Identität und Begehren - Michael Ermann - E-Book

Identität und Begehren E-Book

Michael Ermann

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Beschreibung

Was sollten Psychotherapeuten für ihre Arbeit von der Sexualität wissen? Dieses Buch gibt einen Überblick über das Basiswissen, das für das psychodynamische Verständnis und die Behandlung der vielen Formen heutiger Sexualität unentbehrlich ist. Es betont den Wandel der Sexualität im vorigen Jahrhundert und beschreibt die Vielfalt sexueller Lebens- und Verhaltensmuster als Zusammenspiel innerseelischer, intersubjektiver und gesellschaftlicher Prozesse. Für die Neuauflage wurde das Buch überarbeitet und insbesondere die aktuelle Auseinandersetzung mit den Themen Geschlechtsidentität, Transgender und Homosexualität berücksichtigt.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort zur 2. Auflage

1. Vorlesung Das Sexuelle und die Geschlechtsidentität

Sexualität und das Sexuelle

Was ist Sexualität?

Partnerschaftliche Liebe, Erotik und Begehren

Sex und Gender

Geschlechtsidentität und sexuelles Selbst

Entwicklung der Geschlechtsidentität

Konstitutionelle Bisexualität als Disposition für die sexuelle Identität und Objektwahl

Von der binären zur multiplen Geschlechterordnung

Geschlechterrollen

Sexualität von Frauen und von Männern

Funktionen der Sexualität: Fortpflanzung, Lust, Beziehungsgestaltung

Die Fortpflanzungsfunktion

Die Lustfunktion

Die Beziehungsfunktion: Sexualität und Liebe

Sexualitäten

2. Vorlesung Sexualität und die Psychoanalyse

Der Ursprung der Sexualität

Die Triebtheorie der Neurosen

Der (Sexual-)‌Trieb

Varianten der Triebtheorie

Das Sexuelle und die Triebentwicklung

Phasen der psychosexuellen Entwicklung

Zur Bedeutung der Freud'schen Trieblehre

Jenseits der Triebtheorie

Weibliche Sexualität in der Psychoanalyse

Freuds Auffassung der weiblichen Entwicklung

Neuere Anschauungen zur weiblichen Sexualität

Zur zeitgemäßen Diskussion um die weibliche Sexualität

3. Vorlesung Sexualität in der Psychotherapie

Das Verblassen der Sexualität in der Theorie

Sexualität als Thema in der Behandlung

Das Sexuelle in der Behandlungssituation

Übertragungsliebe

Grenzverletzungen

Sexualstörungen und ihre analytische Behandlung

Störungen befriedigender Sexualität

Was sind psychogene Sexualstörungen?

Sexualität, Befinden und Lebensqualität

Die Entstehung psychogener Sexualstörungen (Pathogenese)

Seelische Hintergründe (Psychodynamik)

Behandlung mit psychoanalytisch begründeten Verfahren

4. Vorlesung Besondere Spielarten des Sexuellen

Von der normativen Sexualität zu den Neosexualitäten

Paraphilie: Störung der sexuellen Präferenz

Wesen und Formen der Paraphilie

Persönlichkeiten

»Perversionen« und die Psychoanalyse

Behandlung

Transgender, Transidentität und nicht-binäre Geschlechtsidentität

Transgender und Geschlechtsinkongruenz

Unklare Geschlechtsentwicklung: Intersexualität

5. Vorlesung Sexuelle Orientierung

Über sexuelle Orientierungen

Sexuelle Orientierung und gesellschaftlicher Wandel

Persönlichkeiten und Komorbidität

Ursachen der sexuellen Orientierung

Über psychische Bisexualität

Über Homosexualität

Geschichtliches

Definition und Erscheinungen

Normale Homosexualität (Neigungshomosexualität)

Die normale homosexuelle Entwicklung

Homosexualität als eigenständige Entwicklung

Die Persönlichkeit bei Homosexualität

Homosexualität als Krankheitsrisiko

Homosexualität in der psychoanalytischen Behandlung

Spezielle Manifestationen der Homosexualität

Latente Homosexualität

Entwicklungshomosexualität

Situative Homosexualität

Konflikthomosexualität als Abwehr

Literatur

Stichwortverzeichnis

Personenverzeichnis

Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik

Herausgegeben von Michael Ermann und Dorothea Huber

Michael Ermann, Prof. Dr. med. habil., ist Psychoanalytiker in Berlin und em. Professor für Psychotherapie und Psychosomatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dorothea Huber, Professor Dr. med. Dr. phil., war bis 2018 Chefärztin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der München Klinik. Sie ist Professorin an der Internationalen Psychoanalytischen Universität, IPU Berlin, und in der wissenschaftlichen Leitung der Lindauer Psychotherapiewochen tätig.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/lindauer-beitraege

Michael Ermann

Identität und Begehren

Zur Psychodynamik der Sexualität

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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2., überarbeitete Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043078-5

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-043079-2epub:ISBN 978-3-17-043080-8

Vorwort zur 2. Auflage

Was sollte ein psychodynamisch orientierter Psychotherapeut für seine Arbeit von der Sexualität wissen? Diese Frage leitete mich bei der Vorbereitung meines Vorlesungsseminars zum Thema »Sexualitäten« für die Lindauer Psychotherapiewochen 2018. Das Ergebnis habe ich in diesem Band niedergelegt. Es ist das Anliegen dieses Buches, unser derzeitiges Verständnis der Sexualität und ihres Wandels für die psychotherapeutische Praxis nutzbar zu machen.

Es umfasst das Basiswissen, das mir für das Verständnis der vielen Formen heutiger Sexualität unentbehrlich erscheint, die psychoanalytische Theorie, einen Überblick über sexuelle Störungen sowie über die Varianten der sexuellen Praktiken und Orientierungen.

Für die 2. Auflage wurde der Text aktualisiert und an markanten Stellen präzisiert und verbessert. Dabei wurde insbesondere der Wandel der Sexualität vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen in den letzten Jahren berücksichtigt. Er hat zu einer Vervielfältigung der sexuellen Verhaltensweisen und Lebensformen geführt, die ihrerseits auf den Gesellschaftsprozess zurückwirken. Die Sexualität ist in einem fortwährenden Prozess begriffen. Darin wirkt die Gesellschaft einerseits über Normen und Werte als Regulativ, nimmt andererseits aber auch Impulse aus der sexuellen Emanzipation im letzten Jahrhundert auf und verändert sich.

Auch das psychodynamische Verständnis der Sexualität hat sich verändert. Standen Sigmund Freuds bahnbrechende Abhandlungen von 1905 ganz im Zeichen seiner Triebtheorie, so vertreten wir heute eine umfassendere Sicht. Sie vereint die verschiedenen Entwicklungen der Psychoanalyse und gelangt über interpersonelle und intersubjektive Konzepte zu neuen Einsichten in die Organisation des Sexuellen im Lebensverlauf. Stärker als früher erkennen wir heute, dass sexuelle Identität und Begehren in jeder Begegnung neu ausgehandelt werden müssen. Die alten Festschreibungen auf Positionen wie aktiv oder passiv, intrusiv oder rezeptiv, gleichgeschlechtlich oder gegengeschlechtlich reichen nicht mehr aus. Selbst die basalen Ordnungskategorien Frau und Mann stehen heute zur Disposition.

Über die Verwendung der femininen bzw. maskulinen Bezeichnungen habe ich mir bei diesem Buch, das die Gender-Fragen immer wieder thematisiert, besondere Gedanken gemacht. Ich hoffe, dass das Ergebnis, beide Formen im Wechsel und gelegentlich in Kombination zu verwenden, annehmbar ist.

Alle Fallvignetten wurden anonymisiert, für die Publikation verändert und mit fiktiven Vornamen versehen.

Bei den Literaturverweisen habe ich absichtlich darauf verzichtet, historische Texte durch Verweise zu belegen. Bei Gedanken von Sigmund Freud sind die Fundstellen, soweit nicht anders belegt, stets die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1905.

Wie bei der Erstauflage schulde ich dem Kohlhammer Verlag Dank für die Unterstützung und die unkomplizierte Zusammenarbeit.

Michael Ermann, Berlin, im Frühjahr 2023

1. VorlesungDas Sexuelle und die Geschlechtsidentität

Sexualität und das Sexuelle

Die Frage, mit der ich beginne, erscheint trivial: Was ist Sexualität? Denn wer wüsste nicht, worum es geht, wenn wir über das Sexuelle sprechen. Aber hat nicht der Wandel unserer gesellschaftlichen Moral und Normen sowie die Akzeptanz neuer Lebensformen und sexueller Verhaltensweisen zu einer unerhörten Diversifizierung und einer Veränderung unserer Vorstellungen von Sexualität geführt? In dieser einleitenden Vorlesung werde ich daher über Grundsätzliches zur Sexualität sprechen: über Begriffe und Definitionen, über Konzepte und Phänomene, über die Funktionen der Sexualität und ihre Äußerungsformen.

Was ist Sexualität?

Sexualität (von [lat.] sexus: Geschlecht) bedeutet sinngemäß »Geschlechtlichkeit«. Wir bezeichnen damit die Lebensäußerungen und Empfindungen in Bezug auf das Geschlechtliche.

Viele glauben, Sexualität sei die wichtigste Sache der Welt. Auf jeden Fall gehört sie zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Sie ist eine Funktion an der Nahtstelle zwischen unserem Erleben und Verhalten, zwischen unserer Körperlichkeit und unseren Beziehungen – anders gesprochen: In der Sexualität verbinden sich Leib, Psyche und Sozialgefüge. Dabei hat das Konzept der Sexualität verschiedene Dimensionen, die eng aufeinander bezogen und miteinander verwoben sind:

Die innerseelische Dimension ist vor allem durch das individuelle sexuelle Erleben gekennzeichnet. Dazu gehören das sexuelle Selbst mit den Repräsentanzen der eigenen Geschlechtlichkeit und ihren Konflikten sowie die Geschlechtsidentität mit der Art des sexuellen Begehrens.

Die interpersonelle Dimension betrifft die Sexualität als verbindendes Erleben und Verhalten, insbesondere in der Partnerschaft, aber auch die Vermittlung von sexuellen Werten und Normen in der Beziehung zu den Bezugspersonen.

Die gesellschaftliche Dimension ist bezogen auf normative Vorgaben für die Sexualität und auf die Zuschreibung von Geschlechterrollen. Heute spricht man von »Konstruktionen der Sexualität«.

Die biologische Dimension ist im engeren Sinne auf die Fortpflanzung und Arterhaltung ausgerichtet. Sie umfasst das genetische Geschlecht, das sich aus der chromosomalen Ausstattung ergibt, das anatomische Geschlecht bezogen auf die Geschlechtsorgane, das hormonelle Geschlecht bezogen auf den Hormonstatus sowie die psychophysiologischen Prozesse im Zusammenhang mit dem sexuellen Erleben und Verhalten. Als »Brain sex« beschreiben Neurophysiologen zudem Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen.

Sexualität ist das Ergebnis einer Entwicklung, in der das Sexuelle organisiert wird. Daneben gibt es eine psychosexuelle Konstitution, d. h. die Grundausstattung. Wir können sie als Konstrukt für einen Rest Unerklärtes in der Sexualität verstehen. Darin scheinen Merkmale wie Triebstärke und psychologische Faktoren wie das Grundempfinden von Geschlechtlichkeit eine Rolle zu spielen. Kritisch muss man aber sagen, dass wir nicht so recht wissen, was die psychosexuelle Konstitution tatsächlich ist.

Das Sexuelle beinhaltet die Triebhaftigkeit. Es ist ziellos, zeitlos und ungerichtet. Es ist eine Kategorie des Psychischen, vergleichbar dem Emotionalen. Es äußert sich in der Liebe, in der Kreativität, in jeder Form des Lebendigen und in der Beziehung. Das Sexuelle ist von Anfang an da. Es entwickelt sich nicht, nimmt aber verschiedene Erscheinungsformen an, in denen es sich äußert. Es kann als solches übrigens nicht erkranken, glaubt Fritz Morgenthaler1, der die Abgrenzung des Sexuellen von der Sexualität eingeführt hat.

Sexualität meint dagegen Empfindungen, Lebensäußerungen und Erlebnisweisen, die mit dem bewussten und unbewussten Geschlechtserleben zusammenhängen. Sie umfasst Lust, Reiz und Begehren, Fantasien und Impulse. Sie entwickelt sich aus dem Sexuellen heraus unter innerseelischen, interpersonellen, familiären und gesellschaftlichen Einflüssen. Es sind insbesondere die Einstellungen und Verhaltensweisen, die mit dem Geschlechtsverkehr verbunden sind. Sie rufen ein spezifisches Lusterleben hervor und haben das Ziel, dieses zu befriedigen. Unter dem Einfluss der sozialen Umwelt und der verinnerlichten Normen und Werte können sie sich verändern, verzerrt werden und zu beglückenden oder frustrierenden Erlebnissen führen.

Als Sexualverhalten (»Sex«) bezeichnen wir die praktische Ausübung der Sexualität, den Geschlechtsverkehr. Damit beschreiben wir insbesondere genitale Handlungen, welche Erregung hervorrufen und befriedigen, im weiteren Sinne aber auch andere Praktiken, die den Verkehr begleiten und ihm folgen oder die auch, wie bei einigen Paraphilien, ganz abgelöst von der Genitalität bestehen können.

Im Zentrum der Sexualität steht unser Erleben und Verhalten als Person mit einer individuellen Geschlechtlichkeit. Die Handlungen können autoerotisch sein wie bei der Masturbation. Sie können auf Objekte ausgerichtet sein wie bei der Paraphilie. Im Allgemeinen erleben und verhalten wir uns sexuell jedoch in der Beziehung zu anderen. Das kann eine Frau sein oder ein Mann oder beides oder ein Jemand dazwischen. Die Gefühle, Phantasien, Wahrnehmungen, Sinnesorgane und neurophysiologischen Prozesse, die dabei eine Rolle spielen, werden im Gehirn als Schaltstelle für sexuelles Erleben und Verhalten koordiniert. »Sex« spielt sich zu einem großen Teil im Gehirn ab.

Sexualität ist nicht nur ein höchstpersönliches und zwischenmenschliches, sondern immer auch ein gesellschaftliches Phänomen. Die Entwicklung im letzten Jahrhundert zeigt, wie stark sie in den kulturellen Prozess eingebunden ist. Gesellschaftliche Phänomene wie die Frauenbewegung haben starken Einfluss auf die Erscheinungsweisen der Sexualität genommen. Umgekehrt hat die Veränderung sexueller Lebensweisen sich nachhaltig auf den Kulturprozess ausgewirkt und zu einer Veränderung des Frauenbildes in unserer Gesellschaft und zur weiblichen sexuellen Emanzipation beigetragen.

Partnerschaftliche Liebe, Erotik und Begehren

Was ist die Liebe? Wir alle kennen diesen beglückenden Zustand, der uns aus dem Alltag und sogar ein Stück aus der Realität entrückt. Es ist die innige seelische, geistige und körperliche Zuneigung zu einem anderen Menschen, die diese kleine »Verrücktheit« in uns hervorruft.

Es ist jedoch schwierig, genau zu fassen, was Liebe ist. Denn Liebe ist ein schillerndes Geschehen mit vielfachen Facetten und Bedeutungen. Das zeigen die vielen Versuche einer Definition in verschiedenen Kontexten, zum Beispiel in der Lyrik, in der Musik und in der darstellenden Kunst. Auch die Philosophie und Humanwissenschaften suchen nach Antworten auf die Frage: Was ist die Liebe?

Im Zusammenhang mit unserem Thema der Sexualität beschränke ich mich auf die Partnerliebe. Sie ist ein starkes Gefühl der Zuneigung zwischen Menschen, eine seelische Verbundenheit, verknüpft mit erotischer Anziehung und körperlichem Verlangen. In der Liebe vereinen sich das geistige, emotionale und körperliche Streben nach dem Anderen. Wirklich erfüllend ist sie, wenn sie vom Anderen erwidert wird. Unsere heutige Auffassung setzt Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit voraus. Denn Liebe kann man nicht erzwingen. Insofern ist Partnerliebe auch Ausdruck einer Beziehungsethik, die von Respekt und Achtung getragen wird.

Erotik bezeichnet die sinnliche Liebe. Sie umfasst die Anziehung durch das körperlich Geschlechtliche. Sie weckt das Verlangen, sich dem geliebten Anderen zu nähern und mit ihm in Leidenschaft zu vereinigen.

Dieses Verlangen wird in der Psychoanalyse auch als Begehren bezeichnet. Dieser Begriff wurde durch den Einfluss der französischen Schule von Jaques Lacan populär. Dort bezeichnet er ein allgemeines Organisationsprinzip2, vergleichbar der Libido bei Freud. Ich beschreibe mit Begehren das Verlangen nach Lust und Befriedigung aneinander als eine zentrale Motivation in Beziehungen. Das Begehren verweist auf Emotionen und Affekte, auf Vorstellungen und Phantasien, während der Begriff »Trieb« die sexuelle Lust und ihre Befriedigung im Körperlichen betont.

Sex und Gender

Ein wichtiger Markstein in der Sexualforschung ist die Unterscheidung zwischen der biologisch-körperlichen und der psychosozialen Ebene der Sexualität. Sie betrifft traditionell die Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Diese sind durchaus nicht nur von der Biologie vorgegeben, wie man im Alltag oft annimmt, sondern werden auch von der Gesellschaft konstruiert. So wird die Gebärfähigkeit von Frauen naturgemäß der biologischen Ebene zugeschrieben, aber ihre Funktion der Kinderaufzucht ist nicht zwangsläufig daran gebunden, sondern als psychosoziale Zuschreibung zu verstehen.

In den westlichen Ländern hat sich diese Unterscheidung in den 1960er Jahren eingebürgert. Sie hat die Gegenüberstellung von Sex und Gender3 hervorgebracht.

Sex steht dabei für das biologische Geschlecht, d. h. für biologische Eigenschaften,

Gender beschreibt den sozialen Kontext und die soziokulturellen Aspekte der Geschlechtlichkeit.

Die Unterscheidung wurde von der zweiten Frauenbewegung aufgegriffen und ist heute aus dem Diskurs über Sexualität nicht mehr wegzudenken.

Zum Gender gehören die Geschlechtsidentität und die Geschlechterrollen. Dabei geht es um Sozialisationsprozesse vor dem Hintergrund von biologischen Gegebenheiten und Merkmalen, soziokulturellen Kontexten und geschlechtsbezogenen Wert- und Normvorstellungen. Diese Zuschreibungen werden von Machtverhältnissen geprägt4. So ist z. B. die Stellung der Frauen in einer abendländischen Gesellschaft in den verschiedenen Epochen davon abhängig gewesen, welche Vorstellungen Männer darüber entwickelt haben und welche Rolle sie ihnen zugewiesen haben. Das jeweils vorherrschende Frauenbild fand in allen Bereichen Ausdruck: in Rechten und Pflichten, im Auftreten, im Denken, Fühlen und Handeln, in Interaktionsmustern und anderem bis hin zur Sprache.

Die Sexualwissenschaft untersucht, wie der Mensch im Zuge seiner individuellen Entwicklung, d. h. seiner Sozialisation, sein Gender erwirbt. Sozialisation bedeutet dabei Anpassung an gesellschaftliche Denk- und Gefühlsmuster durch Verinnerlichung von sozialen Normen. Heute ist ihr Interesse weniger auf übergeordnete kategoriale Prozesse ausgerichtet als auf ein individualisiertes Verständnis der Partnerwahl, indem sie fragt, was der Mensch bei verschiedenen Partnern sucht und was die unterschiedlichen Partner in ihm auslösen und befriedigen. Damit vertritt die Sexualwissenschaft heute ein offenes Genderkonzept. Nach diesem Konzept gibt es keine Heterosexualität, Homosexualität oder Bisexualität als solche, sondern allenfalls sexuelle Orientierungen, die individuell verschieden sind.

Geschlechtsidentität und sexuelles Selbst

Unser Selbsterleben als sexuelles Wesen findet in der Geschlechtsidentität Ausdruck. Dieser Begriff aus der Sexualwissenschaft wurde als »gender role« von John Money 1955 in die Psychoanalyse eingeführt und von Robert Stoller weiter differenziert. Er bezeichnete das subjektive Geschlechtserleben. Darunter versteht man »das tief empfundene innere und persönliche Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, das mit dem Geschlecht, das man bei seiner Geburt hatte, übereinstimmt oder nicht übereinstimmt; dies schließt die Wahrnehmung des eigenen Körpers sowie andere Ausdrucksformen des Geschlechts, z. B. durch Kleidung, Sprache und Verhaltensweisen, ein.«5

Aus psychoanalytischer Sicht kann man von einem sexuellen Selbst sprechen. Es umfasst zunächst die Ahnung, überhaupt ein Wesen mit einem Geschlecht zu sein, die sich später zu der Vorstellung weiterentwickelt, einem bestimmten Geschlecht anzugehören. Dabei bilden sich psychische Repräsentanzen der psychischen, körperlichen und sozialen Geschlechtlichkeit.

Es ist zuerst die Umwelt, die in einem ein weibliches oder ein männliches kleines Wesen sieht. Diese Zuordnung geht vom biologischen Geschlecht aus, das man bei seiner Geburt mitbringt. Es ergibt sich aus dem anatomischen Phänotyp, bezogen auf das Genitale. Im Zweifelsfall bezieht die Beurteilung den Status der Chromosomen und den Hormonstatus mit ein: Männer haben Hoden und Penis, einen kantigen Körperbau und Brustbehaarung, ein Y-Chromosom und eine geschlechtsspezifisch hohe Menge an Testosteron. Frauen haben eine Vulva und eine Vagina, eine weibliche Brust, runde Körperformen und ein breites Becken, kein Y-Chromosom und nur geringe Mengen an Testosteron.

Es sind also zunächst die Reaktionen der frühen Bezugspersonen und des sozialen Umfeldes, an denen sich die zunächst noch sehr vage Ahnung herausbildet, in der konventionellen Sichtweise ein Mann oder eine Frau zu sein. Das sexuelle Selbst entsteht demnach zuerst aus der Zuordnung des biologischen Geschlechts durch die Umwelt zu den Kategorien weiblich oder männlich. Erst später entwickelt sich ein Bewusstsein der Geschlechtsorgane und des Geschlechtsunterschieds, das mit der Vorstellung einer Geschlechterrolle verknüpft wird.

Darüber hinaus beschreibt die Geschlechtsidentität die Befindlichkeit im erlebten Geschlecht. Wie fühle ich mich in meinem Körper und in meinem Verhalten mit der mir zugeschriebenen Rolle als Mann bzw. als Frau? Oder zugespitzt gefragt: Bin ich im richtigen, zu mir passenden Körper? Die Antwort hängt stark davon ab, wie das Umfeld auf Mädchen und Jungen reagiert: ob die Vorstellungen, die man von sich selbst hat, und das Empfinden der eigenen Geschlechtlichkeit mit den Vorstellungen und Erwartungen übereinstimmen, die wichtige Menschen einem spiegeln.

Große Bedeutung für die Geschlechtsidentität haben Zuweisungen, vor allem in der frühen Entwicklung. Damit werden die projektiven und identifikatorischen Prozesse beschrieben, durch die bewusst und unbewusst Erwartungen des Umfeldes weitergegeben werden. Eltern behandeln ihre Kinder von Anfang an als werdende Frau oder als werdenden Mann. Wahrscheinlich gibt es schon bei der Zeugung unbewusste Vorstellungen darüber. Diese Vorstellungen und Erwartungen prägen die Beziehung zu ihrem Kind. Es nimmt die Erwartungen in sich auf und identifiziert sich damit.

Beim kleinen Mädchen werden die Eigenschaften bestätigt und gefördert, die dem Bild der Eltern von »weiblich« entsprechen; Männliches wird beim Mädchen nicht gefördert oder sogar unterdrückt. Entsprechend ist die Entwicklung männlicher Kinder: Das Bubenhafte wird befördert, das Mädchenhafte abgewiesen. Da wir uns in der Kindheit gegen solche Zuweisungen nicht wehren können, werden sie prägend. Die Geschlechtsidentität ist also eine intersubjektive Schöpfung und nicht einfach angeboren. Je nachdem, ob wir den an uns gerichteten Erwartungen entsprechen oder nicht, je nachdem, ob sie zu unserer psychosexuellen Konstitution passen, entsteht auf diese Weise eine stabile oder eine konflikthafte Geschlechtsidentität.

Hintergrund solcher Zuweisungen ist die Überzeugung, dass die Geschlechterordnung nur zwei Kategorien hat, die sich gegenseitig ausschließen, nämlich weiblich und männlich. Dieses Konzept einer binären Geschlechterordnung ist für unsere abendländische Kultur beherrschend. Es entspricht aber nicht der Wirklichkeit. Es ist kulturell geprägt und wird von Generation zu Generation weitergegeben.

Die Wirklichkeit ist aber anders. Sie kennt auch Menschen, deren Geschlechtserleben nicht zum biologischen Geburtsgeschlecht passt oder deren Geburtsgeschlecht weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich ist oder die sich nicht dem einen oder dem anderen Pol zuordnen lassen (wollen)6. Das dichotome Geschlechtsmodell, wonach man lebenslang nur Frau oder nur Mann sein kann, ist dennoch bis heute ein vorrangiges Ordnungsprinzip in den meisten Gesellschaften und bestimmt auch das psychoanalytische Denken in Theorie und Praxis. In den westlichen Ländern gerät es in der letzten Zeit allerdings ins Wanken.

Entwicklung der Geschlechtsidentität

Aus psychodynamischer und -sozialer Sicht betrachtet man die Entwicklung der Geschlechtsidentität als einen stufenweisen Entwicklungsprozess. Am Anfang steht eine unbestimmte Ahnung der Geschlechtlichkeit, die schon von Geburt an bestehen soll. Das Ergebnis ist die reife Geschlechtlichkeit, die mit der Adoleszenz erreicht wird. Die geschlechtliche Identität entwickelt sich von da an entlang der Linie der Altersprozesse weiter und tritt in altersspezifischen Formen in Erscheinung. So gibt es spezifische Varianten im frühen und späteren Erwachsenenalter, in der Lebensmitte und im Alter.

Kasten 1: Entwicklung der sexuellen Identität7

Sexuelle Protoidentität (Proto-Geschlechtsidentität)

Sexuelle Kernidentität (core gender identity)

Geschlechterrollen-Identität (gender role identity)

Sexuelle Orientierung (Geschlechtspartnerorientierung, Objektwahl-Identität, sexual partner orientiation)

Reife Geschlechtsidentität

Sexuelle Protoidentität

Der Mensch wird mit einer Grundbereitschaft geboren, sich »sexuell« zu fühlen. Dieses Empfinden kann man als sexuelle Protoidentität bezeichnen. Raimund Reiche spricht von Proto-Geschlechtsidentität8. Worauf sie beruht, ist bis heute nicht sicher bekannt. Als Einflussgrößen kommen genetische, hormonelle oder hirnorganische Faktoren in Betracht sowie biologische, vornehmlich mütterliche hormonelle Einflüsse, und vielleicht auch unbekannte psychische und psychosomatische Einwirkungen in der vorgeburtlichen Entwicklung. Für diese Ausgangssituation verwenden wir den Begriff psychosexuelle Konstitution.

Von Anfang an spielt jedenfalls das Geschlecht als »ungedachtes Bekanntes«9 eine wichtige Rolle. Dieses ist nicht so binär im Sinne von weiblich oder männlich, wie wir es zumeist unterstellen. Die Zuordnung geschieht erst in der Interaktion mit den Eltern und anderen nahen Bezugspersonen. Sie geben dem Kind einen geschlechtsspezifischen Namen, kommentieren sein Verhalten und bestärken geschlechtskonforme Merkmale.

Sexuelle Kernidentität

Die frühen interaktionellen Prozesse, die wir zuvor als Zuschreibungen beschrieben haben, vermitteln sich anfangs durch prozedurale Körpererfahrungen. Wir wissen, dass Eltern schon im Säuglingsalter anders mit Mädchen umgehen als mit Jungen. Dabei spielen körperliche Interaktionen, Berührungen, sinnliche Prozesse und Atmosphären eine große Rolle, für die Säuglinge in der Frühentwicklung noch keine Begriffe haben. Sie werden in das Körpergedächtnis eingeschrieben und bilden im Laufe der Zeit eine sexuelle Kernidentität bzw. den Kern des sexuellen Selbst.

Robert Stoller, der sich als einer der ersten mit dem Thema der Geschlechtsidentität beschäftigt hat, spricht von Kerngeschlechtsidentität10. Er nahm an, dass sich in den ersten beiden Lebensjahren ein basales Bewusstsein dafür entwickelt, ein Mann bzw. eine Frau zu sein, das dann kaum noch veränderbar ist. Er beschreibt damit das noch sprachlose Erleben, dem einen oder anderen Geschlecht anzugehören. Mit der Entwicklung der Sprache etwa mit 18 Monaten findet dieses Empfinden erstmals in Begriffen und Denkfiguren Ausdruck, d. h. es wird mentalisiert.

Geschlechterrollenidentität

In der Zeit der präödipalen Entwicklung im dritten und vierten Lebensjahr gewinnt der Geschlechtsunterschied an Bedeutung, und zwar insbesondere der Unterschied zwischen Vater und Mutter. Damit beginnt die geschlechtsspezifische Orientierung an den Anderen. Mit der präödipalen Triangulierung vollzieht der heterosexuelle Junge einen Wechsel seines bevorzugten Liebesobjektes und orientiert sich am Vater und am Verhalten der Mutter dem Vater gegenüber, während das heterosexuelle Mädchen bevorzugt an der Mutter und ihrem Umgang mit dem Vater orientiert bleibt. Auf diese Weise entsteht eine Grundeinstellung zum eigenen Geschlecht, die nun schrittweise auch begrifflich gefasst wird: Der Junge wird ein kleiner Mann nach dem Vorbild des Vaters, das Mädchen eine kleine Frau nach dem Vorbild der Mutter. Die Funktion des Vaters als triangulärer Dritter kann auch durch eine andere Person substituiert werden, die als Alternative zur Mutter erlebt und verwendet werden kann.

Durch Erfahrungen, die man nun »als Junge« oder »als Mädchen« mit den wichtigen Personen seiner Umgebung macht, wird die Kernidentität weiter ausdifferenziert. So entsteht eine Vorstellung über eigenes geschlechtsadäquates soziales Verhalten und über die dazu gehörigen Rollenerwartungen. Das Ergebnis dieser Mentalisierung ist die Geschlechterrollenidentität. Sie wird zum Bestandteil des Selbstbildes, d. h. der Selbstrepräsentanz als Junge oder Mädchen – also des sexuellen Selbst.

Sexuelle Orientierung

Mit der ödipalen Entwicklung im Vorschulalter wird die Geschlechtsidentität durch Identifizierungen mit den Eltern weiter ausdifferenziert. Sie wird nun zu einem dauerhaften Bestandteil des Identitätsgefühls. Das Ergebnis ist die sexuelle Orientierung. Man spricht auch von Objektwahlidentität oder Geschlechtspartnerorientierung. Sie ist anfangs noch auf beide Geschlechter gerichtet, d. h. »bisexuell«. Erst mit der Auflösung des Ödipuskomplexes wird sie auf ein Geschlecht ausgerichtet, indem das Begehren des nicht bevorzugten Geschlechts verdrängt wird.

Dabei tritt ein Unterschied zwischen einer heterosexuellen und einer homosexuellen Entwicklung in Erscheinung (▸ 5. Vorlesung). In der heterosexuellen Entwicklung steht die Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und dessen (heterosexueller) Partnerwahl im Vordergrund. Der Junge identifiziert sich mit dem Vater, um nun als Mann eine Frau zu lieben, während sich das Mädchen mit der Mutter identifiziert und wie sie als Frau einen Mann begehrt. In der Pubertät wird diese Organisation stabilisiert.

Konstitutionelle Bisexualität als Disposition für die sexuelle Identität und Objektwahl

Nach der psychoanalytischen Entwicklungstheorie ist die Geschlechtsidentität von einer konstitutionellen Bisexualität geprägt. Sigmund Freud übernahm diese Idee unter dem Einfluss seines Freundes Wilhelm Fließ aus dem Darwinismus11 (▸ Abb. 1.1). Man kann seine Triebtheorie nur vor dem Hintergrund der Annahme verstehen, dass die psychosexuelle Konstitution grundsätzlich zweigeschlechtlich angelegt ist. Dabei ging es ihm nicht um die biologisch-körperliche Bisexualität, wie wir sie bei der Intersexualität finden (▸ 4. Vorlesung), sondern um die psychische. Er betrachtete sie als eine psychische Organisation.

Abb. 1.1:Sigmund Freud und Wilhelm Fließ um 1890. Freud übernahm von Fließ die Idee einer psychischen Bisexualität (© akg-images).

Er ging davon aus, dass jeder Mensch

im Unbewussten die Vorstellung hat, im Besitz beider Geschlechtsorgane zu sein,

Anlagen für männliches und weibliches Verhalten in sich trägt,

aktive und passive Wünsche gegenüber seinen Liebesobjekten hat,

eine Bereitschaft hat, sowohl heterosexuell als auch homosexuell zu reagieren, d. h. männliche und weibliche Liebesobjekte zu begehren.