Pulverfass Balkan - Florian Bieber - E-Book
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Pulverfass Balkan E-Book

Florian Bieber

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Beschreibung

Der nächste Brandherd vor unserer Haustür?

Vor über hundert Jahren entzündete sich auf dem westlichen Balkan der Erste Weltkrieg. Verantwortlich dafür waren die Großmächte, die ihr Ringen um Vormacht in der Region austrugen. Heute baut China dort Straßen, Russland spornt Nationalisten an, die Türkei und die Golfstaaten investieren in Moscheen und Hotels. Sie alle sehen darin einen Weg, Einfluss auf Europa zu nehmen. Wiederholt sich die Geschichte?
Florian Bieber, einer der besten Kenner des Balkans, schildert die explosive Gemengelage in der Region. Sie ist Schauplatz des neuen globalen Konflikts zwischen dem Westen und der autokratischen Internationale. Zugleich verfolgen die Akteure vor Ort ihre ganz eigene Agenda. Das Buch ist ein Weckruf an Europa, endlich aktiv zu werden. Denn in der Region könnte sich seine Zukunft entscheiden.

»Florian Bieber ist ein großer Balkan-Kenner, der den gegenwärtigen Blick auf Europas Krisen kunstvoll und kenntnisreich weitet. Ein sehr erhellendes Buch!« Jagoda Marinić

»Souverän dekonstruiert Bieber pseudohistorische Mythen und Halbwahrheiten.« Michael Martens, FAZ

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Über das Buch

Vor mehr als 100 Jahren entzündete sich auf dem westlichen Balkan der Erste Weltkrieg. Verantwortlich dafür waren Großmächte, die ihr Ringen um Vormacht in der Region austrugen. Heute baut China dort Straßen, Russland spornt Nationalisten an, die Türkei und die Golfstaaten investieren in Moscheen, Hotels und Fluglinien. Sie alle sehen darin einen Weg, Einfluss in Europa zu nehmen. Wiederholt sich die Geschichte? Florian Bieber schildert die explosive Gemengelage auf dem Balkan. Sein Buch ist ein Weckruf für die Europäische Union, endlich aktiv zu werden. Denn hier könnte sich Europas Zukunft entscheiden.

Über Florian Bieber

Florian Bieber, geboren 1973, gilt als einer der besten Kenner der Balkanregion. Er ist Professor für Geschichte und Politik Südosteuropas an der Universität Graz und Leiter des dortigen Zentrums für Südosteuropastudien. Er hat in den USA, in Großbritannien, Italien, Bosnien, Serbien und Ungarn unterrichtet und mehr als fünf Jahre in Belgrad und Sarajevo gelebt. Seine Analysen erscheinen regelmäßig u. a. in The New York Times, Neue Zürcher Zeitung, Der Standard, Die Zeit, Die Presse und Politico. 

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Florian Bieber

Pulverfass Balkan

Wie Diktaturen Einfluss in Europa nehmen

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Einleitung

1: Das Pulverfass

Niedergang des Osmanischen Reichs und Neuaufteilung des Balkans durch die Großmächte

Nationalstaaten nach europäischem Vorbild

Die Balkankriege 1912/13

2: Blockfrei und isoliert

Der jugoslawische Sonderweg

Albaniens Weg in die Isolation

Das Ende der kommunistischen Herrschaft

3: Die neue Weltordnung und der Krieg in Jugoslawien

Westliche Vermittlung zwischen Naivität, Eigeninteresse und Inkompetenz

Der Mythos vom Zerfall Jugoslawiens als Kulturkampf

4: Kosovo 1999. Zeitenwende für Russland und China

Das NATO-Bombardement und die Folgen

Mehr als ein Husarenstück: Besetzung des Flughafens Pristina durch russische Truppen

Kosovokrieg als Schlüsselmoment für China

5: Das europäische Labyrinth

State Capture und der Sanader-Effekt

Eine Hand wäscht die andere. EU‑Politiker und ihre Freunde auf dem Balkan

Blockaden durch Mitgliedsstaaten

Offene Rechnungen

6: Die Stunde Amerikas

Die politische Macht der USA

Trumps »Deal« auf dem Balkan

7: Großer Bruder Russland

Wir »300 Millionen« Serben und Russen

Putin-Fans in Bosnien und Kroatien

Die Belgrader Russen

Eldorado Montenegro

8: Jeden Tag ein Krieg

Krieg als mediales Alltagsgeschäft

Kriege, die nicht vergehen

Drohende Kriege als Machtinstrument der Innen- und Außenpolitik

Der Ukrainekrieg und der Balkan

»Serbische Welt« und »russische Welt« – Echokammer zweier postimperialer Staaten

9: Putsch! Oder doch nicht?

Montenegros holpriger Weg in die NATO

Das Ende einer langen Freundschaft zwischen Montenegro und Russland

Russische Störaktionen zwischen Griechenland und Nordmazedonien

10: Straßenfeger Sultan Süleyman

Vom »türkischen Joch« zum Neo-Osmanismus

Instandsetzung des osmanischen Erbes mit türkischem Geld

Modell Türkei für den Balkan?

11: »Die Türkei ist Kosovo, Kosovo ist die Türkei.«

Autobahnen – die Lieblingsprojekte von Autokraten

Personalisierte Macht

Erdoğan und Vučić

Krise des türkischen Einflusses

12: Dubai am Balkan

Wohlstand mit dem Geld der Emirate

Dubaifizierung an der Sava

13: »Warum kommen immer mehr Araber?«

Mudschahedin in Bosnien

Sommerfrische Bosnien – Urlaub von konservativen islamischen Traditionen

Muslimische Geflüchtete auf dem Balkan

14: Die Autobahn ins Nirgendwo

Chinesisch-montenegrinische Geschäfte

Chinas Infrastrukturboom auf dem Balkan

Chinesische Firmen und wie sie arbeiten

15: »Danke, Bruder Ši!«

Chinesische Charmeoffensive

Chinesische Überwachungssysteme in Serbien

16: Die Symbiose der Autokraten

Sprachen lernen mit Präsident Vučić

Wie Autokraten auf dem Balkan von Diktaturen profitieren

Warum der Balkan für Großmächte heute interessant ist

Widerstand, Migration oder Anpassung

Ausblick: Zeitenwende auf dem Balkan?

ANHANG

Anmerkungen

Literatur

Dank

Impressum

Einleitung

Anfang März 2022. Überall in Europa demonstrieren Menschen gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Auch in Belgrad gehen Tausende auf die Straße, jedoch nicht, um sich mit der Ukraine zu solidarisieren, sondern mit Russland. Der Protestzug vom 4. März beginnt am Denkmal für Zar Nikolaus II., 2014 errichtet als Geschenk Russlands, und zieht von dort zur russischen und zur belarussischen Botschaft. Neben der Parole »Serbien und Russland brauchen die [Europäische] Union nicht« zeigen die Demonstrierenden den Buchstaben »Z« – das Symbol der russischen Invasion –, orthodoxe Ikonen sowie serbische und russische Fahnen. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić tut ihnen zu wenig, um Russland zu unterstützen. Ein Plakat bringt es auf den Punkt: Es zeigt Vladimir Putin als »richtigen Präsidenten«, während Vučić als »Verräter« dargestellt wird. Aktivisten treten demonstrativ auf EU‑Fahnen herum, malen das »Z« auch auf die Straße.

In der darauffolgenden Nacht wird auch ein großes Porträt von Putin an eine Hauswand im Belgrader Stadtteil Vračar gesprayt, nicht weit entfernt von einem ähnlich großen Abbild des Generals Ratko Mladić, der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Kriegsverbrechen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Das Konterfei des russischen Präsidenten wird in den folgenden Monaten immer wieder übermalt und restauriert, sodass Putins Gesicht im Laufe der Zeit immer groteskere Züge annimmt. Aufgrund der Proteste könnte man glauben, Vučić hätte sich auf die Seite des Westens geschlagen. Tatsächlich ist Serbien das einzige Land in Europa, außer Belarus, das sich nicht den Sanktionen gegen Russland angeschlossen hatte und weiter gute Beziehungen mit Putin unterhält.

Der Protestzug vom 4. März 2022 blieb nicht die einzige prorussische Kundgebung in Serbien. Es folgten zahlreiche Demonstrationen in den kommenden Monaten, meist von kleinen rechtsextremen Gruppen organisiert. Die erste wurde von der »Narodna patrola«, auf Deutsch Volkspatrouille, auf die Beine gestellt. Diese Gruppe war in der Vergangenheit immer wieder aufgetreten, um vor einem »Verrat« an Kosovo zu warnen und Migranten aus dem Nahen Osten in Serbien zu bedrohen.

Auch wenn diese Proteste sehr lautstark daherkamen, waren sie längst nicht die größten, die es in Serbien gab. Weitaus mehr Menschen gingen nur wenige Monate vorher gegen Umweltverschmutzung und den Bau einer Lithiummine auf die Straße. Doch der Krieg überschattete nun alle anderen Themen. Dennoch reflektieren diese von der Teilnehmerzahl her kleineren Demonstrationen das Meinungsbild in Serbien: Putin ist auch nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine der beliebteste internationale Politiker. In der Frage der Verantwortung für den Krieg sieht eine Mehrheit von 52,3 Prozent Russland als unschuldig an, während 84,8 Prozent der NATO die Schuld geben, mehr noch als der Ukraine selbst mit 66,3 Prozent. Hier hat Russland so viele Freunde wie sonst nirgends in Europa. Trotz und auch wegen dieser russlandfreundlichen Haltung sehen die meisten Serben ihre Zukunft irgendwo zwischen dem Osten und dem Westen.1 Für einen EU‑Beitritt gibt es derzeit keine Mehrheit.

Doch Russland ist längst nicht das einzige Land, das um die Gunst der Bevölkerung oder der Herrschenden in Serbien buhlt. Die sechs Staaten des westlichen Balkans – Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien, mit zusammen etwas mehr als 17 Millionen Einwohnern, Tendenz fallend, und der Wirtschaftskraft der Slowakei, umgeben von EU‑Mitgliedern – könnten längst einen Teil der Europäischen Union bilden. Stattdessen sind sie seit Jahren eine Spielwiese der Großmächte ohne zeitnah absehbare Zukunft in der Union.

China baut hier Autobahnen und Eisenbahnstrecken, stellt Überwachungskameras auf, gräbt in riesigen Minen Kupfer aus dem Boden. Milliardenschwere Unternehmen und Staatsfonds aus den Golfstaaten investieren in neue Stadtteile, Fluglinien und Luxushotels. Die Türkei renoviert Moscheen und kauft Flughäfen. Zahlreiche Präsidenten und Premiers auf dem Balkan pflegen beste Beziehungen zu Wladimir Putin, Xi Jinping und Recep Tayyip Erdoğan. Auch wenn die Region wirtschaftlich und politisch weiterhin am stärksten der EU nahe steht, ist die Außen- und Selbstwahrnehmung eine andere. Putin, Erdoğan und Xi sind die wichtigeren Partner. Wenn sie dem Balkan einen Besuch abstatten, erhalten sie mehr Aufmerksamkeit als irgendein Präsident, Kanzler oder Ministerpräsident aus der EU.

Gleichzeitig brodelt es in den Staaten. Die Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo sind angespannt und drohen immer wieder zu eskalieren. Provokationen entlang der Grenze rufen die Erinnerung an den Kosovokrieg von 1998/99 wach. In Bosnien droht Milorad Dodik, der führende Politiker in der Republika Srpska, der überwiegend serbisch bewohnten Entität mit einer Loslösung und leugnet serbische Kriegsverbrechen im Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995.

Obwohl es bisher friedlich geblieben ist, bestehen handfeste Konflikte fort. Die Hoffnung, dass die Region sich nach den Kriegen der neunziger Jahre in eine stabile und demokratische Richtung entwickeln würde, hat sich nicht erfüllt. In diese Unsicherheit, geprägt von Nationalismus, Revisionismus und Glorifizierung von Kriegsverbrechern, stoßen globale autoritäre Mächte, die mit einer Mischung aus Opportunismus und strategischer Einflussnahme auf dem Balkan Präsenz zeigen. Droht der Balkan erneut zu einem Schauplatz zu werden, an dem Machtkämpfe ausgetragen werden? Nicht, weil in der Region unweigerlich Konflikte entstehen, und schon gar nicht, weil die Vielfalt oder die Geschichte dies diktieren würden. Im Gegenteil, die Kriege endeten vor über zwei Jahrzehnten, aber es gelang nicht, die Region fest in europäische Strukturen zu verankern.

Dieses Buch gibt eine Antwort auf die Frage, wie es Diktaturen und autoritären Regimen aus aller Welt, von Russland und China über die Vereinigten Arabischen Emirate bis zur Türkei, gelingt, auf dem Balkan Fuß zu fassen, und warum sie unter den Mächtigen der Region willige Partner gefunden haben. Jenseits von Stereotypen über den Balkan soll gezeigt werden, warum die EU und der Westen in der Region gescheitert sind.

Dafür muss zunächst das 19. Jahrhundert betrachtet werden: wie Staaten und Nationen sich auf dem Balkan oft in enger Symbiose mit der Einmischung europäischer Großmächte entwickelt haben. Dieses Ungleichgewicht wirft lange Schatten. Während des Kalten Krieges haben die beiden starken Männer Jugoslawiens und Albaniens, Josip Broz Tito und Enver Hoxha, auf sehr unterschiedliche Art und Weise versucht, die Eigenständigkeit ihrer Staaten jenseits der großen Blöcke sicherzustellen. Mit dem Ende des Kalten Krieges schien sich die Dominanz des Westens durchzusetzen. Die USA und die NATO konnten die Kriege in Bosnien und im Kosovo beenden und eine Friedensordnung durchsetzen.

Die Länder des westlichen Balkans stehen im Vordergrund, also die sechs Staaten, die noch nicht der EU beigetreten sind. Serbien wird einen zentralen Platz in diesem Buch einnehmen, weil das Land den westlichen Balkan aufgrund seiner Größe dominiert. Es ist mehr als doppelt so bevölkerungsreich wie das zweitgrößte Land, Bosnien. Und weil es über serbische Minderheiten und wirtschaftliche Bedeutung Einfluss auf fast alle anderen Staaten der Region ausübt. Nicht zuletzt versteht es Serbien unter Präsident Vučić am erfolgreichsten, Diktatoren aus aller Welt als Gegengewicht zur EU für sich einzunehmen. Natürlich üben auch innerhalb der EU Diktaturen Einfluss aus. Hierfür ist Ungarn unter Viktor Orbán ein besonders augenfälliges Beispiel. Nicht nur unterstützt seine Regierung teils offen, teils indirekt die Positionen Putins, auch nach Kriegsbeginn. Sie pflegt außerdem gute politische und wirtschaftliche Beziehungen zu China. Auch andere Staaten, nicht zuletzt Deutschland, zeigen sich geleitet von wirtschaftlichem Egoismus und politischem Zynismus oder fehlgeleitetem Idealismus offen für die Einflussnahme durch Putins Russland.

Der westliche Balkan blickt sowohl mit Hoffnung als auch Ablehnung auf die EU und ist ein Seismograf globaler und europäischer Entwicklungen. Dass Europa die eigenen Werte nicht durchsetzen und die Region einbeziehen kann, weist auf seine strukturellen Schwächen hin. Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens vor über 30 Jahren zeigte bereits, dass Europa nach dem Kalten Krieg nicht nur friedlich sein würde. 2022 vergaßen manche europäische Intellektuelle, wie Jürgen Habermas, dass der russische Angriff auf die Ukraine längst nicht der erste Krieg in Europa seit 1945 ist. Stattdessen gab es nach 1989 mehr Jahre Krieg als Frieden in Europa, so auch die fast zehn Jahre Krieg im ehemaligen Jugoslawien, der mit Pausen von 1991 bis 2001 dauerte.

Doch die Dominanz des Westens beruht auf der Idee von Demokratie und Marktwirtschaft als fast zwangsläufige Prozesse sowie der militärischen Dominanz der USA in Kombination mit der wirtschaftlichen Stärke der EU. NATO und EU sichern mit Soldaten den Frieden in Bosnien und Kosovo. Die Zukunft der Region liege in der EU, tönt es gebetsmühlenartig aus Brüssel. Doch diese Zukunft erfüllt sich bislang nicht. Auf dem Balkan wartet bereits eine ganze Generation, ohne viel Hoffnung und mit abnehmendem Eifer, auf diese europäische Zukunft.

1

Das Pulverfass

In der britischen Satirezeitschrift Punch tauchte um 1900 der Balkan immer wieder in Karikaturen auf. Mal als Kessel, der überzukochen droht und auf dem die fünf Großmächte hocken. Mal als Schlange, über der die Großmächte als Adler kreisen, oder als Pulverfass, das im nächsten Moment explodieren könnte. Immer als Bedrohung für Russland, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Österreich-Ungarn, die damals Europa und die Welt unter sich aufteilten. Die Ermordung Erzherzog Ferdinands durch Gavrilo Princip, Mitglied der serbischen nationalistischen revolutionären Vereinigung Mlada Bosna, am 28. Juni 1914 schien diesen Darstellungen recht zu geben: Die Lunte wurde in Sarajevo gezündet und führte zum Weltkrieg. Bis heute ist das Motiv des für Europa bedrohlichen Balkans lebendig.

Als in den neunziger Jahren der Krieg in Jugoslawien ausbrach, wurde das Buch »Die Geister des Balkans« des amerikanischen Journalisten Robert Kaplan zum Besteller und zur Pflichtlektüre für Diplomaten, Militärs und Politiker, die sich mit dem Balkan beschäftigten. In seinem Buch, mehr Reisebericht als politische Analyse, reist der Autor durch eine dunkle, unheilvolle Region. Aus seiner Sicht kam alles Übel des 20. Jahrhunderts irgendwie vom Balkan.2 Die Bedrohung war fassbar, und so wurde der Balkan zum verhängnisvollen und ewigen Treffpunkt verschiedener Religionen und Reiche, Spannungen waren vorprogrammiert. Seine Thesen hatten Konsequenzen in der Öffentlichkeit: Der Konflikt auf dem Balkan müsse eingegrenzt werden, er dürfe nicht Europa zerstören. Zugleich seien Hass und Gewalt dort etwas Natürliches. Diese Sicht passte europäischen und amerikanischen Politikern gut ins Konzept. Britische Vermittler wie Lord Peter Carrington, die sich mit einer gewissen postimperialen Arroganz den Völkern auf dem Balkan widmeten, oder eigentlich desinteressierte amerikanische Politiker wie Präsident Bill Clinton machten sich Kaplans Thesen zu eigen.

Doch was ist dran am »Pulverfass Balkan«? Als scheinbar prophetische Antwort muss oft das vermeintliche Zitat des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck herhalten: »Sollte es noch einmal zu einem Krieg in Europa kommen, wird er durch irgendeinen Unsinn auf dem Balkan ausgelöst werden.« Nachweisen lässt sich diese Aussage Bismarcks nicht. Doch dass der Balkan ihm keinen Krieg wert war, brachte er in einer Rede vor dem Deutschen Reichstag 1888 in Hinblick auf Bulgarien zum Ausdruck: »Das Ländchen zwischen Donau und Balkan ist überhaupt kein Objekt von hinreichender Größe […], um seinetwillen Europa von Moskau bis an die Pyrenäen und von der Nordsee bis Palermo hin in einen Krieg zu stürzen, dessen Ausgang kein Mensch voraussehen kann, man würde am Ende nach dem Kriege kaum mehr wissen, warum man sich geschlagen hat.«3

Der Balkan als Kriegsproduzent ist derselbe Balkan, der den Europäern Dracula einbrachte, kurz: eine Projektionsfläche für die wilde, unbekannte und unberechenbare Seite Europas. Die bulgarische Historikerin Maria Todorova beschrieb diesen Balkanismus als Vorurteil, bei dem der Balkan zu einem wilden und halb barbarischen Raum zwischen Europa und dem Orient erklärt wird.4 Der Begriff »Balkanisierung« verbreitete sich auch allgemein als Inbegriff für den Zerfall einer Einheit und ist eindeutig negativ besetzt. Bis heute: So appellierte der französische Präsident Emmanuel Macron bei einem Besuch in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, im März 2023, dass es im Land keine »Plünderung, keine Balkanisierung und keinen Krieg« geben dürfe.5

Auch auf dem Balkan ist dieses Zerrbild der eigenen Identität längst auf unterschiedliche Weise verinnerlicht worden. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek machte sich bereits in den neunziger Jahren darüber lustig, indem er in einem Video, aufgenommen auf einer Brücke in der Innenstadt von Ljubljana, erklärt, dass auf der einen Flussseite der Balkan beginne und deshalb orientalischer Despotismus drohe, während die andere Stadthälfte in Europa und damit in der Zivilisation liege.6 Manchmal balkanisiert man sich auch selbst. Niemand hat das effektiver gemacht als der bosnische Regisseur Emir Kusturica, der nicht nur eine erstaunliche Karriere als Filmschaffender in Europa vorzuweisen hat, sondern auch ein profilierter Unterstützer nationalistischer serbischer Narrative und Projekte ist. In seinem Erfolgsfilm »Underground«, der seine Premiere während des Bosnienkrieges 1995 hatte, feiert er den Balkan als eine Region, in der Menschen viel trinken, wild umherschießen und fast andauernd im Kriegszustand sind. Er bot Westeuropäern eine exotische und zugleich beruhigende Erklärung für die Kriege: Das ist der Naturzustand der Region.

Der wilde Balkan wurde und wird immer wieder als Zwischenregion beschrieben: zwischen Ost und West, zwischen großen Mächten und verschiedenen Religionen. Der geografische Balkan umfasst dabei ein Gebiet, das von Slowenien bis in die Türkei reicht. Auch wenn in Wissenschaft und Politik oft gestritten wurde, wer dazu gehört und wer nicht, ist offenkundig, dass die nördliche Grenze eine Grauzone ist und man als Region oder Land natürlich zusätzlich Bezug zu Mitteleuropa, Osteuropa oder dem Mittelmeerraum haben kann. Somit ist das Label »Balkan« keine exklusive Zuordnung, sondern bringt Regionen zusammen, die bestimmte historische Erfahrungen teilen. Heute ist zudem oft die Rede von einem westlichen Balkan oder dem Westbalkan. Obgleich der britische Major und Historiker Harold Temperley bereits bei den Versailler Friedensverhandlungen von »Western Balkans« sprach,7 blieb der Begriff bis in die jüngste Gegenwart unüblich. Er ist ein etwas künstliches Konstrukt der Europäischen Union, um jene Länder zu beschreiben, die 2004 und 2007 nicht der EU beitraten. Zunächst umfasste er Albanien und die Länder des ehemaligen Jugoslawiens außer Slowenien. Mit dem EU‑Beitritt Kroatiens 2013 gehört dieses nun auch nicht länger dazu. Vom östlichen Balkan (Rumänien und Bulgarien) oder dem südlichen Balkan (Griechenland und Türkei) redet heute übrigens niemand.

Auch dieses Buch beschäftigt sich mit dem westlichen Balkan, weil die Position dieser Länder außerhalb der EU und die Kriegserfahrung8 der neunziger Jahre die Grundlagen dafür geschaffen haben, dass einige externe Akteure und Politiker vor Ort immer wieder neue Krisen hervorrufen können. Wenn also hier vom Balkan die Rede ist, bezieht es sich, auch wenn die historische Dimension weiter gefasst ist, hauptsächlich auf die heutigen Staaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien.

Tatsächlich hat die Region mehr sprachliche und religiöse Vielfalt auf engem Raum vorzuweisen als die meisten anderen in Europa. Es gibt kaum eine europäische Sprachgruppe, die nicht in der Region zu finden ist: die eng miteinander verwandten slawischen Sprachen Serbisch, Kroatisch, Montenegrinisch, Bosnisch sowie Mazedonisch und Bulgarisch; romanische Sprachen mit Rumänisch, Aromunisch und Ladino; Deutsch als germanische Sprache, Griechisch, Albanisch sowie Ungarisch.9 Neben der religiösen Vielfalt – vier große Religionen sind auf dem Balkan vertreten: Islam, Katholizismus, Orthodoxie und Judentum – sticht auch die nationale Vielfalt hervor. Diese hat zahlreiche Gründe, ganz wesentlich wurde sie durch die osmanische Herrschaft geprägt, die über ein halbes Jahrtausend vom 14. bis zum 20. Jahrhundert andauerte. Nicht nur nahm das Osmanische Reich die Juden Spaniens und Portugals nach ihrer Vertreibung auf, es brachte auch den Islam nach Südosteuropa und hatte zugleich keine Bedenken, Christen verschiedenster Ausprägung zu akzeptieren. Während im Rest Europas Inquisition und Religionskriege die Staaten religiös homogenisieren sollten, konnte die Vielfalt auf dem Balkan bestehen bleiben.

Niedergang des Osmanischen Reichs und Neuaufteilung des Balkans durch die Großmächte

Die europäischen Nationalbewegungen ab dem frühen 19. Jahrhundert waren von der Französischen Revolution geprägt. Auf dem Balkan nahmen Geheimbünde, wie der griechische Filiki Eteria (Deutsch etwa: Freundesgesellschaft), und Intellektuelle an den europäischen Debatten teil, die die Revolution und später die Napoleonischen Kriege auslösten. Die revolutionären Gruppen auf dem Balkan, die mehr Autonomie oder sogar Unabhängigkeit wollten, waren ebenfalls von der Französischen Revolution und auch von deutschen Universitäten beeinflusst. Zudem brachten rege Handelsbeziehungen mit griechischen, jüdischen und armenischen Händlern in Venedig, Wien und Odessa die neuen, freiheitlichen Ideen in die Region. Die Anführer der Aufständischen suchten in Wien, Paris, Berlin oder St. Petersburg nach Unterstützung. Sie hofften, gegen die osmanische Herrschaft die europäischen Mächte auf ihre Seite zu bringen und neue Nationalstaaten begründen zu können. Ohne Unterstützung wäre das Unterfangen gegen das übermächtige Osmanische Reich nicht sehr aussichtsreich gewesen.

Für die europäischen Großmächte sind die Osmanen nie ebenbürtige Partner gewesen. Zuerst waren sie zu mächtig und zu bedrohlich, dann waren sie zu schwach und zu orientalisch. Das Osmanische Reich war zwar in Europa präsent, wurde aber von den anderen Mächten nicht als europäisch angesehen. Sie hatten bereits seit der Frühen Neuzeit versucht, mit den Osmanen über Sonderrechte für sich zu verhandeln. Je schwächer das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert wurde, umso mehr drängten die anderen Mächte darauf, die christliche Bevölkerung unter ihren Schutz zu stellen. Der Grund, weshalb der Balkan im 19. Jahrhundert schließlich zum Tummelplatz europäischer Großmächte wurde, hat mit dem politischen Vakuum zu tun, das die Osmanen zuließen. Das schwächelnde Osmanische Reich war noch stark genug, um nicht zusammenzubrechen, aber schon zu schwach, um seine Territorien zu kontrollieren.

1878 trafen sich die europäischen Großmächte in Berlin, um die Landkarte des Balkans neu zu zeichnen. Letztlich waren sie es, die die neuen Staaten anerkannten und Grenzen teilweise sogar mit dem Lineal zogen, wie es bei der Aufteilung Afrikas ebenfalls geschah, wo während der Kongokonferenz Einflusssphären abgesteckt wurden, um einen europäischen Konflikt zu vermeiden. 1884 wurden die europäischen Kolonialgrenzen in Afrika gezogen, 1878 waren es die Grenzen auf dem Balkan.

Der deutsche Reichskanzler Bismarck hatte den sogenannten Berliner Kongress einberufen, da sich ein Konflikt zwischen Russland und Großbritannien anbahnte. Großbritannien wollte seinen Einfluss entlang der Route nach Indien absichern, während Russland nach Süden drängte. Beide gerieten immer wieder in der Zone vom östlichen Mittelmeer bis nach Zentralasien aneinander. Russland strebte insbesondere einen direkten Zugang zum Mittelmeer an. Die einzige Passage aus dem Schwarzen Meer heraus führt durch Istanbul, sodass die Kontrolle über die Stadt auch jene über die Schifffahrt bedeutet. Zudem besaß Istanbul als das zweite Rom und Zentrum der Orthodoxie große symbolische Bedeutung für Russland. Großbritannien sah sich hierdurch in seiner Dominanz im Mittelmeer bedroht. Bismarck präsentierte sich in diesem Konflikt als »ehrlicher Makler«. Sein Bankier Gerson von Bleichröder soll daraufhin gemeint haben: »Einen ehrlichen Makler, das gibt es nicht.« In erster Linie ging es dem Deutschen Reich darum, die eigene Stellung unter den europäischen Großmächten auszubauen. So schrieb Bismarcks Sohn und Privatsekretär Herbert von Bismarck im Vorfeld des Kongresses: »Wir müßten zwischen den […] anderen Kaisern vermitteln, was sich in Freundschaft vermitteln läßt, und der bedrohlichen Parteinahme aber enthalten.«10 Die Vermittlerrolle sollte nicht nur das Mächtegleichgewicht erhalten, das durch unterschiedliche Ansprüche auf dem Balkan aus den Fugen zu geraten drohte. Sie sollte auch Deutschland unter den Mächten aufwerten. Letztlich war das Deutsche Reich zu jenem Zeitpunkt erst sieben Jahre alt.

Der Kongress folgte Jahren der Aufstände und Kriege. Drei Jahre zuvor (1875) rebellierten Christen in der Herzegowina, jener kargen Region im Hinterland der dalmatischen Adriaküste, gegen die osmanische Herrschaft. Die Rebellen erhielten Unterstützung aus Montenegro und Serbien. Beide waren formal noch unter osmanischer Oberherrschaft, de facto aber schon längst unabhängig. Auch die Kroaten und Serben in der Habsburger Monarchie sympathisierten mit den Aufständischen. Die Rebellion ermutigte Menschen in Bulgarien (1876) zum Widerstand, nun sehr viel näher am Zentrum der osmanischen Macht. Die osmanische Armee und Freiwillige unterdrückten den Aufstand brutal. Das Massaker von Batak, bei dem Tausende Bulgaren ermordet wurden, brachte die europäische Öffentlichkeit auf. So verurteilen Oscar Wilde, Victor Hugo und Giuseppe Garibaldi das Massaker.

Die Politik der Großmächte war jedoch komplexer. In Großbritannien beispielsweise unterstützte Premierminister Benjamin Disraeli das Osmanische Reich weiterhin, letztlich war es ihm wichtig, den Einfluss Russlands zurückzudrängen. Sein Rivale William Gladstone, damals in der Opposition, kritisierte jedoch die osmanischen Verbrechen. Die folgende Kriegserklärung Serbiens und Montenegros gegen das Osmanische Reich schufen auch keine Klarheit. Der erste europäische Versuch eines Friedensschlusses scheitere 1876. Man hatte die Osmanen nicht als gleichberechtigte Teilnehmer eingeladen, obwohl die Verhandlungen in Istanbul stattfanden. Die Reformen für Bosnien und Herzegowina und Bulgarien, die man dem Osmanischen Reich auferlegen wollte, lehnte dieses ab.

Der russisch-osmanische Krieg (1877–1878), der nun folgte, war letztlich eine Revanche für den Krimkrieg 1856. Dieses Mal konnte Russland einen ersten Frieden diktieren, und zwar in San Stefano, oder Yeşilköy auf Türkisch, einem Vorort Istanbuls, in dem später der alte Atatürk-Flughafen errichtet wurde. Neben der Anerkennung der Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros und Rumäniens entstand durch den Vertrag auch ein großes bulgarisches Fürstentum, das Zugang zum Schwarzen Meer und der Ägäis erhielt. Dieses Fürstentum, unter russischem Einfluss, ging den anderen europäischen Großmächten jedoch zu weit, sodass es zum Kongress in Berlin kam. Das Ergebnis der Neuverhandlungen war ein viel kleineres Bulgarien, formal zudem unter osmanischer Oberherrschaft. Ein autonomes Ostrumelien, die südöstlich Region des heutigen Bulgariens entlang der Grenze zu Griechenland und der Türkei, und große Teile des Balkans verblieben, bis zu den Balkankriegen über drei Jahrzehnte später, beim Osmanischen Reich. Bosnien und Herzegowina sowie der Sandžak von Novi Pazar, die Region zwischen Bosnien, Serbien und Montenegro, fielen unter österreichisch-ungarische Verwaltung.

Die Intervention der Großmächte ging über den Friedensvertrag weit hinaus. Der Generalgouverneur von Ostrumelien musste nicht nur ein Christ sein, die Großmächte mussten seiner Nominierung auch zustimmen. Auch den neuen Nationalstaaten wurden Regeln auferlegt. Von Montenegro, Serbien und Rumänien wurde verlangt, dass sie die religiösen Minderheiten schützen müssen. Diese Minderheitenrechte betrafen in Serbien und Montenegro insbesondere Muslime, die nicht mit dem Rückzug der osmanischen Armee geflohen waren. In Rumänien waren es überwiegend Juden, die in dem neuen Staat als Minderheit lebten. Der Schutz von religiösen Minderheiten nahm bereits seinen Anfang, als die europäischen Mächte 1830 die Unabhängigkeit Griechenlands anerkannten. Die neuen Nationalstaaten waren über diese Einschränkung ihrer Souveränität wenig erfreut und versuchten, ihrer Verpflichtung zu entgehen.

Neben den rechtlichen Einschränkungen gab es bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg so etwas wie internationale Friedensmissionen. Nach dem Ilinden-Aufstand in Mazedonien gegen die osmanische Herrschaft im Sommer 1903 vereinbarten Kaiser Franz-Joseph I. und Zar Nikolaus II. im kaiserlichen Jagdschloss in Mürzsteg, eine Gendarmeriemission der Großmächte einzurichten, um die osmanische Polizei zu reformieren. Die Mission blieb jedoch überschaubar und recht erfolglos. Etwas dauerhafter war das internationale Protektorat Kretas für ein Jahrzehnt, von 1898 bis 1908. Nachdem lokale kretische Aufstände von der osmanischen Armee niedergeschlagen worden waren, intervenierten die Großmächte, jedoch ohne Deutschland und Österreich-Ungarn, und richteten eine eigene Verwaltung ein, die militärisch unter ihrem Schutz, formal unter osmanischer Vorherrschaft stand. De facto entwickelte sich Kreta als griechische Insel und schloss sich 1908 Griechenland an.

Nationalstaaten nach europäischem Vorbild

Ein weiterer Aspekt europäischer Großmachtpolitik auf dem Balkan war es, den neuen Staaten deutsche Prinzen aufzuerlegen. Aufgrund der langen osmanischen Herrschaft gab es keinen Adel auf dem Balkan. Man konnte weder auf die Tradition mittelalterlicher Königreiche zurückgreifen noch auf die der osmanischen Herrschaft. So kam es, dass in Rumänien Karl von Hohenzollern-Sigmaringen 1866 zu Fürst Carol I. und wenige Jahre später zum König von Rumänien wurde. Er folgte dem Vorbild Otto von Wittelsbachs, der von 1832 bis 1862 König Othon I. von Griechenland war. Seine absolutistische Herrschaft wurde ironisch »Bavarokratie« genannt. Er wurde schließlich aus Griechenland vertrieben und verstarb 1867 im Exil in Bamberg. Der erste deutsche Prinz auf dem bulgarischen Thron wurde 1879 Alexander von Battenberg. Dieser wurde jedoch bereits 1886 weggeputscht und floh nach Österreich-Ungarn, wo er 1893 in Graz starb. Die anderen deutschen Balkanprinzen hielten sich länger. Von Battenbergs Nachfolger Ferdinand von Sachsen-Coburg und Gotha wurde zu Ferdinand I., zuerst Fürst, später sogar Zar, und herrschte bis 1918. Sein Enkel schaffte es, als Minderjähriger von 1943 bis 1946 der letzte bulgarische Zar und zwischen 2001 und 2005 Ministerpräsident Bulgariens unter dem bürgerlichen Namen Simeon Sakskoburggotski zu sein.

Als letzter deutscher Prinz wurde Wilhelm Prinz zu Wied, ganze 180 Tage in Amt und Würden, als Wilhelm I. von Albanien 1914 auf den Balkan exportiert. Die Albaner waren lange dem osmanischen Reich loyal geblieben, obgleich die erste Nationalbewegung bereits 1878 im namensgebenden Prizren gegründet wurde: Liga von Prizren. Albanien wurde als letzter Staat 1913 auf der Londoner Botschafterkonferenz geschaffen. Die Konferenz wurde nötig, als die Regionen mit einer albanischen Bevölkerung unter den siegreichen Mächten der Balkankriege 1912/13 – Montenegro, Serbien und Griechenland – aufgeteilt werden sollten. Prinz Wied kam als Vertreter einer europäischen Mission, um aus Albanien einen Staat zu machen. Sehr viel weiter als über den Küstenort Durrës hinaus kam der Fürstenhof von Wied nicht. Die Kombination von albanischem Widerstand und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, mit dem auch die Zusammenarbeit der europäischen Großmächte endgültig zusammenbrach, zwangen Wied, das Land zu verlassen. Einerseits erschienen die deutschen Prinzen auf dem Balkan etwas operettenhaft, andererseits waren sie Teil europäischer Großmachtpolitik. Aus den Balkanstaaten sollten sie »richtige europäische« Staaten machen und sie in das enge Geflecht des europäischen Adels einbetten.

Lediglich in Serbien und Montenegro gab es keine deutschen Prinzen. Die serbischen Herrscherdynastien Obrenović und Karadjordjević wurden von Anführern der ersten Aufstände gegen die Osmanen etabliert und hatten sich bis zur Unabhängigkeit über ein halbes Jahrhundert bereits so gefestigt, dass ein Prinzenimport nicht vorstellbar war. Noch weniger in Montenegro, wo Nikola I. Petrović Njegoš selbst nicht nur über ein halbes Jahrhundert herrschte, sondern seine Vorfahren bereits seit Ende des 17. Jahrhunderts den autonomen Bergstaat als Bischöfe und Prinzen regiert hatten.

Das Modell der konstitutionellen Monarchie war die europäische Herrschaftsform schlechthin. Viele der neuen Herrscher waren nicht unbedingt bereit, sich in die Zwangsjacke einer Verfassung zu begeben. Der Wettkampf zwischen absoluter Macht und einer Einschränkung durch meist importierte Verfassungen dauerte bis in die Zwischenkriegsjahre fort. Die Könige und Prinzen der neuen Nationalstaaten wussten zudem, dass ihre Staatsgebilde klein und schwach waren, gerade in einem Zeitalter, in dem die Kleinstaaterei als ein Relikt der Vergangenheit galt. Die Zukunft, so glaubten es Liberale, Nationalisten und Imperialisten, würde Großreichen gehören. Um überleben zu können, müssten die Staaten expandieren. Nicht nur, um alle Angehörigen der Nation in sich zu vereinen, sondern auch, um im zwischenstaatlichen Wettbewerb zu überleben. Darwinismus der internationalen Beziehungen in einer Zeit, als Darwins Theorie der natürlichen Auslese sowohl auf die Natur als auch auf die soziale Welt angewandt wurde. Expansion war für die neuen Balkanstaaten jedoch ohne externe Hilfe undenkbar: Sie benötigten Geld, um einen Staat und eine Armee aufzubauen, und es brauchte Verbündete, und zwar unter den Großmächten.11 Diese griffen in der Folge in alle Aspekte von politischem und wirtschaftlichem Leben auf dem Balkan ein. Als die Grenzen während der Berliner Konferenz gezogen wurden, waren Vertreter der betreffenden Völker nicht dabei. Deutsche Prinzen und Minderheitenrechte wurden eingesetzt, damit die Staaten besser ins europäische System passten.

Diese Dynamik zeigt die Ungleichheit im europäischen Staatensystem, in dem die neuen Balkanstaaten sich nun Partner unter den Großmächten suchten. Allianzen folgten dabei nicht immer religiösen oder nationalen Linien. So lehnte sich Serbien unter der Obrenović-Dynastie eng an Österreich-Ungarn an, den wirtschaftlich wichtigsten Partner. Erst als der unbeliebte König Aleksandar Obrenović und seine Frau Draga Mašin 1903 von Offizieren ermordet und ihre Leichen aus dem Fenster des Königspalastes geworfen wurden, endete die enge Beziehung zwischen Serbien und Österreich-Ungarn. Die folgende, andere Königsdynastie, die Karadjordjevićs, suchte die Nähe des zaristischen Russlands.

Die Nationalstaaten auf dem Balkan nahmen sich auch die westeuropäischen Staaten als Vorbilder. Die Idee des Nationalstaats selbst gelangte durch den engen Kontakt mit deutschen und österreichischen Gelehrten und Universitäten, an denen die Intellektuellen des Balkans studierten, in die Region. So wie Johann Gottfried Herder und die Gebrüder Grimm »morlackische«, also serbische Volkslieder und Märchen niederschrieben, so ließ sich Vuk Karadžić, Philologe und einer der Erschaffer der serbischen Standardsprache, von ihnen inspirieren und korrespondierte mit ihnen und auch mit Johann Wolfgang Goethe. Lieder und Märchen gelangten so vom Balkan nach Westeuropa, während gleichzeitig Gesetze und Verfassungen aus Westeuropa auf den Balkan übertragen und als Vorlagen genutzt wurden. Die belgische Verfassung galt als besonders vorbildhaft. Damit war die Geschichte von Nationenbildung und Großmachtpolitik auf dem Balkan von Beginn an eng miteinander verflochten. Es wäre aber ein Missverständnis, die Bevölkerung und die Könige sowie die Ministerpräsidenten der Balkanstaaten nur als Schachfiguren europäischer Machtpolitik zu sehen. Serbien beispielsweise war nicht einfach nur der verlängerte Arm Russlands, Bulgarien nicht nur ein bedingungsloser Verbündeter der Mittelmächte.

Vielmehr waren die Nationalstaaten auf dem Balkan ständig im Wandel. Und ihr Territorium wuchs. So expandierte Serbien innerhalb eines Jahrhunderts von 1817 bis 1913 gleich dreimal. Die Städte wandelten sich unter der neuen Herrschaft weg von ihrer osmanischen Prägung, und auch die Bevölkerungsstruktur änderte sich. Die muslimischen Einwohner der neuen Staaten wurden entweder vertrieben oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die große Herausforderung war die Gleichzeitigkeit von Nations- und Staatsbildung. In West- und Mitteleuropa entwickelte sich beides meist nacheinander, wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge. In Frankreich, Spanien und England entstand ein moderner Staat lange vor der Nation. In Deutschland und Italien sowie unter den Nationalbewegungen in Österreich-Ungarn war es umgekehrt. Hier entstanden Staaten aus einer Nationalbewegung, sowohl in Hinsicht auf das Territorium als auch auf die Menschen, die sich als Angehörige einer dieser neuen Nationen sahen. Die doppelte Herausforderung, gekoppelt mit einer Gesellschaft ohne starkes Bürgertum, führte dazu, dass sich auf dem Balkan besonders starke Staatlichkeiten entwickelten.

Die Balkankriege 1912/13

Die Expansion der Staaten richtete sich zunächst gegen das Osmanische Reich. Doch zunehmend wurde deutlich, dass die verschiedenen Nationalismen teilweise dasselbe Territorium beanspruchten. Die amerikanische Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden dokumentierte die Balkankriege 1912/13 und publizierte eine Landkarte des Balkans, die die unterschiedlichen Maximalforderungen der Nationalismen auf dem Balkan darstellte. Griechische Nationalisten träumten von der »Megali Idea«, der großen Idee, dass auch Istanbul und weite Teile der anatolischen Küste zu Griechenland gehören sollten. Der bulgarische Nationalstaat hingegen sollte bis zur Ägäis reichen und bis an die albanische Grenze im Westen. In Serbien umfasste die Vision das mittelalterliche serbische Königreich unter Zar Dušan, das bis an die Ägäis reichte, und die Gebiete im Norden und Westen, unter Kontrolle der Habsburger, in dem Serben lebten. Diese Ideen von großen Nationalstaaten überlappten sich vor allem in einer Region: In Mazedonien trafen serbische, griechische und bulgarische Ansprüche aufeinander. So vertrieben die neuen christlich geprägten Nationalstaaten gemeinsam das Osmanische Reich im Ersten Balkankrieg, doch zerstritten sie sich bei der Aufteilung und kämpften um die Region im Zweiten Balkankrieg.

Diesen Krieg erlebte auch Leo Trotzki als Korrespondent der Zeitung Kievskaya Mysl (Kiewer Gedanke). Er war schockiert von der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, gerade gegen Albaner, und schrieb über den Mord an Männern, Frauen und Kindern: »Es ist etwas Alltägliches. Die Leute merken selbst nicht, was für eine riesige innere Veränderung die wenigen Kriegstage in ihnen hervorgerufen haben. Wie sehr doch der Mensch von den Umständen abhängt! In einer Atmosphäre organisierter Brutalität des Krieges werden die Menschen bald selbst brutal, ohne sich dessen bewusst zu sein.«12 Gewalt, Mord und Vertreibung im Namen einer Nation sollten später auch im Rest Europas sichtbar werden: in zwei Weltkriegen. Der Zweite Balkankrieg endete am 10. August 1913, etwas weniger als ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 war nicht die Lunte für den Kriegsausbruch. Die Entscheidungen der europäischen Großmächte in den Wochen nach dem Attentat hätten nicht unweigerlich zu einem Krieg führen müssen. Auch wäre ein Krieg leicht zu verhindern gewesen, wenn sich Österreich-Ungarn nicht auf unerfüllbare Forderungen gegen Serbien versteift und über einen Monat nach dem Attentat, als das Mitgefühl in Europa schon wieder nachgelassen hatte, ein Ultimatum gestellt hätte. Der Krieg war das Ergebnis einer schlafwandelnden Diplomatie, die auf eine Auseinandersetzung zusteuerte, ohne die Konsequenzen der eigenen Politik zu durchdenken. Als der Krieg dann begann, war es die Kombination aus Hochmut und dem leichtfertigen Glauben der europäischen Mächte, dem jeweiligen Gegner schnell den entscheidenden Schlag zufügen zu können. Herrscher und ihre Regierungen unterschätzten auch die Wirkung der Massen, sowohl auf den Krieg selbst als ersten europäischen Massenkrieg als auch auf dessen Ende, das vielerorts durch Revolutionen durchgesetzt wurde.

Der Erste Weltkrieg war kein Balkankrieg, der zum Weltkrieg wurde, sondern ein Krieg, der sich aus den Spannungen der europäischen Großmächte speiste. Der Balkan, wie Afrika oder China, wurde zur Projektionsfläche europäischer Machtfantasien. Der Krieg hätte auch über Marokko oder andere Brennpunkte ausbrechen können. Doch die ersten Schüsse fielen in Belgrad, als Kanonenboote Österreich-Ungarns die serbische Hauptstadt von der Donau aus beschossen. Der Kriegsverlauf auf dem Balkan führte in keinen Stellungskrieg wie andernorts, sondern zu Besatzung und großem Leid in der Zivilbevölkerung. Auch nach 1918 dauerte der Konflikt an. Er endete erst mit dem, was euphemistisch als Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei bezeichnet wird. 1923 mussten etwa zwei Millionen Menschen ihre Heimat verlassen, weil beide Regierungen vereinbart hatten, dass alle orthodoxen Christen der Türkei und alle Muslime Griechenlands, mit einigen Ausnahmen, in das jeweils andere Land umsiedeln mussten. Diese dramatische und gewaltsame Entflechtung der Vielfalt war das letzte Kapitel eines Jahrzehnts der Kriege auf dem Balkan, das für Millionen Tod und Vertreibung bedeutete und die Grenzen in der Region neu zog.

Das Osmanische Reich war Geschichte, und Mustafa Kemal Atatürk baute in Anatolien die neue Türkei auf, gegen die Besetzung durch die Alliierten und die griechische Invasion. Jugoslawien entstand nach dem Zerfall Österreich-Ungarns als zentralistisches Königreich unter serbischer Vorherrschaft. Die Pariser Friedensverträge schienen einen Schlussstrich unter die sich ständig verschiebenden Grenzen des Balkans zu ziehen. Nun gab es nur noch Nationalstaaten und keine multinationalen Reiche mehr, und auch die Zeit der Großmachtpolitik wurde durch den Völkerbund ersetzt.

Die neuen Nationalstaaten waren jedoch weitaus weniger homogen als sie qua Selbstdefinition vermitteln wollten. In Bulgarien lebte eine große türkische Minderheit, in Rumänien wohnten Ungarn, Deutsche und Juden. In Jugoslawien gab es neben den drei »Stämmen« der Slowenen, Kroaten und Serben, die gemeinsam zur Staatsnation erkoren wurden, noch Albaner, Ungarn, Deutsche, Juden und Muslime, die alle nicht wirklich dazugehörten. Nur Albanien, als relativ kleines Land, und Griechenland, durch Assimilierung und den Bevölkerungsaustausch, waren so etwas wie Nationalstaaten. Wirtschaftlich lag die gesamte Region an der europäischen Peripherie: Es gab kaum Industriezentren, die Städte waren im europäischen Vergleich klein. Die meisten Menschen lebten von einer ineffizienten Landwirtschaft. In Bulgarien und Jugoslawien war die Hälfte aller Menschen Analphabeten, im Süden Jugoslawiens sogar über 80 Prozent. Auf dem gesamten Balkan lag die Rate im Durchschnitt bei 60 Prozent.

Die Zwischenkriegszeit war von Revisionismus geprägt, der die Grenzen immer wieder infrage stellte: Ungarn, Bulgarien und Italien stellten Gebietsansprüche, und so schufen die Friedensverträge von Neuilly, Trianon und St. Germain kaum eine stabile Ordnung in der Region. Als Hüter der Nachkriegsordnung wurden zunächst Frankreich und Großbritannien zu den wichtigsten externen Mächten. Die USA hatten sich in den Isolationismus verabschiedet, die Sowjetunion wurde aus der europäischen Ordnung gedrängt, und Deutschland war als Kriegsverlierer zunächst unbedeutend. Erst unter nationalsozialistischer Herrschaft ersetzten Deutschland und in geringerem Maße Italien die beiden Westmächte zunächst auf wirtschaftlicher Ebene und dann auch in politischer Hinsicht.

Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg veränderte sich die Balkan-Region von Grund auf: territorial, politisch und gesellschaftlich. Als Mustafa Kemal 1881 in Thessaloniki geboren wurde, war diese eine osmanische Großstadt, wobei Juden fast die Hälfte der Bevölkerung stellten. Einer ihrer Spitzennamen war Evraioupolis, die Stadt der Juden. Neben Juden lebten in ihr auch Muslime, Griechen, Slawen und Roma. Im Wettbewerb der Nationalismen gewann Griechenland Thessaloniki, und so wurde aus einer Stadt, in der niemand in der Mehrheit war, eine griechische Stadt. Im Holocaust wurden fast alle dort lebenden Juden deportiert und ermordet. In der Geburtsstadt Atatürks war nach dem Zweiten Weltkrieg keine der vielen Sprachen, die sie einst geprägt hatten, mehr zu hören: weder Mazedonisch oder Bulgarisch noch Türkisch oder Ladino. Wenngleich der Wandel anderswo auf dem Balkan weniger dramatisch verlief, waren die etwa 100 Jahre bis 1945 ein Zeitalter der Entflechtung und Grenzziehung, in der aus multireligiösen Gesellschaften Nationalstaaten entstanden, die in der Vielfalt eine Bedrohung statt eine Chance sahen.

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Blockfrei und isoliert