie und der Prävention aller Störungen über die gesamte Lebensspanne hinweg. Die Seminare vertiefen diese diagnostischen, theoretischen, wissenschaftlichen und therapeutischen Themen zu einem Störungsbild (z. B. Substanzabhängigkeit) oder zu einem Bereich (z. B. Kindes- und Jugendalter). Die praktischen Veranstaltungen erlauben dann die konkrete und praktische Erfahrung mit Praxisausschnitten, die wiederum von der klinischen Diagnostik (z. B. standardisierte Interviews) bis hin zur Behandlung (z. B. Gruppentherapie für Patienten mit einer Zwangsstörung) reichen kann. Die Abbildung 4 illustriert eine typische Abfolge von Ausbildungsinhalten in der klinischen Psychologie.

Ausbildungsteile

vorgeschriebene Stundenzahl

Praktische Tätigkeit (1,5 Jahre)

in psychiatrisch-klinischer Einrichtung

1 200

in psychosomatisch-psychotherapeutischer Einrichtung bzw. in kinder- und jugendlichen Einrichtung

600

Theoretische Ausbildung

600

Praktische Ausbildung in Krankenbehandlung unter Supervision (nach jeder vierten Sitzung)

600

150

Selbsterfahrung (Einzel- und Gruppenselbsterfahrung)

120

Weitere, nicht festgelegte Ausbildungsinhalte

930

Gesamtumfang der Weiterbildung (drei Jahre)

4 200 Stunden

Abb. 5: Weiterbildung zum psychologischen Psychotherapeuten bzw. Kinder- und Jugendpsychotherapeuten (nach Hautzinger, 2007b)

Der Studienabschluss »Diplom« oder »Master« in Psychologie (mit Schwerpunkt in klinischer Psychologie) erlaubt dann den Einstieg in eine postgraduale Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten bzw. zum Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Diese Ausbildung ist durch ein Bundesgesetz geregelt und wird daher auch durch staatliche Organe (Landesprüfungsämter) kontrolliert. Die Ausbildung erfolgt an dafür anerkannten (privaten oder universitären) Instituten. Diese theoretische und praktische Ausbildung ist kostenpflichtig und teuer (ca. 25 000 Euro), wenngleich die Ausbildungskosten in der Regel durch therapeutische Tätigkeiten im Rahmen der Ausbildung wieder komplett hereingeholt (erwirtschaftet) werden. Eine Übersicht über diese dreijährige Ausbildung ist der Abbildung 5 zu entnehmen.

Ein klinischer Psychologe muss diesen zusätzlichen postgradualen Ausbildungsgang zum Psychotherapeuten nicht unbedingt absolvieren. Es gibt zahlreiche Berufs- und Praxisfelder, für die diese Zusatzausbildung nicht erforderlich ist. Mit dem Diplom bzw. dem Master ist eine erfolgreiche Tätigkeit in Kliniken, Heimen, Beratungsstellen, Betrieben, Organisationen und selbstverständlich auch an den Hochschulen und in der Forschung im In- und Ausland möglich.

5Institutionen, Berufsfelder, Karrieren und Vergütungen

Als klinischer Psychologe ist man qualifiziert, in den unterschiedlichsten Institutionen zu arbeiten. Das Hauptarbeitsfeld sind jedoch Krankenhäuser, Kur- und Rehabilitationskliniken, medizinische Dienste der Krankenkassen, Beratungsstellen, private Praxen (Psychotherapie) sowie Fachhochschulen, Universitäten und Forschungsorganisationen. Es gibt jedoch auch klinische Psychologen in Betrieben, Behörden, beim Fernsehen, beim Militär, in Hilfswerken, in Sportvereinen, in Schulen und in internationalen Organisationen (z. B. WHO). Klinische Psychologen sind mit ihrem Wissen und ihren Kompetenzen erfolgreiche Trainer (coaches) in der Wirtschaft und im Profisport. Während im klassischen klinischen Rahmen (Psychodiagnostik, Psychoedukation, Beratung, Neuropsychologie, Psychotherapie) und an den Hochschulen (Unterricht, Anleitung, Beratung, Forschung) die Aufgaben und Erwartungen klar definiert sind, sind die Aufgaben und Funktionen in den anderen genannten Bereichen unschärfer, oft gar nicht auf »klinische Psychologie« ausgerichtet oder ganz vage. Es liegt dann am Einzelnen, wie er sein Wissen, die Fertigkeiten, Analyse- und Problemlösefähigkeiten, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit einbringt, um z. B. beim Fernsehen bei der Produktion von Filmen und Serien aktiv beteiligt zu werden oder beim Militär bzw. bei Hilfsorganisationen in Krisengebieten und Katastrophen hilfreich zu sein.

Aus Erhebungen der Agentur für Arbeit wissen wir, dass von den Hochschulabsolventen in Psychologie die Mehrheit (ca. 50 %) in den klassischen Bereichen (s. o.) im Gesundheitswesen Arbeit findet. Für mich war und ist ein wesentliches Merkmal eines guten klinischen Psychologen die Flexibilität und Neugier für neue Aufgaben, die Bereitschaft zur Weiterentwicklung und die Offenheit für bislang unbekannte Aufgaben und Tätigkeiten.

Heute gibt es in vielen klinischen Einrichtungen spezielle psychologische Abteilungen bzw. Dienste, die dann für unterschiedliche Aufgaben und Serviceleistungen verantwortlich sind. Ebenso häufig sind jedoch die klinischen Psychologen in die Abteilungsstruktur einer klinischen Einrichtung eingebunden und übernehmen zusammen mit den Ärzten die Diagnostik und Therapie der Kranken. Je nach Größe der Abteilung bzw. des psychologischen Dienstes entsteht eine Hierarchie dahingehend, dass es eine Leitungsposition (sog. leitender Psychologe) gibt, die gegenüber der Klinikleitung repräsentiert bzw. verantwortlich ist. In einigen klinischen Bereichen (vor allem in der Psychosomatik und in Suchtkliniken) haben klinische Psychologen bereits Klinikleitungsfunktionen übernommen.

Die Eingruppierung (Vergütung) erfolgt in Abhängigkeit von der Berufserfahrung nach den tarifrechtlichen Bestimmungen. In vielen Kliniken unter privater Trägerschaft gibt es besondere Vergütungsvereinbarungen. In der Regel sind klinische Psychologen heute den Ärzten gleichgestellt. Die Anfangsgehälter für klinische Psychologen in Institutionen liegen zwischen 45 000 und 50 000 Euro (Bruttogehalt). Im öffentlichen Dienst, in Universitäten (Professoren) doch auch in privaten Einrichtungen sind Aufstiege bis zur Leitungs- und Direktorenebene mit einem Gehalt von bis zu 90 000 Euro (Bruttogehalt) möglich. Die niedergelassenen Psychotherapeuten bzw. auch die selbstständig tätigen klinischen Psychologen erreichen im Durchschnitt ähnliche Bezüge, wobei hier die Streuung (Unter- und Obergrenze) der erzielten Einkommen sehr groß ist und von konjunkturellen bzw. politischen Bedingungen (z. B. Gesundheitsreform) beeinflusst wird.

6Was braucht man, um erfolgreich zu sein

Um ein guter klinischer Psychologe und Psychodiagnostiker zu werden, braucht man sicherlich gute Abschlussnoten, doch ein erfolgreicher Studienabschluss macht noch keinen guten Kliniker aus. Hierfür braucht man vor allem Offenheit, Interesse an klinischen Themen (Störungen, Krankheiten, Schicksale), soziales Geschick, Interesse an Menschen und ihren Schicksalen, keine Vorurteile, Kommunikationsfreudigkeit, Kommunikationskompetenzen, Frustrationsbereitschaft, Sicherheit im Auftreten (selbst in stark belastenden Situationen) und Verantwortungsbewusstsein. Diese Eigenschaften sollten gepaart sein mit breitem Wissen in psychologischer Diagnostik, Persönlichkeits- und Sozialpsychologie, Entwicklungspsychologie, biologischer Psychologie und Psychopathologie.

Personen, die klinische Psychologie betreiben, um sich selbst besser zu verstehen, um sich selbst damit zu helfen, oder aus aufopfernder Nächstenliebe und verklärter Menschenfreundlichkeit, werden beruflich scheitern und ihren persönlichen Zielen daher kaum nahekommen. Personen, die unsicher, umständlich, unkonkret und unstrukturiert sind, die ungern vor anderen reden, die sich schwer tun, sich in andere einzufühlen oder deren Sicht- und Empfindungsweisen zu verstehen, bringen Eigenschaften mit, die für die Tätigkeit eines klinischen Psychologen wenig förderlich sind. Personen, die selbst labil, impulsiv, chaotisch, aggressiv oder psychisch krank sind, sollten nicht klinisch psychologisch und psychotherapeutisch tätig sein. Schließlich zeigt sich immer wieder, dass diejenigen, die klinische Psychologie deshalb wählen, weil ihre Abschlussnoten nicht so gut ausgefallen sind, im Beruf des klinischen Psychologen scheitern.

Als klinischer Psychologe muss man in der Lage sein, emotionale Belastungen auszuhalten, Verantwortung für andere (kranke) Menschen (Kinder, Erwachsene) zu übernehmen, bizarres und verstörendes Verhalten und Erleben zu ertragen, nicht immer Erklärbares auszuhalten, und man muss doch bemüht sein, dies wissenschaftlich und mit psychologischen Theorien zu erklären und Schmerzen und Leid anderer mit professioneller Distanz, doch unter angemessen menschlicher Anteilnahme zu begegnen.

Notwendige Eigenschaften/Fertigkeiten: Psychologisches Wissen in Forschungsmethoden, in Psychodiagnostik, in psychologischen Theorien, in Psychopathologie, in Interventionsmethoden, soziale und interpersonelle Fertigkeiten (zuhören, einfühlen, kommunizieren), Selbstbewusstsein, Sicherheit, Stresstoleranz, emotionale Stabilität, Offenheit, Selbstreflexion, Strukturiertheit, Vorurteilsfreiheit, Neugierde, Lernbereitschaft.

7Zukunftsperspektive

Psychologie (insbesondere klinische Psychologie) ist ein interessantes, lebendiges und sehr begehrtes Fach. Die Berufsaussichten sind gegenüber anderen Disziplinen gut bis sehr gut. Wer räumlich und inhaltlich flexibel ist, findet zahlreiche Stellenangebote und Tätigkeiten. Nach Berechnungen der Bundespsychotherapeutenkammer fehlen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten klinische Psychologen und Psychotherapeuten in beachtlicher Zahl. Die von den Universitäten kommenden Absolventen reichen kaum aus, um die Lücken der aus Altersgründen ausscheidenden niedergelassenen Psychotherapeuten zu schließen.

Auch in vielen Organisationen stehen größere Wechsel und damit Karrierechancen bevor. Ein Blick ins Internet oder in die Zeitung belegt diese Einschätzung.

Dies gilt auch für den wissenschaftlichen Bereich. Über die nächsten Jahre hinweg werden viele Lehrstühle und Professuren, doch auch Mitarbeiter- und Assistentenstellen, wieder zu besetzen sein. Die Möglichkeiten für Forschungsförderung sind prinzipiell gut, doch sehr kompetitiv, d. h. schwer kalkulierbar. Dennoch sollte das nicht entmutigen, denn Psychologie ist ein Fach, das aus interdisziplinären Forschungsverbünden kaum mehr wegzudenken ist. Durch die Nähe zur Medizin bestehen hier gute Karrierechancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Nimmt man die Perspektive hinzu, dass in nächster Zeit die Fachhochschulen ausgebaut und dort auch psychologische Bachelorstudiengänge eingerichtet werden sollen, dann resultiert daraus für klinische Psychologen ein interessantes Tätigkeitsfeld.

Schließlich dürfte sich im Rahmen der europäischen Integration für klinische Psychologen auch eine Entwicklung in anderen Ländern des Kontinents eröffnen. Dadurch werden die beruflichen Möglichkeiten für Kliniker (mit Sprachkenntnissen) besser. Eine Entwicklung, wie wir sie heute schon in der Medizin (aktives Abwerben von Ärzten in andere europäische Länder mit günstigeren Arbeitszeiten und deutlich höheren Gehältern) oder im wissenschaftlichen Bereich (Hochschullehrer und Forscher werden mit besseren Arbeitsbedingungen und höheren Gehältern ins Ausland abgeworben) erleben, ist auch für die klinische Psychologie denkbar. Nimmt man die zukünftigen Möglichkeiten in Übersee (Australien, Neuseeland, USA) dazu, dann ergeben sich vielfältige und aufregende Perspektiven für die klinische Psychologie.

8Informationsquellen, Fachgesellschaften, Fachzeitschriften

In der Deutschen Gesellschaft für Psychologie sind die klinischen Psychologen in der Fachgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie organisiert. Daneben gibt es zahlreiche Berufs- und Fachverbände (z. B. Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, Schweizer Gesellschaft für Verhaltenstherapie, Deutsche Gesellschaft für Psychoanalytische Therapie, Berufsverband Österreichischer Psychologen, Deutsche Gesellschaft für Verhaltensmedizin usw.), die oft sehr spezifische Gruppen von klinischen Psychologen vertreten. Die approbierten psychologischen Psychotherapeuten sind alle (zwangsweise) in einer Psychotherapeutenkammer (auf Landesebene) organisiert, welche sich zu einer Bundespsychotherapeutenkammer zusammengeschlossen haben. Alle diese Fachgesellschaften bzw. Kammern bieten im Internet oder als Druckmaterialien unterschiedlichste Informationen zur Fortbildung, zur Ausbildung, zu berufspolitischen Fragen, zu Abrechnungsthemen und zu neuer Literatur an.

Hilfreiche Internetadressen:

www.dgps.de

www.klinische-psychologie-psychotherapie.de

www.bptk.de

www.bptk.de/psychotherapie/ausbildung

www.unith.de

www.vpp.org/beruf/institute/Ausbildungsinstitute.pdf

Als Wissenschaftler ist es wichtig, über aktuelle Forschungsarbeiten direkt zu berichten. Dafür stehen Fachzeitschriften zur Verfügung. Im deutschen Sprachraum sind unter zahlreichen Organen folgende Zeitschriften relevant:

Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (erscheint vierteljährlich im Hogrefe Verlag, Göttingen)

Psychotherapeut (erscheint zweimonatlich im Springer Verlag, Heidelberg)

Nervenarzt (erscheint monatlich im Springer Verlag, Heidelberg)

Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin (erscheint vierteljährlich im Pabst Verlag, Lengerich)

Verhaltenstherapie. Forschung und Praxis (erscheint vierteljährlich im Karger Verlag, Basel)

Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse (erscheint zweimonatlich im Klett-Cotta Verlag, Stuttgart)

Zeitschrift für Gesundheitspsychologie (erscheint vierteljährlich im Hogrefe Verlag, Göttingen)

Wichtige wissenschaftliche Buchverlage für die Klinische Psychologie sind im deutschen Sprachraum:

Springer Verlag, Heidelberg

Hogrefe Verlag, Göttingen

Beltz/Psychologie Verlags Union, Weinheim

Kohlhammer Verlag, Stuttgart

Thieme Verlag, Stuttgart

Schattauer Verlag, Stuttgart

Huber Verlag, Bern

Spektrum/Elsevier, Heidelberg

Psychologische Test- und Untersuchungsverfahren, doch auch Testgeräte, werden vor allem publiziert bzw. vertrieben durch:

Hogrefe Verlag, Göttingen

Harcourt Test Service, Frankfurt

Apparatezentrum, Göttingen

Literatur

Baumann, U. & Perrez, M. (2005). Lehrbuch Klinische Psychologie und Psychotherapie (3. Auflage). Huber Verlag, Bern.

Davison, G., Neale, J. & Hautzinger, M. (2007). Klinische Psychologie (7. Auflage). Beltz/PVU, Weinheim.

Hautzinger, M. (2004). Diagnostik in der Psychotherapie. In R. D. Stieglitz, U. Baumann, U. & S. Freyberger (Hrsg.). Diagnostik in Klinischer Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie (2. Auflage) (S. 351–378). Thieme Verlag, Stuttgart.

Hautzinger, M. (2007a). Geschichte und Entwicklung der Psychotherapie. In C. Reimer, J. Eckert, M. Hautzinger & E. Wilke (Hrsg.). Psychotherapie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Psychologie (3. Auflage) (S. 9–16). Springer, Heidelberg.

Hautzinger, M. (2007b). Aus- und Weiterbildung in Psychotherapie für Psychologen. In C. Reimer, J., Eckert, M. Hautzinger & E. Wilke (Hrsg.). Psychotherapie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Psychologie (3. Auflage). (S. 771–780) Springer, Heidelberg.

2 Notfallpsychologie

Frank Lasogga

Einleitung

1

Was ist Notfallpsychologie?

2

Aufgaben von Notfallpsychologen

3

Ausbildung, Fortbildung

4

Beschäftigungsmöglichkeiten; Institutionen, in denen Notfallpsychologen arbeiten können

5

Finanzielle Vergütung

6

Herausforderungen, Chancen, Hindernisse, Probleme

7

Eigenschaften, die man braucht und die hindern

8

Tagesablauf, Ablauf einer Woche

9

Ausblick, Entwicklung des Berufsfeldes

Zusammenfassung, Schlussfolgerungen

Literatur

Einleitung

Die Notfallpsychologie ist eines der jüngsten Gebiete der wissenschaftlichen Psychologie. Erst Ende der 1980er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden erste Forschungsergebnisse zu einzelnen Aspekten der Notfallpsychologie publiziert. Der psychologische Umgang von professionellen Helfern, wie Rettungsdienstmitarbeitern, Notärzten, Polizeibeamten, Feuerwehrleuten etc., mit Notfallopfern wurde immer kritischer gesehen und eine Verbesserung im psychologischen Umgang auch von diesen Gruppen selbst gefordert.

Auch die Belastungen der Helfer, die daraus resultierenden möglichen Folgen und der Umgang der Helfer mit diesen Belastungen wurden zunehmend thematisiert. In den 1980er-Jahren wurde ein inzwischen weitverbreitetes Konzept von Everly und Mitchell entwickelt, das »Critical Incident Stress Management (CISM)«, dessen generelle Effektivität allerdings heute aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse als nicht gegeben anzusehen ist.

Zwar wurde in den Medien insbesondere bei Großschadensereignissen wie dem Zugunfall von Eschede immer häufiger darüber berichtet, dass die Opfer und auch die Helfer psychologisch betreut würden, doch die Art der Betreuung war mehr oder minder dem Zufall überlassen und erfolgte weitgehend intuitiv. Die Berichterstattung in den Medien über Großschadensereignisse hat die Beachtung der psychologischen Belastungen der Opfer und der Helfer zwar vorangetrieben, allerdings machen Großschadensfälle nur einen äußerst geringen Anteil aller Notfälle aus.

Das erste Buch im deutschsprachigen Raum, das den Titel »Notfallpsychologie« trug und eine erste Bestandsaufnahme der Notfallpsychologie im deutschsprachigen Raum vornahm, erschien erst vor wenigen Jahren (Lasogga & Gasch, 2002). Vorher lagen noch keine Definition und Beschreibung der Notfallpsychologie, ihrer Bereiche und Aufgabengebiete vor. Systematische Konzepte und Methoden, die im Umgang mit Notfallopfern indiziert sind, mussten erst entwickelt werden.

Wenn es dementsprechend auf dem Gebiet der Notfallpsychologie noch viele »weiße Flecken« gibt, liegen heute doch Forschungsergebnisse zu den Belastungen von direkten und indirekten Notfallopfern und Helfern sowie den Folgen vor. Es wurden Konzepte zum Umgang mit den Opfern erstellt, und die Regeln zur »Psychischen Erste Hilfe (PEH)« (Lasogga & Gasch, 1997, 2006) sind Standard in der Ausbildung vieler Organisationen, wie beispielsweise den Rettungsdiensten. Auch wurden Gesamtkonzepte für den Umgang der Helfer mit ihren Belastungen entwickelt (Lasogga & Karutz, 2005).

1 Was ist Notfallpsychologie?

Die Definition von Notfallpsychologie lehnt sich weitgehend an Definitionen anderer Bereiche der Psychologie an.

»Notfallpsychologie ist die Entwicklung und Anwendung von Theorien und Methoden der Psychologie sowie ihrer Nachbardisziplinen bei Einzelpersonen oder Gruppen, die von Notfällen betroffen sind. Notfallpsychologische Maßnahmen wenden sich sowohl an die Opfer als direkt Betroffene als auch an indirekt Betroffene wie Angehörige, Augenzeugen, Zuschauer, aber auch an Helfer. Notfallpsychologie umfasst Präventions-, Interventions- und Nachsorgemaßnahmen, bezogen auf einen relativ kurzfristigen Zeitraum« (Lasogga & Gasch, 2004).

Wie aus der Definition ersichtlich ist, befasst sich Notfallpsychologie mit zwei Hauptbereichen:

der Forschung, also der Entwicklung von Theorien, Modellen und Konzepten sowie deren Evaluation (konzeptuelle Notfallpsychologie),

der Anwendung, also der praktischen Arbeit vor, während und nach Notfällen (angewandte Notfallpsychologie).

Forschung

Bevor notfallpsychologische Methoden theoriegeleitet, systematisch und gezielt angewendet werden können, müssen notwendigerweise zunächst einmal Konzepte, Modelle und Methoden zum Umgang mit den relevanten Personengruppen entwickelt werden. So ist darzulegen und zu begründen,

welche Intervention (z. B. äußere Ressourcen aktivieren),

bei welchem Notfalltyp (z. B. Verkehrsunfall),

zu welchem Zeitpunkt (z. B. vor Ort),

von welcher Gruppe (z. B. psychosoziale Notfallhelfer, wie Notfallseelsorger),

bei welcher von einem Notfall betroffenen Personengruppe (z. B. Angehörige),

unter welchen Rahmenbedingungen (z. B. Autobahn)

erfolgen sollte. Diese Konzepte und Methoden müssen evaluiert werden, um sie zu optimieren, und um neue Konzepte und Methoden zu entwickeln.

Auch gehört zur Notfallpsychologie die Entwicklung von Modellen und Konzepten zur Zusammenarbeit zwischen den bei einem Notfall tätigen Gruppen, wie Polizei, Rettungsorganisationen, Notärzten, Notfallseelsorgern etc. Diese Gruppen unterscheiden sich erheblich in ihrer Ausbildung, ihrer Organisationskultur, ihrem Führungsstil etc., was die Zusammenarbeit erschweren kann.

Anwendung

Die angewandte Notfallpsychologie beinhaltet praktische präventive Maßnahmen zum Umgang mit von Notfällen betroffenen Personengruppen sowie interventive und Nachsorgemaßnahmen bei verschiedenen Arten von Notfällen. Zielgruppen derartiger Maßnahmen können sein: 1. direkte Opfer, 2. indirekte Opfer, wie Angehörige, Verursacher und Augenzeugen, 3. Helfer.

Es gibt unterschiedliche Definitionen, welche Personengruppen »notfallpsychologische Maßnahmen« durchführen bzw. »angewandte Notfallpsychologie« betreiben. Einige sprechen von einer »notfallpsychologischen Maßnahme« ausschließlich, wenn diese von Notfallpsychologen, also Diplompsychologen mit einer speziellen Zusatzausbildung in Notfallpsychologie, ausgeübt wird (enge Definition). Andere sprechen auch von einer »notfallpsychologischen Maßnahme«, wenn sie von Laienhelfern oder psychosozialen Notfallhelfern, wie Notfallseelsorgern, durchgeführt wird (weite Definition). Hier wird überwiegend Notfallpsychologie im engeren Sinne dargestellt, also die Tätigkeit, die Diplompsychologen mit einer zusätzlichen Ausbildung in Notfallpsychologie verrichten (Notfallpsychologen).

Personengruppen

Notfallpsychologie wendet sich an unterschiedliche Personengruppen. Die »direkten« Notfallopfer sind diejenigen Personen, die einen Notfall erlitten haben und notfallpsychologische Hilfe (im weiteren Sinne) benötigen.

Die »indirekten« Notfallopfer sind Personen, die nicht selbst den Notfall erlitten haben, die aber mit den Folgen des Notfalls konfrontiert werden. Dazu gehören beispielsweise die Angehörigen der direkten Notfallopfer. Sie können vor Ort anwesend sein und den Notfall mit angesehen haben, beispielsweise, wie der Ehemann einen Herzinfarkt erlitten hat, oder sie können sich zuhause aufhalten, und müssen beispielsweise über den Tod des Ehemannes informiert werden. Ferner gehören zur Gruppe der indirekten Notfallopfer die Verursacher eines Notfalls (ein Lokomotivführer, der einen Suizidenten überfahren hat) und Augenzeugen, die das Notfallgeschehen direkt miterlebt haben.

Zuschauer sind ebenfalls indirekte Notfallopfer, aber sie haben sich im Gegensatz zu Augenzeugen erst nachträglich zum Ort des Notfallgeschehens begeben. Auch mit Zuschauern muss bei einem Notfall psychologisch angemessen umgegangen werden. Auch Medienvertreter, die zumindest bei einem Großschadensfall sehr schnell vor Ort sind, sind indirekte Notfallopfer. Mit ihnen muss ebenfalls angemessen umgegangen werden. Neben den direkten und indirekten Notfallopfern sind die Helfer die dritte Zielgruppe einer notfallspsychologischen Maßnahme. Für sie sind Maßnahmen der Notfallpsychologie in zweifacher Hinsicht relevant: Helfer müssen darin ausgebildet sein, mit Notfallopfern psychologisch angemessen umzugehen. Außerdem sollten sie gelernt haben, mit den psychischen Belastungen, die sich daraus ergeben, dass sie häufig mit direkten und indirekten Notfallopfern konfrontiert werden, angemessen umzugehen.

Zu unterscheiden ist noch der Einzelfall und das Großschadensereignis mit vielen direkten und indirekten Notfallopfern. Das Großschadensereignis (Katastrophe, Massenunfall von Verletzten) ist durch zusätzliche komplexe Faktoren gekennzeichnet und erfordert zusätzliche Maßnahmen.

Zeit

In zeitlicher Hinsicht umfasst Notfallpsychologie die Entwicklung und Anwendung von

präventiven Maßnahmen (beispielsweise die Erstellung von Faltblättern für Notfallopfer mit Informationen über den Umgang mit Belastungen nach einem Notfall),

interventiven Maßnahmen, die

von professionellen nicht-psychologischen Helfern (beispielsweise Rettungsdienstmitarbeitern) angewandt werden können (beispielsweise Regeln zur »Psychischen Ersten Hilfe«),

von psychosozialen Notfallhelfern (beispielsweise Notfallseelsorgern) angewandt werden können (beispielsweise Methoden zur Aktivierung von Ressourcen),

Nachsorgemaßnahmen (beispielsweise psychoedukative Maßnahmen).

Notfallpsychologische Arbeit beginnt also bereits vor einem Notfall. Präventive Maßnahmen sind zu entwickeln und bereitzuhalten. Maßnahmen einer objektiven Prävention zielen darauf ab, ein potentiell traumatisierendes Ereignis durch organisatorische Maßnahmen zu verhindern oder beim Eintreten zumindest die Schäden zu minimieren. So sind beispielsweise Maßnahmen bei der Planung einer Großveranstaltung möglich, die eine Panik vermeiden können. Maßnahmen zur subjektiven Prävention sollen Individuen oder Gruppen auf eine potentiell belastende Notfallsituation vorbereiten. So kann beispielsweise ein psychologischer Notfallkoffer bereitgestellt werden, in dem u. a. Kuscheltiere für Kinder, Tempotaschentücher und Schreibmaterial enthalten sein sollten.

Bei der Intervention geht es darum, nach dem Eintreten eines Notfalls die angemessenen Methoden anzuwenden. Häufig sind Laienhelfer als erstes vor Ort; sie sollten bei einem Notfallopfer »Psychische Erste Hilfe« leisten. Sie können sich nach den Regeln zur »Psychischen Ersten Hilfe« für Laien verhalten.

Als nächstes treffen in der Regel professionelle nicht-psychologische Helfer, wie Rettungsdienstmitarbeiter, Polizeibeamte, Feuerwehrleute, Notärzte etc., ein. Diese Gruppen haben in der Regel keine intensivere Ausbildung im psychologischen Umgang mit direkten und indirekten Notfallopfern erhalten. Sie sollten aber psychologisch angemessen mit den Notfallopfern umgehen und sich nach den Regeln zur »Psychischen Ersten Hilfe« für professionelle nicht-psychologische Helfer verhalten.

Wenn Personen nach einem Notfall eine psychosoziale Betreuung benötigen, da sie stärker beeinträchtigt sind, sollten psychosoziale Notfallhelfer, wie Notfallseelsorger oder Mitglieder von Kriseninterventionsteams (KIT), zusätzlich alarmiert werden. Sie haben neben der Ausbildung in ihrem Basisberuf eine zusätzliche Ausbildung im psychosozialen Umgang mit Notfallopfern. Ihre Aufgabe besteht beispielsweise darin, innere und äußere Ressourcen der Notfallopfer zu aktivieren.

Im Rahmen der Nachsorge können bei den direkten und indirekten Notfallopfern sowie den Helfern ebenfalls die inneren und äußeren Ressourcen aktiviert werden, aber es kann auch die Begleitung eines Notfallopfers zum Arbeitsplatz notwendig sein. Diese Maßnahmen sind, wie auch die Interventionsmaßnahmen während eines Notfalls, bei den Notfallopfern überwiegend salutogenetisch ausgerichtet und benötigen in der Regel nur einige Stunden, wenn nicht bereits frühere Schädigungen vorliegen. Bei den Helfern stehen im Rahmen der Nachsorge strukturierte Nachgespräche (Debriefings) und Supervision im Vordergrund.

Notfall

Was als Notfall erlebt wird, kann nicht objektiv definiert werden. Es liegt folgende Definition vor, die hier zugrunde gelegt werden soll:

»Notfälle sind Ereignisse, die aufgrund ihrer subjektiv erlebten Intensität physisch und/oder psychisch als so beeinträchtigend erlebt werden, dass sie zu negativen Folgen in der physischen und/oder psychischen Gesundheit führen können. Von Notfällen können Einzelpersonen oder Gruppen betroffen sein« (Lasogga & Gasch, 2004).

Bei der Einschätzung eines Notfalls spielt also immer die subjektive Bewertung eine Rolle. Ein Notfall ist niemals per se »traumatisch« oder »traumatisierend«; er führt nicht automatisch zu einem Trauma, sondern es gibt nur potentiell traumatisierende Ereignisse.

Ein Notfall kann zu als negativ erlebten kurz-, mittel- und langfristigen Folgeerscheinungen führen. Er muss es aber nicht, sondern er kann sogar positive Auswirkungen haben, beispielsweise auf die weitere Lebensgestaltung. Entscheidend sind hier gleichermaßen Aspekte des Notfallgeschehens und »Moderatorvariablen«, wie Geschlecht, Kulturzugehörigkeit und Copingstrategien (Lasogga & Gasch, 2004).

Zu unterscheiden sind vier Typen von Notfällen:

technisch verursachte Notfälle stehen irgendwie im Zusammenhang mit der technisierten Welt, wie Verkehrsunfälle oder Explosionen,

medizinische Notfälle sind Ereignisse, die mehr oder minder plötzlich auftreten, wie Herzinfarkte oder die Eröffnung schlimmer Diagnosen wie Krebs,

zwischenmenschliche Notfälle werden durch andere Menschen verursacht, wie kriminelle Delikte, aber auch Todesfälle von Bezugspersonen,

Naturkatastrophen werden primär von der Natur verursacht, wie Überschwemmungen oder Erdbeben.

Bei der Erforschung und Anwendung notfallpsychologischer Maßnahmen sind also drei Dimensionen zu beachten (siehe Abb. 1):

der Notfalltyp,

die unterschiedlichen Personen(-Gruppen),

die Zeitachse.

Abb. 1: Bereiche der Notfallpsychologie (modifiziert nach Lasogga & Gasch, 2004)

2 Aufgaben von Notfallpsychologen

Wie notfallpsychologische Maßnahmen (im weiteren Sinne) im Umgang mit direkten und indirekten Notfallopfern aussehen sollen und in welchem Umfang Prävention, Intervention und Nachsorge erforderlich sind, wird aus der nachfolgenden Darstellung (Abb. 2) ersichtlich.

Die Verjüngung des Dreiecks soll anzeigen, dass immer weniger direkte und indirekte Notfallopfer der jeweiligen Hilfe bedürfen.

Eine notfallpsychologische Prävention ist für alle Menschen notwendig. Mit allen von einem Notfall betroffenen Personen muss psychologisch angemessen umgegangen werden, und zwar insbesondere von professionellen nicht-psychologischen Helfern; »Psychische Erste Hilfe« ist für alle von einem Notfall betroffenen Personen notwendig.

Bei den meisten Notfallopfern ist eine weitere Intervention nicht erforderlich, da die eigenen Selbstheilungskräfte, sozialen Ressourcen etc. greifen. Sie können sich nach Hause begeben, ohne dass eine weitere Intervention notwendig ist.

Für einige, allerdings wenige Personen ist eine weitere Betreuung erforderlich, eine »psychosoziale Notfallhilfe«. Diese Personen benötigen beispielsweise einige weitere Gespräche, und bei ihnen sind die inneren und äußeren Ressourcen zu aktivieren. Zusammen mit diesen Personen muss überlegt werden, wer ihnen bei der Überwindung des Erlebten helfen kann. Bei äußerst wenigen Personen ist nach einem Notfall eine Therapie notwendig.

Abb. 2: Psychologische Maßnahmen bei Notfallopfern vor, während und nach Notfällen (modifiziert nach Lasogga & Gasch, 2004)

Aus dieser Darstellung wird auch ersichtlich, welche Aufgaben angewandte Notfallpsychologen übernehmen können. Sie können zunächst einmal »psychosoziale Notfallhilfe« vor Ort leisten. Sehr häufige Einsätze finden statt im Zusammenhang mit Suizidenten und bei Unfällen mit Todesfolge. Bei den Notfallopfern müssen insbesondere die inneren und äußeren Ressourcen aktiviert und es muss Psychoedukation betrieben werden. Die Aufgaben von Notfallpsychologen unterscheiden sich hier nicht von anderen psychosozialen Notfallhelfern, wie Notfallseelsorgern. Eine Therapie, welcher Art auch immer, ist zu diesem Zeitpunkt nicht indiziert.

Ebenso können Notfallpsychologen in der Nachbetreuung tätig werden, wobei grundsätzlich dieselben Methoden anzuwenden sind. Nur bei wenigen Notfallopfern, die stärker beeinträchtigt sind, müssen Maßnahmen durchgeführt werden, die aufgrund der starken Beeinträchtigung ausschließlich von einem Notfallpsychologen durchgeführt werden sollten.

Ferner können Notfallpsychologen eine Psychotherapie durchführen. Oft ist eine Traumatherapie indiziert, in der das Notfallgeschehen und die Folgen sowie die Umgangsmöglichkeiten mit diesen Folgen im Fokus stehen. Eine derartige Therapie dauert in der Regel nur einige Stunden. Zeigt sich in der Therapie, dass das Opfer bereits vorher geschädigt war und der Notfall nur der (Wieder-)Auslöser für diverse Störungen war, kann sich eine umfassendere Psychotherapie als notwendig erweisen.

Bei den Helfern können Notfallpsychologen im Rahmen der Ausbildung und der Nachsorge tätig sein. Im Rahmen der Ausbildung sollen professionellen nicht-psychologischen Helfern und psychosozialen Notfallhelfern adäquate psychologische Umgangsformen mit direkten und indirekten Notfallopfern vermittelt werden. Auch diagnostische Grundfähigkeiten, wann ein psychosozialer Notfallhelfer nachalarmiert werden sollte und wann psychosoziale Notfallhelfer einen Notfallpsychologen hinzuziehen sollten, können Notfallpsychologen vermitteln.

Bei der Nachsorge von Helfern können Notfallpsychologen generell oder nach besonders belastenden Einsätzen eine Einzel- oder Gruppensupervision durchführen oder auch Nachbesprechungen (Debriefings) leiten. In Einzelfällen ist auch bei den Helfern eine Therapie indiziert.

Abbildung 3 zeigt, in welchen Bereichen Notfallpsychologen bei Helfern tätig werden können. Die Verjüngung gibt wiederum an, dass immer weniger Helfer einer derartigen Maßnahme bedürfen.

3 Ausbildung, Fortbildung

Notfallpsychologen sollten einen Abschluss in Psychologie erworben und als Schwerpunkt klinische Psychologie gewählt haben. Innerhalb der klinischen Psychologie sollten bestimmte Schwerpunkte absolviert worden sein, wie sie beispielsweise bei den Notfallpsychologen des Berufsverbandes Österreichischer Psychologen beschrieben sind (2000). So ist bei den österreichischen Notfallpsychologen der theoretische und praktisch-fachliche Kompetenzerwerb im Rahmen von 360 Stunden Voraussetzung für die Ausbildung von Notfallpsychologen.

Über das Studium der Psychologie hinaus sollte eine zusätzliche Ausbildung in »Notfallpsychologie« erfolgen. Diese Zusatzausbildung sollte etwa 150 Stunden umfassen. Hier hat ebenfalls der Berufsverband Österreichischer Psychologen ein detailliertes und präzises Curriculum erstellt, das sich nicht nur auf grobe plakative Überschriften beschränkt. Im Rahmen der Ausbildung sollte unbedingt Feldkompetenz erworben werden. Ferner sollte der Umgang mit einer gesamten zu betreuenden Gruppe geübt werden, da bei Notfällen meistens nicht nur eine Einzelperson betreut werden muss.

Abb. 3: Möglichkeiten der Prävention, Intervention und Nachsorge bei Helfern (modifiziert nach Lasogga & Karutz, 2005)

Die Vermittlung grundlegender Kenntnisse über andere Organisationen, wie Polizei oder Rettungsdienste, und deren Sprachgebrauch gehört ebenfalls zu einer Ausbildung in Notfallpsychologie. Wenn ein Notfallpsychologe nicht weiß, was ein NEF oder MANV ist, kann er kaum mit Vertretern dieser Organisationen zusammenarbeiten und wird auch nicht von Vertretern dieser Organisationen ernst genommen. Auch sollte man einen Notfall vor Ort zumindest einmal im Rahmen von Rollenspielen miterlebt und dabei interveniert haben. Im Rahmen der Ausbildung für Notfallmediziner wird am Ende der Ausbildung ein Massenunfall simuliert, bei dem jeder Mediziner einmal die Rolle eines ersteintreffenden Notarztes spielen muss. Ob eine derartige Ausbildung auch bei Psychologen notwendig ist, ist zu diskutieren, auf jeden Fall ist aber eine Art Praktikum in der Ausbildung unabdingbar.

Da die Kenntnisse in diesem Gebiet rasant voranschreiten, ist eine kontinuierliche Fortbildung notwendig, die etwa alle ein bis zwei Jahre erfolgen sollte. Auch sollte verbindlich mindestens zweimal pro Jahr eine Supervision entweder einzeln oder in einer Gruppe erfolgen. (Ein gutes Programm zur Aus- und Fortbildung sowie zur Supervision hat das Psycho-Soziale Akutteam Niederösterreich entworfen.)

Die Situation der angewandten Notfallpsychologie in der BRD ist momentan desolat. Bei den Notfallpsychologen handelt es sich um selbsternannte Notfallpsychologen, die sich dieses Gebiet selbst erarbeitet haben, oder es handelt sich um Personen, die von einer Organisation den Titel »Notfallpsychologe« verliehen bekommen haben. (Damit kein Missverständnis entsteht: Diese Notfallpsychologen können durchaus gute Arbeit leisten.) Ob überhaupt die Psychologen in der BRD eine Ausbildung in Notfallpsychologie absolviert haben, ist zu bezweifeln. Allerdings muss auch festgestellt werden, dass ein für viel Geld ausgestelltes oder erworbenes »Zertifikat« ohnehin mehr oder minder wertlos für den Inhaber ist, da dieses nicht die Vergütung von den Krankenkassen, vom Land (wie in Niederösterreich) oder von anderen Institutionen zur Folge hat.

4 Beschäftigungsmöglichkeiten; Institutionen, in denen Notfallpsychologen arbeiten können

Institutionen, in denen Psychologen hauptberuflich als Notfallpsychologen arbeiten, wie die Deutsche Bahn, gibt es bisher wenige. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass dieses Berufsbild so jung ist. Andererseits kann man aber sicherlich prognostizieren, dass es auch zukünftig kaum Institutionen in einer größeren Anzahl geben wird, in denen Notfallpsychologen hauptberuflich arbeiten. Die Anzahl an Personen, die einer psychosozialen Notfallhilfe in Form einer Nachbetreuung durch Notfallpsychologen oder einer Therapie bedürfen, ist insgesamt gering und wird auch gering bleiben.

Die Ausbildung von professionellen nichtpsychologischen Helfern und psychosozialen Notfallhelfern wird überwiegend jeweils von Personen aus der eigenen Institution vorgenommen. Es werden nur wenige Psychologen herangezogen, und dies wird sich vermutlich auch nicht schnell ändern. Auch bei der Untersuchung des Psycho-Sozialen Akutteams Niederösterreichs (Lasogga & Gasch, 2006), bestehend aus ca. 50 Mitgliedern, überwiegend Psychologen, zeigte sich, dass keiner hauptberuflich als Notfallpsychologe arbeitet. Diese Psychologen gehen hauptberuflich einer anderen Arbeit nach; sie haben beispielsweise eine eigene Praxis, arbeiten in einer Klinik oder einer Behörde.

Denkbar ist, dass wie in Niederösterreich Notfallpsychologen in einzelnen Fällen herangezogen werden und dafür bezahlt werden. Sie müssten dann für ihren Broterwerb noch in einer anderen Organisation arbeiten und würden nur auf Bedarf angefordert. Auch Notfallmediziner sind nicht hauptberuflich als Notfallmediziner tätig, sondern arbeiten als Arzt in einer Klinik.

5 Finanzielle Vergütung

Die finanzielle Vergütung von Notfallpsychologen ist bisher mit Ausnahme einiger Organisationen nicht geregelt, wie beispielsweise bei den psychologischen Psychotherapeuten. Dies ist aber angesichts der Lage der angewandten Notfallpsychologie in der BRD nicht verwunderlich.

Daher kann nur mit einzelnen Personen oder Organisationen ein Vertrag über die Vergütung einer bestimmten notfallpsychologischen Leistung abgeschlossen werden. Zurzeit reicht die Spanne von gar keiner Bezahlung (ehrenamtlich) bis zur einer sehr hohen Bezahlung, beispielsweise für die Durchführung eines Telefontrainings im Umgang mit Notfallopfern. Die Bezahlung richtet sich auch nach dem Verhandlungsgeschick des Einzelnen. Dies gilt auch für einzelne Vorträge oder Supervisionsmaßnahmen.

Anders sieht die Situation beispielsweise in Niederösterreich aus. Dort werden die Kosten für den Einsatz von bis zu sechs Stunden vom Land übernommen. Man ist inzwischen sogar so weit, dass man seitens des Landes den Einsatz von Notfallpsychologen evaluiert hat, um ihn noch weiter zu verbessern (Lasogga & Gasch, 2006).

6 Herausforderungen, Chancen, Hindernisse, Probleme

Die Hindernisse und Chancen, Probleme und Herausforderungen ergeben sich durch die derzeitige Situation vor allem der angewandten Notfallpsychologie. Die Einsatzmöglichkeiten liegen auf der Hand, aber es gibt bisher kaum Einbindungen in Alarmierungssysteme und Organisationen.

Ein großes Problem stellt natürlich auch die Bezahlung dar. Wer eine eigene Praxis hat, wird nicht Patienten absagen können, um zu Notfallopfern zu eilen. Günstiger wäre es, wenn Psychologen beispielsweise in Beratungsstellen oder Kliniken arbeiten und auf Anforderung bei Notfällen tätig würden. Dafür müssten entsprechende Vereinbarungen mit den Dienstherren getroffen werden. Inwieweit die dort arbeitenden Psychologen sich in größerem Rahmen in die notfallpsychologische Versorgung einbinden lassen, bleibt abzuwarten.

Die ungeklärte Situation hat den Vorteil, dass noch viel mitgestaltet werden kann. Hat sich jemand einen guten Ruf gemacht, wird er relativ häufig für Schulungen von Organisationen, für Nachbesprechungen und Supervision herangezogen. Dies hängt aber sehr von dem Auftreten und der Kompetenz der einzelnen Person und damit der Akzeptanz der Person in den Organisationen ab. Ist dies der Fall, hat der Notfallpsychologe gute Gestaltungsmöglichkeiten, sei es bei der Ausbildung in den Organisationen oder in der konkreten Intervention.

7 Eigenschaften, die man braucht und die hindern

Notfallpsychologen müssen Feldkompetenz haben. Sie müssen in eine unklar strukturierte Situation gehen können und diese managen. Managementfähigkeiten sind also hilfreich. Außerdem müssen sie sich in bestehende Hierarchien einordnen können.

Ein direktiver Führungsstil, wie er eher bei Polizei und Feuerwehr herrscht, sollte nicht als unangenehm empfunden werden. In einem Notfall ist auch von Notfallpsychologen ein eher direktives Verhalten gefordert. Günstig ist also auch eine Bereitschaft zu teilweise direktivem Verhalten. Der Notfallpsychologe sollte keine Scheu haben, dem Notfallopfer zu sagen, was für es günstig ist, und was es lieber unterlassen sollte.

Erforderlich ist auch soziale Kompetenz. Diese zeigt sich im Umgang mit Mitarbeitern anderer Organisationen, aber auch im Umgang mit Notfallopfern. Bei diesen ist ein anderes Verhalten erforderlich als in einem psychotherapeutischen Setting. Auch kommen Notfallopfer aus sämtlichen sozialen Schichten, so dass eine große Bandbreite an Verhaltensweisen erforderlich ist. Hinderlich ist es, wenn man nicht bereit ist, sich in Strukturen einzugliedern und auch Befehle einfach zu befolgen, ohne in dem jeweiligen Moment zu diskutieren. Wer nicht gerne Ratschläge gibt und Schwierigkeiten hat, sich zu entscheiden, wird Schwierigkeiten als Notfallpsychologe bekommen. Vorbelastungen, die nicht aufgearbeitet wurden, sind ebenfalls hinderlich. Eigene Vulnerabilität ist angesichts der Konfrontation mit Notfallsituationen eher abträglich.

Außerdem ist es notwendig, mobil zu sein, also ein eigenes Auto zu besitzen, und zeitweise flexibel zu sein (während der Rufbereitschaft). Angewandte Notfallpsychologie muss so organisiert sein, dass man innerhalb einiger Stunden bei dem Notfallopfer ist, manchmal auch, dass man innerhalb von ein bis zwei Tagen ein Nachsorgegespräch mit den Helfern durchführt. Es kann also keine Warteliste erstellt werden, und man kann auch nicht sagen (außer bei Nachsorgegesprächen mit Helfern), dass man erst am nächsten Tag eintreffen wird.

8 Tagesablauf, Ablauf einer Woche

Ein fester Tagesablauf oder der Ablauf einer Woche kann insgesamt kaum beschrieben werden. In der BRD ist noch kein System der angewandten Notfallpsychologie etabliert, das dargestellt werden könnte. Es ist auch fraglich, ob in absehbarer Zeit ein derartiges System etabliert wird. Deshalb wird hier beschrieben, wie der Ablauf beim Psychosozialen Akutteam Niederösterreich und ähnlich bei den Notfallseelsorgern aussieht. Diese Konzepte könnten auf die angewandte Notfallpsychologie generell übertragen werden.

Der Notfallpsychologe trägt sich in eine Bereitschaftsliste ein und hat für diese Zeit 24 oder 48 Stunden Rufbereitschaft. Während der Rufbereitschaft ist er verpflichtet, innerhalb von maximal vier Stunden bei dem Klienten zu sein; ein schnelleres Eintreffen ist in aller Regel nicht notwendig. Der erste Kontakt dauert durchschnittlich zwei bis drei Stunden, allerdings mit einer sehr großen Varianz. Zu betreuen sind meistens mehrere Personen, durchschnittlich 2,2, aber ebenfalls mit einer sehr großen Varianz. Manchmal muss eine ganze Gruppe betreut werden. Meistens sind weitere Kontakte notwendig, wobei nur wenige Klienten mehr als vier Kontakte benötigen; aber auch hier gibt es eine sehr große Varianz. Etwa ein Drittel aller Klienten muss weiterverwiesen werden, beispielsweise an Frauenhäuser oder an Beratungsstellen. Während der Rufbereitschaft erfolgen in einigen Fällen mehrere Einsätze, manchmal hat man aber auch wochenlang keinen Einsatz.

9Ausblick, Entwicklung des Berufsfeldes

Es ist davon auszugehen, dass der Bedarf an Notfallpsychologen gering bleiben wird. Psychosoziale Notfallhilfe wird inzwischen von anderen Gruppen geleistet, insbesondere von Notfallseelsorgern und Kriseninterventionsteams (KIT). Da diese beiden Gruppen kostenlos arbeiten und auch keine Notwendigkeit besteht, dass diese Aufgaben von Notfallpsychologen übernommen werden – sie würden dann im Wesentlichen die gleiche Arbeit verrichten wie diese Gruppen –, wird sich vermutlich keine große Änderung ergeben. Eine wie auch immer geartete therapeutische Intervention vor Ort oder innerhalb weniger Stunden ist nicht indiziert, sondern höchstens nach einigen Tagen bei sehr wenigen Personen nach einer klaren Indikation.

Die Anzahl an Psychologen, die sich auf den Umgang mit Personen spezialisiert haben, die einen Notfall erlitten und aufgrund dessen eine Störung entwickelt haben (beispielsweise eine Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS; allerdings handelt es sich bei der PTBS um ein Modethema, sie tritt selten auf), und die mit diesen Klienten eine spezielle Therapie (Traumatherapie) durchführen, ist noch gering. Hier besteht die Möglichkeit, in diesem Feld zu arbeiten. Allerdings benötigen sehr wenige Notfallopfer eine derartige Therapie, so dass auch hier der Bedarf nicht hoch sein wird.

Ein Bedarf ist bei Aus- und Fortbildungsmaßnahmen sowie Nachsorgegesprächen bei speziellen Gruppen, wie Feuerwehrleuten oder Notfallseelsorgern, zu sehen. Hier ist es allerdings unabdingbar, dass die Notfallpsychologen sehr gute Kenntnisse über Hilfsorganisationen und ihre Strukturen haben sowie fachlich und praktisch fundiert arbeiten.

Zusammenfassung, Schlussfolgerungen

Das Gebiet der Notfallpsychologie ist noch ein sehr junges Gebiet, dessen Entwicklung rasant verläuft. Notfallpsychologie befasst sich mit der Prävention, Intervention und Nachsorge bei Personen nach Notfällen. Zu unterscheiden sind die konzeptuelle und die angewandte Notfallpsychologie. Eine große Anzahl von Notfallpsychologen wird in absehbarer Zeit nicht benötigt werden. Da es wenig qualifizierte Notfallpsychologen gibt, erscheint dieser Beruf nicht aussichtslos; er sollte allerdings nicht hauptberuflich ausgeübt werden.

Literatur

Bengel, J. (Hrsg.) (2004). Psychologie in Notfallmedizin und im Rettungsdienst. Berlin: Springer.

Hausmann, C. (2005). Handbuch Notfallpsychologie und Traumabewältigung. Grundlagen, Interventionen, Versorgungsstandards. Wien: Facultas.

Lasogga F. & Gasch B. (1997, 2006). Psychische Erste Hilfe bei Unfällen. Edewecht: Stumpf und Kossendey.

Lasogga, F. & Gasch, B. (2002, 2004). Notfallpsychologie. Edewecht: Stumpf & Kossendey.

Lasogga F. & Gasch B. (Hrsg.) (2007). Notfallpsychologie – Ein Lehrbuch für die Praxis. Berlin: Springer.

Lasogga, F. & Karutz, H. (2005) Hilfen für Helfer. Edewecht: Stumpf & Kossendey.

3 Begleitung Schwerkranker und Sterbender

Elke Freudenberg und Sigrun-Heide Filipp1

Einleitung

1

Die Idee der palliativmedizinischen Behandlung und Begleitung

2

Die Idee der palliativpsychologischen Betreuung und Begleitung

3

Bewertung des Tätigkeitsfeldes und persönlicher Erfahrungshintergrund

Schlussbemerkung

Literatur

Einleitung

Es gehört wohl zu den Grundtatsachen unserer – durch den westlichen Kulturkreis geprägten – Existenz, dass wir Sterben und Tod weitgehend aus unserem Bewusstsein ausgeblendet haben und uns nur widerwillig mit Sterben und Tod beschäftigen – oft nur gezwungenermaßen im Angesicht des Todes von Angehörigen und Freunden. Dies gilt auch und in besonderer Weise für die Vorstellung des eigenen Todes – in aller Regel gehört er nicht zu unserem