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RACHE - die fesselnde Thriller-Serie von J.S. Frank!
Folge 6: Endlich erhält Laura Stein freie Hand, um gegen Hansen zu ermitteln. Falls er überlebt - denn auf ihn wurde ein Kopfgeld ausgesetzt. Hansen bittet Wolf Berger um Hilfe. Der ist allerdings damit beschäftigt, seine Freundin Alina zu beschützen. Denn sie ist in Gefahr. Doch Wolf kennt noch immer nicht ihr ganzes Geheimnis ...
Über die Serie:
Laura Stein ist eine Getriebene. Die junge Kommissarin ging als Jugendliche durch die Hölle und überlebte. Aber die Vergangenheit verfolgt sie bis heute. Unerbittlich jagt sie seit Jahren dem Gangsterboss Victor Hansen hinterher. Um ihn zu stellen, ist ihr jedes Mittel recht. Selbst wenn sie einen Mörder als V-Mann rekrutieren muss ...
RACHE - die sechsteilige Thriller-Serie um Kommissarin Laura Stein und Ex-Gangster Wolf Berger. Knallhart, überraschend, nichts für schwache Nerven!
eBooks von beTHRILLED: Mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 171
Laura Stein ist eine Getriebene. Die junge Kommissarin ging als Jugendliche durch die Hölle und überlebte. Aber die Vergangenheit verfolgt sie bis heute. Unerbittlich jagt sie seit Jahren dem Gangsterboss Victor Hansen hinterher. Um ihn zu stellen, ist ihr jedes Mittel recht. Selbst wenn sie einen Mörder als V-Mann rekrutieren muss …
Endlich erhält Laura freie Hand, um gegen Hansen zu ermitteln. Falls er überlebt – denn auf ihn wurde ein Kopfgeld ausgesetzt. Hansen bittet Wolf um Hilfe. Der ist allerdings damit beschäftigt, Alina zu beschützen. Denn sie ist in Gefahr. Doch Wolf kennt noch immer nicht ihr ganzes Geheimnis …
J. S. Frank hat nach seinem Germanistik-Studium mehr als zwanzig Jahre für ein internationales Medien-Unternehmen gearbeitet. Seit 2013 ist er freier Autor mit einem ungebrochenen Faible für die anglo-amerikanische und französische Literatur. J. S. Frank ist ein Pseudonym des Autors Joachim Speidel, der mit seinen Kurzgeschichten bereits zweimal für den Agatha-Christie-Krimipreis nominiert war. RACHE ist bereits seine zweite Thriller-Serie bei »be«.
DIE LETZTE ZEUGIN
Folge 6
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock: charnsitr | Nejron Photo | Steve Collender
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8537-3
Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Final Game – Blutige Abrechnung« von Guido M. Breuer.
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»Wissen Sie, was Sie in meinen Augen sind?«, sagte Elvira Majakowski zu dem smarten jungen Kollegen, der sich zu ihr an die Bar gesellt hatte. Er trank ebenso wie sie einen Gin Tonic, und schon nach kurzer Zeit hatte er ihr eindeutige Avancen gemacht. »Sie sind ein Chauvinist, ein Sexist, ein Frauenhasser, wie er im Buche steht.« Sie kannte ihn zur Genüge und wusste, von was sie sprach.
Der junge Mann schmunzelte. Blieb die Ruhe selbst. Ihre Worte schienen ihn in keiner Weise zu kränken. Er nahm die Limettenscheibe vom Glasrand und saugte genüsslich am Fruchtfleisch. Und ließ Elvira Majakowski dabei nicht aus den Augen.
Die Chefin der Abteilung für Compliance Management der Global Assurance Company Europe bedachte ihn mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. »Sie haben Chuzpe, das muss ich Ihnen lassen. Kommen einfach hierher, setzen sich ganz vertrauensvoll zu mir, als wären wir alte Bekannte oder – besser noch – beste Freunde und entblöden sich nicht, mir einen – wie sagten Sie gerade eben? – ›Jahrhundertfick‹ für heute Nacht in Aussicht zu stellen. Soll ich mich jetzt vielleicht geehrt und geschmeichelt fühlen, dass so ein extrem gutaussehender, gepflegter, junger Mann wie Sie sich dazu herablässt, eine Frau wie mich, die dem Schönheitsideal von Männermagazinen nicht unbedingt entspricht, von ihrem vermeintlichen Mauerblümchendasein zu erlösen?«
Ihr Kollege war in der Tat recht gutaussehend. Groß, schlank, maßgeschneiderter Anzug, breite Schultern, schmale Hüften, hohe Wangenknochen, dunkle Augen, Dreitagebart.
Als er die Limettenscheibe ausgelutscht hatte, warf er die Schale in sein Glas und strich aufreizend langsam die kastanienroten Haare nach hinten.
Danach musterte er Elvira Majakowski von oben bis unten mit dem Blick eines professionellen Fleischbeschauers.
Sie schlug lässig die Beine auf dem Barhocker übereinander. Die Mittdreißigerin trug ein marineblaues Kleid mit Gitterkaro und langen Ärmeln. Es sah unaufdringlich elegant aus und kaschierte ihre barocken Formen.
Die Global Assurance Company Europe hatte nach einem niederschmetternden Jahr mit einer finanziellen Schieflage, mit Indiskretionen im Vorstand und Sexskandalen erfolgsverwöhnter Versicherungsvertreter zu kämpfen gehabt. Jetzt im ersten Quartal des neuen Jahres schien etwas Ruhe eingekehrt zu sein. Um die Mitarbeiter bei Laune zu halten, um ihnen sozusagen ein »Glückauf« zu wünschen, hatte das Unternehmen zu einer Party im Grand Central Hotel eingeladen.
Eine Musikband spielte zum Tanz auf. Foxtrot. Billy Joels The Longest Time. Der junge Kollege zog den rechten Mundwinkel lässig nach oben. »Hören Sie …«, begann er.
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Nein, Sie hören mir gefälligst zu. Sie mögen ja im letzten Jahr zu den wenigen Versicherungsvertretern gehört haben, die wirklich erstaunliche Abschlüsse vorzuweisen hatten, aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Ihre Erfolge in allen Ehren, doch Sie und Ihre Abteilung mit Ihren männlichen Kollegen haben mit Ihren Kapriolen und Eskapaden unserem Unternehmen einen Imageschaden zugefügt, der mit Geld nicht zu bemessen ist. Organisierte Bordellbesuche unserer Versicherungsvertreter in Prag, Budapest, Minsk – so was geht gar nicht! Damit das klar ist!«
Elvira Majakowski redete sich in Rage. Ihre Wangen glühten. »Und außerdem – seit ich die Abteilung für Compliance Management übernommen habe, werden täglich Klagen an mich weitergereicht, die Sie betreffen. Klagen von Kolleginnen, Klagen von weiblichem Reinigungspersonal, sogar Klagen von Kundinnen. Vor knapp drei Wochen haben Sie sich nach London versetzen lassen, um den Versicherungsmarkt auf der Insel zu studieren. Sehr löblich. Normalerweise. Doch Sie haben es in diesen drei Wochen geschafft, einen neuen Rekord an Übergriffigkeiten aufzustellen. Ihre Tage sind gezählt. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, dass Sie baldmöglichst das Unternehmen verlassen werden, haben Sie mich verstanden?«
Der junge Mann lächelte süffisant. »Sie machen einen großen Fehler, Frau Majakowski«, sagte er. »Einen sehr großen Fehler. Sie wissen es nur noch nicht.«
Er warf mit theatralischer Geste eine Locke seines kastanienroten Haares aus der Stirn.
Elvira Majakowski nahm einen Schluck von ihrem Gin Tonic. Sie stellte das Glas ab, leckte sich über die Lippen und sagte leise: »Wollen Sie mir etwa drohen, Chris?«
Es war schon nach ein Uhr, als die Chefin der Abteilung für Compliance Management ihr Hotelzimmer betrat. Sie kickte ihre Pumps von den Füßen und wollte die Tür gerade schließen, als sie gewaltsam aufgedrückt wurde.
»Was … was soll das?«
Ein Schlag in den Magen. Sie krümmte sich, ihr blieb die Luft weg, sie stürzte zu Boden. Erbrach sich auf den Fliesen des Flurs.
»Igitt!«, sagte eine Stimme über ihr. »Ist das eklig.«
Im nächsten Moment grub sich eine Hand in ihre Haare, packte zu, riss sie hoch, schleifte sie ins Schlafzimmer. Sie schrie, kämpfte gegen die Übelkeit und gegen die Schmerzen an, versuchte, sich zur Wehr zu setzen, wollte den Griff in den Haaren lösen. Sie hatte keine Chance.
Vor dem Bett wurde sie fallen gelassen. Sie blickte auf.
Zwei Männer standen über ihr. Chris und ein Glatzkopf, spitze Nase, spitze Wangenknochen, ganz in Schwarz gekleidet.
Ihre Stimme zitterte. »Hören Sie, Chris, ich …«
»Nein«, zischte Chris sie an und beugte sich zu ihr hinunter. Die Hände zu Fäusten geballt. »Sie hören mir zu! Sie! Sie haben mich da unten an der Bar beinahe zu Tode gequatscht mit ihren verfickten Vorwürfen. Sie haben mich gar nicht zu Wort kommen lassen. Deshalb hören Sie mir jetzt zu!«
Elvira Majakowski nickte. In ihren Augen standen Tränen.
Chris richtete sich langsam auf. Entspannte sich. Lockerte die Schultern, die Hände. Lächelte selbstzufrieden. Sagte dann zu ihr: »Darf ich Ihnen übrigens Steve, meinen – wie soll ich sagen? – allerbesten Freund vorstellen?« Er deutete auf den Glatzkopf neben sich. »Wir verstehen uns blind. Er ist für mich fast wie ein … Bruder.«
Bei dem Wort »Bruder« musste er kurz lachen. »Steve ist recht schweigsam, Konversation ist nicht so seine Sache, aber Loyalität ist eine seiner Stärken. Als ich ihn angerufen habe, dass ich ihn vielleicht heute Nacht noch brauche, ist er sofort hergekommen. Eine weitere Stärke von ihm ist sein technisches Know-how. Normalerweise ist er mit den feinsten Videoapparaturen ausgerüstet, aber heute Nacht muss er leider improvisieren und wird unser kleines Tête-à-Tête mit der Kamera seines Smartphones festhalten. Sie haben doch sicherlich nichts dagegen?«
»Tête-à-Tête?« Ihre Stimme war dünn.
»Genau. Tête-à-Tête. Von mir aus können Sie auch …« Chris überlegte kurz. »… frivoles Beisammensein dazu sagen. Es wird so aussehen, dass Sie mir nachher mit voller Leidenschaft, voller Inbrunst einen wahnsinnigen, großartigen, fantastischen Blowjob verpassen. Ich will Begeisterung in Ihrem Gesicht sehen, Hingabe und wahres Entzücken. Verstehen Sie? Ein Blinder soll erkennen können, dass der Sex einvernehmlich stattfindet. Wenn nicht oder falls Sie sich sträuben oder schreien oder auf den abseitigen Gedanken verfallen sollten, das beste Teil, über das ein Mann verfügt, übel mit den Zähnen malträtieren zu müssen, dann werde ich sehr ungehalten.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen: »Kennen Sie das Theaterstück von William Shakespeare? Titus … Titus …« Er stockte. Runzelte grübelnd die Stirn. Lachte dann. »Ach egal. Fällt mir gerade nicht ein. In dem Stück wird jedenfalls eine Frau vergewaltigt, und anschließend werden ihr die Zunge und die Hände abgeschnitten. Auf das kommt’s an. Sie wollen doch hoffentlich nicht das gleiche Schicksal erleiden, Frau Majakowski? Oder?«
Es ist jetzt genau 08 Uhr 02. Wenn alles klappt, werde ich im Laufe der nächsten Stunde einen Menschen erschießen. Meinen dritten. Nach dem vollendeten Todesschuss werde ich die Patronenhülse aufsammeln, das Gewehr auseinanderbauen, es im Rucksack verstauen, mich auf den Weg zu meinem Wagen machen und dann nach Hause fahren.
Wenn es nicht klappen sollte, werde ich wiederkommen und es erneut versuchen. Denn wie heißt es so schön? Wer aufgibt, wird nie ein Sieger, und ein Sieger gibt nie auf.
Der Mann, der diese Zeilen in einer schönen runden Handschrift in sein DIN-A6-Notizbuch schrieb, gab sich im Darknet als Vincent Vega II aus – in Anlehnung an den von John Travolta gespielten Killer in Quentin Tarantinos Pulp Fiction. Er war mittelgroß, hatte kurze Stoppelhaare und war nahezu kinnlos. Als er mit Schreiben fertig war, verstaute er das Notizbuch in seinem dick gefütterten Parka.
Für einen Märztag war es angenehm mild. Die Temperaturen lagen an diesem Morgen bereits bei unglaublichen fünfzehn Grad. Vincent Vega II zog den Parka aus, faltete ihn zusammen und legte ihn auf seinen Rucksack.
Das Haus, in dem er sich aufhielt, befand sich im Rohbau. So wie es aussah, seit Jahren. Baumaterial lag überall wild verstreut herum. War zum Teil zertrümmert, hatte sich in Bauschutt verwandelt. Durch die Fensteröffnungen waren im Winter Schnee und Regen hereingedrungen. Die Böden waren voller Pfützen. Einzelne Wände waren eingerissen worden. Scheinbar ohne Plan. Als ob ein Bautrupp eine Zeit lang neue Presslufthämmer hatte ausprobieren wollen.
Vincent Vega II hatte nach einer optimalen Öffnung im Mauerwerk gesucht, sozusagen nach einer Schießscharte, und sie schließlich hier in Form eines Fensters im ersten Stock gefunden. In einem verwinkelten Raum mit zahlreichen Aussparungen im Boden, an den Wänden und an der Decke für großzügige Rohrinstallationen. Hier hätte wohl ein Badezimmer mit Toilette entstehen sollen. Die Fensterbrüstung befand sich in etwa einem Meter fünfzig Höhe. Nicht ungewöhnlich für so einen Raum. Und eine wunderbare Ablage für sein M24-Scharfschützengewehr.
Er legte den Vorderschaft des Gewehrs auf die Brüstung, drückte den Kolben gegen die Schulter und inspizierte durch das Zielfernrohr die Umgebung. Der Rohbau stand am Rande eines Buchenwaldes. Natur pur. Die Großstadt, der Lärm, der Gestank, die Hektik waren weit weg.
Fünfzig Meter entfernt stand eine Villa aus den Nullerjahren. Flachdach, viel Beton, viel Holz. Weitläufiger Garten mit großer Terrasse, kleinem Teich, Kinderrutsche, abgedecktem Sandkasten.
Der Garten war gesäumt von hohen Birken.
In der Garageneinfahrt parkte ein blauer Jaguar. Die Zielperson war also zu Hause. So wie es Vincent Vega II erwartet hatte. Der weiße Mercedes-SUV, der normalerweise neben dem Jaguar stand, fehlte. Er gehörte der Ehefrau der Zielperson, die um diese Uhrzeit ihre Kinder, ein Mädchen und einen Jungen, in die Kita fuhr.
Durch das Zielfernrohr suchte Vincent Vega II die Fenster der Villa ab, auf die er freie Sicht hatte. Er ließ sich Zeit. Er entspannte sich, übte sich im rhythmischen Atmen. Rieb sich hin und wieder die Augen.
Gegen acht Uhr vierundzwanzig nahm er eine Bewegung hinter der Terrassentür wahr. Kurze Zeit später trat ein Mann auf die Terrasse. Seine Zielperson.
Eine Windböe fuhr durch den Buchenwald. Vincent Vega II hörte den Ruf eines Habichts, gefolgt von dem Krächzen einer Krähe.
Der Mann auf der Terrasse zündete sich eine Zigarette an, inhalierte, betrachtete sie dann, als ob sie ihm auf einmal nicht mehr schmeckte oder als ob ihm einfiele, dass er eigentlich mit dem Rauchen hatte aufhören wollen. Er warf die Zigarette zu Boden, trat sie aus und steckte die Hände in die Hosentaschen. Machte ein zufriedenes Gesicht. Schien die frische Luft zu genießen, die vom Buchenwald herüberstrich.
Vincent Vega II ließ das Fadenkreuz des Zielfernrohrs über den Körper des Mannes wandern. Er trug eine schwarze Hose und einen dicken weißen Pullover. Das Fadenkreuz verharrte ein paar Sekunden auf der Herzgegend. Anschließend wanderte es hoch zu dem Kopf. Ein bulliges Gesicht. Was zu dem untersetzten, schweren, aber nicht schwerfälligen Kerl passte.
Der Mann trug eine Brille. Das Fadenkreuz lag genau auf seinem linken Auge.
Es hätte einen besonderen Reiz, dachte sich Vincent Vega II, den Mann mit einem Schuss durch das Brillenglas ins Jenseits zu befördern. Aber solch ein Schuss barg auch ein gewisses Risiko. Einen Fehlschuss konnte und wollte er sich nicht leisten. Die M24 musste von Hand repetiert werden, darin war er richtig flink. Doch ein zweiter Schuss war nicht mehr als eine Notlösung. Und selten von Erfolg gekrönt. Der Schuss musste also sitzen. Keine Frage.
Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr. Es war acht Uhr zweiunddreißig. Die Zielperson würde in den nächsten Sekunden sterben.
Auf einmal senkte der Mann den Kopf, fummelte ein Smartphone aus seiner Hosentasche, hielt es sich ans Ohr. Knappe Lippenbewegungen. Er drehte sich zur Seite. Mit der anderen Hand fing er an zu gestikulieren. Ein Schulterzucken. Eine weitere Drehung. Der Mann ging zur Terrassentür zurück. Vincent Vega II versuchte fieberhaft, das Fadenkreuz auf den breiten Rücken des Mannes zu heften. Es gelang ihm nicht. Der Mann zog mit der freien Hand schwungvoll die Terrassentür auf, machte einen großen Schritt in die Wohnung, zog die Tür zu. War im nächsten Moment verschwunden.
Vincent Vega II ließ das Gewehr sinken. Atmete kräftig durch. Die Anspannung fiel von ihm ab. Die Zielperson würde heute noch am Leben bleiben, aber er würde nicht lockerlassen. Er würde wiederkommen. Und dann würde er den Todesschuss setzen. Durch eines der beiden Brillengläser dieser schicken roten Designerbrille.
Ein stylishes Café im obersten Stock des Museums für Moderne Kunst. Das ganze Stockwerk war voll verglast.
Victor Hansen hatte einen Tisch reserviert, von dem aus er auf die Stadt, auf den Marktplatz und die Markthalle aus den Anfangsjahren des vorigen Jahrhunderts blicken konnte. Ein wunderbarer Ausblick. Die Morgensonne schien. Hansen bestellte sich bei der etwas mürrischen Bedienung einen Espresso. Als sie sich mit langen Schritten entfernte, kam er nicht umhin, ihre schlanken, nylonbestrumpften Beine zu bewundern.
Nach einer Minute brachte sie ihm den Espresso. »Ich danke Ihnen vielmals«, sagte er übertrieben höflich. »Sehr nett von Ihnen.«
Sie entgegnete nichts. Drehte sich um, stand kurze Zeit später an einem anderen Tisch.
Während Hansen in dem Espresso rührte, schaute er auf seine Armbanduhr. Neun Uhr zweiunddreißig. Ein Hund, ein Labrador, der am Bein eines Nachbartisches festgebunden war, bellte dröhnend. Eine ältere, drahtig wirkende Dame in einer Fuchsfelljacke beruhigte ihn in ähnlicher Lautstärke.
Als Victor Hansen die Tasse zum Mund führen wollte, legten sich von hinten lange Finger auf seine Schulter.
Er stellte die Tasse ab, hob den Kopf, lächelte und sagte: »Alina, wann lernst du es mal, pünktlich zu erscheinen? Selbst zu Treffen, um die du gebeten hast, kommst du zu spät.«
Alina Loban setzte sich ihm gegenüber auf die dick gepolsterte Bank. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug mit weiten Beinen.
»Mach mir bloß keine Vorwürfe, ja!«, sagte Alina. »Auf Vorwürfe reagiere ich allergisch. Sonst sage ich vor allen Leuten hier ›Onkel Victor‹ zu dir.«
»Untersteh dich«, sagte Hansen und trank seinen Espresso aus.
Sie zupfte an seinem weißen Pullover. »Heute soll es noch zwanzig Grad warm werden. Bist du nicht ein wenig overdressed?«
Victor Hansen zuckte mit den Schultern. »Alte Männer wie ich mögen es im Zweifelsfall lieber etwas wärmer.«
Sie lachte. Hansen winkte die Bedienung heran. Zu seiner Tischnachbarin sagte er: »Du kannst dir bestellen, was du willst.« Er neigte sich vor zu ihr. »Onkel Victor zahlt.«
Sie boxte ihm gegen die Schulter und grinste ihn groß an. Zu seinem Erstaunen bestellte sie nur ein Mineralwasser.
»Ich hab zwar alle meine Bordelle abgestoßen«, sagte Hansen, »aber ich verfüge schon noch über so viel Kleingeld, dass ich es mir leisten kann, dir mehr als ein Glas Wasser zu bezahlen.«
Sie zwinkerte ihm zu. »Lass gut sein, Onkelchen, ich habe eine lange Nacht mit eindeutig zu viel Alkohol hinter mir.«
Er betrachtete ihr Gesicht. Vor knapp drei Wochen war sie von zwei Männern böse verprügelt worden, kam mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Die Augen waren grün und blau gewesen, sie hatte überall am Körper Blutergüsse gehabt.
Ihrem Gesicht war jetzt kaum mehr etwas von dieser Gewaltaktion anzusehen. Das lag zum einen sicher an dem dezent aufgebrachten Make-up, zum anderen aber auch daran, dass sie sich einfach unglaublich rasch regenerieren konnte. Sie war, das wusste Victor Hansen, eine zähe Natur, eine Stehauffrau. Eine Frau, die immer in Bewegung war. Zweiundzwanzig Jahre alt, groß, dünn, ein Wirbelwind.
Alina Loban rollte mit den Augen und breitete die Arme aus wie ein Conférencier, der die ankommenden Gäste willkommen heißt. »Und? Hast du mich jetzt lange genug gemustert? Bist du zufrieden mit mir? Gefällt dir, was du gesehen hast?«
»Ja, es gefällt mir«, sagte Hansen und beobachtete die griesgrämig dreinblickende Bedienung, die das Glas mit dem Mineralwasser vor Alina absetzte.
Er zwinkerte Alina zu. »Und ich bin auch mit dem zufrieden, was ich gesehen habe. Du siehst wie immer fabelhaft aus. Ein bisschen untergewichtig …« Dafür bekam er wieder ein Boxhieb gegen die Schulter. »… aber ansonsten alles gut in Schuss.«
»Gut in Schuss?« Alina Loban prustete vor Lachen los.
Hansen wartete ab, bis ihr Lachen wieder abgeebbt war. »Sag mal, wie steht es eigentlich mit dir und Wolf? Dein Onkel Victor ist neugierig.«
Alina Loban rollte mit den Augen, wedelte mit den Händen. »Oi, oi, oi, ich hatte echt Angst vor Wolf. Das kann ich ja jetzt zugeben. Du hast mir ja erzählt, er sei ein paar Jahre im Knast gewesen, aber, he, dass er wegen Mord eingesessen ist, das hast du mir nicht erzählt.«
»Alles nur unwichtige Kleinigkeiten.«
Sie machte die größten Augen, die er je bei einer Frau gesehen hatte. Mit solchen Augen sollte sie eigentlich zum Film gehen. »Hallo!«, sagte sie. »Kleinigkeiten! Er hat zwei Menschen umgebracht. Das sind keine Kleinigkeiten.«
»Das hat er dir erzählt? Was hat er dir sonst noch erzählt?«
Sie strich sich die langen schwarzen Haare nach hinten. »Nicht mehr viel. Dass es sich um keinen Mord gehandelt habe, sondern um Notwehr. Und dass er vor seinem Knastaufenthalt wohl kein besonders netter Mensch gewesen sei. Das kann ich mir bei ihm gar nicht vorstellen. Er ist, glaube ich, der netteste Mensch auf der Welt. Er hält einer Frau die Tür auf, hilft ihr in den Mantel, so Zeugs eben, was es eigentlich gar nicht mehr gibt. Na ja, er ist ja auch alt. Nicht ganz so alt wie du, aber alt.«
Victor Hansen lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Na, na, na. Lassen wir das Thema Alter. Aber Wolf hat schon recht, wenn er behauptet, dass er früher kein netter Mensch gewesen sei. Vor allem gegenüber seinen Mitmenschen, vielleicht mit Ausnahme von mir. Was erzählt er denn so über mich?«
»Über dich?« Sie musste überlegen. »Nichts. Eigentlich hat er dich noch nie in meiner Gegenwart erwähnt. Er sagt halt manchmal, dass er einen Freund besucht, so was in der Art. Aber mehr nicht. Wenn du willst, kann ich ihn ja bei Gelegenheit nach dir fragen. So in der Art: Kennst du eigentlich Victor Hansen. Den großen Victor Hansen.«
»Untersteh dich.«
»Sorry, aber ich bin vielleicht kein guter Spitzel für dich. Habe keine Stasi-Ausbildung oder so was durchlaufen.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Mineralwasser.
»Schon gut«, sagte Hansen. »Kein Problem. Außerdem bist du nicht mein Spitzel.«
Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. »Hallo! Wer hat gesagt, ich soll mich an einen Freund von dir ranmachen und ihn ein wenig überwachen und rauskriegen, was er so vorhat?«