Rabenbrüder - Ingrid Noll - E-Book

Rabenbrüder E-Book

Ingrid Noll

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Beschreibung

Der verträumte Paul und der jüngere, lebenslustige Achim sind Rabenbrüder, und auch in der Familie herrscht nicht ewiger Friede, als man sich zum Totenschmaus im Mainzer Elternhaus versammelt. Wie schon ein altes Sprichwort sagt: Wenn Gott mit dem Tod kommt, dann naht der Teufel mit den Erben!

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EPUB

Seitenzahl: 274

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Ingrid Noll

Rabenbrüder

Roman

Die Erstausgabe

erschien 2003 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Franz Pforr, ›Selbstbildnis‹, 1810/11 (Ausschnitt)

Foto: Copyright © Kurt Hase /Artothek

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23454 1 (8. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60036 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Inhalt

1 Wie eine trübe Wolke

2 Im Schuhladen

3 Die Post

4 Quark für die Welt

5 Lauer Wind

6 Ein helles, warmes Haus

7 Schwarzer Gründonnerstag

8 Der Ruinenmaler

9 Ohne Ruh’

10 Kein Sugardaddy

11 Die Frau in Weiß

12 Ein Adonis

13 Im Reich des Adlers

14 Trauersmoking

15 Das Murmellied

16 Monster

17 Hiob

18 Bruderherz

19 Dreimal Kräutertee

20 Taubenaugen

21 Tot ist tot

22 Löwenmäulchen

23 Vorbei in tiefer Nacht

24 Mit starren Fingern

[5] 1

Wie eine trübe Wolke

Pauls Eltern betrieben Ahnenforschung, allerdings beide auf grundverschiedene Art. Die eine wie die andere Sichtweise war ihrem Sohn unangenehm und fremd. Es hatte eigentlich nichts mit ihm zu tun, sagte er sich, wenn einer seiner Vorväter besonders reich, arm, krank, klug oder beschränkt gewesen war. Oder gar von arischer Abstammung, wie es in Zeiten der Volksverdummung als erstrebenswert galt. Im Gegensatz zu jenen fehlgeleiteten Rassisten wünschte sich Pauls Mutter bei ihren Altvordern einen Tropfen jüdisches Blut, suchte nach Geistesgrößen, Dichtern, Sängern, Widerstandskämpfern.

Bei Pauls Vater lag der Fall anders, war jedoch nicht weniger belastend für Paul und seinen jüngeren Bruder Achim. Schon lange interessierte sich ihr Erzeuger für die Todesursache aller Verwandten, um anhand ihrer Krankengeschichten die eigene Disposition für diese Leiden zu ermitteln. Auch das Risiko für seine Söhne, einst an Diabetes oder anderen Stoffwechselstörungen, Schizophrenie und bösartigen Tumoren zu erkranken, hatte er akribisch ausgerechnet. Fast war der Vater gekränkt, wenn eine Urgroßtante am Kindbettfieber oder ein Onkel im Krieg gestorben war, weil beide Todesarten nicht als Basis für seine persönlichen Prognosen herhalten konnten.

[6] Immerhin war der hypochondrische Vater bereits im Seniorenalter und spielte auf der emotionalen Ebene nur eine untergeordnete Rolle in der Familie. Die beiden Brüder hatten vielmehr von klein auf um die Gunst ihrer schönen jungen Mutter rivalisiert. Für Paul blieb der jüngere Bruder für alle Zeit Mamas Hätschelkind, während Achim behauptete, der Ältere sei Mutters Vertrauter und eigentlicher Chef des Hauses.

Die Schuld für den stetigen Verlust an Glanz und Farbe in seinem Gefühlsleben gab Paul den Eltern. Bereits mit dem Taufnamen Jean Paul hatten sie einen Anspruch erhoben, den er nicht erfüllen konnte. Die Mutter hatte sich ihren Sohn als Schriftsteller von internationalem Rang erträumt, der Vater setzte auf einen Physiker mit Nobelpreisanspruch. Seit einigen Jahren logen sie einander vor, daß Paul nun endlich als Anwalt die große Karriere machte. Seine Liebhabereien, wie zum Beispiel das Zeichnen von Ruinen oder sein Interesse für Erfindungen, waren von seinen Eltern nie ernst genommen worden.

Vielleicht lag es am Vorbild der sterilen elterlichen Partnerschaft, daß Pauls Ehe nicht glücklich war, und mit 39 Jahren war es für einen weiteren Anlauf nun fast zu spät. Als Student hatte er eine zehn Jahre ältere Nachbarin geliebt, die ihn an seine Mutter erinnerte, doch diese Beziehung war leider gescheitert.

Paul war etwa vierundzwanzig, als ihn eines Abends der vier Jahre jüngere Achim in seiner Studentenbude überfiel. [7] An jenem Abend betranken sie sich über das übliche Maß hinaus, bis sie schließlich allerhand kränkende Vorwürfe aus längst vergangenen Tagen gegeneinander erhoben. In gereizter Stimmung erzählte Achim, wie er nach bestandener Führerscheinprüfung eine Flasche Sekt geöffnet und gemeinsam mit der Mutter geleert habe. Danach sei sie mit ihrem seltsamen Mona-Lisa-Lächeln im Schlafzimmer verschwunden, wohin Achim ihr folgte. Sie hätten miteinander geschlafen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. Allerdings nur dieses eine Mal.

»Und Papa?« fragte Paul mit trockenem Mund. Der habe damals in der Klinik gelegen, weil er an chronischem Tinnitus und hohem Blutdruck litt.

Seit diesem Abend konnte Paul den Eltern nicht mehr in die Augen sehen und beschränkte seine Besuche auf ein Minimum, mit seinem Bruder brach er den Kontakt gänzlich ab. Jene Freundin, die er in aller Unschuld für ein verjüngtes Abbild seiner Mutter gehalten hatte, brüskierte er auf verletzende Art, so daß sie ihn verließ.

Erst Jahre später, als die Familie den siebzigsten Geburtstag des Vaters feierte, hatte Paul zaghaft versucht, den Bruder zur Rede zu stellen.

Achims Lachen klang eher gehässig als verlegen. Ob Paul den Unsinn tatsächlich geglaubt habe? »Mein Gott, ich war besoffen und habe dummes Zeug gelabert. Vielleicht wollte ich ja insgeheim als moderner Ödipus in die Weltgeschichte eingehen, aber du kennst doch unsere Mama: einfach unvorstellbar!«

[8] Paul konnte nie verzeihen, was Achim mit dieser Lüge angerichtet hatte, denn die skandalöse Behauptung hing wie eine trübe Wolke über ihm und ließ sich nicht restlos verdrängen. Einerseits schämte er sich, den betrunkenen Bruder auch nur eine Minute lang angehört zu haben. Andererseits verwirrte ihn die Vorstellung eines Inzests in der eigenen Familie so stark, daß er sich zuweilen einbildete, es sei doch ein Körnchen Wahrheit daran. Hinzu kamen seine juristischen Bedenken: Beischlaf zwischen leiblichen Verwandten wurde nach § 173 StGB mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren bestraft. Im nachhinein konnte Paul auch nicht mehr nachvollziehen, warum er seinem Bruder keine Ohrfeige reingesemmelt hatte, die noch Tage später gebrannt hätte. Statt dessen hatte er den Torkelnden wortlos aus dem Zimmer geschoben und die Tür hinter ihm geschlossen.

Selbst lange Zeit nach Achims Dementi konnte Paul nicht anders, als seinen Eltern mit Mißtrauen zu begegnen. Die Mutter mochte ihm zärtlich über die Wange streichen, der Vater wie gewohnt auf egozentrische Art über seine Krankheiten klagen – alles erhielt einen fatalen Anstrich. Wollte ihm die Mama auf gar nicht mütterliche Weise nahe kommen? Hatte der stets schlechtgelaunte Vater Gründe für seine Depressionen? Wie hatte es die Mutter an der Seite eines zwanzig Jahre älteren Hypochonders ausgehalten? Hatte sie Liebhaber gehabt? Sprach es nicht für ein latent schlechtes Gewissen, wenn sie den Papa unermüdlich umsorgte? Paul mußte sich eingestehen, daß er im Grunde seiner Seele den Vater zuweilen gehaßt hatte und [9] als kleiner Junge lustvoll zur Mutter ins Bett geschlüpft war. Über seine ambivalenten Gefühle konnte Paul allerdings mit niemandem sprechen, denn er wollte nichts weniger, als das eigene Nest durch Gerüchte beschmutzen.

Als er seine spätere Frau Annette kennenlernte, war er erleichtert, daß sie keine Ähnlichkeit mit seiner Mutter hatte.

Und heute, mit 39 Jahren, steckte er nun mitten in einer Ehe-, Finanz- und Midlifekrise. Paul befand sich gerade in seinem Arbeitszimmer, blätterte lustlos in einem Katalog und hing düsteren Gedanken nach. Als das Handy klingelte, meldete er sich mißmutig.

Es war seine Mutter. »Jean Paul, mein Großer, wie geht’s dir? Bist du im Moment allein?« fragte sie. »Annette braucht nicht unbedingt mitzuhören, es handelt sich um eine vertrauliche Familienangelegenheit.«

Paul wurde es mulmig. Am liebsten hätte er behauptet, seine Frau säße neben ihm.

Sein Bruder habe kürzlich mit einem Steuerberater gesprochen, sagte die Mutter. Für viele Eltern sei es ratsam, den Kindern eine gewisse Summe des späteren Erbes bereits bei Lebzeiten zu überlassen, da dieses Geld im Gegensatz zu einer Erbschaft steuerfrei bleibe. Es sei also klug, wenn sie sich schon früh vom Erlös ihres Dresdner Hauses trenne, denn nur wenn sie innerhalb der nächsten zehn Jahre sterben sollte, unterliege die Schenkung der Steuerpflicht.

»Verstehe«, sagte Paul, der über Erbrecht besser informiert war als sie. Endlich einmal eine erfreuliche [10] Nachricht, denn er konnte jeden Cent gebrauchen. »Das ist vernünftig. An wieviel dachtest du denn?« fragte er vorsichtig. Über das relativ neue Vermögen seiner Mutter war er nur vage informiert, und er wollte keinesfalls habgierig wirken.

Paul und Annette seien ja Gott sei Dank erfolgreiche Doppelverdiener, behauptete die Mutter, und bräuchten keine finanzielle Unterstützung. Aber Achim wolle eine Toyota-Filiale in Mainz übernehmen und benötige Kapital. Deswegen habe sie ihm seinen Anteil bereits überwiesen, Paul bekomme später selbstverständlich den gleichen Betrag. Sie könne nur momentan nichts mehr flüssig machen, sonst würde der Papa ungemütlich.

Wieviel sein Bruder erhalten habe, wollte Paul wissen und erfuhr, daß es um die steuerfreie Höchstsumme ging.

»Du bist so still, Jean Paul«, meinte die Mutter, »dabei weiß ich genau, daß du für deinen Bruder nur das Beste willst.«

Paul rief in den leeren Raum hinein: »Lieb von dir, Annette, aber ich möchte jetzt keinen Tee mehr.«

Seine Mutter begriff und sagte: »Grüß das Annettchen ganz lieb von mir, auch von Papa. Und ich melde mich bald wieder. Gute Nacht.«

Ein frommer Wunsch, denn Paul ging nicht ins Bett, sondern blieb ratlos in seinem Zimmer sitzen und dachte an den Bruder, den er als Kind überaus geliebt hatte.

Achim hatte das Studium der Betriebswirtschaft abgebrochen und war Autohändler geworden. Paul glaubte, daß letzten Endes seine Eltern für die Mißerfolge des Bruders verantwortlich waren. Sie hatten Achim alles erlaubt, [11] was Paul nie gestattet wurde, hatten seine Schulden bezahlt und sogar den Hausarzt genötigt, ihm bei geschwänzten Schulstunden und versäumten Examensterminen ein Attest auszustellen. Selbst die Natur hatte Achim bevorzugt und ihm volles Haar und einen hohen, schlanken Wuchs gegeben. Paul nahm die Brille ab, um sich die Augen zu trocknen. Manchmal hatte er das Gefühl, daß er ebensowenig mit dem Leben klarkam wie sein hübscher Bruder.

[12] 2

Im Schuhladen

Pauls Frau Annette war in einer glücklicheren Situation als er, obwohl sie ihre Eltern relativ früh verloren hatte. Sie hatte eine behütete Kindheit gehabt, in der es viele Freunde, aber keine konkurrierenden Geschwister gab. Als sie das Mannheimer Elternhaus sowie einige Aktien erbte, war sie Mitte Zwanzig. Die Schule und Ausbildung zur Auslandskorrespondentin nahm sie nicht allzu ernst, sondern entwickelte erst zu Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit Ehrgeiz, dann allerdings vehement. Inzwischen bedauerte sie es manchmal, nicht studiert zu haben. Wahrscheinlich waren ihre Bemühungen, mit ihrem Einkommen sowohl die ehemaligen Klassenkameraden als auch ihren Mann zu übertreffen, gerade deshalb sehr erfolgreich.

Dank ihrer zierlichen Figur und einem feinen Mäusegesicht hatte Annette als Mädchen sehr niedlich ausgesehen; nie war es ihr schwergefallen, die Beschützerinstinkte junger und alter Männer zu wecken. Inzwischen sah sie zwar aus wie eine tüchtige Karrierefrau, hatte aber immer noch die kindlich zarte Haut und das weiche Haar einer Zehnjährigen.

Aber innerlich mußte sie aus Stahl sein, wie Paul mit einem gewissen Neid annahm. In einem Punkt waren sie sich jedoch ähnlich: Annette fiel es ebenfalls schwer, über [13] Gefühle zu sprechen, und auch sie neigte dazu, Probleme im privaten Bereich unter den Teppich zu kehren.

Jahrelang waren Paul und Annette mit Olga und Markus Baumann befreundet gewesen. Doch seit deren Trennung vor ungefähr einem Jahr war der Kontakt eingeschlafen. Zufällig traf Annette ihre ehemalige Freundin in einem neu eröffneten italienischen Schuhgeschäft in einer Passage auf den Planken wieder. Die unerwartete Begegnung machte sie ein wenig verlegen, aber Olga schien völlig beschäftigt mit der Anprobe knallroter Lackschuhe und hob kaum den Blick, als Annette sich näherte.

Wie sich die Menschen doch veränderten, dachte Annette. In der Schulzeit latschte Olga in Birkenstock-Sandalen herum, hatte ein Kassengestell und war die Klassenbeste; als Studentin wechselte sie zu Riemchensandalen und Kontaktlinsen über. Und jetzt? Da kaufte sich diese etablierte Studienrätin doch glatt Flamenco-Schuhe, für die sie viel zu dicke Beine hatte, und trug gleichzeitig eine sündhaft teure Intellektuellenbrille aus grünem Schildpatt. Entweder ging sie zur Zeit auf Männerjagd, oder ein Opfer zappelte bereits im Netz.

Neugierig geworden pflanzte sich Annette direkt vor Olga auf. »Need you help?« fragte sie, um die Situation durch die Blödelsprache ihrer Schulzeit aufzulockern.

Olga blickte hoch und überspielte, ihrer Freundin hierin nicht unähnlich, die Überraschung und leichte Befangenheit durch muntere Begrüßung. »Nein so was, die Annette! Was meinst du, bin ich zu alt für Signalfarben?«

Mit Vierzig könne man tragen, was einem stehe, meinte [14] Annette, an Olgas Stelle würde sie die roten Schuhe gleich anbehalten. Mit diesen Worten nahm sie der Freundin einen Schuh aus der Hand, strich liebkosend über das glänzende Leder und bedauerte, daß sie selbst von Berufs wegen zwar teure, aber konservativ-korrekte Kleidung tragen müsse.

Ermutigt schritt Olga zur Tat, und nach erfolgtem Einkauf konnte Annette nicht umhin, die Freundin auf einen Drink einzuladen, denn es war nicht allzu weit bis zu ihrem Haus in Mannheim-Almenhof. Gern hätte sie gefragt, ob Olga inzwischen geschieden sei, traute sich aber nicht recht. Statt dessen sprachen sie auch zu Hause weiterhin über Schuhe: Wie angenehm es sei, diesen noblen Laden entdeckt zu haben, und daß es immer schwerer werde, gut sitzendes Schuhwerk zu finden.

»Es hat sicherlich damit zu tun, daß wir älter werden«, sagte Annette. »Früher paßte mir jeder Schuh, ich konnte kaufen, was mir gefiel. Heute muß ich auf manche Modelle verzichten. Dabei ist mein Gewicht noch das gleiche wie vor zwanzig Jahren.«

Im Gegensatz zu dir, fügte sie im stillen hinzu, wurde aber durch das Klingeln des Telefons unterbrochen und ging in ihr Arbeitszimmer im ersten Stock.

Annettes Mann war am Apparat. »Bevor du mir Bescheid gibst, daß es heute wieder spät wird«, sagte sie spöttisch, »kann ich dir gleich die erfreuliche Mitteilung machen, daß es mich diesmal überhaupt nicht stört. Ich habe Besuch…«

»Einen Liebhaber?« fragte Paul.

Annette grinste geschmeichelt, was ihr Mann allerdings [15] nicht sehen konnte. »Möglich wär’s«, meinte sie, »aber du hast noch mal Glück gehabt. Ich habe Olga getroffen und sie kurz entschlossen geschnappt. Wir haben uns lange nicht mehr ausgetauscht.«

Ihr Mann schwieg einige Sekunden, um dann zu erklären, daß er eigentlich gar keine Verspätung anmelden wollte. Er sei bereits auf dem Heimweg, sitze im Wagen und telefoniere im Moment vor der roten Ampel an der Speyererstraße. »Bis gleich«, sagte er und legte auf.

»Es war Paul«, sagte Annette, als sie wieder unten im Wohnzimmer ankam. »Seine schöne Mama hat ihn gut erzogen, und davon ist immerhin ein Restchen hängengeblieben. Ich muß ihm zwar ständig hinterherräumen, aber er ruft brav an, wenn er länger als üblich in der Kanzlei zu tun hat. Und heute hat er sogar großartig verkündet, daß er endlich mal pünktlich kommen wird.«

Man könnte sich ja für ein andermal verabreden, sagte Olga, sie müsse noch Aufsätze korrigieren. Beim Aufstehen warf sie einen prüfenden Blick auf den spanischen Titel eines Romans, an dem sich Annette auf langen Flugreisen die Zähne ausbiß.

In diesem Moment ging bereits die Tür auf, und Paul kam herein.

Um nicht unhöflich zu erscheinen, nötigte Annette die Freundin, mit ihnen den abendlichen Imbiß zu teilen – bloß eine Tasse Tee und ein Käsebrot –, schließlich habe man sich lange nicht gesehen. Olga blieb.

Als nach dem Abendessen, das am Couchtisch [16] eingenommen wurde, erneut das Telefon klingelte, verließ Annette mit einem Seufzer die Dreierrunde. Sie rechnete mit abermaligen Rückfragen wegen ihrer bevorstehenden Geschäftsreise nach Venezuela.

Wie stets meldete sie sich mit »Wilhelms«, wurde aber nicht, wie erwartet, vom Redefluß ihrer hektischen Sekretärin überfallen, sondern vernahm die vertraute Stimme ihres Mannes.

»Hallo Paul, was soll der Quatsch«, rief Annette.

Paul reagierte nicht oder schien sich spaßeshalber taub zu stellen.

Annette verstand diesen Anruf nicht und wollte leicht verwirrt wieder auflegen. Das Ganze war ein Mißverständnis, irgend jemand erlaubte sich einen Scherz mit ihr.

Aber dann hörte sie ihren Mann ziemlich deutlich sagen: »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, Olga, sie kann uns bestimmt nicht hören. Und wenn sie einmal am Apparat ist, dann dauert das Gequatsche mindestens fünf Minuten. Außerdem poltert sie genauso lautstark herunter, wie sie vorhin hinaufgestampft ist.«

Annette verharrte wie versteinert. Was sollte das? Meinte er ihre Clogs?

Doch nun redete Olga, zwar nicht ganz so deutlich wie Annettes Mann, aber dank ihrer Lehrerinnenstimme durchaus verständlich: »Wann fliegt sie denn nun endlich?«

»Am Gründonnerstag«, sagte Paul. »Du solltest schon mal den Reiseführer für uns wälzen. Stichwort: Granada!«

Annette rauschten die Ohren, und ihr wurde schwarz vor den Augen. Sie warf den Hörer hin und sank auf ihren Schreibtischstuhl. Als das Herzklopfen etwas nachließ, [17] wurde ihr klar, daß sich verschwommene Ahnungen plötzlich bewahrheiteten. Schon ein paarmal hatte sie den vagen Verdacht gehabt, daß Paul nicht bloß Mandantengespräche führte, wenn er eine Verspätung ankündigte. Erst vor kurzem hatte sie sich über den verstellten Beifahrersitz und über Katzenhaare auf seiner Hose gewundert. Dann über ein neues Rasierwasser. Manchmal kam er nach einem langen Bürotag auch nach Hause und roch wie frisch geduscht.

Aber wie um alles in der Welt hatte sie dieses Gespräch – das offenbar ein Stockwerk unter ihr stattfand – am Telefon mithören können? Was trieb man für ein Spiel mit ihr? Und wie sollte sie sich nun verhalten? Sich im Schlafzimmer verbarrikadieren, eine Szene machen, sowohl Olga als auch Paul aus dem Haus jagen?

Im Badezimmer ließ Annette kaltes Wasser über Gesicht und Unterarme laufen, schneuzte sich, bediente die Spülung und beschloß, sich vorerst nichts anmerken zu lassen. Schwerwiegende Entschlüsse, die womöglich nicht mehr rückgängig zu machen waren, sollte man nicht in der ersten großen Wut treffen. Also kam sie mit genau kalkuliertem Gepolter die Treppe hinunter.

Olga stand zum zweiten Mal auf. »Jetzt wird es aber höchste Zeit für mich«, sagte sie. »Ich habe bloß gewartet, um dir noch adieu zu sagen. Habt ihr einen Busfahrplan zur Hand? Mein Gott, hast du schlechte Nachrichten erhalten, du siehst ja völlig entnervt aus?«

Ihre Sekretärin belästige sie sogar abends mit Fragen, die gut bis übermorgen Zeit hätten, sagte Annette, ob sie [18] beispielsweise ein mobiles Flipchart mit auf die Reise nehmen werde! Aber das interessiere sicherlich keinen.

»Doch«, behauptete Paul, »alles, was dich belastet, geht mich schließlich auch etwas an. Selbstverständlich fahre ich Olga rasch heim, das wäre ja noch schöner…«

Doch Olga drückte energisch ihre Zigarette aus und sagte: »Nett von dir Paul, aber ich komme schon allein nach Hause.« Sie reichte beiden die Hand und verabschiedete sich.

Als Paul und Annette allein waren, sprachen sie zwar noch über ein paar belanglose Dinge wie den notwendigen Kauf einer neuen Waschmaschine und eine verspätet eingetroffene Postkarte aus Italien, aber kein Wort über Olgas Besuch. Dann wollte Paul einen Dokumentarfilm über Einhandsegler anschauen und verzog sich in sein Zimmer, wo ein zweiter Fernseher stand; Annette gab vor, noch ein wenig zu lesen.

Ob sie nicht ganz bei Trost war? Chronisch überarbeitet und durch die häufigen Reisen völlig mit den Nerven herunter? Hatte sie Halluzinationen? Ordnete sie wildfremde Stimmen ihrem Mann und ihrer früheren Freundin zu, weil sie in letzter Zeit immer wieder das Gefühl hatte, Paul würde sich ihr entziehen und könnte sich für ihr berufliches Engagement auf seine Weise rächen? Hatte sie sich zu wenig um ihn gekümmert, weil ihr die eigene Karriere wichtiger war? Immerhin kam sie, im Gegensatz zu ihm, meistens pünktlich nach Hause und sorgte gewissenhaft für Abendessen und Frühstück.

Routinemäßig leerte sie auch jetzt den Aschenbecher [19] aus, trug Pauls Sakko in die Garderobe und hängte ihn auf einen Bügel, stellte die silberne Zuckerdose wieder in den Wandschrank, strich die Tischdecke glatt. Am nächsten Morgen hätte sie erfahrungsgemäß wenig Zeit für derartige Ordnungsarbeiten, und die Haushaltshilfe kam erst in drei Tagen.

Als sie ein Kissen zurechtrückte, entdeckte sie das Handy ihres Mannes. Es mußte aus seiner Jackentasche herausgerutscht sein und fiel auf dem dunklen Sofa kaum auf. Da kam ihr ein Gedanke. Sie drückte auf die Wiederholungstaste des Handys und hörte logischerweise ihr eigenes Telefon läuten; schließlich hatte sich Paul ja kurz vor seinem Eintreffen bei ihr angemeldet. Schnell legte sie wieder auf, damit er nicht in der oberen Etage an ihren Apparat ging.

Ja, so mochte es gewesen sein: Ihr Mann hatte auf dem Heimweg wie üblich angerufen, um sowohl seine Verspätung anzusagen als auch Annettes Nachfrage in seiner Kanzlei zu verhindern. Als er hörte, daß seine Geliebte nicht zu Hause, sondern bei der eigenen Ehefrau zu Besuch war, mußte er blitzschnell umdisponieren, um einer allzu vertraulichen Unterhaltung zwischen ihnen zuvorzukommen. Den mobilen Apparat steckte er wie stets in die Jackentasche. Und wie immer zog er zu Hause den Sakko aus und warf ihn aufs Sofa, eine Unsitte, die Annette ihm nicht abgewöhnen konnte. Wie eine Abhörwanze hatte das kleine Gerät die Wohnzimmergeräusche aufgenommen und der arglosen Ehefrau direkt ins Ohr übertragen.

Um ganz sicherzugehen, beschloß sie, einen Test zu [20]

[21] 3

Die Post

In jener Nacht schlief Annette fast gar nicht; als sie gegen Morgen doch ein wenig einnickte, träumte sie von Olga, die in kirschroten Schuhen vor einer roten Ampel Flamenco tanzte und dabei auf provozierende Weise bei jedem anhaltenden Auto die Röcke hob.

Im Büro konnte sie sich auf nichts konzentrieren. Das Stichwort hieß Granada, hatte ihr Mann gesagt. Annette ahnte durchaus, was das zu bedeuten hatte. Vor zehn Jahren hatte sie ihren Paul ebendort kennen- und liebengelernt, in der Semana santa, der Karwoche, die jetzt wieder bevorstand. Damals hatte Annette einen Spanischkurs absolviert, Paul hatte Urlaub gemacht. Sie saßen abends an benachbarten Tischen und aßen Tapas, als eine Straßenkapelle mit den Proben für die Prozession begann. Annette und Paul begeisterten sich gleichermaßen für die laute, schräge, unvergleichliche Blechmusik und schon bald auch füreinander. Und nun wollte er diese Reise mit Olga wiederholen!

Früher als sonst verließ Annette das Büro und schützte eine beginnende Erkältung vor. Zu Hause begab sie sich zielstrebig in das Arbeitszimmer ihres Mannes und knöpfte [22] sich seine Schreibtischschubladen vor; als erstes wollte sie herauskriegen, wann die Affäre mit Olga begonnen hatte. Als sie keine verdächtigen Hinweise fand, durchsuchte sie den Kleiderschrank, drehte jede Tasche seiner Jacken und Mäntel um. Auch hier stieß sie bloß auf Münzen, zerknüllte Taschentücher, Benzinrechnungen, Feuerzeuge, Knöpfe. Als letztes blieb der Computer, der früher einmal Pauls Bruder gehört hatte. Als Achim sich vor drei Jahren einen Laptop anschaffte, hatte er Paul seinen veralteten PC für einen keineswegs brüderlichen Preis aufgeschwatzt.

Das Paßwort war Annette bekannt. Pauls Briefpartner schrieben ebenso langweilige wie kurze Mitteilungen. Unter den gespeicherten Adressen befand sich auch die von Olga. Annette hatte bisher nicht gewußt, daß Olga einen Internetanschluß hatte. Zermürbt von ihrer eigenen Wut, ging Annette früh zu Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Im Traum sorgte sie für den Tod ihrer Rivalin.

Eine Zeitlang hatten sich die Ehepaare Baumann und Wilhelms ausgezeichnet verstanden, fast jede Woche etwas miteinander unternommen und sich häufig gegenseitig besucht. Während alle ihre früheren Freunde mit der Aufzucht und den Problemen ihres Nachwuchses beschäftigt waren, blieben sie als einzige kinderlos.

Im Gegensatz zu Annette und Paul hatten sich Olga und Markus ein Kind gewünscht und sogar eine Adoption erwogen. Annette hatte ihnen dringend abgeraten, weil sie von einem Fall in ihrer Bekanntschaft wußte, der sehr unerfreulich verlaufen war. Aber zum Glück kreiste nicht [23] jedes ihrer Gespräche um dieses Thema; Annette und Olga interessierten sich für Literatur, Paul und Markus für Erfindungen, Entdeckungen und Expeditionen. Einmal verbrachten sie sogar zu viert einen gemeinsamen Urlaub in einem winzigen apulischen Ferienhaus. Als es kurz danach zwischen Markus und Olga zu kriseln begann, wurden sie nach mehreren peinlichen Szenen von den Wilhelms nicht mehr eingeladen. Sowohl Annette als auch Paul hatten keine Lust, bei einem Ehekrieg die Schlichter zu spielen oder gar für einen der beiden Freunde Partei ergreifen zu müssen. Wahrscheinlich berührten die aufgedeckten Probleme des anderen Paares auch bei Paul und Annette einen wunden Punkt.

Irgendwann mußte Paul erneut Kontakt zu Olga aufgenommen haben, ohne daß er Annette etwas davon verriet. Insofern war klar, daß er von Anfang an ein schlechtes Gewissen hatte, denn ein zufälliges oder harmloses Treffen hätte er ihr sicherlich nicht verschwiegen. Umgekehrt war es wiederum möglich, daß die Initiative nicht von Paul, sondern von Olga ausgegangen war, weil sie sich einsam fühlte; bereits vor Jahren hatte sie von einer verkehrsberuhigten Ehe gesprochen.

Am nächsten Morgen erklärte Annette, sie habe die Grippe. Doch sobald sie allein war, zog sie sich den Bademantel übers Nachthemd und wurde aktiv. Genüßlich hängte sie ihren schwarzen Rock und das kamelfarbene Jackett mit dem abknöpfbaren Pelzkrägelchen zurück in den Schrank. Das alles war heute nicht nötig. Sie rief ihre [24] eigene Sekretärin sowie die ihres Chefs an, um sich krank zu melden. Dann setzte sie sich Kaffeewasser auf und schob zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster. Seit langem hatte sie nicht krankgefeiert, nun wollte sie es auskosten. Mit einem Frühstückstablett auf dem Nachttisch und der Zeitung auf den Knien würde eine kleine Zwangspause ihr vielleicht helfen, sich wieder zu fangen. Es war zwar nicht ungemütlich, dieses einsame Frühstück, aber es wollte ihr trotzdem nicht recht schmecken.

Ohne mehr als die Überschriften zu überfliegen, blätterte sie im Lokalteil des Morgenblatts, wo sie ein Foto von Olgas Exmann Markus entdeckte. Sie wußte immer noch nicht genau, ob die beiden inzwischen geschieden waren.

»Dr. M. Baumann wird neuer Chefarzt im Marienkrankenhaus« lautete die Überschrift. In einer gesonderten Rubrik war der Werdegang des bisherigen Oberarztes Baumann stichwortartig nachzulesen, ein Interview folgte. Im Grunde erfuhr Annette nichts Neues, denn sie wußte, daß Markus seit Jahren auf diesen Posten spekuliert hatte. Ob er mittlerweile eine eigene Adresse hatte? Sie holte sich das dicke Telefonbuch ans Bett. Unter den aufgelisteten Baumanns war ihre Freundin die einzige Olga; Markus war zum Glück zwischen seinen vier Namensvettern am Doktortitel zu erkennen. Offensichtlich war er in den Mannheimer Stadtteil Vogelstang umgezogen.

Annette trank ihren Kaffee aus und bestrich den zweiten Toast mit Butter, die auf den lavendelblauen Bettbezug [25] tropfte. Abgesehen von dieser Panne ließ sich von ihrer Schlafzimmerzentrale aus ganz gut regieren, vor allem konnte man in entspannter Haltung nachdenken. Das schnurlose Telefon lag griffbereit auf dem Nachttisch. Gedankenverloren klaubte sie Brotkrümel von der Bettdecke. Sie könnte Paul gegenüber ja vorgeben, wie geplant am Gründonnerstag auf Geschäftsreise nach Venezuela zu fliegen, in Wirklichkeit aber in Granada landen. Dort würde sie Paul und Olga in flagranti erwischen und zur Rede stellen.

Ob man für die Karwoche noch einen Flug nach Andalusien buchen konnte?

Annette rief vorsichtshalber nicht das Reisebüro ihrer Firma an, sondern einen kleinen Laden in der Nähe.

»Es geht doch um Granada? Gut, daß Sie sich melden, Frau Wilhelms«, sagte eine Angestellte in erfreutem Ton, noch ehe Annette ihre Frage vorbringen konnte. »Sagen Sie Ihrem Mann bitte Bescheid, daß ich zwei Möglichkeiten durchgerechnet habe, einmal für das Alhambra Palace und alternativ für das Hyatt. Er müßte sich allerdings bald entscheiden.«

Annette holte tief Luft. »Wahrscheinlich haben Sie mir jetzt ein Geheimnis verraten«, sagte sie geistesgegenwärtig. »Ich nehme an, daß mich mein Mann mit dieser Reise überraschen wollte.«

Die Geschäftsfrau war außer sich, daß ihr ein solcher Fauxpas unterlaufen war, und bedauerte das Mißgeschick ausdrücklich.

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, sagte [26] Annette. »Wir tun einfach beide so, als ob dieses Gespräch nicht stattgefunden hätte. Eigentlich wollte ich meinen Mann ebenfalls mit einer Reise beglücken, aber das hat sich nun erübrigt.«

Annette erfuhr zu guter Letzt noch, daß er den exklusiven Parador direkt neben der Alhambra bevorzuge, sich aber noch nicht definitiv entschlossen habe.

Auf Pauls Konto war ja meistens nicht viel zu holen, dachte sie, vermutlich mußte Olga diese Reise bezahlen. Annette huschte in Pauls Arbeitszimmer, um seine elektronische Post erneut zu kontrollieren. Als sie die verschickten E-Mails durchging, wurde die Spur heiß. Ein kurzer Gruß von heute morgen lautete: Liebe Olga, ging ja noch mal gut… freu’ mich auf Granada! Much love, Dein Jean Paul.

Annette zuckte zusammen. Also hatte Olga bereits erreicht, daß Pauls Mutter nicht mehr die einzige war, die ihn mit seinem poetischen Namen ansprechen durfte.

Ihr habt die Rechnung ohne den Wirt gemacht, dachte sie in unbändigem Zorn. Und wenn sie eine Zeitbombe in Pauls ledernen Kulturbeutel schmuggelte? Stichwort Granada! Im Spanischen hieß Granada zwar Granatapfel, aber auch Granate.

Als sie wieder im Bett lag, mußte sie ständig an jene andalusische Osterprozession denken. Damals hatten sie sich unermüdlich an die Straße gestellt, um das traditionsreiche Schauspiel an allen Tagen der Karwoche zu verfolgen. Wie auf überdimensionalen Tabletts trugen starke Burschen nicht nur die geschnitzten Heiligen durch die Gassen, [27] sondern auch komplette Abendmahl- oder Kreuzigungsszenen, eine Pietà oder Madonna mit Kind, jedes einzelne Tableau mit Hunderten von Blumen geschmückt. Von den jugendlichen Trägern waren nur die frisch geweißten Turnschuhe zu sehen. Der Anblick erinnerte an einen Tausendfüßler. Nur in gelegentlichen Pausen schlüpften die Athleten kurz unter ihrer Last hervor, setzten die Bürde ab und wischten sich den Schweiß vom handtuchumwickelten Kopf, manche rauchten auch hastig eine Zigarette. Unter dem Beifall des Publikums wurde nach kurzer Rast wieder aufgebockt, und die Prozession schwankte weiter. Zum Gefolge gehörten in schwarze Spitze gekleidete Frauen und vermummte Gestalten im Büßergewand. Fast wie ein mittelalterlicher Pestumzug, hatte Paul gesagt, denn die reuigen Sünder hatten hohe Tüten mit zwei Gucklöchern über den Kopf gestülpt und glichen auf beklemmende Weise den Teilnehmern eines Femegerichts. Annette entdeckte, daß manche Büßer unter ihrem Zuckerhut eine Brille trugen, andere barfuß unterwegs waren, aber selbst Bekannte oder Verwandte konnten schwerlich erkennen, wer sich unter den Kutten verbarg.

[28] 4

Quark für die Welt

Annette schlief bis zum Mittag.

Zu ihrem Erstaunen rief Paul an und fragte, wie es ihr gehe.

»Miserabel«, sagte Annette.

Ob er etwas für sie tun könne?

»Nichts«, hauchte sie.

Im Badezimmerschränkchen sollte noch Aspirin sein, meinte er fast besorgt, ob er einen Arzt rufen müsse?

Er solle sie am besten ganz in Ruhe lassen, sagte Annette.

Ihr Mann schwieg, dann wünschte er: »Hoffentlich geht es dir bis Gründonnerstag wieder gut…«

Also daher weht der Wind, dachte Annette. Wenn ich ernsthaft krank würde, könnte er nicht in die Flitterwochen fahren. Daher behauptete sie mit matter Stimme, sie würde ihre Reise wahrscheinlich absagen müssen, und legte den Hörer auf. Mit Genugtuung stellte sie sich vor, wie sie alle seine Pläne durchkreuzte.

Als es an der Haustür klingelte, zog Annette den Bademantel über und öffnete.

Markus stand vor ihr. »Paul hat mich gebeten, mal nach dir zu schauen«, sagte er, fast ein wenig verlegen. »Er scheint sich Sorgen um dich zu machen…«

[29] »Hast du gerade Mittagspause?« fragte Annette verwundert. Markus im weißen Kittel kam ihr fremd vor, bei früheren Begegnungen hatte er meistens in Cordhosen und irischen Pullovern mit Zopfmuster gesteckt.

Genau deswegen habe er es eilig, meinte er und folgte ihr die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Was sie für Beschwerden habe? Routinemäßig öffnete er die Arzttasche und zog das Stethoskop heraus.

Annette zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich sei sie einfach nur erschöpft, sagte sie, es habe in letzter Zeit viel Stress im Büro gegeben. Aber es wäre nett, wenn er ihr die Arbeitsunfähigkeit bescheinigen könne. Irgendwie sei es schade, daß man sich gar nicht mehr sehe. »Seid ihr inzwischen geschieden?«

Der Arzt schüttelte den Kopf und schrieb ein kurzes Attest, wobei er Annettes Frühstückstablett als Unterlage benutzte. »Demnächst soll die Scheidung durchgeboxt werden. Vielleicht kann mir Paul dabei juristisch zur Seite stehen, Olga hat ziemlich überzogene Forderungen gestellt. – An deiner Stelle würde ich ein paar Tage faul zu Hause bleiben und ausschlafen! Du hast es anscheinend dringend nötig.«

Wann denn der Gerichtstermin sei? fragte Annette neugierig.

Markus antwortete: »Sobald wie möglich. Sicher hat es sich bereits herumgesprochen, daß ich nicht mehr allein lebe. Bist du eigentlich privat versichert?«

»Bin ich. Und wie geht’s Olga?« fragte Annette listig.

Offenkundig gar nicht so schlecht, meinte er. Und setzte in seiner bedächtigen Art hinzu: »Ich habe eigentlich keine [30] Gewissensbisse mehr, denn fast glaube ich, sie hat sich auch…«

Was habe Olga auch? fragte Annette.

Markus deutete vielsagend aufs eigene Herz, lachte und strich seiner Patientin freundschaftlich übers verwuschelte Haar.

Ob Annette immer noch bei Quark für die Welt arbeite, wollte er wissen und ordnete seine Formulare.

Ein wenig genervt korrigierte sie: »Bei der Badischen Quark und Joghurt GmbH auf der Friesenheimer Insel. Wir expandieren über Erwarten.«

Er wisse, wie es sei, wenn einem die Arbeit über den Kopf wachse, meinte er verständnisvoll und zog eine Pillenpackung aus der Tasche – im Notfall könne sie dieses Präparat einmal ausprobieren.

»Zum An- oder zum Abregen?« fragte Annette argwöhnisch.

Markus grinste, kramte weiter und förderte eine zweite, bereits angebrochene Lochpackung heraus. – Die kleinen weißen Tabletten würden bei Erschöpfung aktivieren, die blauen Dragees brächten den Hyperaktiven am Abend wieder zur Ruhe; beide seien völlig harmlos. Heutzutage könne die Pharmazie Tote wieder lebendig machen. Alles Gute, und sie solle sich melden, wenn sie Hilfe brauche.

Annette starrte an die Decke. Gelegentlich konnte Markus ein wenig bärbeißig sein, aber eigentlich fand sie ihn sympathisch und hatte ihn immer als verläßlichen Freund geschätzt. War er nicht in seiner knappen Mittagspause an ihr Krankenbett geeilt?

[31] Markus war neun Jahre älter als Olga. Er hatte alles im Leben so brav gemacht, wie man das vom Sohn eines Postdirektors erwartete. Einzig die anstehende Scheidung paßte nicht ganz in die Bilderbuchbiographie.

Nach eigenen Worten war Markus mit einer Neuen liiert, Olga lag mit ihrem Paul im Bett, nur sie selbst ging leer aus. Verpaßte Möglichkeiten, dachte Annette wehmütig. Da stand beziehungsweise lag sie nun mit leeren Händen und bitteren Gedanken.

Natürlich konnte es auch sein, daß Paul späte Rache übte, denn er war nur ihr zuliebe von Mainz weggezogen. Wer will schon nach Mannheim? zitierte er gern die FAZ. Annette mußte zwar zugeben, daß die Entwicklung ihrer Heimat nach dem Krieg ziemlich phantasielos erfolgt war und daß es dem Rhein-Neckar-Dreieck ein wenig an Flair fehlte. Andererseits war Mannheim eine überschaubare, liebenswerte und ehrliche Stadt, die durch Toleranz und Offenheit Punkte machte. Zwischen Wasserturm und Schloß, zwischen Pfälzer- und Odenwald ließ es sich gut leben.

Auch Olga war durch und durch Mannheimerin und kannte sogar Joy Fleming persönlich. Als Lehrerin sprach sie zwar ein betont gepflegtes Hochdeutsch, verfiel aber gelegentlich in die heimatliche Mundart. Als Paul nach seiner Heirat in die Metropole der Kurpfalz zog, hatte er anfangs das dominante mannemerische álla mit moslemischen Riten in Verbindung gebracht, bis ihn Annette über die unterschiedlichen Bedeutungen aufklärte. Nicht immer war Los! oder Auf geht’s! gemeint, sondern [32] gelegentlich auch Hab’ ich’s mir doch gleich gedacht! Und jetzt würde ihm Olga wohl verklickern, was eine Tranfunzel war – sicherlich am Beispiel ihres bedächtigen Exmannes.

[33] 5

Lauer Wind

Als Paul seine spätere Frau kennenlernte, absolvierte sie gerade einen Intensivkurs für Spanisch; kurz darauf begann sie einen Lehrgang für Führungskräfte. Das Motto klang harmlos: Wie löst man Konflikte im beruflichen Alltag? Damals hatte sich Paul noch für Annettes Job interessiert. Passive und unselbständige Mitarbeiter mußten motiviert werden, das war auch ihm klar. Im nachhinein hatte er lediglich behalten, daß ein Chef das Wörtchen müssen niemals in den Mund nehmen darf, wenn er seine Angestellten optimal manipulieren möchte.