Angst und Angststörungen - Michael Ermann - E-Book

Angst und Angststörungen E-Book

Michael Ermann

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Beschreibung

Anxiety forms part of every human life. The subject has been associated with psychoanalysis since the very beginnings of the discipline, in its efforts to explain the profound depths of human existence. This volume illustrates the way in which the development of psychoanalysis can largely be read as a history of its conceptions of anxiety. The book pays tribute to selected milestones in this development in the contributions made by Freud and ego psychology, object relationship theory, and self psychology to the subject of anxiety. It closes with by examining the prospects for a clinical systematics of anxiety disorders from today=s viewpoint.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1. Vorlesung Angst – Erscheinungen und Bedeutung

Angst als Thema der Menschheit

Der Begriff der Angst

Existenzielle Angst – eine Grunderfahrung des menschlichen Lebens

Situative Angst

Grundlagen von Angst

Angst und Kultur

Philosophische Beiträge zum Thema Angst

Angst und Kunst

Der Beitrag der Psychoanalyse

Angst im klinischen Kontext

Realistische Angst

Unbewusste Angst und Ängste als Symptom

Angststörungen

2. Vorlesung Angst, der Trieb und das Ich

Freuds Erbe

Biografie und Werk

Freuds Angsttheorien

Freuds frühes biologisches Angstkonzept

Freuds späteres psychodynamisches Angstverständnis

Freuds zweite Angsttheorie

Der Paradigmenwechsel von der Trieb- zur Ich-Psychologie

Ausblick

Angst aus Sicht der Ich-Psychologie

Heinz Hartmann und sein Ansatz einer Ich-Psychologie

3. Vorlesung Angst und Objektbeziehung

Die Idee einer Objektbeziehungstheorie

Melanie Klein

Biografisches

Das Kleinianische Entwicklungskonzept

Melanie Kleins Konzepte der Angst

Beiträge der Postkleinianer

Wilfred Bion: Sein Leben und seine Theorien

Donald Meltzer: Biografisches und sein Weg zum »Claustrum«

Angst als Störung der basalen Objektbezogenheit

Vorbemerkung zur Controversial Discussion

Die Positionen von Balint und Winnicott

Balint und sein Beitrag zur Psychoanalyse

Winnicott und seine Theorie

4. Vorlesung Angst und das Selbst

Angst in der Selbst-Psychologie

Das Konzept des Selbst und die Entwicklung der Selbst-Psychologie

Heinz Kohuts Leben und sein Ansatz der Selbst-Psychologie

Von der Selbst-Psychologie zur Intersubjektivität

Das intersubjektive Angstverständnis

5. Vorlesung Angst und Persönlichkeitsstruktur

Vorbemerkung zum Konzept der Persönlichkeitsstruktur

Fritz Riemann und seine Charakterkunde

Riemanns »Grundformen der Angst«

Karl König und sein Beitrag zur Psychoanalyse

Königs Beitrag zum Angstverständnis

6. Vorlesung Diagnostik und Behandlungsstrategien

Klinische Diagnostik der Angststörungen

Klinische Phänomenologie

Ätiologie und Entwicklungsdiagnostik

Behandlungsstrategie

Neurotische (konfliktbedingte) Angststörungen

Strukturbedingte Angststörungen

Präödipale Angststörungen

Schlusswort

Literatur

Zum weiteren Studium empfohlene Literatur

Zum Thema Angst

Zur Entwicklung der Psychoanalyse

Stichwortverzeichnis

Personenverzeichnis

Der Autor

Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik

Herausgegeben von Michael Ermann und Dorothea Huber

Michael Ermann, Prof. Dr. med. habil., ist Psychoanalytiker in Berlin und Professor emeritus für Psychotherapie und Psychosomatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dorothea Huber, Professor Dr. med. Dr. phil., war bis 2018 Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der München Klinik. Sie ist Professorin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität, IPU Berlin, und in der wissenschaftlichen Leitung der Lindauer Psychotherapiewochen tätig.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/lindauer-beitraege

Michael Ermann

Angst und Angststörungen

Psychoanalytische Konzepte

3., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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3., erweiterte und überarbeitete Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042768-6

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-042769-3epub:ISBN 978-3-17-042770-9

Im Gedenken anFriedrich Beese (1921 – 2012),der meine psychoanalytische Ausbildung begleitet hat

Vorwort

Dieses Buch gibt einen Einstieg in das Thema Angst und Angststörungen aus psychoanalytischer und psychodynamischer Sicht. Vor dem Hintergrund der Vielfalt von Konzepten ist es unmöglich, dabei die ganze Fülle von Beiträgen zu würdigen, welche die Geschichte von mehr als 100 Jahren Psychoanalyse zu dieser Thematik hervorgebracht hat. Ich werde mich daher in diesem Band, der auf einer Vorlesung bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2011 beruht, nach einer allgemeinen Einführung auf eine Auswahl von Klassikern beschränken, die besonders auf die Entwicklung in Deutschland eingewirkt haben.

Wie es kaum anders sein kann, lässt die Auswahl der Konzepte meine subjektiven Präferenzen erkennen. Sie orientiert sich u. a. an Guido Meyer (2005 ff.), der vor einigen Jahren ein dreibändiges Werk über die »Konzepte der Angst in der Psychoanalyse« vorgelegt hat, das ich zum näheren Studium empfehle. Bei der Vorbereitung hat mir auch das Buch von Egon Fabian »Anatomie der Angst« aus dem Jahre 2010 geholfen, das mir vor allem für nicht-klinische Aspekte des Themas Anregungen gegeben hat.

Angesichts des begrenzten Rahmens einer Vorlesung musste ich die Angstkonzepte der Jung'schen Analytischen Psychologie, der Individualpsychologie Alfred Adlers und der strukturalen Psychoanalyse von Jaques Lacan auslassen. Hingegen habe ich den Text gegenüber der ursprünglichen Lindauer Vorlesung erweitert und auf Anregung meiner Hörer die Darstellung der persönlichkeitstypologischen Angstkonzepte von Fritz Riemann und Karl König aufgenommen, die sich in Deutschland großer Popularität erfreuen.

Für die dritte Auflage habe ich die Systematik der Angststörungen im letzten Kapitel überarbeitet und die Darstellung der differenziellen Indikation zwischen der strukturorientierten und der konfliktorientierten psychodynamischen Behandlung ergänzt.

Mein Dank gilt an dieser Stelle wie schon bei den früheren Auflagen dem Kohlhammer-Verlag, der die Neuauflage mit Unterstützung und Sorgfalt begleitet hat.

Berlin, im Februar 2023Michael Ermann

1. Vorlesung Angst – Erscheinungen und Bedeutung

We do not know whence we come and where we go.Our little life is surrounded by sleep.Shakespeare

Angst als Thema der Menschheit

Der Begriff der Angst

Vorläufer des deutschen Begriffs Angst gibt es im Lateinischen und im Indogermanischen. Dort bedeutet das lateinische angustiae Enge, ebenso wie das indogermanische anghu. Später finden wir im Althochdeutschen die Bezeichnung angust. Begrifflich wird Angst (lat.: angor) von Furcht (lat.: timor) unterschieden: Angst ist ungerichtet, während mit Furcht (oder Phobie) die Angst vor bestimmten Situationen oder Objekten bezeichnet wird.

Angst bezeichnet einen sehr körpernahen Gefühlszustand. Dieser tritt in Situationen auf, die bewusst oder unbewusst als bedrohlich oder gefährlich erlebt werden. Er äußert sich als eine unlustvolle Erregung, die mit Beengung und Verzweiflung verbunden ist und schwer oder gar nicht rational und durch Willen gesteuert werden kann.

Angsterleben ist ein komplexes Phänomen mit affektiven, körperlichen und kommunikativen Komponenten. Es ist das Paradigma für ein psycho-sozio-somatisches Gesamtgeschehen. Der eigentliche Angstaffekt macht dabei nur einen Teil des Ganzen aus. Im Allgemeinen ist er in ein umfassenderes psychisches Unwohlsein eingebettet, an dem Missstimmungen, Hoffnungslosigkeit, aber auch Wut, Aggression und andere Affekte beteiligt sind. Körperliche Reaktionen gehören als natürliche Begleiterscheinungen zum Angstaffekt hinzu. Es sind insbesondere eine erhöhte Reaktionsbereitschaft auf Sinnesempfindungen, Muskelanspannung, erhöhte Herzfrequenz und Blutdruckanstieg, Beschleunigung der Atmung, körperliche Unruhe, Zittern oder Schwindel, aber auch Übelkeit und Stuhldrang, Harndrang und vieles mehr. Angst äußert sich auch in einer Modulation des Stimmklanges und der Mimik. Bisweilen ist die aktuell empfundene Angst in eine breiter angelegte Ängstlichkeit eingebettet, also in eine Persönlichkeit, die durch eine erhöhte Bereitschaft geprägt ist, mit Angst zu reagieren.

Existenzielle Angst – eine Grunderfahrung des menschlichen Lebens

Angst ist ein Grundgefühl, das unabdingbar zum menschlichen Leben gehört. In ihrer umfassendsten Form richtet sie sich gegen alles Unbekannte: Das Nichtgekannte, Unheimliche wird als Bedrohung erlebt und erzeugt Angst. So wird die menschliche Entwicklung von Angst vor dem Nichtgekannten begleitet, welches das Leben auf unheimliche Weise umhüllt. Dabei geht es um das Unheimliche des Nicht-Seins, des Noch-nicht- oder Nicht-mehr-Seins. Dahinter steht die Angst vor dem Nichts und letztlich die Ahnung der Begrenztheit des scheinbar Ewigen, der Existenz, und die Vorahnung des Todes. Es geht aber auch um das Unheimliche des Unbewussten, um die Abgründe der Seele, die sich dem unmittelbaren Zugang und der direkten Erkenntnis entziehen.

Das ist der tiefere Sinn, wenn von Angst als conditio humana, als Grundphänomen des Lebens und Bedingung des Menschseins gesprochen wird. Sie ist der Preis für das Bewusstsein, das den dunklen Bereich des Unbewussten und Nicht-Gekannten wie eine kognitive Schale umhüllt, und die Konsequenz, die sich aus dem Bewusstsein der Existenz und ihrer Endlichkeit ergibt. Angst ist daher eine Bedingung des Menschseins. Hier sprechen wir von existenzieller Grundangst.

Existenzielle Angst wirkt als Motiv, die Bedrohung aus dem Unbewussten und aus der Endlichkeit und Begrenztheit abzuwenden. So wird sie zu einem bedeutenden Antrieb des menschlichen Lebens, ja – letztlich zur Entwicklung von Zivilisation und Kultur.

Situative Angst

Die Angst als Grunderfahrung menschlicher Existenz wird in den verschiedenen Stufen des Lebens an unterschiedliche Situationen gebunden, die als Gefahr erlebt und zum Angstauslöser werden. Bei der Angstauslösung handelt es sich um angeborene Reaktionsmuster, die der Vermeidung oder Bewältigung von Gefahren dient. Angst erhält dadurch einen situativen Bezug. Sie wird zur situativen Angst. Freud (1926) nannte sie Signalangst. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet, ist die Signalangst ein Alarmsignal, das in bedrohlichen Situationen eine schützende Reaktion, z. B. Flucht oder Verteidigung hervorruft.

Situative Angst erhält durch die spezifischen Bedrohungen, in die sie eingesponnen ist, ihr manifestes Gepräge. So kennen wir Angst vor äußerer Bedrohung und Gefahr, vor dem Verlust der körperlichen oder seelischen Unversehrtheit oder Angst, wenn die Sicherheit oder das Leben bedroht sind. Angst begleitet Verlust und Trennung und Einsamkeit. Sie tritt auf, wenn Zugehörigkeit und Identität gefährdet sind. Angst signalisiert Schutzlosigkeit und entsteht, wenn wir gewohnte und schützende Beziehungen verlieren, vertrautes Terrain verlassen, vor unkalkulierbaren Herausforderungen stehen und neue Erfahrungen machen. Wir reagieren aber auch mit Angst, wenn wir in Konflikte verstrickt werden oder in neue Stufen der Entwicklung eintreten. Das sind nur einige der Angstsituationen, der jeder in irgendeinem Augenblick seines Lebens ausgesetzt ist.

Zu allen Zeiten sind Menschen kollektiv und individuell von Ängsten bedrängt worden. Viele Inhalte erhalten aber durch zeitspezifische Umstände ein eigenes Gepräge. So sind Atom- oder AIDS-Angst nur vor dem Hintergrund der aktuellen Gegenwart zu verstehen. Die Lebensgeschichte und Konstitution und die daraus resultierende Persönlichkeit, aber auch der soziale Kontext prägen zudem die Art und Weise, wie Angst sich im individuellen Leben manifestiert, wie sie wahrgenommen und ausgedrückt wird, wieweit sie ertragen werden kann und wie sie weiter verarbeitet wird.

Grundlagen von Angst

Die Ätiopathogenese von Ängsten ist komplex. Den Psychotherapeuten interessieren vor allem die psychologischen Wurzeln, wobei der psychoanalytische Zugang auf psychodynamische Prozesse zentriert ist. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass kognitionspsychologische, lerntheoretische und soziokulturelle Einflüsse sowie genetische und konstitutionelle Dispositionen an der Angstentstehung mitbeteiligt sind.

Für ein interdisziplinäres Angstverständnis sind neurobiologische Erkenntnisse grundlegend. Dabei stehen die Organisationsprozesse im Zentrum, die im limbischen System des Zwischenhirns und den neuronalen Verbindungen zur Hirnrinde (präfrontaler Cortex) lokalisiert werden und durch ein komplexes Zusammenwirken verschiedener Neurotransmittersysteme vermittelt werden. Die bedeutendsten sind das GABA1-‍, Noradrenalin-‍, Serotonin- und Glutamatsystem.

Heute wird die Amygdala (der Mandelkern) als Schaltzentrale für die Angstentstehung betrachtet. Sie ist grundlegend an der Entschlüsselung und Bewertung von Gefahrsituationen und der Aktivierung passender Abwehrreaktionen beteiligt. Entscheidend ist dabei der Vergleich mit früheren Erfahrungen, die im sogenannten Angstgedächtnis gespeichert sind, das der Amygdala zugeschrieben wird.

Angst und Kultur

Angst als existenzielles Erleben und selbstschützender Affekt hat die menschlichen Kulturen zutiefst geprägt. Religionen entstanden seit Urzeiten im Dienste der Bewältigung der existenziellen Grundangst. Rituale und religiöse Opfer sollten die Götter freundlich stimmen und das Unheimliche bändigen. Im Christentum wird die Existenzangst durch die Gemeinschaft mit Gott, die Geborgenheit in der Liebe Gottes und den Opfertod von Jesus Christus überwunden. Danach soll der Glaube die Angst besiegen.

Weite Bereiche der Kunst und Philosophie widmen sich diesem Thema. Ein großer Teil der Zivilisationsprozesse beruht auf dem Bestreben, kollektive Bedrohungen und Gefährdungen zu bändigen auf der Suche nach einem Leben mit möglichst wenig Angst. Mit dem Verblassen der Bedeutung des Christentums geriet die abendländische Welt allerdings in eine tiefe Krise, in der die Angst und das Bestreben, diese durch Hinwendung zu materiellen diesseitigen Werten zu bewältigen, immer mehr in den Vordergrund rückt.

Andererseits ist die abendländische Kultur mit ihren Verboten und Geboten, mit Hierarchien und Tabus eine ausgesprochene Angstkultur. Ihre gesellschaftlichen Institutionen, insbesondere Staaten und Kirchen, beruhen auf dem Prinzip des Machterhalts durch Unterwerfung, die durch Angst vor Benachteiligung, Ausschluss und Verfolgung, durch die Angst vor der Hölle und dem Fegefeuer, bis hin zur Bedrohung des Lebens, erzwungen wird. Die Folterungen in verschiedensten politischen Systemen, die Verbreitung von Terror, die Hexenverbrennungen der Gegenreformation und schließlich die Vernichtung ganzer Volksgruppen durch totalitäre und faschistische Regime sind dafür bedrückende Belege.

Angst und Bedrohung zu erzeugen, ist ein wirksames Mittel der Machtausübung auch in Unternehmen und der Beziehungsregulation in gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden. Selbst in den Familien, die ja gemeinhin als Hort der Geborgenheit betrachtet werden, ist Angsterzeugung ein alltägliches Phänomen. Strafangst ist immer noch ein verbreitetes Mittel der Kindererziehung. Konformität hingegen wird mit relativer Angstfreiheit belohnt.

In dieser Kultur, die im Wesentlichen durch ein patriarchalisches Gesellschafts- und Wertesystem geprägt ist, wird Angsterleben absolut negativ bewertet und das Gegenstück, der Mut, glorifiziert. So finden wir in den abendländischen Mythologien von den Griechen bis in die Gegenwart, von Troja bis zu den Weltkriegen der Neuzeit glorreiche Schilderungen von furchtlosen Helden, für die es keine Angst gibt oder die ihre Angst besiegen. Angst widerspricht dem männlichen Ideal unerschrockener Stärke und Tapferkeit. Sie wird mit Feigheit assoziiert. Dass sie einem gesunden Selbstschutz dient und gesellschaftliche Solidarität stiftet, wird verleugnet. Sie wird schamhaft verborgen. Höchstens dem weiblichen Geschlecht wird sie zugestanden – und auch dort nur als Schwäche.

Diese Angst vor der Angst prägt das Männerbild und das männliche Rollenverhalten unserer abendländischen Welt und entbehrt damit einer gewissen Tiefe. Den Frauen fällt dabei oftmals die Rolle zu, das wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen, was die Männerwelt verleugnet.

Erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts scheinen hier eine gewisse Veränderung zu bewirken. Mit einer kulturellen Neubewertung der individuellen Existenz und der realistischeren Einschätzung der destruktiven Folgen unserer Zivilisation scheint sich auch die Konnotation der Angst zu verändern und ihre kollektive Verleugnung zu vermindern. Möglicherweise stellen Auschwitz und Hiroschima, Tschernobyl, der 11. September und Fukushima die abendländische Welt vor Herausforderungen, die mit einer Neubewertung der Angst auch unser Menschenbild verändert.

Philosophische Beiträge zum Thema Angst

Die Tradition der Philosophie der Angst geht bis in die griechische Antike zurück. Zwar begriffen Platon und Aristoteles Angst als physische Reaktion. So kommt die Angst in Aristoteles' Werk De anima noch gar nicht vor. Bei den Stoikern hingegen galt Angst als ein unnatürliches Gefühl, das überwunden werden sollte. Das Ziel war dabei ein angstfreier Zustand, der mit dem Gefühl von Gelassenheit verbunden sei.

Der christliche Kirchenlehrer und Philosoph Augustinus (354 – 430) sah in der Angst eine der vier menschlichen Hauptleidenschaften. Er unterschied die niedrige Furcht vor Strafe von der höher bewerteten Furcht vor Schuld aus Ehrfurcht vor Gott. Für ihn war die Angst ein Gefühl, das durch das Getrenntsein von Gott entsteht und sich nur durch den Glauben wieder aufheben lässt.

Abb. 1:Der dänische Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard führte in seinem Buch »Der Begriff der Angst« das Thema in die neuere abendländische Philosophie ein und unterschied dabei zwischen Angst vor dem Unheimlichen und gerichteter Furcht.

Zentral wurde das Thema Angst für die abendländische Philosophie durch den Dänen Søren Kierkegaard (1813 – 1855), der als Erster in Der Begriff Angst (1844) zwischen Angst vor dem Unbestimmten und Furcht als Reaktion auf eine konkrete Bedrohung unterschied (▸ Abb. 1). Angst bezieht sich auf das Nichts. Sie ist ein Wesensmerkmal der menschlichen Willensfreiheit.

Für Kierkegaard waren Sünde, Angst und Freiheit unabdingbar miteinander verknüpft. In der Angst, gegen das Gebot Gottes zu verstoßen, erkennt Adam zugleich seine Willensfreiheit. Im Sündenfall wird diese Freiheit dem Niederen geopfert. Im Glauben kann die Freiheit durch Reue und Erlösung wiedergewonnen und die Angst überwunden werden.

Mit Kierkegaard wurde der Begriff der Angst zu einem Grundbegriff, der insbesondere die europäische Existenzphilosophie prägen sollte.

Für den deutschen Existenzphilosophen Martin Heidegger (1889 – 1976), der stark von Kierkegaards Ideen angeregt wurde, war Angst ein Grundgefühl, mit dem der Mensch der Endlichkeit der Existenz gewahr wird. In der Angst begegnet er der Gewissheit seines Todes. Heidegger prägte dafür den Begriff des Seins als ein »Sein zum Tode«. In dieser Grundbefindlichkeit wird das Dasein auf sich selbst »zurückgeworfen«. Sie ist eine Bedingung für die Möglichkeit, das Sein in seinem Wesen zu erfahren.

Auch im französischen Existenzialismus war Angst einer der zentralen Gegenstände. Jean Paul Sartre