Psychotherapie und Psychosomatik - Michael Ermann - E-Book

Psychotherapie und Psychosomatik E-Book

Michael Ermann

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Beschreibung

This textbook provides a comprehensive introduction to psychotherapy and psychosomatics, as well as psychodynamic thinking. It also provides an overview of the theory and practice of psychoanalysis and of psychodynamic procedures. It includes basic information about other psychotherapeutic methods. Based on the three pillars of conflict, developmental and trauma pathology, it offers a consistent and systematic account of pathology and therapeutic practice. It takes into account specialized topics such as psychological development and the psychosocial aspects of illness. For the new edition, the importance of a structure-oriented approach has been emphasized, which is currently a focus of interest.

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Der Autor

Prof. Dr. med. Michael Ermann ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker in Berlin. Dort ist er vor allem als Supervisor und Berater tätig. Er ist habilitiert für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse an der Universität Heidelberg und emeritierter Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er 25 Jahre lang der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Klinik vorstand.

Michael Ermann

Psychotherapie und Psychosomatik

Ein Lehrbuch auf psychoanalytischer Grundlage

8., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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8., erweiterte und überarbeitete Auflage 2024

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Umschlagbild: tutye – stock.adobe.com

 

Print:

ISBN 978-3-17-043051-8

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-043052-5

epub:    ISBN 978-3-17-043053-2

Für Susanne und Rainer, Gabriel und Samira

Vorwort

Zur 8. Auflage

Dieses Lehrbuch erschien erstmals im Jahr 1994. Ursprünglich von meinen Studenten1 angeregt, hatte ich es für den Gebrauch im Medizinstudium geschrieben. Damals war das Fach »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« neu in den Lehrplan eingeführt worden und es gab nur ganz wenige Lehrbücher für das neue Fach, in dem damals die psychodynamischen Konzepte dominierten. Es erwies sich aber rasch, dass das komplexe psychoanalytisch orientierte Denken zu weit vom Interesse des künftigen Allgemeinarztes wegführt, auf den das Medizinstudium ausgerichtet ist. Wir haben für den Leserkreis der jungen Mediziner deshalb bald parallel zu diesem Buch eine Einführung in die Psychosomatik und Psychotherapie herausgegeben, die sich großer Beliebtheit erfreut.2

So fand dieses Buch seine Leser hauptsächlich unter Psychologen und Ärzten in psychotherapeutischer Fort- und Weiterbildung. Zum Leserkreis gehören aber auch praktizierende Psychotherapeuten und Psychiater, die für den psychodynamischen, psychoanalytisch orientierten Ansatz aufgeschlossen sind. Für diesen Leserkreis wurde die Bearbeitung der verschiedenen Neuauflagen konzipiert.

Als Idee dieses Lehrbuchs zieht sich die Systematisierung des psychodynamischen Zugangs zur Psychopathologie durch alle Auflagen. Sie beruht auf den drei Säulen reaktive, neurotische und posttraumatische Störungen, wobei die neurotische Pathologie anhand der Kategorien der Strukturdiagnostik weiter aufgeschlüsselt wird. Daraus ergibt sich ein differenzieller psychodynamischer Behandlungsansatz mit den drei Polen einer einsichtsorientierten, einer erfahrungsorientierten und einer strukturorientierten Behandlungsstrategie. Diese Systematisierung stellt eine Brücke her zu Ergebnissen der Säuglings- und Bindungsforschung sowie der Gedächtnis- und Hirnforschung der letzten Jahrzehnte.

Für die 8. Auflage wurde das gesamte Buch nochmals gründlich überarbeitet und aktualisiert. Dabei wurde der intersubjektive Ansatz weiter ausgearbeitet und die Darstellung der Krankheitsbilder auf den neuesten Stand gebracht. In diesem Rahmen wurde die OPD-3 von 2023 in die Diagnostik übernommen. Hingegen wurde die ICD-11-Klassifikation, die Anfang 2022 global als Klassifikationssystem eingeführt wurde, noch nicht berücksichtigt, weil nach ministerieller Information mit einer längeren Übergangszeit zu rechnen ist, in der die bisherige ICD-10 weiterhin vorrangig Verwendung finden wird.

Die Idee, in diesem Buch auch grundlegende Informationen über die Verhaltenstherapie als zweite führende Methode in der Versorgung zu vermitteln, hat sich nicht bewährt. Ich hatte mich daher bereits anlässlich der 6. Auflage entschlossen, auf das Kapitel über die Verhaltenstherapie zu verzichten, und mich bei einzelnen Themen auf kurze Hinweise zur verhaltenstherapeutischen Sichtweise beschränkt. Diese Beschränkung gilt auch für die systemische Psychotherapie, die seit wenigen Jahren als drittes zugelassenes Verfahren Bestandteil der kassenfinanzierten psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland geworden ist. Es sei auf die inzwischen vorliegende große Zahl hervorragender Einführungen in die Verhaltenstherapie und die systemische Psychotherapie verwiesen.

Dieses Buch ist von der Überzeugung getragen, dass das psychodynamische Denken gerade in einer Zeit zunehmender Technisierung der Medizin einen unverzichtbaren Zugang zum Menschen in Gesundheit und Krankheit, zu seinem Erleben, seinen Beziehungen, seiner Sozialisierung und seinen kulturellen Schöpfungen eröffnet. Die Idee dieses Ansatzes ist das Zusammenspiel von Regression und Progression, Unbewusstem und Bewusstem. Es soll durch das Foto auf dem Buchumschlag zum Ausdruck kommen: Der Blick in die Tiefendimension der Spiraltreppe, die 1932 von Guiseppe Momo als Ausgangstreppe der Vatikanischen Museen in Rom entworfen worden ist.

Mit der aktualisierten Neuauflage verbinde ich den Wunsch, dass es dazu beiträgt, dieses Denken auf einer soliden modernen Grundlage für die Annäherung an unsere Patienten zu erhalten. Es soll ein Beitrag für die Sicherung unseres Faches in der Zukunft sein. Dabei denke ich vor allem an die Herausforderungen, die das Fach in der gegenwärtigen Umstrukturierung der Ausbildung psychologischer Psychotherapeuten zu bewältigen hat.

Die Unterstützung der Helfer und Berater bei den früheren Auflagen ist nach wie vor unvergessen. Mein Dank gilt auch wieder dem Kohlhammer-Verlag, der die Entwicklung dieses Lehrbuchs mit Engagement und Interesse begleitet. Ganz besonders danke ich meinem Partner Werner J. Stauten. Er hat die Arbeit an der Neuauflage wieder mit Sorgfalt, viel Geduld und Sachverstand mitgetragen.

Berlin, im Frühjahr 2024

Michael Ermann

Aus dem Vorwort zur 1. Auflage (1994)

Die Psychotherapie, und mit ihr die Psychosomatische Medizin, stand in Deutschland Anfang der 1990er Jahre mit der Einführung eines ärztlichen Fachgebietes »Psychotherapeutische Medizin« in einer neuen Phase der Institutionalisierung. Es besteht seither die Möglichkeit, dass Ärzte, die hauptsächlich Psychotherapie betreiben wollen, nach ihrer Ausbildung als Fachärzte tätig werden können. Sie wurden damit anderen Fachärzten gleichgestellt.

Diese Neuregelung war vor allem im Kreise der Psychoanalytiker, die einen großen Teil der Psychotherapeuten ausmachen, umstritten, weil weitgehende Veränderungen der Ausbildungsstrukturen und der Ausbildungsinhalte an die neue Regelung geknüpft wurden. Ähnliches wird für die nächsten Jahre von einem sog. Psychotherapeutengesetz erwartet, das auch die psychotherapeutische Tätigkeit von Diplompsychologen in Deutschland regeln soll.

So problematisch diese Veränderungen einerseits sind, der Psychotherapie und Psychosomatik haben sie im Medizinalsystem ein größeres Gewicht gegeben. Auch das Studienfach »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie«, das vor 25 Jahren in die Ausbildung der Medizinstudenten eingeführt wurde, hat damit größeren Einfluss erhalten.

Ob es angesichts einer besseren, auch wirtschaftlich vorteilhafteren Institutionalisierung allerdings gelingt, den hohen wissenschaftlichen Standard der bisherigen Psychotherapie und Psychosomatik aufrechtzuerhalten, hängt vorrangig von der Qualität, daneben natürlich auch von der Struktur der Ausbildung ab. Damit hat die Ausbildung von Medizinern und Psychologen während und nach dem Universitätsstudium eine Neubewertung erfahren.

Für mich als Hochschullehrer und als Beteiligter an der Psychotherapieausbildung war das eine Herausforderung und ein Anlass dafür, unser heutiges klinisches Wissen und den Stand unserer psychotherapeutischen Erfahrungen in einem Leitfaden für das Studium und die spätere Weiterbildung zusammenzutragen.

Zum Konzept dieses Buches

Der Darstellung liegt ein psychoanalytisch orientierter Ansatz zugrunde, der die Beziehungserfahrungen des Menschen in das Zentrum der Betrachtung rückt und mit trieb-, ich- und selbstpsychologischen Aspekten verknüpft. Er kann als weithin repräsentativ für das heutige psychoanalytische Denken gelten. Innerhalb dieses Ansatzes wird ein entwicklungsdynamisches Strukturmodell zugrunde gelegt. Daneben werden reaktive Störungen und chronische posttraumatische Störungen als besondere Störungsformen betrachtet.

Neben diesem psychoanalytischen Ansatz werden bei der Darstellung allgemeine psychotherapeutische und psychosomatische Basisinformationen vermittelt.

Zur Lektüre dieses Buches

Dieses Buch gliedert sich in die Teile Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder und Behandlung. Als Basis für das Verständnis ist das Kapitel 3 über die Neurosenentstehung gedacht. Weil immer wieder auf die Grundformen der psychogenen Pathologie Bezug genommen wird, empfiehlt es sich, vor dem Studium spezieller Fragen auf jeden Fall auch das Kapitel 4 durchzuarbeiten. Im Übrigen sind die einzelnen Kapitel so gestaltet, dass sie unabhängig voneinander gelesen werden können.

Die Literaturverweise in den Fußnoten enthalten einerseits Grundsatzarbeiten zu zentralen Konzepten; hier kann die Auswahl angesichts der Fülle der Literatur nur willkürlich sein. Wo verfügbar, wurden deutschsprachige und leicht erreichbare Arbeiten angegeben. Andererseits werden einige zentrale Begriffe durch Hinweise auf die Erstbeschreiber oder wichtige Neuformulierungen belegt. Bei Begriffen und Konzepten, die heute zum »allgemeinen Wissensstand« unseres Fachs gehören, wurde auf solche Hinweise verzichtet, um das Literaturverzeichnis überschaubar zu halten.

1     Wenn im Folgenden bei der Nennung von Personen im Hinblick auf eine bessere Lesbarkeit des Textes lediglich die Form des generischen Maskulinums verwendet wird, sind stets alle Geschlechter gemeint.

2     Ermann u. a. (2006)

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Das Arbeitsfeld der Psychotherapie und Psychosomatik

Annäherungen an das Psychische

Psychotherapie und Psychosomatik

Definitionen

Historischer Hintergrund

Grundlagen

Traditionelle und neuere Aufgaben

Krankheit und Krankheitsentstehung

1          Psychosoziale Aspekte des Krankseins

1.1        Krankheitsrisiko

1.1.1      Psychosoziale Risikofaktoren

1.1.2      Komorbidität

1.2        Krankheitsbewältigung – Das Coping-Konzept

1.2.1      Bewältigungsprozess und Bewältigungsformen

1.2.2      Krankheitsbezogene Bewältigungsaufgaben

1.3        Die therapeutische Beziehung

2          Erleben und Entwicklung aus psychodynamischer Sicht

2.1        Psychodynamik und die Verarbeitung von Erfahrungen

2.1.1      Repräsentanzen

2.1.2      Konflikt

2.1.3      Struktur

2.2        Entwicklungspsychologische Grundlagen

2.2.1      Entwicklung und Reifung

2.2.2      Psychoanalytische Entwicklungstheorie

2.3        Marksteine der Entwicklung

2.3.1      Die frühe intentionale Entwicklung

2.3.2      Die frühe Individuationsentwicklung

2.3.3      Die präödipale Entwicklung

2.3.4      Die ödipale Entwicklung

2.3.5      Entwicklungsaufgaben im weiteren Lebensverlauf

3          Die Entstehung von psychogenen Störungen

3.1        Ätiopathogenetische Grundlagen

3.2        Grundformen der psychogenen Pathologie (»Allgemeine Neurosenlehre«)

3.2.1      Die Entstehung psychogener Pathologien

3.2.2      Psychogene Pathologie und Persönlichkeit

3.2.3      Persönlichkeitsmuster

3.2.4      Auslösesituation und Krankheitsmanifestation

3.2.5      Synopsis

Diagnostik

4          Psychoanalytische Entwicklungs- und Strukturdiagnostik

4.1        Entwicklung und Struktur

4.2        Das niedere Strukturniveau (Borderline-Persönlichkeitsorganisation)

4.2.1      Ätiologie und Disposition

4.2.2      Das Ich bei der Borderline-Persönlichkeitsorganisation

4.2.3      Selbstrepräsentanz und Objektbeziehungen

4.2.4      Symptomentstehung

4.2.5      Abgrenzung von Psychosen

4.3        Das mittlere Strukturniveau (Präödipale Persönlichkeitsorganisation)

4.3.1      Ätiologie und Disposition

4.3.2      Ichorganisation und Objektbeziehungen

4.3.3      Die Weiterverarbeitung des Autonomiekomplexes

4.4        Das höhere Strukturniveau (Neurotische Persönlichkeitsorganisation)

4.4.1      Ätiologie und Disposition

4.4.2      Aufbau und Funktion des höheren Strukturniveaus

4.4.3      Auslösesituationen und Symptomentstehung

4.5        Das reife Strukturniveau (Nicht-neurotische Persönlichkeitsorganisation)

5          Klinische Diagnostik

5.1        Psychodynamische Diagnostik im Vorfeld der Fachpsychotherapie

5.1.1      Die Untersuchung von Patienten mit psychogenen Störungen

5.1.2      Das Untersuchungsgespräch

5.1.3      Die Überweisung zur Fachdiagnostik

5.2        Psychotherapeutische Fachdiagnostik

5.2.1      Das psychodiagnostische Interview

5.2.2      Die Methode des psychodiagnostischen Interviews

5.2.3      Die Auswertung des psychodiagnostischen Interviews

5.2.4      Psychotherapeutische Diagnosen

5.3        Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD)

Krankheitsbilder

6          Reaktive Störungen

6.1        Belastungsreaktionen

6.2        Anpassungsstörungen

6.3        Somatopsychische Störungen

7          Posttraumatische Störungen

7.1        Trauma und seelische Störung

7.1.1      Historische Entwicklung des Traumakonzeptes

7.1.2      Was ist ein Trauma?

7.1.3      Traumafolgen

7.2        Häufigkeit und Disposition

7.2.1      Epidemiologie

7.2.2      Protektive und Risikofaktoren

7.3        Traumatisierung und Traumaverarbeitung

7.3.1      Traumatisierung und Bewältigung

7.3.2      Die Entstehung posttraumatischer Störungen

7.3.3      Varianten der posttraumatischen Entwicklung

7.4        Posttraumatische Krankheitsbilder

7.4.1      Akute Traumareaktion

7.4.2      Posttraumatische Belastungsstörung und posttraumatische Spätreaktion

7.4.3      Posttraumatische Persönlichkeitsstörung und komplexe posttraumatische Belastungsstörung

7.4.4      Atypische posttraumatische Störungen

7.5        Diagnostik und Therapie

7.5.1      Diagnostische Aspekte

7.5.2      Allgemeine Therapiegrundsätze

7.5.3      Zur Behandlung der akuten Störungen

7.5.4      Behandlung der andauernden posttraumatischen Störungen

8          Persönlichkeitsstörungen

8.1        Das Konzept der Persönlichkeitsstörungen

8.1.1      Persönlichkeit und ihre Störungen

8.1.2      Allgemeine und klinische Aspekte

8.1.3      Zur Behandlung

8.2        Hysterie und hysterische Persönlichkeitsstörung

8.2.1      Hysterische Dissoziation und hysterische Persönlichkeit

8.2.2      Hysterische (histrionische) Persönlichkeitsstörung

8.2.3      Behandlung

8.3        Pathologischer Narzissmus und die narzisstische Persönlichkeitsstörung

8.3.1      Narzisstische Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörungen

8.3.2      Präödipaler Narzissmus auf mittlerem Strukturniveau

8.3.3      Borderline-Narzissmus auf niederem Strukturniveau

8.3.4      Diagnostik und Behandlung

8.4        Depressive Persönlichkeitsstörung

8.4.1      Erscheinung

8.4.2      Psychodynamik

8.5        Borderline-Persönlichkeitsstörung und Borderline-Syndrom

8.5.1      Erscheinung der Borderline-Persönlichkeitsstörung

8.5.2      Das Borderline-Syndrom

8.5.3      Diagnostik und Behandlung

8.6        Schizoidie und schizoide Persönlichkeitsstörung

8.6.1      Erscheinung der schizoiden Persönlichkeitsstörung

8.6.2      Hintergrund

8.6.3      Diagnostik und Behandlung

8.7        Weitere Persönlichkeitsstörungen

8.7.1      Die paranoide Persönlichkeitsstörung

8.7.2      Die schizotypische Persönlichkeitsstörung

8.7.3      Die dissoziale Persönlichkeitsstörung

8.7.4      Die zwanghafte (anankastische) Persönlichkeitsstörung

8.7.5      Die abhängige (dependente) Persönlichkeitsstörung

8.7.6      Die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung

9          Psychische Störungen (Psychoneurosen)

9.1        Grundlagen

9.1.1      Diagnostik und Abgrenzungen

9.1.2      Indikationen und Prognosen

9.2        Depressive Störungen (Depressive Neurosen)

9.2.1      Ätiologie, Verlauf und Symptomatik

9.2.2      Psychodynamik und Persönlichkeit

9.2.3      Diagnostik und Abgrenzung

9.2.4      Behandlung

9.3        Angststörungen (Angstneurosen)

9.3.1      Diffuse Angststörungen

9.3.2      Phobische Angststörungen

9.3.3      Hypochondrische Angststörungen

9.3.4      Verhaltenstherapeutische Aspekte der Angst

9.3.5      Diagnostik und Behandlung

9.4        Zwangsstörungen (Zwangsneurosen) und zwanghafte Persönlichkeitsstörung

9.4.1      Zwangsphänomene und Zwangsstörungen

9.4.2      Die zwanghafte (anankastische) Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung

9.4.3      Verhaltenstherapeutische Aspekte

9.4.4      Diagnostik und Behandlung

9.5        Dissoziative Störungen

9.5.1      Dissoziation als pathogenetischer Mechanismus

9.5.2      Klinische Aspekte

9.5.3      Behandlung

9.6        Entfremdungsstörungen (Depersonalisations-/Derealisations-Syndrome)

10       Somatoforme Störungen (Organneurosen)

10.1     Grundlagen

10.1.1   Konversion

10.1.2   Somatisierung

10.1.3   Konversion und Somatisierung im Vergleich

10.1.4   Verhaltenstherapeutische Aspekte

10.2      Konversionsstörungen (Konversionsneurosen)

10.2.1    Strukturniveau und Psychodynamik

10.2.2    Pseudoneurologische und vegetative Konversionsstörungen

10.2.3    Extrapyramidale Bewegungsstörungen

10.2.4    Diagnostik und Behandlung

10.3      Somatisierungsstörungen

10.3.1    Klinische Erscheinungen

10.3.2    Psychodynamik und Strukturniveau

10.3.3    Typische Somatisierungsstörungen

10.3.4    Diagnostik und Behandlung

10.4      Schmerzstörungen

10.4.1    Somatoforme Schmerzen

10.4.2    Ätiopathogenese

10.4.3    Psychischer Hintergrund

10.4.4    Diagnostik und Behandlung

10.5      Psychogene Sexualstörungen

10.5.1    Über Sexualität

10.5.2    Klinische Aspekte

10.5.3    Diagnostik und Behandlung

10.5.4    Störungen im Kontext von Homosexualität

11        Verhaltens- und Entwicklungsstörungen

11.1      Essstörungen

11.1.1    Psychosomatik der Oralität

11.1.2    Anorexia nervosa (Magersucht)

11.1.3    Bulimie (Ess-Brech-Sucht)

11.1.4    Esssucht (Binge-Eating-Störung) und Adipositas

11.1.5    Behandlung der Essstörungen

11.2      Abhängigkeitsverhalten

11.2.1    Stoffgebundene Abhängigkeit

11.2.2    Nicht stoffgebundene Abhängigkeit

11.2.3    Ätiopathogenese des Abhängigkeitsverhaltens

11.2.4    Zur Psychotherapie

11.3      Selbstverletzendes Verhalten

11.3.1    Offen selbstverletzendes Verhalten

11.3.2    Artifizielle Störungen (Heimliche Selbstbeschädigung)

11.4      Sexuelle Erlebnis- und Verhaltensstörungen

11.4.1    Störungen der Geschlechtsidentität

11.4.2    Paraphilie (Störungen der Sexualpräferenz)

11.5      Suizidalität

11.5.1    Allgemeine Grundlagen

11.5.2    Suizidalität bei psychogenen Störungen

11.5.3    Einschätzung der Suizidalität

11.5.4    Die Behandlung suizidaler Patienten

11.6      Entwicklungsstörungen

11.6.1    Hyperkinetische Störungen

11.6.2    Autismus-Spektrum-Störungen

12        Psychosomatosen

12.1      Grundlagen

12.2      Psychosomatosen aus psychoanalytischer Sicht

12.2.1    Traditionelle psychoanalytische Erklärungsansätze

12.2.2    Psychosomatosen als somatisches Erinnern

12.2.3    Die Persönlichkeit bei Psychosomatosen

12.2.4    Symptombildung und Verlauf

12.3      Allgemeines zur Psychotherapie

12.4      Häufige Krankheitsbilder

12.4.1    Asthma bronchiale

12.4.2    Ulcus pepticum

12.4.3    Colitis ulcerosa

12.4.4    Enteritis regionalis (Morbus Crohn)

12.4.5    Neurodermitis (Atopisches Ekzem)

12.4.6    Rheumatoide Arthritis

13        Nichtorganische Psychosen

13.1      Das psychodynamische Verständnis von nichtorganischen Psychosen

13.2      Psychodynamische Behandlung von Psychosen

14        Psychosomatik in somatischen Fachgebieten

14.1      Allgemeinmedizin, fachübergreifende psychosomatische Aufgaben

14.2      Augenheilkunde

14.3      Chirurgie

14.4      Dermatologie

14.5      Gynäkologie und Geburtshilfe

14.6      Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde

14.7      Innere Medizin

14.8      Neurologie

14.9      Orthopädie

14.10    Pädiatrie

14.11    Urologie

14.12    Zahnmedizin

Behandlung

15        Psychotherapie: Grundlagen und Versorgung

15.1      Grundlagen der Psychotherapie

15.1.1    Wirkfaktoren

15.1.2    Psychotherapeutische Gesprächsführung

15.1.3    Indikation und Prognose

15.1.4    Wirkungen und Ergebnisse von Psychotherapie

15.2      Die Institutionalisierung der Psychotherapie

15.2.1    Berufs- und sozialrechtliche Organisation

15.3      Ambulante psychotherapeutische Versorgung

15.3.1    Beratung durch Ärzte und klinische Psychologen

15.3.2    Die psychotherapeutisch-psychosomatische Grundversorgung

15.3.3    Ambulante Fachpsychotherapie

15.4      Psychotherapie in Institutionen

15.4.1    Poliklinische Fachabteilungen

15.4.2    Konsiliar- und Liaisonpsychosomatik

15.4.3    Stationäre und teilstationäre Psychotherapie

16        Einführung in die Psychoanalyse

16.1      Entwicklung der Psychoanalyse

16.2      Die psychoanalytische Methode

16.2.1    Das psychoanalytische Verfahren

16.2.2    Das Material der Analyse und die analytische Situation

16.2.3    Die psychoanalytische Beziehung und der psychoanalytische Prozess

16.2.4    Analysieren

16.2.5    Deuten

16.2.6    Die Handhabung der Beziehung und die korrigierende Erfahrung

16.2.7    Übertragung, Übertragungsanalyse und Handhabung der Übertragung

16.2.8    Gegenübertragung

16.2.9    Widerstand

16.3      Zielsetzungen und Behandlungsstrategien

16.3.1    Psychoanalytische Behandlung der Konfliktpathologie

16.3.2    Psychoanalytische Behandlung der präödipalen Pathologie

16.3.3    Psychoanalytisch begründete Behandlung der Entwicklungspathologie

17        Psychodynamische (psychoanalytisch begründete) Verfahren

17.1      Indikation zur psychodynamischen Behandlung

17.1.1    Differenzialindikation zwischen verschiedenen psychodynamischen Verfahren

17.2      Psychoanalytische Verfahren

17.2.1    Analytische Psychotherapie (AP)

17.2.2    Modifizierte analytische Psychotherapie

17.2.3    Psychoanalytische Fokaltherapie

17.2.4    Niederfrequente analytische Psychotherapie

17.3      Psychoanalytisch orientierte Verfahren

17.3.1    Behandlungsansatz der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie (TP)

17.3.2    Konfliktorientierte tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

17.3.3    Strukturorientierte tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

17.3.4    Interaktionelle und strukturbezogene Psychotherapie

17.3.5    Übertragungsfokussierte Borderline-Therapie (TFP)

17.3.6    Mentalisierungsbasierte Psychotherapie (MBT)

17.3.7    Sonderformen der TP

17.3.8    Anwendung und Reichweite

18        Psychodynamische Gruppenpsychotherapie

18.1      Grundlagen

18.2      Psychotherapie in Gruppen

18.3      Methoden und Praxis

18.3.1    Analytische Gruppenpsychotherapie

18.3.2    Weitere Gruppenverfahren

19        Paar- und Familientherapie

19.1      Das System als Bezugspunkt

19.2      Methoden und Verfahren

19.2.1    Psychodynamische Familientherapie

19.2.2    Strukturelle Familientherapie

19.2.3    Strategische Familientherapie

19.3      Allgemeine Indikation und Anwendungen

20        Stützende und übende Verfahren

20.1      Behandlung von somatopsychischen Anpassungsstörungen

20.1.1    Betreuung von Krebspatienten

20.1.2    Betreuung von chronisch Kranken

20.1.3    Betreuung und Begleitung von Sterbenden

20.2      Krisenintervention

20.3      Suggestive Techniken und Entspannungsverfahren

20.3.1    Hypnose

20.3.2    Autogenes Training (AT)

21        Entwicklungen im Umfeld der Psychoanalyse

21.1      Humanistische Psychotherapie

21.1.1    Non-direktive klientenzentrierte Gesprächstherapie

21.1.2    Weitere humanistische Verfahren

21.2      Weitere Verfahren in der Versorgung

21.2.1    Systemische Psychotherapie

21.2.2    Verhaltenstherapie

21.3      Neue Entwicklungen

21.3.1    Interpersonelle Psychotherapie (IPT)

21.3.2    Allgemeine bzw. integrative Psychotherapie

22        Medikamente in der Psychotherapie und Psychosomatik

22.1      Medikamente und die therapeutische Beziehung

22.2      Kurzer Überblick über gebräuchliche Medikamente

22.2.1    Psychopharmaka

22.2.2    Nicht-psychotrope Medikamente

22.3      Zur Behandlung mit Psychopharmaka

22.3.1    Indikationen in der Psychotherapie und Psychosomatik

22.3.2    Leitlinien für die Anwendung

Anhang

Klassifikation psychogener Störungen nach ICD-10

Glossar

Literatur

Sachverzeichnis

Einleitung: Das Arbeitsfeld der Psychotherapie und Psychosomatik

Psyche [griech.] bedeutet Seele, Soma heißt Körper. Unter Seele versteht man die gefühlshaften und geistigen Regungen.

Psychotherapie ist Krankenbehandlung mit psychologischen Mitteln.

Psychosomatik ist die Lehre von der Wechselwirkung zwischen seelischen, psychosozialen und körperlichen Prozessen in Gesundheit und Krankheit.

Annäherungen an das Psychische

Die Seele ist ein traditionelles Thema in der abendländischen Kultur. Seit der Antike beschäftigen sich Philosophie, Mythologie, Psychologie, Religion und Medizin mit dem menschlichen Erleben und Verhalten. Dabei wurden Seele und Körper in Anschluss an die griechische Philosophie traditionell als Ganzheit betrachtet. Das galt sowohl für die Philosophie, aus der heraus sich im 19. Jahrhundert die Psychologie entwickelt hat, als auch für die Medizin. Erst René Descartes stellte 1641 in seinen »Meditationen« die res cogitans, d. h. Geist, Seele, Bewusstsein, Verstand und Vernunft, den res extensa, d. h. dem Körper, gegenüber und prägte mit dieser Dichotomie nachhaltig das abendländische Denken.

Ansätze der Psychologie

Erste systematische Abhandlungen über die Seele stammen von Platon und Aristoteles. Der Begriff Psychologie als Lehre von der Seele tauchte um 1500 auf. In der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert entstand ein zunehmendes Interesse an psychologischen Fragen, verbunden mit Namen wie Gottfried Wilhelm Leibnitz und Immanuel Kant. Sie betonten den empirischen Charakter der Psychologie. Dieser Ansatz wurde leitend, als im 19. Jahrhundert die Psychologie als akademisches Forschungsgebiet entstand: Sie verstand sich als empirische Wissenschaft. Inhaltlich beschäftigte sie sich mit Phänomenen wie dem Denken und der Wahrnehmung und rückte damit in die Nähe zur Neurophysiologie und Medizin. Methodisch stand sie den Naturwissenschaften und ihrem positivistischen Forschungsansatz nahe. Maßgeblich ist dafür die Verknüpfung von Experiment und Mathematik, die von Gustav Theodor Fechner eingeführt wurde. So gelten die Laborexperimente von Wilhelm Wundt in Leipzig als Beginn der akademischen Psychologie.

Als Gegenströmung zur experimentellen Psychologie entstand die geisteswissenschaftliche Richtung, die von Wilhelm Dilthey vertreten wurde. Er entwickelte mit der Hermeneutik einen verstehenden geisteswissenschaftlichen Ansatz. Dieser hat sich allerdings nie gegenüber dem naturwissenschaftlichen Ansatz durchgesetzt und gilt in der akademischen Psychologie als unwissenschaftlich. Diese Bewertung erfuhr auch die Psychoanalyse, die um 1900 von Sigmund Freud entwickelt wurde und sich außerhalb der akademischen Psychologie etablierte.

Auch heute versteht die akademische Psychologie sich als empirische Wissenschaft vom Erleben und Verhalten, die überwiegend an experimentellen naturwissenschaftlich-quantitativen Methoden orientiert ist. Als ein Bereich der angewandten Psychologie hat sich die klinische Psychologie etabliert, die psychologische Aspekte von psychischen Störungen und Folgen anderer Erkrankungen untersucht, Grundlagen und Methoden für deren Behandlung erarbeitet und die Ergebnisse von Interventionen wissenschaftlich evaluiert. Die psychologische Psychotherapie ist insoweit ein Teil der klinischen bzw. medizinischen Psychologie. Sie überschneidet sich in der Praxis mit der psychosomatischen bzw. psychotherapeutischen Medizin und Teilen der Psychiatrie.

Entwicklungen in der Medizin

In der Medizin ging die traditionelle ganzheitliche Sichtweise mit der naturwissenschaftlichen Wende in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verloren. Damals gewann ein physikalistisches Krankheitsverständnis unter dem Einfluss der Zellularpathologie von Rudolf Virchow und der energetischen Physiologie von Hermann von Helmholtz die Oberhand und verlagerte den Schwerpunkt der Krankheitslehre auf anatomische Strukturen und physikalisch-energetische sowie biochemische Vorgänge. In der Folge entstand eine positivistische Annäherung an Patienten und ihre Krankheiten, die auf das Messbare zentriert war.

Auch in der Psychiatrie entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine stärkere Nähe zu der zunehmend naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Sie stellte eine Abwendung von der metaphysischen Orientierung der naturphilosophisch ausgerichteten romantischen Psychiatrie dar und rückte die biologische Erforschung psychischer Erkrankungen in den Vordergrund. Diese Wende ist mit Wilhelm Griesinger verbunden, der als Vertreter der materialistischen Psychiatrie gilt. Er forderte, Geisteskrankheiten als Gehirnkrankheiten zu erforschen. Vor diesem Hintergrund hatten die aufkommende Psychoanalyse und das psychodynamische Denken, für die romantische Psychiater wie Carl Gustav Carus gleichsam den Boden bereitet hatten, in der Psychiatrie lange keine Chance.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die anthropologische Medizin. Sie ist eine Reaktion auf die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Medizin der Moderne. Sie rückt den einzelnen Menschen, sein Schicksal, sein Erleben und seine Geschichte in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Ihr Programm ist eine allgemeine psychosomatische Orientierung mit dem von Viktor von Weizsäcker formulierten Ziel, verstärkt wieder »das Subjekt in die Medizin einzuführen«3. Unter dem Einfluss der Psychoanalyse verstand er Krankheiten als pathologische Selbstverwirklichung, die ihren Sinn in der Biografie der Betroffenen findet.

»Psychosomatisch« in diesem allgemeinen Sinne bezeichnet die grundsätzliche ärztliche bio-psycho-soziale Orientierung. Sie wird auch als ganzheitliche Medizin bezeichnet. Diese Orientierung ist darum bemüht, seelische, soziale und körperliche Aspekte des Krankseins zu integrieren und bei der Behandlung von Kranken gleichrangig zu beachten. Sie kennzeichnet eine aufgeklärte ärztliche Einstellung, die – zumindest als Ideal – den Umgang mit allen Patienten prägen sollte. Damit erhält auch die Psychologie als Psychotherapie einen festen Platz in der »Körpermedizin«.

Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell

Die psychosomatische Anthropologie hat sich über lange Zeit mit dem Leib-Seele-Problem befasst und dabei die Wechselwirkung zwischen seelischen und körperlichen Vorgängen in das Zentrum ihrer Überlegungen gerückt. Dieser Ansatz beschrieb psycho-somatische und vegetative Zustände zuerst als Funktionskreise. Dabei handelt es sich um psycho-vegetative Erregungs- bzw. Regelkreise im Organismus, die durch Impulse zwischen Nervenzellen aufrechterhalten werden.

Heute hat sich ein umfassenderes bio-psycho-soziales Modell4 durchgesetzt. Danach steht der Funktionskreis zwischen Leib und Seele seinerseits in einem Wechselverhältnis zur Umwelt, die den Menschen prägt und die von ihm geprägt wird. Je nach Interesse, Ansatz und Methodik des Untersuchers rückt einmal mehr die biologische, ein anderes Mal die psychologische, zwischenmenschliche oder soziokulturelle Perspektive bei der Betrachtung des Einzelfalles in den Vordergrund. Entscheidend, weitgehend aber noch im Bereich der Spekulation, sind die Prozesse und Mechanismen, die das Zusammenwirken dieser Prozessfaktoren im Krankheitsgeschehen beherrschen.

Man berücksichtigt also in gleicher Weise die körperlichen, seelischen, psychosozialen und materiellen Aspekte des Lebens, um Kranksein und speziell das psycho-somatische Zusammenspiel zu verstehen. Dabei muss man nicht nur Ursachen, Entstehungsbedingungen und Folgen einer Erkrankung untersuchen, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen diesen Dimensionen betrachten.

Das gängige Modell für diese systemische Sichtweise von Krankheiten ist der Situationskreis5 von Thure v. Uexküll (Abb. 0.1). Er beschreibt die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt als einen stufenweisen Problemlösungsprozess, der durch die Wahrnehmung von Lösungsaufgaben, Bewertungen des Problems, phantasierte Handlungsentwürfe zu seiner Bewältigung, Probehandlungen und endgültiges Problemlösungshandeln dargestellt wird. Krankheit ist gleichbedeutend mit Störungen in diesem zirkulären Prozess; Krankheit bewirkt Störungen und wird durch Störungen hervorgerufen.

Abb. 0.1:    Der Situationskreis nach v. Uexküll

Psychotherapie und Psychosomatik

Das Arbeitsfeld der Psychotherapie und Psychosomatik umfasst die psychotherapeutische Behandlung psychisch bedingter und mitbedingter Störungen. In der Medizin ist es in verschiedenen Disziplinen enthalten, während es in der Psychologie der »Klinischen Psychologie« zugerechnet wird. In Deutschland wurde mit der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie ein eigenständiges medizinisches Fachgebiet etabliert und die Psychologische Psychotherapie als eigenständiger Heilberuf eingeführt.

Psychisch bedingte und mitbedingte Störungen werden als psychogeneStörungen bezeichnet. »Störung« beschreibt dabei krankheitswertige Abweichungen des Befindens, der psychischen Funktionen oder auch körperlicher Zustände. Der Begriff »Störung« umfasst mehr als der Begriff »Krankheit«. Dieser gilt als veraltet, seit die Weltgesundheitsorganisation 1946 in ihrer Verfassung Gesundheit als »Zustand eines vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens«6 definiert hat, was über die bloße Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen hinausgeht.

Definitionen

Am Anfang dieses Kapitels (s. oben) steht die wahrscheinlich einfachste Definition von Psychotherapie: Psychotherapie ist Krankenbehandlung mit psychologischen Mitteln. Zur genaueren Definition muss man Intention, Ziel, Mittel und theoretische Grundlagen näher beschreiben. Danach gehören zur Psychotherapie7

•  als Intention: ein geplanter interaktioneller Prozess,

•  als Ziel: definierte Veränderungen, z. B. Persönlichkeitsänderung oder Symptomminderung,

•  als Mittel: verbale und nonverbale Kommunikation oder andere (z. B. anleitende) Techniken,

•  als Hintergrund: eine definierte Theorie, z. B. die psychoanalytische Behandlungstheorie, die den Behandlungsplan begründet.

Ebenfalls einleitend wurde Psychosomatik als Lehre von der psycho-sozio-somatischen Wechselwirkung in Gesundheit und Krankheit definiert. Wechselwirkung bedeutet dabei, dass sie sich nicht nur mit psychischen Ursachen und Teilursachen von Erkrankungen befasst, sondern auch mit den psychischen Folgen. Das gilt insbesondere für bedrohliche und chronische Erkrankungen und ihre Behandlung (Transplantationen, Dauermedikation, Dialyse usw.). Es wird also ausdrücklich nicht von einer geradlinigen Kausalität ausgegangen.

Psychogene Störungen

Wie eingangs zu diesem Kapitel erwähnt, werden psychisch bedingte und mitbedingte Störungen als psychogeneStörungen bezeichnet. Sie sind außerordentlich häufig. Es handelt sich um Krankheiten, an deren Entstehung seelische Faktoren maßgeblich beteiligt sind. Diese sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels zwischen seelischen, körperlichen und sozio-kulturellen Einflüssen. Sie machen rund ein Drittel der Erkrankungen in der Allgemeinpraxis und in der Praxis des Internisten aus. Aber auch in der Gynäkologie, Orthopädie, Dermatologie und Pädiatrie, um nur die wichtigsten Gebiete zu nennen, sind sie häufig (Kap. 13).

Die Symptome und Krankheitsmanifestationen der psychogenen Störungen sind vielfältig. Sie reichen von seelischen Störungen (z. B. Ängste) über Verhaltensstörungen (z. B. Essstörungen), Charakterstörungen (z. B. pathologische Eifersucht) und Organfunktionsstörungen (z. B. funktionelle Herzbeschwerden) bis hin zu organischen Veränderungen, beispielsweise in Form von Entzündungen (z. B. Rheuma) oder Geschwürbildungen (z. B. Colitis ulcerosa).

Abb. 0.2:    Systematik der psychogenen Störungen. Wenn mehrere Arten der Störung zusammenkommen, spricht man von komorbiden Störungen.

Psychogene Störungen umfassen mehrere Gruppen (Abb. 0.2): reaktive Störungen, posttraumatische Störungen, Konflikt- und Strukturstörungen sowie – im weiteren Sinne – Psychosomatosen und nichtorganische Psychosen. Konflikt- und Strukturstörungen haben eine gemeinsame Ätiologie: Sie beruhen auf einer erlebnisbedingten Fehlentwicklung, die in der Kindheit verwurzelt ist. Man spricht von einer neurotischen Disposition und fasst sie als »neurotische Störungen« zusammen. Im Unterschied dazu haben reaktive und posttraumatische Störungen keine spezifische Disposition. Bei der vierten Gruppe, den Psychosomatosen und den nichtorganischen Psychosen, muss man neben psychischen Krankheitsfaktoren eine konstitutionelle somatische Disposition annehmen.

Behandlung

Bei der Behandlung psychogener Störungen finden in der Psychotherapie und Psychosomatik, wie der Name sagt, vorrangig psychotherapeutische Verfahren Anwendung. Das sind vor allem die psychodynamischen (psychoanalytisch begründeten) Verfahren, die Verhaltenstherapie, systemische Verfahren sowie übende und stützende Verfahren. Weit verbreitet sind auch humanistische Verfahren, insbesondere die Gesprächstherapie und die Gestalttherapie. Während diese in Österreich und der Schweiz voll in die Versorgung integriert sind, sind sie in der kassenpsychotherapeutischen Versorgung in Deutschland nicht als leistungspflichtig anerkannt.

Medikamentöse Behandlungen (Kap. 22) erfolgen in der Psychotherapie und Psychosomatik begleitend und unterstützend. Sie stehen aber nicht im Zentrum der Behandlungen.

Historischer Hintergrund

Psychotherapie

Die heutige Psychotherapie als wissenschaftlich begründete Behandlungsform hat sich erst schrittweise aus jahrhundertealten Vorläufern entwickelt. So hat es in allen Zeiten und vermutlich auch in allen Kulturen Wege gegeben, um mit Beratung, Anleitung, Magie, Kult oder Ritualen körperliche und geistige Zustände zu verändern und Gesundheit herzustellen und zu bewahren.

Als Beginn der modernen Psychotherapie gilt der Mesmerismus, der auf Anton Mesmers Lehre vom »tierischen Magnetismus« um 1800 zurückgeht. Sie fand im »Handauflegen« als Heilpraxis Anwendung. Daraus entwickelte sich um 1850 die Hypnose als erstes wissenschaftlich begründetes Psychotherapieverfahren. Aus ihr ging am Ende des 19. Jahrhunderts die Psychoanalyse als erste umfassende Theorie und Behandlungspraxis für psychogene Störungen hervor. In ihrem Zentrum steht die Theorie und Lehre vom Unbewussten. Sie wurde um 1900 von Sigmund Freud entwickelt und von seinen Schülern in verschiedene Richtungen weiterentwickelt (Kap. 15).

Ein Markstein waren dabei die Hypnosebehandlungen von Konversionsstörungen, welche die damalige Zeit als »Hysterie« stark beschäftigten. Sie führten zu den Experimenten von Sigmund Freud und Joseph Breuer in Wien, welche die Grundlage für die Entwicklung der Psychoanalyse bildeten. Freud überwand mit seinem Konzept eines »seelischen Apparates«, der sich im Verlauf der Kindheit in der Auseinandersetzung zwischen individuellem Trieb und gesellschaftlicher Norm entwickelt, das einseitig naturwissenschaftliche medizinische Denken seiner Zeit und betrachtete neurotische Symptome seelischer und körperlicher Art als Folge einer biografisch bedingten Entwicklungsstörung. Aus dem Zusammentreffen dieser Entwicklungslinien entstand die Psychosomatische Medizin zwischen der Psychotherapie und den biologischen medizinischen Fächern.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war neben der Hypnose die Psychoanalyse unbestritten das führende Konzept der Psychotherapie. Nach und nach entstanden zahlreiche weitere psychotherapeutische Methoden und Verfahren. Als erste gewann die klientenzentrierte Gesprächstherapie Verbreitung, die in den 1940er Jahren von Carl Rogers in den USA eingeführt wurde.

Daneben entwickelte sich in den 1950er Jahren die Verhaltenstherapie. Sie ist neben den psychoanalytischen Verfahren am bedeutendsten in der Versorgung. Ihre Wurzeln reichen bis zur Jahrhundertwende zurück, als der russische Arzt und Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlow in St. Petersburg seine berühmten Konditionierungsexperimente mit Hunden durchführte. Von Verhaltenstherapie spricht man, seit Burrhus F. Skinner in Harvard und Hans Jürgen Eysenck in London begonnen hatten, mit der systematischen Anwendung experimentell begründeter Verfahren Verhaltensmodifikationen zu erzielen. Schließlich gewann ab etwa 1970 als weitere Behandlungsform die systemische Psychotherapie auch in Europa Einfluss. Seit 2018 ist sie in Deutschland auch Kassenleistung.

Psychosomatik

Der Begriff Psychosomatik entstand im 19. Jahrhundert und wurde wahrscheinlich von Johann Christian August Heinroth eingeführt, der in Leipzig die erste bekundete Professur für »Psychische Therapie« innehatte. Er propagierte, dass sich jedes Krankheitsgeschehen in seinen psychischen, somatischen und biografischen Gesamtzusammenhängen verstehen lassen müsse. Darüber trat die Psychosomatik den mühsamen Weg an, sich in der Medizin einen festen Platz zu verschaffen und auch akademisch Akzeptanz zu erlangen. Das gelang zuerst in der inneren Medizin und Neurologie, die damals eine Einheit bildeten. Als Reaktion auf die einseitig naturwissenschaftliche Orientierung ihres Faches in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertraten bedeutende Kliniker wie Gustav von Bergmann, Ludolf von Krehl, Richard Siebeck und vor allem Viktor von Weizsäcker das Programm, »den Patienten als Subjekt in die Medizin zurückzuholen«.

Neuere Geschichte der Psychotherapie und Psychosomatik

•  Nach 1945: Neuorganisation der psychotherapeutischen (zumeist psychoanalytischen) Institutionen und Gesellschaften in der BRD und in Österreich, die während der Zeit des Nationalsozialismus »gleichgeschaltet« waren. In der Schweiz war die Psychotherapie als Teil der Psychiatrie etabliert.

•  Um 1950: In Heidelberg und München entstehen erste psychosomatische Einrichtungen an deutschen Universitäten.

•  1952: Entdeckung der Neuroleptika mit der Folge, dass das Interesse für Psychotherapie in der Psychiatrie über längere Zeit verblasst.

•  1957: »Psychotherapie« wird in der BRD als Zusatzbezeichnung in die ärztliche Weiterbildungsordnung eingeführt.

•  Ab dem Ende der 1950er Jahre verbreiten sich vielfältige psychotherapeutische Ansätze. 1958 wird in den USA die Verhaltenstherapie unter dem Begriff Behaviour Therapy eingeführt.

•  1964: Durch das »Neurosen-Urteil« des Bundessozialgerichts werden in der BRD seelische Störungen als Krankheit anerkannt.

•  1967: Die psychoanalytischen Psychotherapieverfahren werden in der BRD Kassenleistung.

•  1965–1985: »Psychoboom« vor dem Hintergrund der Emanzipationsbewegungen in den USA und in Europa; Gruppentherapie und die humanistischen Verfahren finden besondere Aufmerksamkeit.

•  1970: Die »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« wird Pflichtfach im Medizinstudium an den bundesdeutschen Universitäten.

•  In der DDR ist die Psychotherapie in den Nachkriegsjahren von sowjetischen Einflüssen beherrscht. Hypnose und Entspannung sind maßgebliche Verfahren. Psychotherapie kann ab 1978 von Ärzten als »zweiter Facharzt« erworben werden.

•  1980: Der Titel »Fachpsychologe in der Medizin« wird für psychologische Psychotherapeuten in der DDR vergeben.

•  Ab 1985: Die psychotherapeutische Weiterbildung wird in der DDR formalisiert. In den Folgejahren entwickelt sich als psychodynamisches Konzept die »intendierten Psychotherapie«. Sie findet überwiegend als Gruppentherapie Anwendung.

•  1980: Verhaltenstherapie wird Leistung der Ersatzkassen, 1986 auch der übrigen gesetzlichen Krankenkassen.

•  1982: Die »Psychosoziale Medizin« wird medizinisches Lehrfach in der Schweiz.

•  1990: Ein Psychotherapiegesetz macht die Psychotherapie in Österreich zu einem eigenständigen Heilberuf und regelt die psychotherapeutische Ausbildung. Eine Vielzahl therapeutischer Verfahren wird anerkannt.

•  1991: Mit der internationalen Klassifikation krankhafter Störungen nach ICD-10-F setzt sich in der Psychiatrie eine deskriptive Systematik durch, die das psychodynamische Denken zurückdrängt.

•  1992: Aufnahme des »Facharztes für Psychotherapeutische Medizin« in die ärztliche Weiterbildungsordnung in Deutschland.8 Das Fachgebiet erhält 2003 den Namen »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie«.

•  1999: In Deutschland tritt das Psychotherapeutengesetz in Kraft, mit dem der Beruf des psychologischen Psychotherapeuten geregelt und die Berufsbezeichnung »Psychotherapeut« geschützt wird.

•  2014: In der Schweiz steht die Etablierung der psychologischen Psychotherapie als staatlich durch ein Gesetz geregelter eigenständiger Heilberuf bevor.

•  2018: Die Systemische Therapie wird in Deutschland in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse aufgenommen.

•  2019: Neufassung des Psychotherapeutengesetzes in Deutschland: Die Ausbildung von psychologischen Psychotherapeuten wird als »Direktausbildung« im Rahmen eines eigenen Studienganges an Universitäten unter Beteiligung der anerkannten privaten Ausbildungsstätten eingeführt.

Heute ist die Psychosomatik Teil der Medizin und wird dort als Psychosomatische Medizin bezeichnet. Diese hat sich seit den 1920er Jahren im Überschneidungsfeld vor allem zwischen Psychotherapie und Innerer Medizin entwickelt und ist dort als »ärztliche Psychotherapie« etabliert. In der Psychologie ist sie als klinische bzw. medizinische Psychologie angesiedelt und hat dort unter der Bezeichnung Psychologische Psychotherapie den Status eines selbständigen Heilberufs erlangt. Wenn eine verhaltenstherapeutische Orientierung betont werden soll, wird statt von Psychosomatik auch von Verhaltensmedizin gesprochen.

Inzwischen sind spezifische Arbeitsfelder der Psychosomatik entstanden, z. B. die Psychoonkologie, die Psychodermatologie oder die Psychoimmunologie, um spezielle Forschungsansätze zu nennen, oder die Palliativmedizin und die Reproduktionsmedizin als Beispiele für integrierte psycho-somatische Versorgungsgebiete.

Die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist als Spezialdisziplin mit dem umschriebenen Aufgabenfeld der psychotherapeutischen Behandlung psychogener Störungen ein relativ junges medizinisches Fach. Sie ist in Deutschland seit 1970 an den Universitäten im Pflichtunterricht vertreten, während sie in Österreich und der Schweiz als Teil der Psychiatrie gelehrt wird. Dabei hat es sich an der Universität eingebürgert, das Fach kurz als »Psychosomatik« zu bezeichnen, was dazu führt, dass viele Studenten überrascht sind, in diesem Gebiet überwiegend Patienten mit psychischen und Verhaltensstörungen (ohne körperliche Symptomatik) anzutreffen.

1992 wurde das Fach in Deutschland zunächst unter dem Namen »Psychotherapeutische Medizin« in der ärztlichen Weiterbildungsordnung etabliert. Im Jahre 2003 wurde die Bezeichnung in »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« geändert. In der Schweiz deckt es den klinischen Aspekt der ebenfalls relativ neuen »Psychosozialen Medizin« ab. In Österreich gibt es ein Diplom für Psychotherapeutische Medizin, die jedoch kein eigenes Fachgebiet darstellt.

Grundlagen

Die Psychotherapie und Psychosomatik als Anwendung psychologischer Verfahren zur Erforschung, Diagnostik und Behandlung psychogener Erkrankungen bezieht ihre Grundlagen aus der Psychologie einerseits, aus der Psychiatrie und den Neurowissenschaften andererseits.

Psychologische Konzepte und Theorien

In der Psychotherapie und Psychosomatik bestehen mehrere Strömungen und eine Vielzahl von Konzepten, Methoden und Verfahren nebeneinander. Die wichtigsten, die auch die Basis für die psychotherapeutische Versorgung darstellen, sind die psychoanalytisch-psychodynamischen, die verhaltenstherapeutisch-behavioristischen und die systemischen Verfahren. In Ländern wie Österreich und der Schweiz stehen sie im Wettbewerb mit anderen Verfahren, insbesondere mit der Gestalttherapie, der Gesprächstherapie und körperorientierten Verfahren. Daneben besteht ein großes Spektrum pragmatischer Verfahren, die zumeist außerhalb der psychotherapeutischen Versorgung zur Anwendung kommen.

•  Die psychoanalytisch-psychodynamischen Verfahren basieren auf der Krankheitslehre der Psychoanalyse. Sie zentrieren beim Zugang zum Kranken bzw. zur Krankheit sowohl auf die bewussten als auch die unbewussten innerseelischen Vorgänge (Psychodynamik). Sie berücksichtigen auch störungsrelevante psychosoziale Krankheitsfaktoren.

•  Die verhaltenstherapeutisch-behavioristischen Verfahren beruhen auf der Lernpsychologie und werden auch als Verhaltensmedizin bezeichnet. Sie betrachten psychogene Krankheiten vor allem als gelerntes Fehlverhalten und beschäftigen sich daneben besonders mit der Krankheitsbewältigung.

Neurobiologische Grundlagen

Durch das Zusammenwirken von neuroanatomischen und psychophysiologischen Forschungen gibt es heute eine rational begründete Vorstellung von der Entstehung und Veränderung psychischer Strukturen.9 Danach finden Erfahrungen in funktionalen Zuständen des Gehirns ihren Niederschlag. Diese beruhen auf elektrophysiologischen Potenzialen an den Verknüpfungspunkten (Synapsen) zwischen den Nervenzellen mit Hilfe biochemischer Neurotransmitter (Brückenstoffe). Diese neuronalen Verknüpfungen bilden funktionelle Systeme, die als neuronale Netze bezeichnet werden. Man kann sie nach heutigem Erkenntnisstand als somatische Korrelate von definierten Erregungszuständen betrachten. Dysfunktionale neuronale Netzwerke können durch Psychotherapie verändert werden.

Über dieses allgemeine Verständnis hinaus hat die Hirnforschung inzwischen außerordentlich differenzierte Erkenntnisse über die Lokalisation von emotionalen und affektiven, kognitiven und vegetativen Funktionen erbracht. Danach ist insbesondere das limbische System im Zwischenhirn als Schaltareal zwischen psychischen, kognitiven und körperlich-vegetativen Prozessen identifiziert worden. Für das Verständnis der Affektregulation, der Verarbeitung überwältigender affektiver Erregungen, z. B. bei Traumatisierungen, und für die Entstehung psychosomatischer Symptome kommt der Interaktion von hormonellen, zentralnervösen und autonomen Regulationen in diesen Arealen eine Schlüsselposition zu.

Nonverbale Formen der Kommunikation haben durch neurophysiologische Resonanzphänomene eine Erklärung gefunden. Diese beruhen auf der Aktivität von Spiegelneuronen, die bewirken, dass im Gehirn von Menschen, die miteinander in Beziehung sind, gleiche neuronale Prozesse ablaufen. Diese Prozesse bilden die neuronale Grundlage für Nachahmen, Lernen und Intuition und bilden die Basis für die Entwicklung der Persönlichkeit.

Als Mittler zwischen seelischen und körperlichen Prozessen spielt das Immunsystem eine bedeutende Rolle. Insbesondere Trennungen und Verluste verändern über spezifische Botenstoffe (z. B. Interleukin und Interferon) die Regulationsfähigkeit des Immunsystems und fördern z. B. die Anfälligkeit für Infektions- und möglicherweise auch für Tumorerkrankungen. Außerdem sind spezielle Hormone bekannt, die erlebnisreaktiv Einfluss auf das Affekterleben haben, z. B. Hypophysen-/Nebennierenrinden-Hormone mit speziellem Einfluss auf das depressive und Angsterleben.

Traditionelle und neuere Aufgaben

Den Anfang nahm die Psychotherapie, wie schon erwähnt, mit der Hypnosebehandlung von Konversionsneurosen. Das sind körperlich in Erscheinung tretende Konfliktstörungen, die wir heute zu den somatoformen Störungen zählen. Rasch kam die Behandlung von psychischen Konfliktstörungen hinzu, insbesondere von hysterischen und Zwangsneurosen. Sie bildete das Forschungsfeld, in dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse entwickelt wurde.

Mit dem Aufkommen des psychotherapeutischen Interesses in der Inneren Medizin gewannen Somatisierungsstörungen und Psychosomatosen zunehmend an Bedeutung. Zugleich entstand im Arbeitsfeld psychotherapeutisch engagierter Psychiater ein starkes Interesse an der Psychotherapie von Psychosen. Da sie die anfänglichen Erwartungen nicht erfüllte, verlor sie – vor allem nach der Entdeckung der Neuroleptika – später wieder an Bedeutung.

Um 1950 wandelten sich das Spektrum der Behandlung und der Verfahren in der Psychotherapie. Neben die Psychoanalyse, die bis dahin die beherrschende Behandlungsform bei neurotischen Störungen war, trat die Verhaltenstherapie. Innerhalb der Psychoanalyse entwickelte sich die Ichpsychologie. Sie erweiterte das Verständnis für die »schwereren« Pathologien, für die das traditionelle psychoanalytische Konzept der Triebpsychologie nicht mehr angemessen erschien. Zunehmend kamen nun »Grenzfälle« in psychotherapeutische Behandlungen, d. h. Patienten mit Strukturstörungen. Seit etwa 1975 bilden schwere Persönlichkeitsstörungen, narzisstische Störungen und Borderline-Störungen einen wachsenden Anteil der Behandlungsfälle.

Als jüngeres Arbeitsfeld entstand die somatopsychischeMedizin als zweite Säule der Psychosomatik. Sie umfasst die Arbeit mit primär körperlich Kranken mit Problemen bei der Krankheitsbewältigung und mit psychischen Folgen ihrer Erkrankungen und deren medizinischer Behandlung. Weitere aktuelle Aufgaben sind das Krankheits- und Gesundheitsverhalten, Prävention und Rehabilitation und – seit inzwischen längerer Zeit – die Behandlung von Patienten mit posttraumatischen Störungen, die lange in der Psychotherapie wenig Beachtung gefunden hatten (Kap. 7).

3     V. Weizsäcker (1940)

4     Engel (1962)

5     V. Uexküll u. Wesiack (1996)

6     Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) v. 22. Juli 1946

7     Strotzka (1975)

8     Zugleich wurde der Psychotherapie innerhalb der Psychiatrie durch die gegenwärtige Weiterbildung und die erweiterte Gebietsbezeichnung »Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie« Rechnung getragen.

9     Eine umfassende Übersicht findet sich bei Schiepek (2003/2016), Haken u. Schiepek (2006) sowie Brunner (2017)

Krankheit und Krankheitsentstehung

1         Psychosoziale Aspekte des Krankseins

Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt Gesundheit als einen Zustand des körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens, während sie Krankheit als Abwesenheit der so verstandenen Gesundheit definiert.

Was als krank und was als gesund betrachtet wird, unterliegt gesellschaftlichen Wertungen und einem historischen Wandel und hängt davon ab, welche Toleranz eine Gesellschaft für Abweichungen von der Norm hat. Je mehr ein Befinden, ein Erleben oder Verhalten als krank definiert wird, desto mehr wird es ausgegrenzt und zur Aufgabe der Medizin. Dabei bilden Krankheit und Gesundheit keine Pole, die sich ausschließen. Es gibt zwischen beiden Zuständen vielmehr Abstufungen und Übergänge. Ob jemand sich krank fühlt, ob und in welchem Ausmaß er darunter leidet und ob er sich in Behandlung begibt, hängt von einer Vielzahl persönlicher Eigenschaften und Einstellungen und von der Haltung und Reaktion der Umgebung ab. Bedeutende individuelle Faktoren sind dabei Empfindsamkeit und Klagsamkeit, Vulnerabilität und Stressresistenz.

1.1         Krankheitsrisiko

Gesundheit ist ein dynamisches Gleichgewicht zwischen körperlichen und seelischen Strukturen und Funktionen im Austausch mit der Umwelt. Das Gesundheitsverhalten dient dazu, dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, indem die Betroffenen Störungen ausgleichen oder vorbeugende Maßnahmen ergreifen, auch wenn noch keine Beeinträchtigungen bestehen.

Demgegenüber führt ein Risikoverhalten kurzfristig oder langfristig zur Beeinträchtigung der Gesundheit, vor allem bei den sog. Zivilisationskrankheiten.

Risikoverhalten ist z. B. Bewegungsmangel, Fehlernährung, Alkohol- und Nikotinkonsum, Vernachlässigung von Früherkennungsmaßnahmen u. a. Die Ursachen des Risikoverhaltens liegen weniger in fehlender Aufklärung und geringem präventiven Wissen als in bewussten und unbewussten Motiven, wie z. B. in einer Selbstbestrafung oder latenter Suizidalität oder in der Psychodynamik süchtigen Verhaltens.

1.1.1         Psychosoziale Risikofaktoren

Die psychosomatische Forschung hat mit dem Konzept der psychosozialen Risikofaktoren ein Modell der Entstehung und Auslösung von Krankheiten entwickelt, das in gleicher Weise für somatische, psychosomatische und psychische Störungen Gültigkeit hat ( Übersicht).

Psychosoziale Risikofaktoren

•  Stress, chronische Überforderung, z. B. durch Arbeitsunzufriedenheit und Überlastung am Arbeitsplatz oder durch anhaltende familiäre Probleme

•  Belastende emotionale Erlebnisse, kritische Lebensereignisse (Life events), z. B. Verlust nahestehender Menschen

•  Chronische Krankheit und Behinderung, Pflegefälle in der Familie

•  Ungünstige sozioökonomische Bedingungen, finanzielle Sorgen

•  Starke soziale Mobilität, Migration, Flucht und Vertreibung

•  Persönlichkeitsmerkmale, insbesondere eine sog. Risikopersönlichkeit (s. unten)

Stress

Als generelles Krankheitsrisiko gilt der Stress.10 Darunter versteht man psychische, psychosoziale und körperliche Belastungen, die das seelische und körperliche Gleichgewicht bedrohen. Sie rufen Stressreaktionen hervor, die von der Intensität und Art des Stressors, von Persönlichkeitsfaktoren und vom persönlichen Umfeld abhängen. Ob damit eine Anpassung gelingt oder ob es zur Manifestation psychischer und somatischer Krankheiten kommt, hängt von der Art und Intensität der Belastungen, von Persönlichkeitsfaktoren (Resilienz und psychische Vorbelastung) und von den Umgebungsfaktoren ab, z. B. vom Ausmaß der sozialen Unterstützung.11

Die Verknüpfung zwischen äußerer Stressbelastung, psychischer Disposition und Krankheitsmanifestationen wird durch konstitutionell angelegte Stressbewältigungsprogramme geregelt. Diese werden durch die Erfahrungen in den frühen Entwicklungsjahren ausgeformt. Dabei scheinen insbesondere traumatische und Trennungserfahrungen als Beeinträchtigungen zu wirken. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Stressbewältigung und Bindungserfahrungen.

Solche Programme wurden beispielhaft in der Psychoimmunologie12 untersucht. Dabei wurde entdeckt, dass über hormonelle und neuronale Übertragungswege eine enge Verknüpfung zwischen affektiven Zuständen und dem Immunsystem besteht. Sie ist die Basis dafür, dass psychisch belastende Zustände das Immunsystem schwächen können. Dadurch können die Betroffenen für Krankheiten anfällig werden – vom banalen grippalen Infekt bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen. Diese Erkenntnisse erklären das häufige Zusammentreffen von Krankheit und Belastung, z. B. bei Verlusterlebnissen (Tod und Trauer) und nach Trennungen. Ähnliche Zusammenhänge werden auch für Krebserkrankungen diskutiert, sind dort aber umstritten.

Die Neurobiologie beschreibt die somatischen Korrelate solcher Reaktionen auf der humoralen und morphologischen Ebene. Dabei hat der Hippocampus als zentrale Schaltstelle des limbischen Systems eine herausragende Bedeutung. Über die Ausschüttung von Stresshormonen (Interleukin, Kortisol) kommt es zunächst zu funktionellen Veränderungen im Gehirn und bei anhaltendem Stress zu dauerhaften, wahrscheinlich organischen Veränderungen. Sie können auch andere Organe z. B. das Herz-Kreislauf-System betreffen und spielen bei der Entstehung von Psychosomatosen eine Rolle ( Kap. 12.2.2).

Risikoverhalten und Krankheit am Beispiel der koronaren Herzerkrankung (KHK)

•  Krankheitserscheinungen

    Die Angina pectoris ist das Leitsymptom der koronaren Herzerkrankung. Sie ist in der Regel gekennzeichnet durch reversiblen, belastungsabhängigen, retrosternalen Schmerz. Er wird – im Gegensatz zum Schmerz bei Herzneurosen ( Kap. 10.3.3) – häufig gering bewertet oder dissimuliert. Typische Komplikationen sind myokardiale Insuffizienz, rhythmogener (Sekunden-)Herztod und Herzinfarkt.

•  Epidemiologie

    Die KHK betrifft ca. ein Prozent der Bevölkerung. Über die Hälfte der Männer über 45 Jahre haben eine Koronarsklerose.

•  Psychosomatische Faktoren

    Die Koronardurchblutung wird durch emotionale Belastungen und Risikoverhalten beeinträchtigt. Das Verhalten entspricht dem sog. Typ A. Psychodynamisch lässt es sich als eine Abwehr von Abhängigkeits- und Hingabewünschen und als Schutz vor narzisstischer Kränkung verstehen. Daneben bestehen weitere psychisch (mit)bedingte Risikofaktoren: Rauchen, Hypertonie, Übergewicht, hektische Lebensweise und deren Folgen. Infarktauslösend sind oft psychosoziale Situationen, die als Niederlagen, Verluste (z. B. Todesfälle) und narzisstische Kränkungen erlebt werden.

•  Therapeutische Beziehung

    Sie ist im chronischen Krankheitsstadium durch leichte Kränkbarkeit, Angst vor Abhängigkeit und Dissimulation gekennzeichnet. Beim akuten Infarktpatienten richten die Patienten Wünsche nach Geborgenheit, Stützung und Trost auf den Arzt bzw. klinischen Psychologen. Allerdings sind sie oft hinter einer Abwehr der Verleugnung verborgen und schwer zu erkennen.

•  Psychotherapie

    Therapeutisch stehen bei chronisch Koronarkranken die Aufklärung, Förderung der Compliance, Entspannungsmaßnahmen und verhaltensmedizinische Beeinflussung des Lebensstiles im Vordergrund. Beim akuten Kranken müssen die fast immer vorhandene reaktive Depression und Angst durch stützende Gespräche aufgefangen und ggf. konfliktzentriert aufgearbeitet werden. In der Rehabilitation können psychotherapeutisch geführte »Koronar«-Gruppen dazu beitragen, dass hypochondrische Ängste abgebaut werden und die Verleugnung von Ängsten und Depressionen gemildert wird.

Risikopersönlichkeit

Als Risikopersönlichkeiten werden Muster von Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen beschrieben, die auf lebensgeschichtliche Zusammenhänge, insbesondere auf früh verinnerlichte Beziehungserfahrungen zurückgehen und zu bestimmten Formen von Erkrankungen disponieren. So ist z. B. als Risikopersönlichkeit für die Entwicklung eines chronischen somatoformen Schmerzsyndroms eine sog. Schmerzpersönlichkeit (»Pain-prone-personality«) bekannt. Auch bei der Erforschung der koronaren Herzerkrankung ( Übersicht) wurde eine Risikopersönlichkeit gefunden: der »Persönlichkeitstyp A« bzw. das Typ-A-Verhalten13. Dieses ist charakterisiert durch besonders starken Ehrgeiz, Dominanzstreben, Arbeitseifer, beständigen Zeitdruck und die Unfähigkeit, sich zu entspannen.

Kritische Lebensereignisse(Life events)

Lebensveränderungen werden zum Krankheitsrisiko, wenn sie nicht voraussehbar und nicht kontrollierbar sind. Das geschieht, wenn innere und soziale Ressourcen nicht ausreichen, um die Beunruhigung oder das Gefühl der Bedrohung auszugleichen, das mit gravierenden Veränderungen des Lebens verbunden ist. Man spricht dann von kritischen Lebensereignissen, sog. Life events.14

Beispielhaft wurde der Einfluss von kritischen Lebensereignissen in der Herzinfarktforschung untersucht15. Danach gehen der Manifestation der koronaren Herzerkrankung häufig nicht bewältigte Lebensereignisse voraus. Als stärkstes Risiko gilt dabei der Tod der Partnerin oder des Partners.

Bei entsprechender Disposition werden kritische Lebensereignisse zur Auslösesituation für die Krankheitsentstehung. Maßgeblich sind dabei ihre subjektive Bedeutung und Funktion. Sie können einen Konflikt aktualisieren, den die Betroffenen in ihrer Entwicklung nicht gelöst und stattdessen verdrängt haben. Oder sie können Defizite in der strukturellen Entwicklung offenlegen. Misslingt psychische Bewältigung auch bei der aktuellen Wiederholung, dann wird eine psychische oder somatische Dekompensation gebahnt.

1.1.2         Komorbidität

Krankheiten und Störungen können einzeln bestehen. Es können aber auch mehrere nebeneinander vorliegen. So können körperliche und seelische Erkrankungen gleichzeitig bestehen, ebenso wie mehrere seelische Störungen zusammen auftreten können. Dieses Zusammentreffen von zwei oder mehreren Erkrankungen bezeichnet man als Komorbidität.

In der Psychotherapie bestand lange die Neigung, psychische Symptome einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer einzigen, möglichst ätiologisch begründeten Hauptdiagnose zusammenzufassen. Es bestand Zurückhaltung, Symptome auf mehrere diagnostische Entitäten und Achsen zu verteilen. Dahinter stand die Vorstellung, dass es zu einer gegebenen Zeit nur eine psychodynamische Dekompensation geben könne, aus der sich auch nur eine psychogene Erkrankung speisen könne.

Mit den Klassifikationssystemen ICD und DMS hat sich das Komorbiditätsprinzip der Diagnostik durchgesetzt. Es zentriert auf die Ebene der Phänomenologie. Das Zusammentreffen von zwei oder mehreren Erkrankungen wird danach – unabhängig von der Ätiologie – in Mehrfachdiagnosen dokumentiert.

Im Bereich der Psychotherapie ist Komorbidität häufig. Man findet sie vor allem bei Persönlichkeitsstörungen und posttraumatischen Störungen. In einer Studie von 1994 fand man bei 52 Prozent der Teilnehmer keine, bei 21 Prozent eine, bei 13 Prozent zwei, und bei 14 Prozent drei oder mehr psychische Störungen.

Persönlichkeits- und posttraumatische Störungen können zusammen mit Symptomneurosen auftreten. Es können aber auch mehrere Persönlichkeitsstörungen gleichzeitig diagnostiziert werden. Neben Angststörungen bestehen häufig Somatisierungsstörungen oder – bei depressiven Syndromen – Sexualstörungen. Auch bei Verhaltensstörungen werden oft Mehrfachdiagnosen vergeben, z. B. Essstörung und narzisstische Persönlichkeitsstörung. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass es sich zumeist nicht um das gleichzeitige Auftreten von zwei ätiologisch unterschiedlichen Störungen handelt, sondern dass ein und dieselbe Psychodynamik, die zugrunde liegt, sich auf verschiedene Weise auf der Symptomebene niederschlägt. Hier macht das Konzept der Komorbidität bei genauerer psychodynamischer Betrachtung keinen Sinn.

Aber auch die Komorbidität von psychischen und körperlichen Störungen und Erkrankungen ist relativ häufig.16 Zwischen 10 und 20 Prozent der Patienten mit chronischen körperlichen Erkrankungen dürften zugleich psychische bzw. psychosomatische Störungen aufweisen. Wenn eine primär körperliche Erkrankung zur Auslösesituation einer psychogenen Störung wird, z. B. ein Herzinfarkt zum Initiator einer Angststörung, dann kann man von einer sekundären psychogenen Störung sprechen. Diese Komorbidität ist bedeutungsvoll, weil die Patienten vor einer doppelten Bewältigungsaufgabe stehen, welche doppelte psychische Anpassungsarbeit erfordert, und zumeist ein zweigleisiges Vorgehen in der Behandlung erforderlich ist.

Die Beurteilung der Komorbidität ist kompliziert, weil die Ätiologie oft schwer einzuschätzen ist. Dabei kommen verschiedene Möglichkeiten in Betracht:

•  Mehrere psychogene Störungen können nebeneinander bestehen, z. B. eine Zwangsstörung und eine bulimische Essstörung. Dabei nähren sich beide in der Regel nachvollziehbar aus derselben Psychodynamik. Aus deskriptiver Sicht bestehen zwei Störungen; aus psychodynamischer kann man annehmen, dass die Spannungsabfuhr durch Erschöpfung der Abwehr oder zusätzliche belastende Faktoren ausgeschöpft ist und deshalb zur Entlastung eine »Zweitkrankheit« erforderlich ist.

•  Reine Koinzidenz besteht, wenn keine plausible Verknüpfung zwischen den Erkrankungen zu erkennen ist, z. B. eine Angststörung und eine Prostatahypertrophie.

•  Eine sekundäre psychogeneStörung kann man annehmen, wenn eine Verknüpfung in dem Sinne besteht, dass die körperliche Erkrankung als psychodynamisch spezifische Auslösesituation fungiert und eine psychische Dekompensation bewirkt. Im Allgemeinen führt die körperliche Grunderkrankung dann zur Regression und aktiviert Affekte, die dann mit der Symptomatik abgewehrt werden. So kann ein Herzinfarkt verdrängte Todesängste aktivieren und eine depressive Störung triggern.

•  Auch bei den somatopsychischenStörungen ( Kap. 6.3) kann man von einer Komorbidität sprechen. Hier erscheint die psychogene Störung als seelische Reaktion auf eine primär körperliche Erkrankung. Im Unterschied zu den sekundären psychogenen Störungen gibt es hier aber keine vorbestehende neurotische Disposition. Beispiele sind depressive Reaktionen nach einer Krebsdiagnose oder Brustamputation.

•  Auch symptomatische psychischeStörungen sind in Betracht zu ziehen. Psychische Störungen können nämlich auch durch pathophysiologische Prozesse hervorgerufen werden. Symptomatische Depressionen und Angstzustände können als Folge von Entgleisungen der hormonellen Steuerung (Hypo- und Hyperthyreose) oder durch Toxine (z. B. in der Rekonvaleszenz nach einer Infektion) hervorgerufen werden ( Kap. 14.13).

•  Schließlich ist als verwandtes Phänomen auch die Ätiologie der Psychosomatosen (Kap. 12) zu bedenken: So kann eine Depression im Zusammenwirken mit körperlichen Krankheitsfaktoren und einem belastenden Life event eine körperliche Krankheit im Sinne einer Psychosomatose hervorrufen, z. B. ein Magengeschwür.

1.2         Krankheitsbewältigung – Das Coping-Konzept

Man versteht unter Coping (to cope [engl.] umgehen mit, bewältigen) das bewusste bzw. bewusstseinsnahe Bemühen, psychische Belastungen, die im Zusammenhang mit Krankheiten auftreten, emotional, kognitiv und durch Handeln zu bewältigen.

Krankheitsbewältigung und Krankheitsverlauf stehen in einer Wechselwirkung zueinander: Die Art und Effizienz der Krankheitsbewältigung wirkt sich auf den Verlauf der Krankheit aus; umgekehrt führen bestimmte Einbrüche im Verlauf einer Krankheit zu neuen Bewältigungsaufgaben. Wichtige krankheitsbedingte Belastungen, d. h. wichtige Bewältigungsaufgaben, sind:

•  Veränderungen der Unversehrtheit des Körpers und des Wohlbefindens

•  Änderungen im Selbstbild und Körperschema, Verlust von Autonomie und Kontrolle über den Körper und die Situation

•  Störungen des emotionalen Gleichgewichts, Gedanken an Sterben und Tod

•  Verunsicherung hinsichtlich der Veränderung von Verantwortung und sozialen Aufgaben

•  Notwendige soziale Anpassungsleistungen, Sorgen um Angehörige und um den Arbeitsplatz

Subjektive Krankheitstheorie

Einen bedeutenden Einfluss auf die Krankheitsbewältigung haben die Vorstellungen, welche die Betroffenen sich von den Ursachen und der Funktion ihrer Krankheit machen, und welche Bedeutung sie ihr zuschreiben (attribuieren). Wir sprechen von der subjektiven Krankheitstheorie. Sie steht oft im Widerspruch zum medizinischen Krankheitsverständnis und zum rationalen Wissen der Betroffenen. Teilweise ist sie bewusst, großenteils aber unbewusst. Indem sie das Krankheitsverhalten beeinflusst, ist sie eine Einflussgröße auf den Krankheitsverlauf und das Ergebnis des Bewältigungsprozesses.17

In der subjektiven Krankheitstheorie schlagen sich persönliche Erfahrungen und Kenntnisse sowie familiäre und soziokulturelle Haltungen und Bewertungen nieder. Dabei können einer Krankheit verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden: Selbstbestrafung, Auflehnung, Entlastung, Verlust oder Bedrohung u. v. a. Diese Zuschreibungen werden aus der Persönlichkeit des Betroffenen verständlich und können oft aus seiner Lebensentwicklung heraus nachvollzogen werden.

1.2.1         Bewältigungsprozess und Bewältigungsformen

Eine Krankheit bedeutet nicht nur eine Störung des körperlich-seelischen Gleichgewichts, sondern oft auch einen Verlust von Möglichkeiten und Fähigkeiten. Sie wirkt innerseelisch wie ein Verlusterlebnis und löst eine Art Verlust- bzw. Trauerarbeit aus, einen Prozess, der phasenhaft verläuft. Er wird als Bewältigungsprozess18 bezeichnet. Wenn die Bewältigung misslingt, treten Symptome auf, die als somatopsychische Anpassungsstörung (Kap. 6.3) bezeichnet werden. Phänomenologisch betrachtet, handelt es sich dabei zumeist um depressiv-ängstliche Syndrome bzw. Somatisierungsstörungen.

Bewältigungsprozesse haben eine kognitive, eine affektive und eine handlungsbezogene Dimension. Man unterscheidet dabei verschiedene Bewältigungsformen ( Übersicht). Sie lassen sich zu drei typischen Bewältigungsstilen zusammenfassen19: Verleugnung, aktive Auseinandersetzung und depressiver Rückzug.

Wichtige Bewältigungsformen (Copingstrategien)

•  Verleugnung der Krankheit

•  Sich ablenken

•  Zupacken

•  Schuldzuweisung an andere

•  Rückzug und Resignation

•  Dissimulieren von Krankheitserscheinungen

•  Problemanalyse

•  Haltung bewahren

•  Gefühlsisolation: Nichtwahrnehmen von Gefühlen

An der Bewältigung einer Krankheit sind auch psychodynamische Faktoren beteiligt. So ist die Art und Weise, wie man mit einer Krankheit umgeht, z. B. davon abhängig,

•  welche subjektive Bedeutung man ihr zuschreibt (subjektive Krankheitstheorie): ob man in ihr eine gerechte Bestrafung sieht oder eine »unverdiente Bestrafung«, eine Gefährdung der Sicherheit und Anerkennung usw.,

•  welche früheren Erfahrungen mit Krisen und Krankheit man gemacht hat: So kann eine Erkrankung wie eine Retraumatisierung nach früheren unverarbeiteten Verlusterlebnissen wirken,

•  welche Erfahrungen mit hilfreichen Beziehungen man in seinem Leben gemacht hat.

Dieser psychodynamische Einfluss auf das Bewältigungsverhalten ist im Allgemeinen unbewusst und dient in seinen verschiedenen Formen der Abwehr von unbewussten Ängsten, die im Zusammenhang mit Krankheiten entstehen. Sie stellen, neben den äußeren Belastungen, eine zusätzliche Bewältigungsaufgabe dar.

Bewältigung und Abwehr20

Bewältigung und Abwehr beschreiben ähnliche und teilweise sogar identische Vorgänge aus der Sicht verschiedener theoretischer Konzepte: Das Abwehrkonzept stammt aus der Psychoanalyse, das Bewältigungskonzept aus der Verhaltensmedizin. Dadurch ergeben sich begriffliche Unklarheiten, die auch durch eine Gegenüberstellung wie die folgende nicht endgültig aufzuheben sind. Es bleibt eine Unschärfe der Abgrenzung, die beim Mechanismus der Verleugnung besonders deutlich ist.

•  Bewältigungs- oder Copingverhalten zielt auf bewusste Erlebnisse ab, z. B. auf Behinderungen oder bewusste Todesangst. Es trägt dazu bei, diese Erlebnisweisen zu lindern, ohne dass sie im engeren Sinne unbewusst werden. Sie sind, selbst wenn die Betroffenen nicht ständig daran denken, an sich bewusstseinsfähig bzw. erinnerbar. Die Bewältigungs- oder Copingmechanismen sind also mehr oder weniger bewusst eingesetzte Denk-, Empfindungs- und Verhaltensstrategien.

•  Abwehr richtet sich dagegen auf unbewusste Erlebnisinhalte, z. B. auf unbewusste Affekte, Phantasien oder Konflikte. Sie sorgt dafür, dass diese auch unter besonderen Belastungen und Provokationen unbewusst bleiben. Die Abwehrprozesse selbst – Verdrängung, Projektion, Spaltung usw. – werden aus psychodynamischer Sicht der psychischen Instanz des Ichs zugeschrieben. Sie sind als solche unbewusst. Allerdings können Prozesse wie Verdrängung und Verleugnung auch als bewusste Strategien eingesetzt werden. Dann wären sie, streng systematisch betrachtet, als Bewältigungsmechanismen zu bezeichnen.

Verleugnung

Die Verleugnung spielt sowohl beim bewussten Bewältigungsverhalten als auch bei der Abwehr von krankheitsbedingten unbewussten Ängsten und Konflikten eine wichtige Rolle. Man versteht darunter, dass Gefährdungen oder Beeinträchtigungen einfach nicht anerkannt werden, obwohl die Betroffenen darüber Bescheid wissen. Sie geben sich in ihren Einstellungen, Gefühlen und in ihrem Verhalten so, als wüssten sie gar nichts davon.

Die Verleugnung beeinflusst in vielfältiger Weise die therapeutische Beziehung und den Umgang mit Aufklärung, Behandlungsmaßnahmen und Vorschriften. Sie kann unterschiedlich umfassend sein. Man unterscheidet deshalb zwischen totaler und partieller Verleugnung.

Bei Patienten mit lebensbedrohlichen Krankheiten ist ein Middle Knowledge zu beobachten: Die Betroffenen befinden sich in einem Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um ihre Krankheit; dieser ermöglicht es ihnen, wechselnde und unterschiedlich starke Angstzustände zu regulieren. Ein besonderes Problem ist die Wiederverleugnung (Re-denial), wenn Patienten, die bereits mehrfach und offen über ihre Erkrankung informiert worden sind, sich so verhalten, als hätten sie kein Wissen von der Bedrohlichkeit ihrer Situation. Diese Form der Verleugnung ist unabhängig vom Ausmaß der Aufklärung des Patienten.

Bewältigungsergebnis

Die Annahme, dass die Qualität des Bewältigungsergebnisses im Sinne des »good Coping« davon abhängt, welche Art von Erkrankung bewältigt werden muss, lässt sich im Allgemeinen nicht bestätigen. Stattdessen ist es das Ausmaß der Beeinträchtigung im Krankheitsverlauf, das für das Bewältigungsergebnis ausschlaggebend ist. Außerdem hängt das Bewältigungsergebnis von der Persönlichkeit der Betroffenen ab.

Bis zu einem gewissen Grad ist ein aktives Bewältigungsverhalten, bei dem der Betroffene sich mit seiner Krankheitssituation bewusst auseinandersetzt, einem passiven Bewältigungsstil überlegen. Ein gewisses Maß an Passivität und Krankheitsverleugnung begünstigt aber das subjektive Befinden. Eine ständige bewusste Auseinandersetzung mit einer Krankheit führt hingegen, besonders bei chronischen Verläufen, zu einer zunehmenden Einengung des Gefühlslebens und zur emotionalen Erschöpfung.

Für behandelnde Ärzte und klinische Psychologen besteht bei der Betreuung von Patienten mit chronischen Krankheiten eine besondere Aufgabe darin, einzuschätzen, ob es für die Betroffenen besser ist, sich vertiefend mit ihrem Schicksal auseinanderzusetzen und z. B. über den Sinn ihrer Krankheit nachzudenken, oder ob es nicht hilfreicher für sie ist, sich abzulenken und ablenken zu lassen und an positive Aspekte ihres verbleibenden Lebens und ihrer Vergangenheit zu denken.

1.2.2         Krankheitsbezogene Bewältigungsaufgaben

Mit den Errungenschaften der modernen Medizin ergeben sich auch neue Herausforderungen, die das Bewältigungsvermögen der Patienten auf die Probe stellen. Lange Krankheitsprozesse, anhaltende Behinderungen, einschränkende Dauerbehandlungen oder eingreifende Operationen können die Kräfte auf längere Sicht erschöpfen und somatopsychische Störungen (Kap. 6.3) hervorrufen. Um Patienten bei der Verarbeitung und Bewältigung ihrer Krankheiten zu unterstützen, sind in den letzten Jahrzehnten verschiedene somatopsychische Arbeitsfelder entwickelt worden ( Übersicht). Hier können nur einige der Aufgaben angedeutet werden, die sich daraus für die Psychotherapie und Psychosomatik ergeben.

Somatopsychische Arbeitsfelder

Spezifische interdisziplinäre Bereiche

•  Psychoendokrinologie

•  Psychoonkologie

•  Psychonephrologie

•  Palliativmedizin

•  Intensivmedizin

Psychosoziale Beratung

•  Schwangerschaftsberatung, Fertilitätsberatung

•  Bluterberatung, Hämophilieberatung

•  Immunberatung, Infektions- und Impfberatung

•  Koronarberatung, Infarktberatung

•  Krebsberatung, Tumorberatung

•  Stoffwechselberatung, Diabetikerberatung

Intensivmedizin

Patienten, die im Rahmen der Intensivmedizin behandelt werden, stehen vor einer Vielzahl von Belastungen. Der Grund zur Intensivbehandlung ist im Allgemeinen eine bedrohliche Erkrankung, die Angst und Schrecken verursacht. Manchmal sind die psychischen Funktionen, die eine Orientierung und Bewältigung erleichtern könnten, durch Narkosefolgen, Traumafolgen oder komatöse Zustände geschwächt. Oft war die Behandlung ganz unerwartet und plötzlich notwendig geworden. Die ungewohnte Umgebung mit unbekannten Apparaten, fremden Menschen und verwirrenden Vorgängen führt zur Verunsicherung. Diesen Belastungen kann man nur schwer entgegenwirken. Wichtige Hilfen sind Kontaktangebot, Zuwendung und Information. Hilfreich sind insbesondere auch möglichst enge Kontakte zu Angehörigen und Freunden, die der Einsamkeit und Not der Patienten, allein schon durch Anwesenheit und Vertrautheit, begegnen können.

Dialysebehandlung

Bei Patienten, die wegen schwerwiegender Nierenerkrankungen auf eine Dialyse angewiesen sind, führt die langfristige Abhängigkeit von der »Maschine« zu umfangreichen psychischen Problemen. Der Verlust oder zumindest die Einschränkung der Nierenfunktionen ruft Sorge, Depression und Trauer hervor. Das Angewiesensein provoziert aggressive Einstellungen gegen die »Maschine« und das Betreuungspersonal. Die Folgen der Beeinträchtigungen im persönlichen und beruflichen Bereich, wie Resignation, körperliche und sexuelle Einschränkungen, Berentung, wirtschaftliche Sorgen, Rückzug aus dem sozialen Aufgabenfeld u. v. a. sind lang dauernde Belastungen. Es entstehen dadurch nicht selten somatopsychische Anpassungsstörungen mit Depressivität, Angst und vegetativen Beschwerden. Als Folge anhaltender Belastungen können sich Gleichgültigkeit und Complianceprobleme bezüglich der Dialysebehandlung entwickeln. Die psychotherapeutischen Aufgaben sind langfristig und mühevoll. Wichtig sind die Stabilität und Kontinuität der Betreuung. Problemklärungen, Stützung und Aktivierung des Patienten sind die wichtigsten inhaltlichen Aspekte.

Operationen

Der Eingriff in die körperliche Intaktheit und Integrität stellt eine tiefe Verunsicherung und eine nachhaltige Störung des Sicherheitsgefühls dar. Operationen provozieren daher in der präoperativen Phase tiefe Ängste. Sie werden teilweise verleugnet und durch Übergefügigkeit verdeckt, teilweise aber auch als Angst und Verzweiflung offen gezeigt oder sogar als Aggressivität gegen Ärzte, Pflegepersonal oder Angehörige gerichtet. Eine angemessene verständnisvolle Zuwendung und eine sachgerechte Information über das geplante Vorgehen und die erwarteten Folgen, Beruhigung und Anregungen zur Entspannung können dieser präoperativen Reaktion vorbeugen oder sie mäßigen. Neurotische Entwicklungen und Konflikte können sie aber auch verstärken. In solchen Fällen können gezielte psychotherapeutische Explorationen und Interventionen hilfreich sein, in denen subjektiv belastende Bedeutungen eines Eingriffs (Vorerfahrungen, Vorbilder, Schuldkonflikte und Selbstbestrafungstendenzen usw.) aufgedeckt und besprochen werden.

Postoperativ entsteht für die Patienten die Aufgabe, sich an die Situation als Operierte anzupassen. Die Operationsfolgen, z. B. Verlust von Organen oder Funktionen und die damit verbundenen Einschränkungen, müssen wahrgenommen, realistisch eingeschätzt und betrauert werden. Dieser Prozess braucht Zeit. Viele Menschen brauchen eine längere Phase der Verleugnung, um sich der neuen Situation überhaupt zuwenden und sie ertragen zu können.

Unterstützung bei der Bewältigung

Das Bewältigungsverhalten stellt im Allgemeinen den subjektiv bestmöglichen Umgang eines Kranken mit seiner Krankheit dar. Es ist eine kreative Leistung, die akzeptiert und respektiert werden sollte, auch wenn sie nicht unbedingt den persönlichen Vorstellungen des Behandlers entspricht. Unter bestimmten Voraussetzungen sind aber psychotherapeutische Interventionen erforderlich, um Bewältigungsversuche zu verbessern: Wenn das Bewältigungsverhalten selbstschädigend erscheint und z. B. notwendige diagnostische oder therapeutische Maßnahmen vermieden werden oder wenn es mit starken somatopsychischen Anpassungsstörungen verbunden ist.

Oft steht ein Arzt oder Psychologe, der psychisch belastete körperlich Kranke begleitet, vor der Frage, welche Patienten »Problempatienten« und welche »einfache« Patienten sind: Ein ruhiger, willfähriger Patient mag zwar »bequem« im Umgang sein, kann aber aufgrund seiner depressiven Verarbeitung zu einer resignativen Hinnahme seiner Krankheit gelangen, die ihm eine aktive Bewältigung erschwert. Dagegen kann ein Patient, der gegen seine Krankheit ankämpft, als sehr »schwierig« erscheinen, wenn er den Arzt oder Psychologen als verantwortlich für seine Ängste und Verluste erlebt und einen Teil seiner Auseinandersetzung mit seiner Krankheit auch gegen diese richtet.

1.3         Die therapeutische Beziehung

Während die psychologische Betreuung von Klinikpatienten früher eine integrierte Aufgabe der Arztrolle war, ist sie in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr in die Hände klinischer Psychologen übergegangen. Das Konzept der therapeutischen Beziehung beschreibt, wie Patienten und ihr Arzt oder betreuender klinischer Psychologe miteinander in Beziehung stehen und welche Prozesse dabei eine Rolle spielen.