Psychological Care am Lebensende - Christoph Riedel - E-Book

Psychological Care am Lebensende E-Book

Christoph Riedel

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Beschreibung

Das Sterben als letztes Leben steht im Fokus des Buches. Wie kann aus psychotherapeutischer Sicht der Sterbende zusammen mit den An- und Zugehörigen in der letzten Lebenszeit unterstützt werden? Psychotherapie erschließt als Psychological Care dem Sterbenden in seinen vielfältigen Anpassungen an eine radikal veränderte Lebenslage Möglichkeiten der Selbstgestaltung. Ziel ist dabei die Reintegration des Leidens und des Sterbens in den Lebenszusammenhang, um dem Sterbenden seine persönliche Würde zugänglich und lebbar zu machen oder zu erhalten. Dazu werden auf psychologisch-wissenschaftlicher Grundlage therapeutische Begleitungsstrategien und Anwendungsbeispiele zur Psychological Care kurz und übersichtlich dargestellt.

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Christoph Riedel

Psychological Care am Lebensende

Psychotherapie in der Sterbe- und Trauerbegleitung

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

 

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029699-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029700-5

epub:    ISBN 978-3-17-029701-2

mobi:    ISBN 978-3-17-029702-9

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Vorwort

 

 

 

Sterbebegleitung wird in Deutschland vorwiegend als Aufgabe der Hospizbegleiter und der Fachkräfte in Spiritual Care gesehen. Die Hospizbewegung hat in den letzten 25 Jahren viele Tabus um Sterben und Tod entkräftet und so dem letzten Leben einen Raum in unserer Gesellschaft zu öffnen begonnen. Palliative Versorgung am Lebensende erscheint als eine echte Alternative zur curativen Behandlung bis zuletzt. Zunehmend mehr Palliativstationen und Hospize stehen Sterbenden in Deutschland zur Verfügung. Das Sterben in der häuslichen Umgebung wird durch die Allgemeine und die Spezielle Ambulante Palliativversorgung unterstützt und fachlich ermöglicht.

Wer aber nimmt sich bei aller medizinischen und pflegerischen Versorgung der existenziellen Fragestellungen des Sterbenden an – und wer nimmt sich Zeit dafür, auf den Sterbenden wirklich einzugehen? In langen Jahren nahm ich die Fragen und auch die Verunsicherung derer, die meist für die Sterbenden menschlich da sind, nämlich der aktiv Begleitenden in Hospizvereinen wahr. Menschen, die eine religiöse Umsorge ablehnen, Sterbende, die es zu Hause nicht mehr aushalten, aber auch Menschen, bei denen wiederholt psychische Krisen aufbrechen und psychologische Störungsbilder die Sterbephase erschweren, fordern die meist gut aus- und weitergebildeten Hospizbegleiter bis an ihre Grenzen heraus. Seelsorger, die in Spiritual Care weitergebildet sind, sind nicht immer greifbar. So begann ich vor vielen Jahren als psychotherapeutisch geschulte Fachkraft in der Sterbebegleitung zu arbeiten, als fachlicher Begleiter, in der Weiterbildung und Supervision für Hospizvereine und Ausbildungseinrichtungen für Palliative Care. So sammelte sich eine Menge Erfahrung und Wissen an, dem ich in diesem Buch unter dem Label »Psychological Care« versuchte, einen Kontext und eine Struktur zu geben. Psychological Care versteht sich als psychotherapeutisch qualifizierte Begleitung Sterbender, insofern als eine Teilsequenz der psychologischen Therapie. Alle Professionen, die in der Sterbebegleitung tätig sind, haben damit Zugriff auf psychologisches Wissen und therapeutische Strategien für die existenziellen Fragen, denen Sterbende in Affekten, Gefühlen und Gedanken Ausdruck verleihen.

Ingolstadt, im August 2016 Christoph Riedel

Inhalt

 

 

 

Vorwort

Einführung: Vom Sinn der Psychotherapie angesichts des Todes

Teil 1: Psychological Care – Theoretisches Konzept

1 Psychological Care im Kontext der Palliative Care

1.1 Sterben, Tod und Trauer als Lebensphänomene

1.1.1 Sterben in biologisch-medizinischer Perspektive

1.1.2 Das letzte Atmen

1.1.3 Der Tod

1.1.4 Die Trauer

1.1.5 Die Erfahrung der Endlichkeit

1.2 Das letzte Leben in der Perspektive der Psychologie

2 Grundlagen und Grundannahmen der Psychological Care

2.1 Psychotherapie als »Psychological Care «

2.2 Die psychologischen Grundlagen

2.2.1 Die Menschenbildannahmen der Psychological Care

2.2.2 Neuropsychologie des Verhaltens und der Persönlichkeit

2.2.3 Person-Sein

2.2.4 Narrative Kontinuität des Lebens

Teil 2: Psychological Care – Praxis

3 Die psychotherapeutische Beziehung zu Sterbenden

3.1 Das therapeutische Setting in der Psychological Care

3.2 Die therapeutische Haltung in der Psychological Care

3.3 Die therapeutische Verbundenheit

4 Anamnese und Exploration mit Sterbenden

4.1 Anamnesearbeit und Differenzialdiagnostik mit dem Sterbenden

4.2 Exploration des Lebens

5 Die Interventionsmodule der Psychological Care

5.1 Die wertschätzende Konfrontation mit dem Sterben

5.1.1 Die existenziellen Bedingungen des Sterbenden

5.1.2 Die Konfrontation mit der Symptomlast – die Stressreaktion

5.1.3 Die Verweigerung gegenüber dem letzten Leben – Depression

5.2. Sinnmotivierte Akzeptanz

5.2.1 Akzeptanz und Sinnmotivation – das Rubikonmodell des Willens

5.2.2 Mitgefühl als Form der Akzeptanz des Faktischen – Bedeutung von Bindung

5.2.3 Intentionalität, Sinnhaftigkeit, Verantwortlichkeit – Scham, Beschämung, Schuld

5.3 Personale Integration

5.3.1 Integration des Leides in das Leben – Lebensmotivation und Angst

5.3.2 Einstellungsveränderung zum Leben – Defusion, Erleichterung, Tagträume, Einstellungswerte, Zufriedenheit und Dankbarkeit

6 Einzelthemen in der Psychotherapie mit Sterbenden: Sexualität des Sterbenden, Humor im letzten Leben, Suizidwünsche, Palliative Sedierung

6.1 Die Sexualität des Sterbenden

6.2 Humor im letzten Leben

6.3 Suizidwünsche

6.4 Palliative Sedierung

Schlussgedanke Psychological Care als letzte Hilfe

Literatur

Stichwortverzeichnis

Hinweis zu den Fallbeispielen:

Die geschilderten Beispiele gehen auf die eigene therapeutische Praxis zurück und sind anonymisiert wiedergegeben.

Genderhinweis

Es sind in allen genusspezifischen Formulierungen immer beide Geschlechter gemeint.

 

Einführung: Vom Sinn der Psychotherapie angesichts des Todes

 

 

 

»Der Tod ist bei jeder Therapie zu Gast. Warum vermeiden die meisten Therapeuten ein Gespräch über den Tod?« (Yalom, 2002, S. 137). Damit beschreibt der amerikanische Psychotherapeut eine Seite der Todesthematik für die Psychotherapie. Der Blick darauf, dass jemand einmal nicht mehr da ist, dass das Leben unwiderruflich vergangen ist, stellt sich in der psychotherapeutischen Arbeit immer wieder ein. Menschen mit depressiven Erkrankungen erleben sich wie tot. Jeder, der eine Panikattacke durchlebt hat, bekommt ein Gefühl dafür, was Todesnähe heißt. V. Frankl (1905–1997) thematisierte unter dem Begriff »Letzte Hilfe« (Frankl, 1987, S. 286) die andere Dimension des Themas Tod innerhalb der Psychotherapie. Frankl interessierte, wie Lebenslagen, in denen der Mensch mit der persönlichen Sterblichkeit konfrontiert ist, auf die Persönlichkeit und das Leben des Einzelnen wirken. Er greift das »Sein zum Tode« auf, als das der Philosoph M. Heidegger (1889–1976) das Leben reflektierte (Heidegger, 1972, S. 252 ff.). Dabei geht es nicht um den Tod als Zustand, sondern um das Leben des Menschen, das durch den Tod begrenzt wird und damit um die individuelle Sterblichkeit.

Heidegger geht in seiner Analyse des »Seins zum Tode« von dem jedem bekannten Phänomen aus: Das Sterben und den Tod erleben Menschen am anderen, am Mitmenschen. Das Sterben gehört, so lernt jeder aus dem Tod von Mitmenschen, zum Dasein. Es ist dann eine zweite, neue Erfahrung, dass das Sterben auch das höchstpersönliche Dasein betrifft. Wenn die Sorge um das Überleben in einer schweren Krankheit nach dem Menschen greift, wenn er sich als dankbar für den überlebten Unfall erlebt, wird jedem bewusst, dass das Sterben eine endgültige Möglichkeit auch des eigenen Lebens ist. Sozialpsychologische Befragungen (Yalom, 1989, S. 58 f.) berichten folgerichtig, dass sich die Befürchtungen vieler Menschen nicht auf das Totsein, sondern auf die Erfahrung des Sterbens beziehen.

•  Bin ich der Erfahrung der Hilfsbedürftigkeit, einer langwierigen, schweren Erkrankung, der kognitiven Veränderung einer demenziellen Störung gewachsen?

•  Habe ich gut vorgesorgt für den Partner, die Familie, wenn ich unerwartet sterben muss?

•  Wie will ich denn sterben, wenn ich schon sterben muss?

•  Wie ergeht es den mir nahen Menschen mit meinem Sterben?

Die Diskussion um die geeignete Form der Patientenverfügung, die Vorsorgevollmacht, die moralische Erlaubtheit des assistierten Suizides in einer nicht mehr erträglich erscheinenden Leidenslage drücken funktional die Sorgen und Befürchtungen aus, die sich im Angesicht des Todes, also während des Sterbens einstellen. Beides erscheint für das Leben relevant, nämlich dass es gewiss endet und wie es endet. Das persönliche Sterben und der Tod gehören zu den unvermeidlichen Lebenstatsachen. Sie beunruhigen den Menschen, zumal wenn er sich in Krisen wahrnimmt – oder wenn ihm mitten im Glück bewusst wird, wie vergänglich das Leben ist. Vergänglichkeit, Endlichkeit und Sterblichkeit sind Themen, die den Menschen lebenslang begleiten. Sie gehören schon deshalb zu den Themen der Psychotherapie. »Psychotherapeutisches Handeln muss auch ein memento mori beinhalten, will es nicht Symptome, sondern den ganzen und damit auch den sterblichen Menschen zu seinem Gegenstand nehmen.« (Vogel, 2012, S. 73). Das ist die eine Seite des psychotherapeutischen Interesses an der Thematik des Todes. Die andere beschäftigt sich damit, welchen Sinn Psychotherapie in der Sterbebegleitung verfolgt und wie psychotherapeutische Arbeit mit sterbenden Menschen möglich ist. Hier leistete V. Frankl mit seinem Konzept der »Ärztlichen Seelsorge« als »letzter Hilfe« angesichts unvermeidbarer und unausweichlicher Lebenslagen Pionierarbeit. Der Wiener Arzt und Psychotherapeut sah im Leiden und Sterben ein wesentliches Anwendungsgebiet von Psychotherapie: »Wenn ich im rechten, nämlich aufrechten Leiden noch eine letzte und doch die höchste Möglichkeit zur Sinnfindung sichtbar mache, dann leiste ich nicht erste, sondern letzte Hilfe.« (Frankl, 1987, S. 286) Hier deutet sich bereits an, dass Psychotherapie in der Sterbebegleitung einen veränderten konzeptuellen Zuschnitt braucht.

•  Sie öffnet sich (wieder) existenziellen Fragestellungen und betrachtet sich nicht nur als Arbeit an Verhaltenssymptomen und Persönlichkeitsmerkmalen.

•  Sie nimmt akzeptanzorientierte Einstellungsarbeit wie das Aushalten einer äußerlich nur in engen Grenzen beeinflussbaren Symptomlast in das strategische Repertoire auf und besteht nicht nur in erklärenden und verhaltensändernden Interventionen.

•  Sie geht von den Bedingungen und Kriterien gesunden Menschseins aus und betrachtet die Persönlichkeit nicht vorrangig unter dem Aspekt psychischer Störungen.

Sterben und Tod sollen unter dem Zugriff von Psychotherapie keinesfalls pathologisiert werden, also als Störungen an der Persönlichkeit oder des Verhaltens wahrgenommen werden (Vogel, 2012, S. 81). Sterben und Tod werden als der Prozess des Lebensabschiedes gesehen, in welchem dem Einzelnen zur Bewältigung der Aufgaben seiner Lebensführung und für die Herausforderungen an seine Persönlichkeit fachliche psychologische Hilfe angeboten werden kann. Dabei geht es nicht nur um den alternden Menschen, sondern um jeden Menschen, der mit seiner Sterblichkeit konfrontiert wird. »Jede Zeit ist auch Sterbenszeit.« (Längle, 2014, S. 114)

Dieses Buch arbeitet mit einem Verständnis von Psychotherapie, das sich vom Gedanken der »Care«, der fachlichen Fürsorge und der existenziellen Umsorge des Menschen leiten lässt (Schnabl, 2010, S. 107 ff.). Psychotherapie in der Sterbebegleitung ist demnach eingebettet in die umfassende Palliative Care und hospizliche Begleitung. Sie versteht sich als ein psychologisches Angebot an den Sterbenden und dessen An- und Zugehörigen. Sie kann die Seelsorge (Spiritual Care) ergänzen oder sich durch sie ergänzen lassen. Das Versorgungs- und Begleitungskonzept für das Sterben des Menschen entwickelt dadurch die palliative Pflege und Palliativmedizin, die Hand in Hand mit den Formen der Hospizarbeit gehen, zu einer den ganzen Menschen einbeziehenden Unterstützung bei der herausfordernden Bewältigung seines Lebensabschiedes. »Palliative Care sorgt sich in einem umfassenderen Verständnis um die Würde des sterbenden Menschen und seiner Selbstbestimmung am Lebensende. Sie ist ihrem Selbstverständnis nach Ausdruck von Verbundenheit und Mit-Sein.« (Marquard, 2007, S. 185) In ein derartiges ganzheitliches Versorgungskonzept werden psychologische Fachkräfte zunehmend mehr Mitglieder multiprofessioneller Teams (Trachsel & Maercker, 2016, S. 1) in onkologischen Kliniken, in der ambulanten und stationären palliativen Versorgung und in stationären Hospizen. »Psychotherapie kann auch und gerade bei Todkranken und Sterbenden Leid mindern helfen.« (Vgl. auch: Köhle, 2007, S. 1051 ff.)

Lebensabschied bedeutet, dass die Selbstständigkeit des Menschen als Subjekt seines Lebens zu Ende geht, wie der Philosoph Peter Bieri zeigt (2013, S. 346). Aus der Sicht der Medizin gibt es zwei Möglichkeiten, mit dem vergänglichen Leben umzugehen. Jemand wird zum einen curativ behandelt, so dass der Tod hinausgeschoben wird, was eine Verlängerung des Sterbens bedeuten kann. Zum anderen kann die Medizin den Menschen durch die Verringerung von Schmerzen, durch Entlastung von extremen Symptomen, durch die Möglichkeit der palliativen Sedierung bei schwer erträglichen Zuständen während des Sterbens schützen. Darin besteht der Auftrag der Palliativmedizin. Sie versucht dem Sterbenden seine Würde im Sinn dessen zu erhalten, dass er »die letzte Autorität darüber« (Bieri, 2013, S. 351) behält, was mit ihm geschieht. Dabei ist dem palliativ handelnden Arzt bewusst: »Die medizinische Therapie im engeren Sinne ist für eine Palliativbetreuung am Lebensende allein zwar nicht ausreichend, aber unverzichtbar. Denn kein Patient ist in der Lage, Angebote aus dem psychosozialen oder spirituellen Bereich anzunehmen, wenn er an quälenden Symptomen leidet.« (Borasio, 2011, S. 67) Die palliative medizinische Behandlung und Pflege nimmt den Menschen als mehrdimensionale Person in einem umfassenden Konzept hospizlicher Begleitung ernst.

•  Der körperliche Schmerz und der »Schmerz am Leben«, wie er aus psychologischer Perspektive genannt werden kann, gehören zusammen.

•  Der existenzielle Schmerz entsteht in der Lebensarbeit, die sich im Sterben als Anpassung an die Endlichkeit des individuellen Lebens darstellt, wofür die gewohnten Überlebensprogramme (Coping) nicht geeignet sind.

•  Sterben ist Anpassung an den endgültigen Abschied vom höchstpersönlichen Leben. Dazu gehören anhaltende depressive Stimmungen, Trauer über den bevorstehenden Verlust tragender Bindungen, liebgewonnener Erlebnisse und der vertrauten Umgebung, letztlich des gelernten Lebens.

Derartige Anpassungsthemen gehören, wenn sie schwer bewältigbare Krisen auslösen und die Symptomlast verstärken, in das Behandlungsspektrum der Psychotherapie (ICD 10 F43.2: Anpassungsstörungen). Nicht selten leiden Sterbende unter jähen Veränderungen der Mobilität, der kognitiven Präsenz, selbstverständlich auch unter quälenden physischen Symptomen. Todesangst, Panikgefühle oder auch Bewusstseinstrübungen weisen auf eine »akute Belastungsreaktion« (ICD F43.0) hin, wie sie bei lebensbedrohenden Ereignissen auftritt. Hier kann Psychotherapie Traumatisierungen vorbeugen oder sie lösen helfen. Auch im keineswegs pathologischen, sondern mündig-personalen Ringen mit der Anpassung an das Lebensende kann psychotherapeutische Hilfe im beratenden Gespräch den letzten Abschnitt des Sterbenden sinnvoll unterstützen. Nicht nur Krisenintervention, sondern auch Psychagogik, die konstruktive Einstellungen und Haltungen in dieser neuen, auch eindrucksvollen Lebenslage des letzten Lebens fördert, lindert den »Schmerz am Leben«. Letztlich geht es in der psychotherapeutischen Arbeit mit Sterbenden darum, das Gewohnte und das Andere dieses besonderen Lebensabschnitts miteinander in Berührung zu bringen, damit der Betroffene sich selbststeuernd und selbstberuhigend im letzten Leben akzeptieren lernt. Frankl spricht von »Selbstgestaltung«, wo es kaum etwas Personäußeres im Leben zu gestalten gibt (Frankl, 1996, S. 202 ff.). Die zeitgenössische Persönlichkeitspsychologie bezeichnet diese Fähigkeit »Selbststeuerung« und »Selbstentwicklung« (Kuhl, 2010, S. 492 f.), zwei Potenziale, die der Mensch dann entwickeln muss, wenn die Handlungsmöglichkeiten und die Erlebnisfähigkeit so sehr eingeschränkt sind, dass die inneren Gestaltungspotenziale der Person als neue Möglichkeit, mit Würde zu leben, entwickelt werden. Resilienz, also die Fähigkeit, schwierige Lebenslagen in Würde auszuhalten, wird so verstärkt: »Das Imstandesein, unsere Bewältigung an eine spezielle Herausforderung anzupassen, ist die Fertigkeit, die es uns ermöglicht, unseren Halt zu finden, wenn wir von dem Unbekannten, von Stress oder von einem Trauma aus dem Gleichgewicht geworfen werden.« (Graham, 2014, S. 22). Psychotherapeutische Für- und Umsorge erfindet den Menschen im Sterben nicht neu, sondern knüpft explizit an den Lebensfähigkeiten an, mit denen der Lebende angesichts seines Todes das Leben noch gestalten kann.

Psychotherapie in der Sterbebegleitung hat als Baustein der palliativen Versorgung und Betreuung also einen spezifischen Sinn. Sie greift das Lebenskonzept der Sterbenden ohne Wertung und weltanschauliche Gebundenheit auf und arbeitet mit den Potenzialen und Ressourcen, die der leidende und sterbende Mensch in sich und seiner Lage findet. Psychotherapie macht bewusst, dass das letzte Leben zu Lern- und Anpassungsarbeit herausfordert und dadurch seine Grundspannung behält (Längle, 2014, S. 120 f.). Vergänglichkeit, Endlichkeit und Sterblichkeit des Menschen werden auf den Sinn für den Einzelnen, sowie Gestaltungsmöglichkeiten und -fähigkeiten für den gegenwärtigen Lebensabschnitt hin geprüft, anerkannt und, wenn möglich, in das Leben integriert. Dadurch werden die existenzielle und die psychische Problemlast verringert. Der Betroffene gewinnt seine Würde nicht nur zurück, sondern lernt, sie innerhalb der gegebenen Möglichkeiten auszudrücken.

Psychotherapie in der Sterbebegleitung bezieht systemisch das soziale Mitfeld des Sterbenden in die Arbeit ein. Die Angehörigen, also Partner, Kinder, Großfamilie, und die Zugehörigen, Freunde, Nachbarschaft, Kollegenkreis, aber auch die vertraut gewordenen Pflegenden, Therapeuten, Ärzte können unterstützt werden. Sie aktualisiert klärend und fokussierend die Care als mitmenschliche Umsorge. Sterben wird so wieder zum ausdrücklichen und ausgedrückten Leben im sozialen Feld. Es wird aus der Konzentration auf Pflege, medizinische Versorgung herausgenommen und in den Lebenszusammenhang eines zwar veränderten, aber eben doch Alltags zurückgeführt. Der Psychotherapeut kann zum Anwalt des Lebensnetzes werden, in dem der Sterbende noch immer seine soziale Funktion hat, sofern sie ihm nicht durch die zunehmende Isolation am Lebensende genommen wird. Aus der »Prä-Therapie« (Prouty, Pörtner & v. Werde, 2011, S. 30 f.) wissen wir, dass der Mensch mit sich und seinem Leben in Kontakt bleibt, solange andere Menschen mit ihm in Kontakt sind.

»Sterbende leben – Lebende sterben«, formuliert der Ethiker R. Marquard (2007, S. 193). Leben ist in eine Lebenswelt hineinverwoben, zu der vielfältige Bindungen gehören. Das »pallium des Beziehungsreichtums« (Marquard, 2007, S. 172) wird im letzten Leben durch die zunehmende Immobilität und Schwächung des Sterbenden, aber auch durch die therapeutische oder pflegerische Isolation eingeschränkt. In der modernen palliativen und hospizlichen Versorgung des Sterbenden müssen qualitativ wichtige Bindungen erfahrbar und lebbar bleiben:

•  Behutsame Klarheit in der Kommunikation auch schwieriger Themen,

•  ausdrucksstarke, tragend-bergende Interaktion in belastenden Situationen,

•  verlässliche Rituale und

•  Kontaktformen jenseits der verbalsprachlichen Verständigung.

können durch psychotherapeutische Sachlichkeit als notwendig erkannt, ermutigend gefördert und trainiert, wie auch supervidiert werden.

Auch hier gilt das therapeutische Prinzip, sich der Bindung, der Potenziale und Ressourcen zu bedienen, über die die Betroffenen implizit oder explizit verfügen – und auf dieser Grundlage neue Möglichkeiten zu entwickeln, sofern die Lage es erfordert.

Moderne Psychotherapie wird die Notwendigkeit einer »Psychological Care« am Lebensende anerkennen. Sie erweitert dafür die Kompetenzen. Was Frankl in seiner »Ärztlichen Seelsorge« vor mehr als 65 Jahren anregte, mit dem leidenden und sterbenden Menschen dessen Sinngestaltungspotenzial entschieden zu entwickeln, greifen heute die »achtsamkeitsbasierte kognitive Verhaltenstherapie« (Mindfulness-based Cognitive Therapie), die Akzeptanz- und Commitmenttherapie, die Diginity-Therapy (Würdetherapie) und wertorientierte Formen der Persönlichkeitspsychotherapie auf. Damit stehen viele Antworten auf den Sinn der Psychotherapie am Lebensende zur Verfügung.

Das vorliegende Buch stellt im Teil 1 das theoretische Konzept der Psychological Care vor. Unter dem Stichwort der palliativen Einbettung psychotherapeutischer Arbeit ( Kap. 1) wird ein Überblick über Sterben, Tod und Trauer als Phänomene des Lebens vermittelt und das letzte Leben aus psychologischer Sicht dargestellt. Kapitel 2 geht auf die Grundlagen und Grundannahmen der Psychological Care ein. Deren Selbstverständnis als Psychotherapie sowie die psychologischen Grundlagen dafür werden ausführlich abgehandelt.

Teil 2 widmet sich der Praxis der Psychological Care. Kapitel 3 beschäftigt sich mit der therapeutischen Beziehung zwischen dem Sterbenden, seinen An- und Zugehörigen und dem Therapeuten. Im Kapitel 4 werden angemessene Anamnese- und Explorationsformen für die psychologische Arbeit mit Sterbenden entwickelt. Das umfangreiche Kapitel 5 stellt die drei Interventionsmodule der Psychological Care vor: wertschätzende Konfrontation, sinnorientierte Akzeptanz und personale Integration werden unter Bezug auf krisenbegünstigende Faktoren wie Vermeidungsverhalten, schwierige Gefühle, Probleme der Affektregulation, aber auch in der Behandlung wichtiger klinischer Störungsbilder der Depression, der Angst, der Dissoziation, von Scham- und Schuldgefühlen entfaltet. Die Reintegration des Leidens in den Lebenszusammenhang und die dadurch mögliche Selbstberuhigung angesichts des nahenden Todes werden im Modul der personalen Integration vorgestellt.

Das Kapitel 6 umfasst vier Einzelthemen innerhalb der Sterbebegleitung. Die Sexualität Sterbender, Humor in der Sterbephase als Distanzierungsmöglichkeit, aber auch in seiner irritierenden Qualität für An- und Zugehörige, das Problem suizidaler Wünsche und die psychotherapeutische Beratung Sterbender dazu, die Beratung für die Entscheidungsfindung gegenüber Palliativer Sedierung werden erörtert.

 

 

 

Teil 1:  Psychological Care – TheoretischesKonzept

 

1          Psychological Care im Kontext der Palliative Care

 

 

 

Psychological Care, also Psychotherapie in der Sterbebegleitung, ist ein Baustein einer umfassenden Palliative Care. Die WHO definierte 2002 die Palliative Care als einen »Ansatz

•  zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und deren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen:

•  durch Vorbeugen und Lindern von Leiden,

•  durch frühzeitiges Erkennen, untadelige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen

•  sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.« (Wikipedia, Palliative Care, Zugriff am 02.07.2015)

Psychological Care gehört zu den Instrumenten der psychosozialen Arbeit mit dem Sterbenden und seinem sozialen Umfeld. In fachlicher Hinsicht wird sie als Psychotherapie beim Sterben des Menschen eingesetzt. Bewusst wird hier die Präposition »bei« verwendet. Dies geht auf eine Differenzierung V. Frankls zurück, der Psychotherapie als »symptomatische Therapie« von klinischen, psychogenen Störungen von Psychotherapie als »Ärztlicher Seelsorge« bei »somatogenen Krankheiten, die unheilbar sind« (Frankl, 1986, S. 58) unterscheidet. Unheilbarkeit kann sowohl die Chronifizierung von Krankheit wie die terminale Erkrankung heißen. Die körperliche Dimension der Erkrankung ist nicht Gegenstand der psychologischen Therapie. Klinische Psychotherapie greift die Beschwerden auf, die mit deren psychischer und kognitiver Seite zu tun haben: Unruhe, Angst, Depressivität, Dissoziationen, Anpassungsprobleme. Psychotherapie als »Ärztliche Seelsorge« oder wie in diesem Buch vorgeschlagen als »Psychological Care« blickt aber darüber hinaus auch auf die Beschwerden, die sich nicht unmittelbar aus der klinischen Situation des terminal erkrankten Menschen ergeben. Sie nimmt die Stimmungsveränderungen, die unangenehmen und verstörenden Gefühle und Gedanken, die existenziellen Fragen des Menschen ernst, der sich mit seinem Sterben auseinandersetzt. Die begleitenden Symptome der Konfrontation mit der nun konkret gewordenen Sterblichkeit können auch aus psychologischer Perspektive begleitet werden. Sie sind in die wissenschaftlich basierte Psychotherapie mit aufzunehmen. Aus diesem Grund schlug Frankl vor, auch von einer Psychotherapie »bei« unheilbarer Erkrankung zu sprechen, um den supportiven Charakter zu verdeutlichen, der sich in psychotherapeutische Unterstützung und Begleitung des Menschen und der An- und Zugehörigen in deren Leid differenziert. Es geht nach Frankl darum, »dem Kranken auch noch in seinem Leiden, also bis zuletzt, eine Sinnfindung zu ermöglichen« (Frankl, 1986, S. 58).

 

1.1       Sterben, Tod und Trauer als Lebensphänomene

 

Sterben, Tod und Trauer scheinen eine Einheit zu bilden. Dennoch unterscheiden sich die Phänomene des Sterbens und des Todes von der Trauer. Das Sterben ist der Lebensprozess, in dem das Leben erlischt und der Mensch in den Tod übergeht. Sterben ist zunächst ein biologischer Vorgang, der durch eine zunehmende Desorganisation der Organfunktion, den Zerfall der Organe selbst und letztlich das Aufhören der vitalen Prozesse gekennzeichnet ist (Borasio, 2011, S. 11 ff.). Aus kognitiver Sicht nimmt der Sterbende diesen Prozess intuitiv an den erheblichen Veränderungen seiner Fähigkeiten und Fertigkeit, seines körperlichen und psychischen Zustandes, seiner Leistungsfähigkeit und der Lebensumstände wahr. Sie werden sozial durch verbalisierte Informationen (Arzt- und Pflegegespräche) und genauso durch nonverbale Informationen (veränderter Umgang der Mitmenschen) rückgemeldet. Letztlich setzt sich der sterbende Mensch in der Reflexion mit der Lage auseinander. Die Anpassung an das Sterben in der psychischen Dimension beginnt. Damit ergreift das Sterben den Menschen als Person. Ihm wird deutlich, dass er mit der Grenze seines Lebens in eine irreversible Berührung gerät. Das »Wissen um das eigene Sterbenmüssen« (Gadamer, 2010a, S. 89) wird zur Gewissheit, im persönlichen Sterben angekommen sein. Das Sterben wird zur Lebensaufgabe, die jetzt an den Einzelnen konkret herantritt. Das Sterben gehört also in das Leben hinein. Folglich sind der Kontakt, die Kommunikation und die Interaktion mit dem Sterbenden so zu gestalten, dass dessen Lebenswertgefühl, die Identität der Persönlichkeit, die Grenzen, die Distanz ermöglichen, und die Zuwendung, die Nähe stiftet, also die soziale Bedeutung des Betroffenen erhalten bleibt und er zu diesem besonderen, letzten Leben ermutigt wird. Diese letzte Lebenszeit darf für den Sterbenden nicht »die Terminalphase einer unheilbaren Krankheit« sein, sondern soll als »die alles entscheidende Zeit seines Lebens« (Jonen-Thielemann, 2007, S. 1019) wahrgenommen und angenommen werden.

1.1.1     Sterben in biologisch-medizinischer Perspektive

Wann also beginnt das Sterben? Diese Frage setzt voraus, dass Sterben ein Prozess innerhalb des Lebens ist. Wird Sterben als Prozess verstanden, ist es möglich, einzelne Abschnitte, damit einen Beginn und ein Ende, in der verbleibenden Lebenszeit zu beschreiben. So wird strukturelle Überschaubarkeit hergestellt, die dem Betroffenen, seinen An- und Zugehörigen, den Pflegenden und den Behandlern Orientierung im Fluss des letzten Lebens gibt. Das Prozessmodell des Sterbens gilt vorwiegend bei schwersten Erkrankungen, zeigt sich in weniger spektakulärer Weise beim alten Menschen, der langsam lebensschwach wird. Es taugt kaum dazu, rasche Sterbeverläufe als Folge plötzlicher Erkrankungen (Infarkte, tödliche Virusinfekte, plötzlicher Tod) oder Versterben bei Unfällen oder Katastrophen zu beschreiben. Wenn von den letzten Lebensphasen gesprochen wird, so setzt das einen altersunabhängigen Prozess infolge einer Schwersterkrankung voraus.

Grundlage der palliativmedizinischen Beschreibung des Sterbeprozesses bilden vor allem die körperlichen Symptome und die Möglichkeit zu Aktivitäten seitens des Erkrankten (Jonen-Thielemann, 2007, S. 1020; Albrecht, 2007, S. 500 f.; Knipping, 2007, S. 467 ff., Kulbe, 2008, S. 11, Feddersen, Seitz & Stäcker, 2015, S. 110). Die folgende Tabelle ( Tab. 1.1) vermittelt einen Überblick über den Sterbeprozess:

Tab. 1.1: Überblick über den Sterbeprozess

Das »letzte Leben«, vor allem in den beiden erstgenannten Phasen, verläuft meist nicht nach Plan, sondern ist oft von Wendungen geprägt. Es sind die letzten Lebenstage und -stunden, die eine hohe Stereotypie in den Symptomen und im Verhalten des Menschen zeigen. Häufig gehen die terminale und die finale Phase ineinander über und werden zusammengefasst. Zwar ist die Aufklärung der Angehörigen über die Symptome der letzten Lebensstunden inzwischen in den meisten Bereichen der medizinischen Versorgung angekommen. Oft fragen aber auch Menschen nach, die das Sterben auf sich zukommen spüren, wie es denn sei, wie es sich denn anfühle. Auch hier ist eine behutsame Erklärung der Phänomene sinnvoll. Wichtig erscheint in diesen alle Beteiligten tief bewegenden Tagen und Stunden, dass von möglichst vielen fachlichen Seiten die bangen Fragen und oft irritierenden Wahrnehmungen aufgegriffen und bearbeitet werden, mit großer Geduld und immer wieder. Die kognitive Aufnahmefähigkeit ist nicht nur bei den Sterbenden, sondern auch bei Angehörigen häufig eingeschränkt, so dass ein einmaliges Gespräch wenig bewirkt.

1.1.2     Das letzte Atmen

In der Trauerbegleitung werden zuweilen quälende Schuldgefühle geschildert, weil Angehörige den Sterbenden in seinen letzten Lebensmomenten, bei seinem letzten Atemzug »allein« gelassen haben. Das verweist darauf, dass die letzten Atemzüge einen besonderen Augenblick darstellen. Greifen wir einige psychologische Aspekte an der Bedeutung des Atmens auf, um dessen Bedeutung für die Sterbeerfahrung zu erfassen.

Die Achtsamkeitspsychologie sieht im Atmen ein Erlebnisbild für das ganze Leben, weil »im Atmen alles enthalten ist, um das volle Potenzial unseres Menschseins zu entwickeln« (Kabat-Zinn, 2013a, S. 23). Der Atem fokussiert den Menschen auf die Gegenwart seines Lebens. »Denn wir können nur jetzt atmen – der letzte Atemzug ist vergangen und der nächste noch nicht da – es geht also immer diesen Atmen, gerade jetzt.« (Kabat-Zinn, 2013a, S. 23). Der Atem bringt den Menschen aber auch mit der jüngsten Vergangenheit, dem letztvergangenen Atemzug, und der Zukunft in Berührung, dem nächsten Atemzug. In der Meditation verwendet man für den Atem deshalb auch das Bild der Schwingtür. Solange jemand atmet, lebt er augenscheinlich. So kann angesichts einer schwierigen Diagnose oder der Wahrnehmung einer deutlichen Einschränkung der Lebensfähigkeit der Verweis auf das Atmen beruhigen: »Solange Sie atmen, ist mit Ihnen mehr in Ordnung als nicht in Ordnung, an was immer Sie leiden.« (Kabat-Zinn, 2013b, S. 12 f.). Atmen können, heißt leben. Erstickungsanfälle, also eine erzwungene Unterbrechung des Atmens, ruft Panik hervor.

Davon ist das Aufhören des Atmens (Einstellung des reflektorischen Atmens) zu unterscheiden. Neuropsychologisch betrachtet wirkt sich die bewusste Wahrnehmung des Atmens auf das Vegetative Nervensystem (VNS) aus. Das VNS hat zwei Zweige. Das sympathische Nervensystem ermöglicht dem Menschen die angemessene Reaktion gegenüber Bedrohung oder vermittelt Antriebsenergie bei der Wahrnehmung von Chancen. Es ist mit den Stress-Moderations-Arealen im Mittelhirn (Hippocampus, Amygdala) verbunden. Das andere, das parasympathische Nervensystem reguliert den Atem und versetzt den Menschen in einen normalen Ruhezustand. Es »beruhigt auch den Geist und fördert innere Ruhe« (Hanson & Mendius, 2012, S. 78). Die Atmung kann also für die Aktivierung des parasympathischen Nervensystems genützt werden und so ausgehend von der Herzfrequenz Stabilität und Harmonisierung bewirken (Graham, 2014, S. 282 ff.).

Der Atem ist ein erlebbares Symbol für das Leben. Das zeigt auch die philosophische, spirituelle und religiöse Tradition, in der die Wörter für Atem (hebr. ruach, griech. pneuma, lat. spiritus) mit der Bedeutung der Lebendigkeit verbunden sind. Insofern eignet dem letzten Atemzug eine besondere Dimension: Wer nicht mehr atmet, aus dem ist das Leben gewichen. Er ist auf erfahrbare Weise tot. Der Übergang vom Leben zum Totsein ereignet sich auf der Erfahrungsebene genau im letzten Atemzug. Wer im Sterbezimmer die Stille erlebte, die nach dem letzten fließenden, sanften oder tiefen Ausatmen eintritt, weiß, warum Menschen damit ringen, eben nicht dabei gewesen zu sein (Feddersen, Seitz & Stäcker, 2015, S. 129). Es bedarf zur Entlastung von etwaigen Schuldgefühlen geduldiger Exploration. Sie haben weit mehr mit Beschämung als mit Schuld zu tun:

•  Drückte der lebende Angehörige den Wunsch spürbar aus, dass gerade Sie in den letzten Stunden da sein sollten? Oder, dass jemand da sein sollte? Geht es also darum, nicht alleine sterben zu müssen oder begleitet sterben zu wollen?

•  Gab es für Sie Gründe, nicht dabei zu sein? Waren Sie objektiv, der Lage geschuldet? Oder subjektiv? Vielleicht trauten Sie es sich nicht zu, dabei zu sein – oder haben von sich etwas so Besonderes in der Situation erwartet, dass es Sie davon abgehalten hat?

•  Kann es sein, dass der Sterbende allein sein wollte? Weil er Sie ein letztes Mal vor Unangenehmen schützen wollte, so wie er es oft getan hat? Wie es zu Ihrer Bindung passte?

•  Kann es sein, dass er bewusst und ein einziges Mal das Wichtigste in seinem Leben ungeteilt und selbst durchstehen wollte? – Und Sie haben ihm diese Chance geschenkt.

•  Vielleicht sah sich der Sterbende noch gar nicht so todesnah – und starb für ihn selbst unerwartet bald?

Die Bedeutung des »letzten Atemzuges« zu relativieren, widerspricht der existenziellen Bedeutung des Atems für den Menschen. Therapeutisch sinnvoller ist es, noch einmal über den Atem als Zeichen für die Lebensbedürfnisse des Verstorbenen nachzudenken oder dessen Bindung an den Hiergebliebenen nachzugehen.

1.1.3     Der Tod

Endet das Leben, dann tritt der Tod ein. Am Leichnam sind keine Vitalfunktionen mehr nachweisbar. Biologisch ist der »Gesamttod des Organismus« (Borasio, 2011, S. 15 f.) festzustellen. Der Zeitpunkt, ab wann ein Mensch als tot bezeichnet wird, wird medizinisch differenziert gesehen. Die einzelnen lebenswichtigen Organe stellen ihre Funktion allmählich und zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein. Das »Multiorganversagen« beendet dann das Leben. Auch der Funktionsverlust eines einzigen lebensnotwendigen Organs (Herz, Lunge, Leber, Niere, Gehirn) kann zum Tod führen (Borasio, 2011, S. 17–19). Für die Rehabilitations- und Transplantationsmedizin sind die irreversible Schädigung und der vollkommene Funktionsverlust des Hirns das zentrale Kriterium für das Totsein eines Menschen. Sind Groß-, Mittelhirn und Stammhirn, das viele vegetative Funktionen steuert, autonom nicht mehr funktionsfähig, ist der Sterbevorgang unumkehrbar geworden. Für die Organentnahme können einzelne Organe (Augennetzhaut, Herz, Niere, Leber, Lunge) funktionsfähig erhalten werden, der »Tod des Gesamtorganismus als integrierte(r) biologischer Einheit ist aber zu diesem Zeitpunkt schon unumkehrbar vollzogen« (Borasio, 2011, S. 21). Inzwischen wird auch der Vorderhirntod (irrerversibler Funktionsverlust des präfronatalen Cortex) als frühestmöglicher Zeitpunkt des Todeseintritts diskutiert. Die Frage nach dem Eintreten des Todes erhält aus medizinischer Sicht interessengeleitete Antworten. Je früher ein Mensch für tot erklärt werden kann, um so besser ist der Zustand der Organe, die im Falle einer Organspendeeinwilligung entnommen werden können. Dass in jedem Fall der Mensch einige Tage nach dem letzten Atemzug tot ist, d. h. ein in Verwesung übergehender Leichnam, daran lässt die Biologie keinen Zweifel. Medizin und Pflege unterscheiden dabei sichere und unsichere Todeszeichen (Albrecht, 2007, S. 500 f.; Kulbe, 2008, S. 14). Sie sind in Tab 1.2 zusammengestellt.

Unsichere TodeszeichenSichere Todeszeichen

Tab. 1.2: Sichere und unsichere Todeszeichen

Die Frage, was der Tod ist, gewinnt an Komplexität, wenn sie aus der Perspektive der Psychologie, der Soziologie und der Philosophie gestellt wird. Dass der Mensch sich seiner Endlichkeit bewusst wird, den Tod anderer Menschen mit der persönlichen Endlichkeit in Beziehung setzt, »leitet seine Menschwerdung ein« (Gadamer, 2010a, S. 86). V. Frankl sieht im Tod einen Schrittmacher des Sinns (Frankl, 1987, S. 108 ff.). Wie der Tod ist, das bleibt dem Menschen verborgen. Philosophie, Weltanschauungen und Religionen versuchen das »Wie des Todes« rational zu erhellen, spirituell erfahrbar zu machen oder in Glaubenssätzen zu formulieren (vgl. den differenzierten Überblick in Speck, 2014). Gemeinsam ist den meisten Todesbildern: Tod endet das biographische Leben. Der bisher Lebende hat, einmal gestorben, keine Zukunft mehr. Sein Leben samt seiner Persönlichkeit sind Vergangenheit geworden: »Der lebende Mensch hat Vergangenheit und hat Zukunft; der Sterbende hat keine Zukunft mehr, sondern nur mehr Vergangenheit; der Tote aber ist seine Vergangenheit.« (Frankl, 1991, S. 55, Anm. 6). Frankl deutet die Vergangenheit als die unveränderliche Geschichte eines Lebens, ein Dokument, in dem alles Gelebte, aber auch das ungelebte, versäumte Leben aufgehoben ist (Frankl, 1991, S. 54). Im Tod wird das Leben, wie er schreibt, zum »Denkmal« (Frankl, 1987, S. 289).

1.1.4     Die Trauer

Der Tod ist auch eine soziale Zäsur. Mit dem Tod teilen sich Familien, Partnerschaften und Gemeinschaften. Es gibt den Verstorbenen und die »Hierbleibenden« (Smeding, 2004, S. 151), die sich seiner zunächst voller Trauer erinnern. Bindungen erhalten so eine andere Bedeutung. Das Bindungsverhalten gegenüber dem jetzt Verstorbenen und der »Hierbleibenden« untereinander erhält oft eine veränderte Dynamik, die neue Anpassungen und Einstellungen erfordert (Bowlby, 2014, S. 24 f.). Psychologisch gesehen umfasst also der Prozess Trauer nicht nur die individuelle Verlustbewältigung, sondern auch die soziale Dimension einer veränderten Anpassung an das Fehlen des Verstorbenen in den Systemen, denen er angehörte. Mit einem Wortspiel von Ruth M. Smeding kann der Prozess der Trauer in einer Formel gefasst werden: vom »Hiergebliebenen« zum »Hierbleibenden« (Smeding, 2004, S. 151).

Trauer ist also ein Verhaltensprogramm, das dem Menschen die Verarbeitung von Verlusterfahrungen ermöglicht. Es geht in der individuellen Trauerarbeit darum, die Persönlichkeit und die Lebensführung an die veränderte Situation nach dem Verlust eines Wertes anzupassen. Trauer ist damit nichts Pathologisches. »Trauer ist also eine spontane, natürliche, normale und selbstverständliche Reaktion unseres Organismus, genauer gesagt unserer ganzen Person auf Verlust, Trennung und Abschied.« (Canacakis, 2013, S. 32 f.). Trauer kann zu einem Problem werden, wenn sich ein Mensch in der Trauer verfängt oder der Trauerprozess durch traumatische Erlebnisse blockiert ist. Die klinische Psychologie spricht dann von »komplizierter Trauer« oder »anhaltender Trauer« (Znoj, 2004, S. 11 ff.).

Die Trauer gehört zum Sterben und zur Erfahrung des Todes. Der Sterbende trauert um das gewohnte Leben. Er verabschiedet mehr und mehr, was sein Leben bislang ausmachte. Die An- und Zugehörigen beginnen bereits während des letzten Lebens den Verlust des Sterbenden zu betrauern, was oft dazu führt, dass sie sich so verhalten, als sei er bereits verstorben. Das kann soziale Isolation des Sterbenden trotz steter Anwesenheit der Bezugspersonen erzeugen. Nach dem Tod eines Mitmenschen wird um dessen Verlust in kulturell spezifischer Weise getrauert. Es gibt in vielen Kulturen und religiösen Kontexten soziale Trauerregeln und -formen, deren Nichtbefolgung zu Sanktionen führt (Urban, 2011). Mit der Trauer erhält das Totsein eines Menschen soziale Relevanz. Jene schlägt sich in der Bestattung als Abschiedsritual und in den Formen der Erinnerungskultur nieder, die die Bedeutung der Verstorbenen sowohl gesellschaftlich wie für dessen persönlichen Lebenskreis sichtbar machen (Köster, 2012, S. 22 ff.).

1.1.5     Die Erfahrung der Endlichkeit

Sterben, Tod und Trauer werden in dieser Darstellung als Phänomene des menschlichen Lebens gesehen, die den Einzelnen mit der Endlichkeit und dadurch mit der Vergänglichkeit der Existenz konfrontieren. Was der Philosoph M. Heidegger als »Sein zum Tode« (Heidegger, 1972, S. 235 ff.) entfaltet, erscheint als die dem Leben irreversibel einbeschriebene Möglichkeit des Todes. Was der Mensch am Tod des anderen erlebt, ist »die Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens« (Heidegger, 1972, S. 250). Heidegger geht dessen Bedeutungsmöglichkeiten durch. Das Ende des Daseins, das sich im Tod ereignet, ist damit zunächst das »Aufhören«, »in die Unvorhandenheit übergehen« (Heidegger, 1972, S. 244 f.). Es ist zum zweiten »Enden als Fertigwerden« (Heidegger, 1972, S. 245), also der Abschluss einer Entwicklung, eines gestalterischen Prozess oder einer Verfertigung. Drittens ist es das »Sein zum Ende« (Heidegger, 1972, S. 245 f.), als das der Mensch sein Dasein, das Sein in der Welt verstehen lernt.