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In „Rabenschwarze Beute“ ermitteln Irmi Mangold und Kathi Reindl im neunten Fall der erfolgreichen Alpenkrimi-Reihe (u. a. Tod auf der Piste“, „Hüttengaudi“, „Scharfe Hunde“ und „Wütende Wölfe“). Damit liefert Bestsellerautorin Nicola Förg einmal mehr einen intelligenten Mix aus raffiniertem Kriminalfall, zeitgemäßem Umweltthema und Humor.
Silvester in Murnau: Ein Mann in Tarnanzug ballert mit einer Schreckschusspistole in die Nacht hinaus. Wegen der Knallerei dauert es eine Weile, bis jemandem auffällt, dass da wirklich einer totgeschossen wurde. Das Opfer, Markus Göldner, ist ein arrivierter Architekt, der aber vor allem durch sein aggressives Engagement im Vogelschutz auffiel: Er wetterte gegen Sommerfeuerwerke, gegen Böllerschützentreffen und gegen Windkraftanlagen. Da er sich so viele Feinde damit gemacht hat, kommen Irmi Mangold und Kathi Reindl mit ihren Ermittlungen kaum voran. Doch dann verschwindet die vierjährige Tochter der berühmten Modebloggerin La Jolina, und die beiden Kommissarinnen stehen plötzlich vor einem Fall, der zwar zehn Jahre zurückliegt, aber noch heute Albträume bereitet …
»›Rabenschwarze Beute‹ – clever ausgedacht, gut recherchiert, witzig erzählt«, BR Abendschau
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Cover & Impressum
Motto
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Epilog
Danksagung
Glossar
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ISBN 978-3-492-99011-0 © Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017 Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin, unter Verwendung der Fotos von Bodo Schieren und Andy Crawford/Getty Images Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Langsam kommt die Nacht und deckt mich zu.
Allein mit meiner Angst und meiner Hilflosigkeit,
Ich schwitze, und ich friere, und Verzweiflung krallt sich stärker in mir fest.
Morgengrau’n, ich bin schon wach, endlich ist die Nacht vorbei,
Kein Wunder ist geschehen, und die gleichen Fragen brennen
immer noch.
Klaus-Peter Schweizer (1981), aus dem Album: »… und schon lange nicht mehr schrei’n«
Für das letzte Einhorn –
oder das Zauberhafte, das jeder für sich bewahren will
1
Rums! Die Kristallgläser erzitterten. Rums! Das Geschirr erbebte. Es war das gute Service, das von der Oma väterlicherseits stammte, noch handbemalt und nicht spülmaschinenfest. Weswegen es eben nur an Weihnachten oder Silvester oder bei anderen besonderen Anlässen zum Einsatz kam. Es war ihr schon als Kind eingetrichtert worden, dass man keinesfalls ein Stück zerbrechen durfte, weil sonst das komplette Service wertlos würde. Was es de facto ohnehin schon war, denn wer wollte heute noch so was haben? Rums!
Es war halb zwölf, das neue Jahr stand in den Startlöchern, und Beate war vorsichtig positiv gestimmt. Sie hatte Markus vor einem halben Jahr übers Internet kennengelernt, und er schien im Gegensatz zu den Flitzpiepen, Dumpfbacken, Angeberärschen und Altmachos, die sie auf ihrem Weg durch die Datingportale getroffen hatte, nahezu mackenlos zu sein. Und Beate wollte einfach mal ans Glück glauben.
Markus hatte die Gabel weggelegt und sah sie fragend an.
»Ist er das?«
»Ja, genau, das ist dieser Volltrottel Rieser! Er ballert jedes Jahr schon ab halb zwölf und hört auch nach eins nicht auf.«
Markus hatte die Stirn gerunzelt und stand auf. Öffnete die Balkontür und trat hinaus. Es war nicht übermäßig kalt, die Temperatur bewegte sich um den Gefrierpunkt, der Himmel war bedeckt und schien keine Lust zu haben, mit frenetischem Sternengefunkel ein neues Jahr zu feiern. Markus sah hinüber. Da stand allen Ernstes ein Mann am geöffneten Fenster. Er trug einen Tarnanzug und hatte einen Gehörschutz über seine Mütze gestülpt, die die Ludolfs sicher auch aufgesetzt hätten. Es war kaum zu glauben, aber er hielt eine Schreckschusspistole in der Hand, die er markig hinausreckte und dann abfeuerte. Mechanisch zog er die Hand zurück und lud nach. Und setzte den Bewegungsablauf fort wie ein Roboter, völlig fokussiert, ohne Regung im Gesicht. Rums.
Beate war hinterhergekommen.
»Der hat sie nicht alle. Lass Rudolf Rieser mal Rieser sein. Ich will mich nicht schon wieder über den aufregen. Nicht heute! Komm wieder rein, es gibt noch Mousse.«
Markus schüttelte ungläubig den Kopf. »Was für ein Wahnsinn! Und das macht der jedes Jahr?«
»Ja, leider. Zumindest seit ich hier wohne.«
Beate verbrachte schon ihr viertes Silvester hier. Es war keine Traumwohnung, in der sie lebte, aber nach der Scheidung hatte sie auf der Straße gestanden. Oder anders formuliert: Ihr Ex hatte die besseren Anwälte gehabt, keine Skrupel davor, die Türschlösser auszutauschen, ihre Klamotten in den Garten zu kippen – und er hatte sie bluten, ja ausbluten lassen. Emotional und finanziell. Von der Vierhundert-Quadratmeter-Villa in Hagen war sie ins Wohnviertel Längenfeldleite umgezogen. Kein Aufstieg, aber sie war zufrieden. Die Praxis nahm sie sehr in Anspruch, und sie kam gar nicht dazu, sich eine andere Wohnung zu suchen, sie war eh kaum daheim.
»Was für ein Irrsinn«, wetterte Markus. »Und der Idiot schießt doch absichtlich in unsere Richtung. Der könnte ja auch vorne raus von seinem Balkon schießen. Der will mich einfach provozieren!«
»Mich auch«, sagte Beate.
»Dieser ganze Silvesterwahnsinn! Da ballern einzelne ein paar Hundert Euro in die Luft. Ja, wo sind wir denn? Wir müssen doch keine Götter mehr besänftigen! Keine Brandopfer bringen! Egomanisches Pack, keiner denkt an seine Mitmenschen, an Kinder oder an die Tiere.«
»Na ja, manche denken schon an ihre Haustiere. Wer schlau ist, sperrt seine Katze oder seinen Hund in ein dunkles Zimmer und lässt die Jalousien herunter. Aber selbst wenn man sie schützt, haben manche Tiere panische Angst. Wir hatten einen Jagdhund, der eigentlich hätte schussfest sein müssen. Der war an Silvester völlig durch den Wind«, sagte Beate.
Wotan war ein Schisser gewesen, und ihr Ex hatte ihn natürlich verachtet. Ohne Beate hätte er ihn vielleicht sogar erschossen. So aber war Wotan geblieben und mit zwölf Jahren an Herzversagen gestorben. Beate wollte die Bilder abschütteln, aber die Erinnerung war gemein. Plötzlich hockte sie wie ein fies grinsender Troll auf einem Eckregal.
»Mir geht es um die Wildtiere, das weißt du ganz genau. Tausende von Vögeln steigen vor Schreck innerhalb von Minuten von ihren Schlafplätzen in den Luftraum auf, um dem Böllerlärm und den Raketen möglichst schnell zu entkommen. Dabei erreichen sie Höhen von über tausend Metern. Manche Vögel fliehen ganz aus den Städten, aber wo sollen sie hin? Es wird doch heutzutage überall geknallt!«
Markus hatte sich in Rage geredet wie jedes Mal, wenn es um dieses Thema ging. Er war ein sehr engagiertes Mitglied im LBV, dem Landesbund für Vogelschutz. Als Beate ihrer Freundin Petra davon erzählt hatte, hatte die sich bemüßigt gefühlt, den uralten Sparwitz anzubringen: »Der Markus ist eben gut zu Vögeln.« Petra hatte das wahnsinnig komisch gefunden, aber die war schon immer etwas einfach gestrickt gewesen.
Genau genommen war auch Beate selbst gut zu Vögeln, sie engagierte sich ebenfalls für Wildtiere. Das war ein Überbleibsel aus ihrem vorigen Leben. Dank ihres Chirurgenexgatten hatte sie einen Jagdschein gemacht, und nach dem Ende der Beziehung hatte sie sich auf die andere Seite hinüberbewegt. Auf die Seite der Tiere. Als sie mit Markus zu chatten begonnen hatte, war das Interesse für Tier- und Umweltschutz ein Bindeglied zwischen ihnen geworden. Ein Mann, der beim LBV den Mund aufmachte, war für Beate allemal interessanter als einer, der soeben den dritten Porsche gekauft hatte oder der mit seiner Villa am Gardasee prahlte, wo selbst die Außenmauern aus Marmor waren.
»Dir muss ich das nicht sagen«, fuhr Markus fort. »Gerade im Winter hat diese Störung verheerende Folgen für viele Vogelarten. Durch den Aufstieg in so große Höhen verlieren sie unnötig Energie, die sie im Winter viel dringender zum Überleben bräuchten. Die Höhen der normalen Pendelflüge liegen selten über hundert Metern. Die Vögel sind in Lebensgefahr. Nicht selten verlieren sie durch ihre Panik die Orientierung und fliegen dann gegen Häuser, Autos oder andere Hindernisse. Und es kann Tage dauern, bis die Tiere sich von diesem Schock erholt haben.«
»Das Problem ist nur, dass das so einem Trottel wie dem Rieser da drüben am Arsch vorbeigeht«, bemerkte Beate. »Mit solchen Leuten brauchst du nicht zu diskutieren. Das wissen wir ja beide. Zu gut wissen wir das! Und du weißt, dass …« Sie schluckte. Nein, sie wollte sich gerade heute den Abend nicht versauen lassen. »Die Lohmillers schräg unter mir haben auch mehrfach versucht, ihn einzubremsen. Die haben drei kleine Kinder, die sich zu Tode fürchten. Seine Antwort war, dass das einmal im Jahr sein Recht sei. Und wenn sie nicht die Schnauze hielte, könne er ja auch mal rein zufällig schießen, wenn die Kinder am Spielplatz wären. Dieses Ekelpaket!«
Markus schüttelte nochmals den Kopf und hob sein Weinglas. »Darauf, dass die Deppen nicht aussterben und wir uns gefunden haben als Bastion gegen diese Deppen.«
Sie lächelte. Er war wirklich so was wie der Hauptgewinn. Klug und attraktiv. Mitte fünfzig und gut in Schuss. Sie stießen an, ignorierten das gleichförmige Geknalle, das sich um fünf vor zwölf in ein Inferno steigerte. Nun ging es los, die Deutschen ließen ihr sonst so gut gehütetes Geld in Rauch aufgehen. In bizarren Lichtspielen, in schwefeligem Gestank. Sie brüllten sich an und herzten sich, die Gesichter in den Lichtblitzen zu Fratzen verzerrt. Die knallenden Sektkorken klangen wie dezente Musik – gemessen an dem Lärm. Würden Außerirdische an Silvester auf der Erde landen, sie würden angesichts dieses grausamen Kriegs ihren Raumboliden so schnell wie möglich mit Umkehrschub zurück ins Weltall katapultieren.
Markus und Beate waren kurz auf den Balkon gegangen, hatten mit einem Glas Champagner angestoßen und den Nachbarn Vreni und Wolfi »A guats Neues!« zugerufen. Rums!
»Wird das jedes Jahr lauter, oder werd ich empfindlicher?«, schrie Vreni herüber.
»Beides!«, brüllte Beate zurück.
Sie gingen hinein und versuchten die Ohren so gut wie möglich auf Durchzug zu stellen. Ihr Gespräch drehte sich nur noch um den Irrsinn und Unsinn von Silvesterfeuerwerken, und Markus hatte sich immer weiter in Rage geredet. Schließlich stand er auf, um eine SMS zu schreiben, was Beate einen Stich versetzte. An wen schrieb er? An seine Kollegen? Seine Tochter? An eine andere Frau?
Um halb eins war das Inferno abgeflaut, hier und dort waren noch einzelne Böller zu hören, nur das Geknalle des Nachbarn hielt an.
Plötzlich sprang Markus auf und riss die Balkontür auf. »Es reicht jetzt, du Volltrottel!«, schrie er. »Ich ruf die Polizei an! Das hat mit einem Silvesterfeuerwerk nichts mehr zu tun.«
Man hörte ein paar zustimmende Rufe, und jemand beklatschte seine Rede. Als Antwort donnerte ein weiteres »Rums«. Beate spürte, wie sich die schon etwas angestrengte Gute-Laune-Stimmung weiter verflüchtigte und einer indifferenten Aggression Platz machte. Es hätte ein schöner Abend werden sollen. Aber Rieser schoss mitten hinein in die Luftschlösser, und sie konnte ihre Wut nicht mehr unterdrücken. Dieser ekelhafte Nachbar! Und dieser unbedachte Markus! Wozu anrennen gegen das Unvermeidliche? Der Abend hätte hinübergleiten sollen in eine Nacht voller Leidenschaft – doch Riesers Donnerhall torpedierte jede Romantik. Erotisch gesehen war die Luft jedenfalls raus.
Beate starrte auf die Goldbordüre des Geschirrs. Wie viele Menschen vor ihr mochten davon gegessen haben? An besonderen Tagen wie heute, die nichts werden konnten, weil sie überfrachtet waren mit allzu vielen Wünschen, Vorschusslorbeeren und Emotionen. Und warum kam Markus nicht mehr herein? Sie wollte nicht zulassen, dass sich ein wohlbekanntes Gefühl einschlich. Das Wie-finde-ich-ein-Haar-in-jeder-Männersuppe-Gefühl. Es sollte doch schön werden!
Schließlich stand sie auf und ging hinaus auf den Balkon. Da war kein Markus mehr. Und auch Rieser war nirgends zu sehen.
Irmis Handy läutete um Viertel nach eins. Sie lächelte. Hatte Jens es also doch noch geschafft. In all den Jahren, die sie sich kannten, hatten sie noch nie Silvester zusammen gefeiert. Aber telefoniert oder gesimst hatten sie immer. Mal früher, mal später – je nachdem, wann sich Jens von seiner Familie hatte loseisen können.
Irmi fand es nicht schlimm, dass sie seit Jahren die Silvesternacht im Kuhstall verbrachte. Sie und Bernhard hatten ein Auge auf die Tiere. Ihnen war klar, dass auf einem Hof viel Brennbares lagerte. Sie befanden sich zwar nicht gerade im Zentrum des Silvesterorkans, aber auch in Eschenlohe und Grafenaschau wurde geschossen. Manche zogen mit ihrer explosiven Ware irgendwohin in die scheinbare Einöde und zündeten das Feuerwerk auf einem von Bernhards Feldern an.
Sie und ihr Bruder hassten Silvester. Um Mitternacht stießen sie mit einem Bier an, es gab eine linkische Umarmung, Bernhard warf den Tieren etwas zusätzliches Futter hin – dann ging er.
Auch Weihnachten war Irmi am liebsten, wenn es vorbei war. Ohne Eltern und ohne Kinder war Heiligabend gnadenlos. Immer wieder musste sie sich klarmachen, dass die Feiertage vorübergehen würden wie jedes Jahr. Auch wenn Weihnachten und Silvester mit stumpfen Dolchen in den immer gleichen Wunden bohrten. Niemals sonst stand die Einsamkeit so raumfüllend vor dem Christbaum, der den alten Baumschmuck ihrer Mutter trug. Die kleinen Nikoläuse, die eine Nickelbrille aufhatten. Die Engel, die eigentlich einen Stern tragen sollten, der aber bei allen längst abgebrochen war. Nur noch ganz wenige von den guten Kugeln waren übrig geblieben, den meisten hatten die Kater den Garaus gemacht.
Der Schmuck war wie Irmi selbst: angeschlagen, nicht mehr fabrikneu. Allerdings durfte der Schmuck stets eine lange Sommerpause im Karton einlegen, bis er in der Adventszeit wieder auftauchte. So eine Kartonpause im Leben hätte doch was, dachte Irmi amüsiert. Den Sommer über einfach unter einem Kartondeckel verschwinden …
Ehe Irmi das Gespräch annahm, sah sie auf ihr Handy und stellte fest, dass nicht Jens anrief, sondern Sailer.
»Chefin, Frau Mangold, a guats Neues wünsch i Eahna. Es fangt allerdings unguat an. Do is oaner vom Balkon gschossn worden.«
»Was ist passiert?«
»Ma hot oan vom Balkon abigholt.«
Es wurde auch aufs Nachfragen hin nicht besser.
»Tot?«
»So hört man’s. Der Sepp und i san scho unterwegs. Kemman Sie selber?«
»Wenn Sie mir noch sagen, wohin?«
»Murnau, Längenfeldleite.«
Eigentlich freute sich Irmi, wenn die Feiertage der Arbeitsrealität wichen. Aber diesmal kam diese etwas abrupt. Sie tätschelte Irmi Zwo die Stirn, die auf dem besten Weg war, eine der ältesten Rinderseniorinnen entlang des Alpenhauptkamms zu werden. Sie sah Irmi durchdringend an. Dann geh mal, schien sie zu sagen. Wir kommen hier mit Wiederkäuen gut allein klar.
Letztlich kamen alle klar, mit oder ohne eine Irmi, die sich um die Ihren sorgte. Irmi löschte das Licht, irgendwo knallte es noch. Die Kater hatte sie ins Haus gesperrt, Kicsi auch. Und alle drei zeigten Solidarität. Die kleine Hündin wurde von zwei Katern auf der Couch flankiert. Alle drei sahen sie missmutig an: Kannst du den Lärm mal abstellen?, schienen sie zu fragen.
»Würd ich gerne, Leute!«
Kicsi steckte die Schnauze unter die Vorderläufe, die Kater schlossen die Augen. Ein Traumtrio. Irgendwie glaubte Kicsi wohl, sie sei eine Katze. Sie bellte nie, was für einen Chihuahua fast unglaublich war. Sie knurrte ab und an, und Irmi hatte den Eindruck, dass sie das eher tat, um das Schnurren der Kater zu imitieren.
Bernhard war schon um halb eins ins Bett gegangen, das tat er immer. Irmi fuhr manchmal zu ihrer einzigen »Nachbarin« Lissi und deren Familie hinüber, die etwa achthundert Meter entfernt im nächsten Hof lebte. Doch das würde heute entfallen. Sie überlegte kurz, ob sie Kathi anrufen sollte, doch dann beschloss sie, Kathi erst mal die Silvesterfete zu gönnen. Tote neigten ja nicht zur Flucht, und bei der momentanen Temperatur behielten sie die Form und Fasson auch recht gut.
Eine SMS schnarrte. Diesmal war es Jens.
»Meine allerliebste Liebste! Wünsche dir einen guten Start ins neue Jahr und uns ein baldiges Treffen. Ich muss kurz in die USA, ich flieg nachher gleich los. Aber anschließend sehen wir uns. Fühl dich umarmt!«
Irmi lächelte. Kurz in die USA. Jens musste ständig kurz mal irgendwohin auf dem Erdball. Und komischerweise steckte er das Reisen, die Verspätungen, die Meetings zur Unzeit immer noch ganz locker weg. Wahrscheinlich, weil er negativen Gedanken zu Dingen, die er sowieso nicht ändern konnte, erst gar keinen Platz einräumte.
Irmi simste zurück: »Alles Liebe. Dickes bayerisches Busserl. Muss zum Arbeiten. Ein Toter. Geht schon gut los, das neue Jahr.«
Ein Kuss-Emoji kam zurück.
Als Irmi Richtung Murnau steuerte, durchzuckten immer noch vereinzelte Lichtblitze den grauen Himmel. Es nieselte ein wenig, und das Nass gefror. Das neue Jahr schien ein renitentes Exemplar zu werden. Auf den Straßen lagen die Überreste des nächtlichen Kriegsgeschehens. Papier, Alufolie, Holzstecken. Drei junge Männer taumelten grölend mitten auf der Straße. Die dazugehörige junge Frau kotzte herzhaft vor Petras Kiosk in der Bahnhofstraße. Irmi hasste Silvester wirklich abgrundtief.
Sie bog am Staffelsee-Gymnasium ab und fuhr in den Längenfeldweg ein. Weiter vorne war schon ein Streifenwagen mit Blaulicht zu sehen, daneben das Auto von Sepp und Sailer. Menschen säumten die Absperrung. Irmi eilte auf eine Freifläche zwischen den Häusern. Im nassen Gras lag eine Gestalt. Ein paar gemurmelte Neujahrswünsche für die Kollegen, dann ging Irmi in die Knie. Das linke krachte herzhaft. Der Notarzt war da, es gab wenig deuterischen Spielraum. Der Mann hatte eine Schusswunde in der Brust. Die Kugel war ins Herz gefahren. Keine Austrittswunde.
»Guter Schuss. Dürfte sofort tot gewesen sein. Na ja, er stand ja auch auf dem Präsentierteller«, bemerkte der Arzt.
Der Mann hatte nur ein Hemd an. Man würde wohl keinen Geldbeutel oder sein Handy finden, beides lag hoffentlich in der Wohnung, aus der er quasi herausgerissen worden war. Mitten aus dem Leben.
Irmi erhob sich, sah Sailer an, der ausnahmsweise diesen Impuls verstand. Er deutete hinauf.
»Oben, erster Stock. Do is er gstandn. Und a paar Zeugen hier herunten im Gartn ham gsehn, wie er wie a Klappmesser nach vorn gekippt und runtergfalln is.«
Irmi war Sailers Blick gefolgt. Der Mann war in jedem Fall vom Garten oder von einem der gegenüberliegenden Häuser aus erschossen worden. Man würde die Eintrittswinkel, die Geschwindigkeit des Geschosses feststellen können. Irmi hatte keine Zweifel, dass sie den Standpunkt des Schützen ziemlich genau würden festlegen können. Aber die Spurenlage versprach katastrophal zu werden. Überall waren Silvesterselige herumgetrampelt. Getränke waren verschüttet, und Betrunkene hatten sich irgendwo erleichtert oder sich des Mageninhalts wieder entledigt. Überall lag der Unrat, Irmi trat auf einen gebrauchten Pariser. Na Mahlzeit, es versprach frustrierend zu werden.
»Gehört hat natürlich keiner was?«
Dabei war ihr schon klar, wie dämlich diese Frage war. Jeder hatte was gehört, Knaller und Böller nämlich. Wer konnte die schon von einem echten Schuss unterscheiden.
»Do is noch was«, sagte Sailer zögerlich.
»Ja?«
»Auf der Seite«, er wies zu einem Fenster im Nachbargebäude jenseits des Gartens, »schießt a gewisser Rieser seit halbe zwölfe.«
»Wie, er schießt?«
»Mit Schreckschuss, aber vielleicht is dem ja a normales Projektil dazwischenkemma?«
»Spinn i?«
»Naa, Frau Mangold. Der Sepp hockt scho bei dem, wegen der Fluchtgefahr, i moan …«
»Sehr umsichtig, Sailer. Und sagen Sie, der Balkon, von dem der Mann abgestürzt ist? War er da allein?«
»Naa, da wohnt dem sei Freindin.«
Eine Frau, der man in der Silvesternacht den Mann vom Balkon geschossen hatte? Die gerade noch den Champagner in der Hand gehalten und sich womöglich auf Neujahrssex gefreut hatte? Das war in der Tat ein abruptes Ende.
»Ist jemand bei der Frau?«
»A Nachbarin.«
»Okay, der Sepp soll beim Rieser bleiben. Alle verfügbaren Leute befragen Zeugen. Ich gehe zu der Frau. Das hat Priorität. Sie kommen mit mir.«
Irmi hastete ins Treppenhaus, wo Menschen vor geöffneten Türen standen und sich leise unterhielten. Ihnen allen stand die Angst im Gesicht geschrieben, aber auch Neugier und das schaurig-wohlige Gefühl, bei einer solchen Katastrophe zum Glück nur Zuschauer zu sein. Ein Mann in Jogginghose und schrillbuntem Rautenpullover, den selbst die Altkleidersammlung ablehnen würde, sah Irmi scharf an.
»San Sie von der Polizei? Des war a Attentäter. Ganz gewiss! Jetzt geht das mit dene ISler aa bei uns los.«
»Haben Sie was gehört? Gesehen?«
»Die Mutschlerin is laut schreiend die Treppn runter. Da san mir hinterher. Und da lag dann ihr Gspusi am Boden.«
»Vorher haben Sie nichts gehört?«
»Den Rieser halt, den bleden Hund, den.«
Seine Frau stand neben ihm. Sie trug ein apartes Jerseyleiberl mit einer Paillettenverzierung in Form einer Eule, deren Form vom Doppel-F-Vorbau seltsam verzerrt wurde. Nun mischte auch sie sich ins Gespräch ein. »Der Rieser, der is gemeingefährlich, der …«
»Danke«, unterbrach Irmi und nickte Sailer zu. »Der Kollege nimmt das alles gleich mal auf.«
Irmi flüchtete in den ersten Stock. Die Tür von Dr. Beate Mutschler war die einzige, die nicht offen stand. Eine Frau Anfang fünfzig öffnete, und Irmi stellte sich vor.
»Ich bin die Vreni Haseitl, die Nachbarin«, erklärte die Frau. »Die Beate, die Beate …« Sie brach ab und ging in Richtung Wohnzimmer.
An den Wänden des Flurs hingen Drucke von Gabriele Münter und eine stylishe Garderobe aus Birkenholz. Durch die geöffnete Küchentür war eine Einbauküche in Aubergine zu sehen. Das Wohnzimmer hatte eine riesige Fensterfront und war ebenfalls hochwertig möbliert. Hier hatte jemand Geschmack, was man vielleicht nicht vermutet hätte. Die Wohnung hatte etwas von einem Überraschungsei: außen pfui, innen hui.
Was natürlich so auch nicht stimmte, denn in Murnau war nichts pfui. Hier waren selbst die Wohnblocks noch schmuck, in Murnau gab es keine sozialen Brennpunkte. Murnau war ein Lummerland, das mit perfekter Lage, schönen Geschäften und Restaurants prunkte. In Murnau fuhren die Kunden mit dem Cayenne am Aldi im Kemmelpark vor, die Kids wurden mit jeder Menge Qs und Xs bayerischer Autobauer am Gymnasium abgeholt. Die Alteinwohner grantelten gegen die zuagroaste Kunst- und Kulturschickeria. Am Staffelsee lebten diejenigen, die es geschafft hatten, und jene, die die Gnade der richtigen Geburt für sich verbuchen konnten. Das Staffelseevolk bildete sich viel ein auf etwas, das wahrlich nicht sein Verdienst war, sondern eher der Eiszeit oder dem lieben Himmelspapa zu verdanken war.
Auf der grau melierten Couch im Wohnzimmer saß Frau Dr. Beate Mutschler. Sie hatte schulterlanges, leicht lockiges Haar und trug ein dunkelgraues Etuikleid, für das ihre Beine möglicherweise etwas zu kräftig waren. Irmi schätzte sie auf Mitte vierzig. Sie war hübsch, ohne bildschön zu sein, dazu war ihre römische Nase ein wenig zu markant.
Beate Mutschler sah auf, und in ihrem Blick lag das, was Irmi schon so oft gesehen hatte und was sie dennoch bis ins Mark traf: »Sagen Sie mir, dass das alles nur ein Albtraum ist.« Und: »Sie machen alles wieder gut, oder?« Aber genau das konnte Irmi nicht tun.
Die Nachbarin hatte eine Karaffe mit Wasser und Gläser mitgebracht. Eines davon füllte sie und reichte es Frau Mutschler, die in mechanischen Schlucken trank. Irmi bekam auch ein Glas Wasser.
»Plötzlich war er weg. Einfach weg«, stammelte Beate Mutschler.
»Können Sie mir erzählen, was genau passiert ist?«, fragte Irmi sanft.
»Er hatte sich noch so aufgeregt wegen der Vögel. Weil Feuerwerke doch so grässlich für Vögel sind. Grässlich. Die armen Tiere.« Sie begann zu weinen.
Irmi sah Frau Haseitl an, die ihre Nachbarin umfasst hatte.
»Auf einmal war er weg. Einfach weg. Wir kennen uns seit gut einem halben Jahr. Es war unser erstes Silvester.« Sie weinte heftiger. Dann begannen ihre Augenlider zu zucken, ein Zittern lief in Wellen durch ihren Körper. Ihre Atmung ging stoßartig.
Irmi war klar, dass das kein guter Zeitpunkt für Fragen nach Feinden oder anderen Details war. Sie ging hinaus und rief in den Hausflur hinunter: »Sailer, schicken Sie mir den Notarzt hoch, bitte!«
Dann rief sie die Psychologin vom Kriseninterventionsteam an. Und die Staatsanwaltschaft. Es war ja nicht so, dass an solchen Tagen alle die Korken knallen ließen. Polizei, Ärzte und Seelsorger standen parat, um die emotionalen und körperlichen Beschädigungen durch diese verdammten Feiertage zu verhindern und zu flicken.
Der Arzt war wenige Minuten später da. Er schlug vor, Beate Mutschler zur Überwachung mit ins UKM zu nehmen, die Murnauer Unfallklinik, um sie zu stabilisieren. Aber auch am nächsten Tag würde nichts besser sein. Sobald die beruhigenden Medikamente den Blutkreislauf verlassen hatten, würde Beate Mutschler mit voller Wucht von der Erinnerung überwältigt werden: Ihr war der Freund vom Balkon geschossen worden.
Als die Frau versorgt war und die Sanitäter sie in die Klinik gebracht hatten, sank Irmi zur Nachbarin auf die Couch. Dieser sah man an, dass auch sie am Limit war. Dabei wirkte sie patent und eher rustikal, so, als hätte sie schon einige Sturmtiefs überstanden.
»Was haben Sie denn von der ganzen Sache mitbekommen, Frau Haseitl?«
»Wir haben uns um zwölf über den Balkon hinweg zugeprostet. Schon da haben wir uns über den Rieser geärgert. Als ich später noch eine Flasche Sekt vom Balkon holen wollte – ich weiß gar nicht, wann das war, aber sicher ging es schon auf eins zu –, jedenfalls habe ich da den Markus gesehen, der auch draußen stand. Er hat zum Rieser hinübergeschrien und wahnsinnig wütend gewirkt. Und dann ist er plötzlich nach vorn geklappt. Mir ist es ewig vorgekommen, bis er schließlich gefallen ist. Ich war wie gelähmt. Mein Mann ist dann rausgekommen, um zu fragen, wo ich denn bliebe. Inzwischen war auch Beate auf dem Balkon. Sie hat hinuntergeschaut und angefangen zu schreien. Dann ist sie losgerannt. Wolfi, also mein Mann, hat die Situation schneller erfasst und ist hinterhergerannt. Ich war immer noch wie paralysiert und habe hinuntergesehen, wo Wolfi aufgetaucht ist. Er hat versucht, Beate vom Markus wegzuziehen. Auf einmal waren überall Leute, und schon bald ist ja auch die Polizei gekommen …«
Sie sprach leise, musste sich immer wieder räuspern.
»Haben Sie eigentlich den Rieser währenddessen irgendwo gesehen?«
»Das hab ich mich auch gefragt. Er war da, als Markus geschrien hat. Aber wie lange er dagestanden ist? Keine Ahnung. Aber er war jedenfalls weg, als Wolfi losgelaufen ist. Ja doch, da bin ich mir sicher.«
»Wie hieß denn der Markus mit vollem Namen?«
»Markus Göldner, die Beate kennt ihn noch nicht so lange.«
Irmi sah sich um. »Haben Sie sein Handy oder seine Geldbörse irgendwo gesehen?«
Die Nachbarin schüttelte den Kopf. Irmi stand auf und trat an die Garderobe. In der Innentasche eines Herrenmantels lagen Handy und Geldbeutel. Das Telefon war ausgeschaltet. Die Börse enthielt diverse Kreditkarten, achtzig Euro in bar, Führerschein und Ausweis. Markus Johannes Göldner, geboren am 5. 5. 1962 in Essen. Irmi ging zurück ins Wohnzimmer.
»War er mit dem Auto da?«
»Ja, klar.«
»Wissen Sie, was er für eins hat?«
»Einen Dacia Duster, das ist ein SUV. Sein Statement gegen das Establishment.«
Irmi sah sich genauer um, auf einer Kommode lag der Schlüssel. Mit Dacia-Logo.
»Der Wagen steht wahrscheinlich unten?«
Vreni Haseitl nickte. »Was ist das für ein Irrsinn! Wie kann so was bei uns passieren? Und wie soll die Beate je darüber hinwegkommen?«
Gute Frage. Konnte man so etwas jemals verarbeiten?
»Sind Sie mit Beate Mutschler näher befreundet?«
»Ja. Ich arbeite auch in ihrer Praxis. Als Helferin, schon seit zehn Jahren. Beate ist Hautärztin. Und wir kennen uns schon lange.«
Irmi wartete.
»Beate hat eine ziemlich üble Scheidung hinter sich. Drum wohnt sie auch hier. Wir haben erfahren, dass im Haus jemand auszieht, und Beate brauchte dringend eine Wohnung. Finden Sie in Murnau mal was! Der Markt ist leer gefegt! Der Ulf, das ist ihr Ex, hat ihr das Leben zur Hölle gemacht. Na ja, danach hatte sie ein paar Beziehungen, lauter Trottel, wenn Sie mich fragen.«
Irmi lächelte sie an. »Und Markus?«
»Ein guter Typ. Die beiden haben es ganz ruhig angehen lassen. Er ist auch geschieden. Ich glaub, sogar zweimal. Wohnt in Kempten. Ist Architekt. Das hätte was werden können mit den beiden.«
Ein Architekt mit Understatementauto, dessen neues Jahr sehr kurz geworden war. Die Liebenden waren beide Scheidungskinder. Konnte es was werden, wenn zwei schwer Verwundete sich gegenseitig die Wunden leckten? Was Beziehungen betraf, konnte Irmi allerdings nicht auf viel Erfahrung zurückgreifen. Eine Scheidung, die ewig her war, und aus Feigheit vor dem Feind eine langjährige Beziehung zu einem verheirateten Mann konnte sie auf ihrem Konto verbuchen. Nicht viel, aber sie würde sich auch in tausend Jahren nicht auf einem Datingportal umsehen. Wenn Jens ihr Leben verlassen würde, dann käme sie auch ohne Mann aus. Ihr Leben bestand generell aus viel »ich« und wenig »wir«.
»Sie sagten, dieser Markus sei richtig wütend gewesen, Frau Haseitl?«, fuhr Irmi fort.
»Ja, komisch irgendwie. Klar hat der Rieser genervt, aber der Markus war richtig außer sich. Das hat mich schon gewundert.«
»Vielen Dank.« Irmi verabschiedete sich und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus hatten sich inzwischen die Türen geschlossen. Die Show war over and out. Sie überquerte den Garten und ging zu Rieser hinüber. Sepp öffnete ihr die Tür. Er rollte mit den Augen.
»Des is a rechter Zornbinkel, a Gifthaferl«, flüsterte er. »Obacht, Frau Mangold!«
Die Wohnung lag ebenfalls im ersten Stock und war geschnitten wie die von Beate Mutschler. Diesen Flur zierten allerdings keine Kunstdrucke, sondern Urkunden von Sportschützenevents und Schützenscheiben. Rudolf Rieser saß am Küchentisch auf der Eckbank, deren gemusterter Bezug in Orange und Ocker längst durchgewetzt war. Ein paar leere Bierflaschen lungerten herum, eine angebrochene Chipstüte. Sepp saß ihm mit grimmigster Miene gegenüber. Irmi musste in sich hineinlächeln. Sepp war ein friedfertiger Mensch, aber solche Typen hasste er, und außerdem hasste er es, ausgerechnet heute seine Frau und die Kinder im Stich lassen zu müssen.
Rieser war nicht groß, ein aufgstellter Mausdreck genau genommen. Er hing da auf der Bank, die Beine provokant geöffnet, die Wampe quoll über den Hosenbund einer Tarnhose, die Irmi der Schweizer Armee zuordnete. Den olivfarbenen Pulli hatte er ausgezogen, was leider sein T-Shirt mit Schweiß- und Eierflecken in Szene setzte. Überall sprießte grau-schwarze Behaarung hervor. Angesichts dieses Ästheten durfte man wirklich keinen schwachen Magen haben.
»Was soll der Scheiß hier, du Zupfgeign?«, brüllte er Irmi entgegen.
»Herr Rieser, diese Frage stellen sich Ihre Nachbarn auch. Sie ballern anscheinend jedes Jahr an Silvester so rum?«
»Das ist nicht verboten!«
Irmi atmete tief durch. Schreckschusswaffen waren meist Nachbildungen von echten Pistolen und Revolvern. Allerdings verschossen sie keine Projektile, sondern Reizgas- und Kartuschenmunition. Dabei erzeugten sie einen lauten Knall und waren so konzipiert, dass man sie nicht etwa illegal auf scharfe Munition umbauen konnte. Dass ein Freak das natürlich dennoch schaffen würde, war nicht auszuschließen. Und dass man auch mit einer Schreckschusswaffe aus nächster Nähe einen Menschen erheblich verletzen oder gar töten konnte, stand außer Frage.
»Und ich habe einen Waffenschein!«, brüllte Rieser hinterher.
»Der Herr Rieser ist bei einem Sicherheitsdienst«, erklärte Sepp voller Verachtung. »Und Sportschütze. Ein echter Waffennarr, der Herr Rieser, gell!«
»Ich sag Ihnen beiden mal was! Wenn die Bullerei ihren Job machen würde, dann gäb es weniger private Securitydienste. Und wenn wir wie in Amerika alle Waffen hätten, dann täten wir das Gschlerf und Gschwerl zurücktreiben in den Osten und die Kanacken runter bis in die Sahara!«
Irmi hatte mühsam gelernt, solche Menschen durch ihre Reaktion nicht auch noch zu beflügeln. Denn das würde ihnen das Gefühl geben, im Recht zu sein.
»Nun, Herr Rieser, ich nehme mal an, Sie haben eine PTB-Waffe. Augenscheinlich sind Sie über achtzehn Jahre alt, aber das Schießen mit einer Schreckschusspistole ist auch für Besitzer eines Waffenscheins nur auf dem eigenen befriedeten Besitztum zulässig und wenn es dabei nicht zu einer Lärmbelästigung kommt. Jetzt frage ich mich: Gehört Ihnen die ganze Straße? Herrscht gerade Notstand? Findet gerade eine Not- oder Rettungsübung statt? Eine genehmigte Sportveranstaltung? Sind Sie Landwirt und verfügen über eine Sondergenehmigung zum Vögelvertreiben?«
»Es ist Silvester, du oberschlaue Matz! Du F…«
»Behalten Sie den Rest Ihrer Rede für sich, Rieser. Das rate ich Ihnen dringend! Und was Silvester betrifft, so ist das Schießen nur auf dem eigenen, befriedeten Besitztum erlaubt oder auf einem anderen Besitztum, wenn es der Inhaber des Hausrechts genehmigt hat.«
»Der Willi, der wo der Hausbesitzer ist, hat nichts dagegen. Und wenn Sie schon so schlau sind: Der Transport zum Schießort ist erlaubnisfrei, sofern die Waffe in nicht-schießbereitem Zustand verschlossen transportiert wird. Ist sie, ich hab sie ja nur aus dem Schrank bis zum Gangfenster transportiert.«
Rieser wollte sich schier ausschütten vor Lachen. Irmi war sich natürlich bewusst, dass sie sich in einer rechtlichen Grauzone bewegten. Lärmbelästigung an Silvester anzuführen war im Ernstfall eines Prozesses wenig erfolgreich.
»Bestimmt haben Sie noch andere Waffen, Herr Rieser, die Sie natürlich alle an einem sicheren Ort verwahren, oder? Dürfen wir die alle mal sehen?«
Er bedachte Irmi mit einem finsteren Blick. »Dann kommen Sie mit!«
Im Wohnzimmer in Eiche rustikal gab es einen ordnungsgemäßen Waffenschrank. Rieser griff nach einer filigranen Balletttänzerin aus Porzellan, die auf einem Podest stand. Dieses ließ sich öffnen, und darin befand sich der Schlüssel. Im Schrank gab es zwei Luftgewehre und drei Pistolen der Marke Walther, die er wohl als Sportschütze benötigte. Dazu noch eine Walther P99 Q und ein paar Schlagstöcke.
»Die Q ist Ihre Dienstwaffe?«
»Ja, und kommen Sie mir jetzt nicht damit, dass private Sicherheitsdienste keine Waffen tragen sollen! Wann sind Sie zum letzten Mal auf einer Großveranstaltung bekifften und gewaltbereiten Jugendlichen gegenübergestanden? So alt, wie Sie aussehen, war das bei der Bereitschaftspolizei, und das ist lange her! Vermutlich machen Sie bloß Profiling und so! Die Hände bloß nicht selber schmutzig machen, was? Steh du doch mal dem Mob nackt gegenüber! Sollen wir Holzlatten aus dem Zaun reißen, oder wie? Außerdem wirken solche Waffen auch präventiv!«
Dass er Worte wie präventiv kannte, fand Irmi beachtlich.
»Und die Schreckschusspistole?«, fragte sie, ohne auf seine Beschimpfungen näher einzugehen.
»Liegt in der Küche.«
»Gut, dann nehmen wir das hier alles mal mit.«
»Das darfst du gar nicht, du Rutschn!«
Er schien Mühe zu haben, sich zwischen Du und Sie zu entscheiden.
»O doch, das darf ich. Haben Sie weitere Waffen hier?«
»Sehen Sie welche?«
»Ich meine auch die, die Sie versteckt haben.«
»Du F…!«
Irmi nickte Sepp zu, der Handschuhe anzog und die Waffen in eine Tasche zu laden begann.
»Bitte, Herr Rieser, gehen Sie doch vor in die Küche.«
Knurrend kam er ihrer Aufforderung nach. Auf einem Küchenschneidebrett, über dessen Keimzahl Irmi lieber nicht nachdenken wollte, lag die Schreckschusspistole. Eine Walther P99, ein Nachbau des Originals, das mit echten Projektilen schoss.
»Und die haben Sie umgebaut, um den Mann vom Nachbarbalkon zu holen? Oder welche Ihrer sonstigen Waffen haben Sie verwendet?« Irmi lächelte.
»Was soll ich getan haben?«
»Einen Mann vom Balkon geschossen, der über Ihre Schießübungen nicht so erbaut gewesen ist. Der Sie angebrüllt hat. Dafür gibt es Zeugen. Und der dann kurz nach seiner Tirade vom Balkon geschossen wurde.«
»Jetzt pass mal auf, du siebengscheite Urschl. Ich hab den gesehen. Ob der was gebrüllt hat, weiß ich nicht. Ich hatte Gehörschutz auf. Ich war mit Wichtigerem beschäftigt.«
Das klang nun so staatstragend, als habe er im Auftrag Seiner Majestät gehandelt. Oder der Waffenlobbyisten. Oder im Auftrag Donald Trumps. Das war sicher ein Mann nach Riesers Geschmack.
»Und noch was, ich hab gesehen, wie er fiel. Erst nach vorne, ich dachte, der muss kotzen. Dann hing er kurz noch auf der Brüstung wie ein Sack, und dann kam das Ganze ins Ungleichgewicht und ging zu Boden.« Er lachte mit einer fiesen Polterstimme.
»Ja, das kann einen schon erheitern, wenn Menschen erschossen werden.« Irmis Stimme hätte Granitblöcke zerschneiden können.
»Ja, du dumme Fotze!«
Nun hatte er es doch getan. Neben all seinen bayerischen Schimpfworten war »Fotze« quasi das furiose Finale. Irmi wandte sich an Sepp.
»Der Herr Rieser mag bestimmt gerne mitkommen nach Garmisch. Sein hoheitlicher Schussauftrag ist ja nun erfüllt. Und einen Durchsuchungsbeschluss bekommen wir sicher. Ob der Herr Rieser nicht doch noch andere Waffen hat?«
»Ja, du Matz, du!«
»Matz oder Fotze?«, fragte Irmi kühl und fand sich richtig gut. So viel Contenance gelang ja nicht immer.
Sie defilierten an den Zuschauern in Riesers Hausflur vorbei, Sailer war dazugekommen, Andrea auch. Es war halb drei geworden. Die Kriminaltechniker waren am Werk, der Tote war bereits abtransportiert. Handy und Geldbeutel hatte Irmi der KTU übergeben.
Sailer und Andrea hatten herausgefunden, dass Markus Göldner vermutlich gegen null Uhr fünfzig erschossen worden war. Die Beschreibungen seines Sturzes vom Balkon deckten sich bei allen Befragten und stimmten auch mit dem überein, was Vreni und Rieser gesagt hatten. Alle Zeugen hatten Rieser schießen sehen. Den ganzen Abend schon, aber wie lange er auf dem Balkon gestanden hatte, da war man sich uneins. Ob Rieser den Mann erschossen hatte, vermochte niemand zu hundert Prozent zu sagen. Wenn es nicht Rieser gewesen war, dann hatte er zumindest ein perfektes und perfides Alibi, eben weil er die ganze Zeit gut sichtbar herumgeballert hatte. Und dann hatte sich jemand anderes genau das zunutze gemacht. Der Täter musste gleichzeitig wie Rieser geschossen haben. Ein perfekter Mord!
Mit einem unguten Gefühl, dass ihr gerade ein Faden entglitt, bevor sie ihn überhaupt aufnehmen konnte, stand Irmi mit Andrea und Sailer auf der Straße und sah sich um. Da war der Dacia Duster, und bei allem Minimalismus: Mit Knopfklick öffnen ließ er sich dann doch. Im Inneren gab es verdreckte Bergstiefel, einen dicken langen Lodenmantel, ein Spektiv, ein weiteres Fernglas, ein Notebook.
»Wen hot der bespitzelt?«, fragte Sailer.
Irmi sah ihn überrascht an. »Keine Ahnung! Er sei Architekt gewesen, hat die Nachbarin gesagt. Und er war im Tierschutz aktiv. Die KTU soll sich auch den Wagen vornehmen.« Irgendwo schlug es drei Uhr. Eigentlich läge Irmi längst im Bett.
»Was machen mer jetzt?«, fragte Sailer.
»Nichts mehr. Der gute Rieser übernachtet bestimmt gerne bei uns. Das nehm ich auf meine Kappe. Sauberer als bei ihm ist es im Café Loisach allemal. Morgen, also nachher, ist auch noch Zeit. Wir müssen vor allem wissen: Wer war Markus Göldner?« Sie lächelte Andrea an. »Und du gehst bitte auch ins Bett und setzt dich nicht gleich an den PC. Das ist ein Befehl!«
»Passt schon«, bemerkte Andrea und lächelte zurück.
»Ernsthaft. Ich will morgen keinen vor elf im Büro sehen. Andere Menschen haben schließlich auch frei.«
»Aber weniger Tote«, murmelte Sailer.
Es war kurz vor vier, als Irmi ins Bett ging. Sie erwachte um acht, für ihre Verhältnisse spät, doch vier Stunden unruhigen Schlafes waren alles andere als ausreichend gewesen. Irmi traf Bernhard in der Küche.
»Warst du in der Nacht no weg?«, fragte er.
»Hmm, ein Toter in Murnau.«
»Hot er sich totgesoffen oder was?«
»Nein, Bruderherz, eine Kugel.«
»Fangt ja gut an, das neie Johr«, sagte Bernhard und schenkte Irmi ein schiefes Lächeln.
Sie kannte ihn gut genug, um das als Mitgefühl und Aufmunterung zu deuten. »Allerdings!«
Bernhard würde am heutigen Feiertag zum Frühschoppen aufbrechen, während Irmi sich ins Büro aufmachte. Doch, das Jahr nahm schnell Fahrt auf.
2
Natürlich war Andrea schon da, als Irmi um kurz nach neun im Büro eintraf, und selbstredend hatte sie schon einiges zusammengetragen über Markus Göldner. Seine Vita war auf der Homepage seines Architekturbüros zu finden, das ganz schlicht Göldner&Caviezel hieß. Irmi fand das sympathisch, denn es gab aus ihrer Sicht kaum etwas Exaltierteres als jene, die besonders kreativ sein wollten. Da nannten sich Architekten »Raumskulpteur«, Journalisten hatten ein Büro namens »Wortreich«, die PR-Agentur hieß »Gedankenspiel«, Friseurläden wurden »Haarscharf« getauft, bloß Sanitärnotdienste nannten sich selten »Scheißhaus«.
Göldners Kompagnon war ein gewisser Jürg Caviezel, ein gebürtiger Schweizer, der in Zürich studiert hatte und bei den ganz Großen der Szene gearbeitet hatte: bei Herzog & de Meuron, bei Botta und Zumthor. Markus Göldner selbst stammte aus Velbert, wo immer das war. Er hatte in Bochum studiert, war im Ruhrgebiet und dann in der Schweiz tätig gewesen und anschließend mit Caviezel nach Kempten gegangen.