RACHE - J. S. Frank - E-Book
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RACHE E-Book

J. S. Frank

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Beschreibung

Laura Stein ist eine Getriebene. Als Jugendliche ging die junge Kommissarin durch die Hölle und überlebte. Aber die Vergangenheit verfolgt sie bis heute. Unerbittlich jagt sie seit Jahren dem Gangsterboss Victor Hansen hinterher. Um ihn zu stellen, ist ihr jedes Mittel recht. Selbst wenn sie einen Mörder als V-Mann rekrutieren muss: Wolf Berger, Hansens ehemaliger Mann fürs Grobe, frisch aus der Haft entlassen. Kann Laura Wolf überzeugen, für die Polizei zu arbeiten? Und noch wichtiger: Kann sie ihm vertrauen? Denn die beiden verbindet ein dunkles Geheimnis ...

Dieser in sich abgeschlossene Sammelband enthält sechs Folgen der Thriller-Serie RACHE - knallhart, überraschend, nichts für schwache Nerven!

eBooks von beTHRILLED: Mörderisch gute Unterhaltung.

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Seitenzahl: 833

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Sammlungen



Inhalt

CoverWeitere Titel des AutorsÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumRACHE – Der Informant1 WENN DU FRIEDEN WILLST …MITTWOCH, 16. SEPTEMBER, 18:27 UHR2 DEAD MAN FIGHTINGFREITAG, 23. OKTOBER3 DEAD MAN TALKINGMONTAG, 26. OKTOBER4 DER TEUFEL TRÄGT VIELE MASKENSAMSTAG, 31. OKTOBER5 MENSCHEN BRENNENMONTAG, 02. NOVEMBER6 EINE VERLORENE SCHLACHTMITTWOCH, 04. NOVEMBER7 EIN VERLORENER FREUNDDIENSTAG, 17. NOVEMBERMITTWOCH, 18. NOVEMBER8 ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE9 EINE BLUTIGE PARTY10 … BEREITE DEN KRIEG VORDONNERSTAG, 19. NOVEMBERMONTAG, 23. NOVEMBERRACHE – Eine alte Rechnung1 SMACK MY BITCH UP …2 DIE HOOLSFÜNFZEHN JAHRE SPÄTER …SAMSTAG, 28. NOVEMBER3 DAS WEISSE ZIMMERMONTAG, 30. NOVEMBER4 TERROR5 THE LONG RUNDIENSTAG, 01. DEZEMBER6 DER MANN IM ROLLSTUHLMITTWOCH, 02. DEZEMBER7 DER ÜBERFALLFREITAG, 04. DEZEMBER8 AUF DER TODESSPURSAMSTAG, 05. DEZEMBER9 FREIER FALLMONTAG, 07. DEZEMBER10 DIE FARBE VON TRAUER UND TODMITTWOCH, 09.DEZEMBERRACHE – Vertrauen ist tödlichPROLOGMITTWOCH, 23. DEZEMBER1 FREUNDE DER ITALIENISCHEN OPERVIERZEHN TAGE VORHER – MITTWOCH, 09. DEZEMBERDONNERSTAG, 10. DEZEMBER2 DON TEGANO3 FIDE, SED CUI, VIDE – TRAU, SCHAU, WEMFREITAG, 11. DEZEMBERSAMSTAG, 12. DEZEMBER4 IM AUGE DES HURRIKANSSONNTAG, 13. DEZEMBERDONNERSTAG, 17. DEZEMBERFREITAG, 18. DEZEMBERDIENSTAG, 22. DEZEMBER5 MÖRDER UND IHRESGLEICHENMITTWOCH, 23. DEZEMBER6 DIE RICHTSTÄTTE7 SHOTGUN JINGLE BELLS8 ABSOLUTION9 HEILIGABENDHEILIGABEND. DONNERSTAG, 24. DEZEMBERRACHE – Ein Tier in der Falle1 DAS ATTENTATDONNERSTAG, 07. JANUAR2 HACKFRESSESONNTAG, 10. JANUAR3 SHOW ME THE WAY TO THE NEXT WHISKY BAR4 HELP5 FREEZIN’ IN HELLMONTAG, 11. JANUARDIENSTAG, 12.JANUAR6 WIEDERSEHEN UNTER FEINDENMITTWOCH, 13. JANUAR7 DIE PARLAMENTÄREDONNERSTAG, 14. JANUARFREITAG, 15. JANUAR8 GIVE PEACE A CHANCEMITTWOCH, 20. JANUAR9 CLEARING10 AUSKLANGSONNTAG, 24.JANUARRACHE – Auge um Auge1 ABSTURZMONTAG, 01. FEBRUAR2 HAUSBESUCH3 NEUAUFTRAGMITTWOCH, 03. FEBRUARDONNERSTAG, 04. FEBRUAR4 DER LETZTE BULLEFREITAG, 05. FEBRUAR5 GESTÄNDNISSESONNTAG, 07. FEBRUAR6 BAD COP – BAD COPMONTAG, 08. FEBRUARDIENSTAG, 09. FEBRUAR7 VERMINTES GELÄNDE8 PHÖNIXMITTWOCH, 10. FEBRUAR9 AMOK10 ENDSTATIONRACHE – Die letzte ZeuginPROLOG1 DER KILLERDONNERSTAG, 04. MÄRZ2 FEMME FATALE3 THE LONG GOOD-BYEFREITAG, 05. MÄRZ4 STRANGE CONFESSIONSSAMSTAG, 06. MÄRZ5 NIGHTMARESSONNTAG, 07. MÄRZ6 STRANGE CONNECTIONSMONTAG, 08. MÄRZMITTWOCH, 10. MÄRZ7 DER KELLER8 WUNDEN LECKEN9 KAPITULATIONFREITAG, 12. MÄRZSAMSTAG, 13. MÄRZ10 DER VORHANG FÄLLTEPILOG

Weitere Titel des Autors

Infiziert – Überleben in Zone 0

Über dieses Buch

Laura Stein ist eine Getriebene. Die junge Kommissarin ging als Jugendliche durch die Hölle und überlebte. Aber die Vergangenheit verfolgt sie bis heute. Unerbittlich jagt sie seit Jahren dem Gangsterboss Victor Hansen hinterher. Um ihn zu stellen, ist ihr jedes Mittel recht. Selbst wenn sie einen Mörder als V-Mann rekrutieren muss …

Dieser Roman erschien ursprünglich als sechstteilige Miniserie.

Über den Autor

J. S. Frank hat nach seinem Germanistik-Studium mehr als zwanzig Jahre für ein internationales Medien-Unternehmen gearbeitet. Seit 2013 ist er freier Autor mit einem ungebrochenen Faible für die anglo-amerikanische und französische Literatur. J. S. Frank ist ein Pseudonym des Autors Joachim Speidel, der mit seinen Kurzgeschichten bereits zweimal für den Agatha-Christie-Krimipreis nominiert war. RACHE ist bereits sein zweiter Thriller bei »be«.

SAMMELBAND

Die komplette erste Staffel

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Uwe Voehl

Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © Shutterstock: charnsitr | Nejron Photo | Steve Collender

E-Book-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-8531-1

be-ebooks.de

lesejury.de

DER INFORMANT

Folge 1

1 WENNDUFRIEDENWILLST …

MITTWOCH, 16. SEPTEMBER, 18:27 UHR

»Ich bin tot«, murmelte der Mann, der mit dem Rücken an der Wand auf dem fleckigen Bett saß.

Ganz langsam schob er sich den Lauf der Parabellum 08 in den Mund, während er die LKA-Beamtin Laura Stein mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

»Was soll der Bullshit?«, sagte Laura. »Was, verdammt noch mal, machst du da?« Ihre Dienstwaffe, die sie mit beiden Händen umfasst hielt, war auf ihn gerichtet.

Seine Kiefer und Lippen begannen zu arbeiten, aber er brachte nur ein undeutliches Gurgeln hervor.

»Ich versteh kein Wort!«, bellte sie ihn an. »Kein einziges beschissenes Wort!«

Nur das Summen der fetten Stubenfliegen war in dem stickigen Zimmer zu hören.

Im nächsten Moment fing der Mann wieder an zu gurgeln.

Er hatte eine fleckige, löchrige Unterhose an. Ansonsten war er nackt. Sein Körper ein speckig glänzender Fleischberg mit Blutergüssen und Schürfwunden. Das Bett, auf dem er saß, ein schiefes Metallgestell mit einer Matratze, die so aussah, als wäre sie durch einen Abwasserkanal gezogen worden.

Laura verfluchte sich schon, überhaupt hergekommen zu sein. In dieses Drecksloch.

Sie kannte den Mann. Slatan Mihajlowić. Serbe. Nach dem Krieg auf dem Balkan war er als junger Mann nach Deutschland gekommen. Hatte mit Drogen gedealt und irgendwann das Zeug, das er vertickte, auch selbst geschluckt, geraucht, gespritzt. Hatte schließlich einen erfolgreichen Entzug gemacht. Und im Alkohol seinen neuen Seelentröster gefunden. Der hatte ganze Arbeit geleistet. Der ehemals schlanke Slatan war zu einem wund gelegenen See-Elefanten mutiert.

Laura spürte, wie die Spannung in ihr langsam nachließ. Vor nicht mal einer Minute hatte sie mit ihrem Kollegen Dennis Thienemann die Wohnung betreten. Die Tür war offen gewesen. Als sie die sonderbaren Geräusche hörten, wussten sie, dass hier etwas nicht stimmte. Sie hatten sich mit gezückten Waffen Zimmer für Zimmer vorgearbeitet und waren schließlich hier gelandet. Hier in diesem nach Pisse und Scheiße riechenden Zimmer.

»Ist der irre?«, flüsterte ihr Dennis zu. Er war fast zwei Meter groß. Ein ehemaliger Landesmeister im Zehnkampf. Eine imposante Erscheinung. Türrahmenfüllend. So leicht durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Außer durch Situationen, in denen er zur Waffe greifen musste. Dann wurde er zum Nervenbündel. Das wusste Laura nur zu gut.

Sie schüttelte den Kopf. Zu Slatan sagte sie: »Hör mal her, jetzt nimm mal ganz brav die Knarre aus deiner Futterluke und erzähl mir, was los ist. Einverstanden?«

Ein erneutes Gurgeln.

Laura verdrehte die Augen. »Falls du dich nicht mehr daran erinnern solltest, jetzt ganz langsam zum Mitschreiben: Du hast mich vorhin angerufen. Kurz vor meinem wohlverdienten Feierabend. Du wolltest mir was sagen. Was Dringendes. Also, was soll das Theater hier?«

Der Mann riss die wässrigen Augen auf, ließ sie von links nach rechts wandern, als müsste er sich erst vergewissern, dass nicht noch mehr Menschen hier im Zimmer standen, und klappte den Unterkiefer weit nach unten. Seine Hand zitterte, als er den Lauf der Parabellum aus dem Mund zog.

»Ich bin tot«, wiederholte er mit heiserer Stimme.

»Bist du nicht«, sagte Laura und schüttelte verärgert den Kopf. »Du siehst zwar aus wie eine verdammte Leiche, aber du bist nicht tot.«

»Doch«, sagte der Mann.

»Bist du nicht. Wenn du tot wärst, könntest du nicht reden, du Schwachkopf! Du bist nicht mal am Sterben. Du liegst hier nur in deinem eigenen Dreck und versuchst, mich zu verarschen.«

Sie wandte sich an Dennis und sagte: »Mach mal das Fenster auf. Hier stinkt es ja wie einem Schweinemastbetrieb.«

Dennis blickte stirnrunzelnd auf sie hinunter.

»Was ist?«, fragte Laura.

»Kennst du auch das Wörtchen ›bitte‹?«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. Atmete einmal tief durch und sagte: »Also gut, weil du’s bist: Machst du jetzt das Fenster auf? Bitte! Am besten heute noch.«

Dennis steckte seine Dienstwaffe weg und suchte sich einen Weg zum Fenster. Der Boden war übersät mit Müll. Mit leeren Dosen, Flaschen, Tetra-Paks, Pizzaschachteln, dreckigen Hosen, Unterwäsche, Laken, Essensresten.

Er öffnete das Fenster und putzte sich angewidert die Finger an seiner Hose ab. Es gab offensichtlich nichts in dieser Wohnung, was nicht dreckig oder schmierig war. Sie befand sich im elften Stock, der Feierabendverkehr war kaum zu hören, aber die abgasgeschwängerte Stadtluft drückte herein. Sie war immer noch besser als der abgestandene Mief hier im Zimmer. Er nahm einen tiefen Zug.

Die Sonne ging bald unter. Für Mitte September war es noch erstaunlich warm.

»Also, Slatan«, sagte Laura, die langsam ungeduldig wurde. »Jetzt mal raus mit der Sprache. Was hast du mir so Wichtiges zu erzählen.«

Slatan Mihajlowić starrte sie an, als müsste er erst mal in seiner Erinnerung graben, wer sie überhaupt war. Blut und Speichel liefen ihm am rechten Mundwinkel hinunter zu seinem Schwabbelkinn. Der Lauf der Waffe hatte seinen Gaumen aufgerissen oder ein Stück Zahnfleisch weggefetzt oder die Zunge aufgeritzt. »Ich … ich … ich glaube, ich wollte Sie sehen«, sagte er.

»Wen? Mich?«

Er nickte.

Laura knirschte mit den Zähnen. »Und jetzt hast du mich gesehen, Slatan. War’s das?«

»Ich wollte es Ihnen sagen. Die Sache mit den Stimmen.«

»Was für Stimmen?«

»Ich kann sie hören«, sagte Slatan. »Die Stimmen der Frauen.«

»Welche Frauen?«

»Die Frauen in dem Lastwagen.«

Laura Stein verkrampfte sich augenblicklich. Ihre Stimme war leise, als sie sagte: »Die Frauen – was sagen sie?«

»Sie rufen und schreien.«

»Was rufen sie und schreien sie?«

Er wollte ihr antworten, setzte immer wieder an. Jeder Atemzug war eine Anstrengung. Aber er brachte keinen Ton heraus. Ihm liefen auf einmal Tränen aus den Augen.

»Was rufen und schreien sie?«, wiederholte Laura.

»Sie haben Angst.«

»Wovor haben sie Angst?«

Slatans fetter, wabbliger Körper fing an zu wogen, als er zu schluchzen anfing. Er presste jedes Wort einzeln hervor: »Vor … dem … Tod.«

Laura steckte die Waffe weg und sagte diesmal mit mehr Nachdruck: »Was – sagen – die – Frauen?«

»Sie … ich weiß nicht. Ich will ihnen helfen. Aber ich kann nicht. Ihre Stimmen … ich höre immer ihre Stimmen … Tag und Nacht … ich halt’s nicht mehr aus.«

Dennis Thienemann trat neben Laura und blickte voller Verachtung auf Slatan hinab. »Dann haben wir ja was gemeinsam: Ich halte dein Geschwafel auch nicht mehr aus.«

»Dennis!«, fuhr Laura ihn an.

»Was ist?«

»Lass den Quatsch.«

Slatan starrte Dennis an, als hätte er ihn gerade eben zum ersten Mal in seinem Leben gesehen. »Wer … wer … ist das?«

»Mein Kollege, achte nicht auf ihn.«

»Mach nur weiter so«, fuhr Dennis Laura an. »Du wolltest vorhin doch, dass ich zu dem Arschloch hier mitkomme. Und jetzt bin ich hier, und es ist dir auch nicht recht.«

»Er soll gehen«, sagte Slatan zu Laura.

»Einen Scheiß tu ich«, sagte Dennis zu Slatan. »Du verdammter Wichser.«

»Geh«, sagte Laura.

Dennis schüttelte den Kopf. »Jetzt gibt der kleine Pisser schon Befehle. So weit kommt es noch.«

Laura sagte: »Bitte!«

Dennis verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Er deutete auf die Parabellum in Slatans Hand und sagte zu ihm: »Sag mal, Arschloch, funktioniert das Teil eigentlich noch, oder ist das nur ein Spielzeug?«

Slatan starrte Dennis mit tränennassem Gesicht an, hob die Waffe, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte ab.

Die Kugel riss ihm den Hinterkopf weg, Knochenteile, Blut und Hirnmasse klatschten gegen die Wand über dem Bett und blieben dort als klumpiger roter Brei kleben.

Der Kopf fiel ihm auf die Brust. Die Hand sackte nach unten, der Lauf der Parabellum rutschte aus dem Mund, die Waffe landete in seinem Schoß.

Laura konnte einfach nicht glauben, was passiert war. Ihre Ohren dröhnten von dem Schuss. Korditgeruch vermischte sich mit dem Gestank im Zimmer.

Im nächsten Moment schrie sie: »Scheiße! Verdammte Scheiße!« Sie fuhr zu Dennis herum, stieß ihn an die Wand. Packte ihn am Kragen. Kam ganz nah an sein verblüfftes, erschrecktes Gesicht heran. Zischte ihn mit vor Wut zusammengebissenen Zähnen an: »Musste das sein?«

Dennis Thienemann sah zu ihr hinunter. Er war bleich geworden. Musste schlucken. Suchte nach Worten. Ihm fiel kein passendes ein.

Eine Stunde später. Die Sonne war gerade untergegangen.

Die Kripo hatte übernommen. Laura und Dennis machten ihre Aussagen und fuhren anschließend zurück ins Präsidium.

Lauras Hände hatten sich ins Lenkrad gekrallt, ihre Kiefermuskeln arbeiteten.

Sie fuhr unkonzentriert, sprunghaft. Beschleunigte rasant. Bremste schnell ab.

Als sie schließlich an einer roten Ampel halten musste, konnte sie nicht mehr an sich halten: »Was sollte das vorhin, verdammt noch mal?«, blaffte sie Dennis an. »Kannst du mir das sagen?«

»Was?«

»Was? Was? Was?«, äffte sie ihn nach.

»Machst du mir jetzt etwa Vorwürfe, weil der Arsch sich erschossen hat?«

Dennis sah sie abschätzig von der Seite aus an. »Hallo! Er hat sich die Waffe in den Mund gesteckt, als wir sein verdrecktes Zimmer betreten haben. Er wollte sich erschießen. Und jetzt hat er sich erschossen. Ich bin nicht schuld an seinem Tod.«

»Er wollte mir etwas sagen.«

»Dir? Wieso gerade dir?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. Blickte dann demonstrativ zum Beifahrerfenster hinaus. »Wieso gerade dem LKA? Was hat so ein kleiner, heruntergekommener Pisser mit dem LKA zu tun? Was? Kannst du mir das vielleicht sagen?«

Sie nagte an der Unterlippe, starrte auf die Straße, wartete darauf, dass die Ampel umschaltete. Sie ließ sich mit der Antwort Zeit, sagte schließlich: »Slatan war Drogendealer, und als Drogendealer hat er auch eine Weile ziemlich dick im Drogenhandel mitgemischt. Hatte Verbindungen zur organisierten Kriminalität. Als er zum ersten Mal aufgeflogen ist, hat er gleich Deals mit der Polizei gemacht, so nach dem Motto: Ich erzähl euch was, wenn ihr das eine oder andere Auge zudrückt. So habe ich ihn kennengelernt. Irgendwann hat er auch mal erzählt, er wüsste was über die Mafia hier in Süddeutschland. Hat aber letztendlich nur Junkies und kleine Lichter verpfiffen.«

»Und deshalb hast du ihm deine Nummer gegeben?«

»Deshalb hatte er meine Nummer.«

Die Ampel schaltete auf Grün. Sie gab Gas, die Reifen quietschten. Dennis wurde in den Sitz gedrückt. Er sagte: »Und? Haben wir aufgrund seiner Aussagen irgendjemand Großes drangekriegt?«

»Nein.«

Dennis lachte abfällig. »Typisch. Der wollte dich verarschen. Dich ein letztes Mal übers Stöckchen springen lassen. Ich weiß was, Laura. Komm, Laura, spring! Sei ein braves Mädchen.«

»Es gibt niemanden, der mich über irgendein Stöckchen springen lässt«, entgegnete sie scharf.

Wieder eine rote Ampel, wieder bremste sie abrupt ab. Sie standen an einer großen Straßenkreuzung. Es ging hier vierspurig ins Stadtzentrum. Lauras Finger tanzten ungeduldig auf dem Lenkrad.

Als sie wieder anfuhr, sah Dennis zu ihr hinüber. Nachdem sie die Kreuzung überquert hatte, legte er seine große, breite Hand auf ihre Schulter. »Sorry, Laura, hab’s nicht so gemeint!«

Sie schüttelte seine Hand ab wie einen zappelnden Käfer, ein kurzer Blick in den Rückspiegel, dann riss sie das Lenkrad herum, kreuzte die Fahrspuren rechts von ihr. Ein wildes Gehupe setzte ein. Sie visierte die Parkbucht einer Bushaltestelle an, stieg dort aufs Bremspedal. »Fass mich noch einmal an, Dennis, und du kannst zu Fuß gehen!«

Drei Stunden später stand Dennis Thienemann im Hof der ehemaligen Nähmaschinenfabrik in der Nordstadt und drückte auf die Klingel zu Lauras Wohnung. Nichts.

Das alte Backsteingebäude war vor etwa zehn Jahren vollständig saniert worden. Im Erdgeschoss waren kleine Eigentumswohnungen entstanden, in den oberen Stockwerken großzügige Lofts. In einem davon wohnte Laura. Dennis trat von dem Eingangsbereich zurück und schaute an dem Gebäude hoch. Er wusste, wo sich ihre Wohnung befand. Die Fenster waren dunkel.

»Mist«, murmelte er, griff in seine Jeansjacke, holte sein Handy heraus und wählte ihre Nummer.

Er musste nicht lange warten. »Was ist, Dennis?«

Ein lauer Nachtwind zog durch den Hof der Nähmaschinenfabrik. »Wo bist du? Ich bin bei deiner Wohnung und …«

»Du bist wo?«

»Bei deiner Wohnung.« Er stockte, fuhr dann fort: »Die Sache heute Nachmittag … also, die Sache mit dem Selbstmörder lässt mir keine Ruhe.«

»Und deine Frau? Evelyn? Was ist mit deiner Frau?«

»Ich hab gesagt, dass ich noch was im Büro zu erledigen habe.«

»Lügner«, sagte sie.

»Wo bist du?«, fragte er.

»Im Büro«, antwortete sie.

Es war kurz vor Mitternacht. Das Präsidiumsgebäude war bis auf einen Putztrupp und ein paar einzelne übereifrige Kollegen leer

Als Dennis das Großraumbüro betrat, saß Laura vor ihrem Computer, ging Verbrecherdateien durch und trank Kaffee.

»Kann es sein, dass du vergessen hast, wie viel Uhr es ist?«, fragte Dennis vorwurfsvoll.

»Kann es sein, dass du etwas zu viel getrunken hast?«, konterte Laura, ohne sich auf dem Stuhl umzudrehen.

Er wusste nicht, wohin mit den Händen. Lauras Sporttasche stand neben ihrem Schreibtisch. Sie selbst trug ihr Fitnessoutfit: bunte Sportschuhe, schwarze Sport Tights, ein eng anliegendes graues Tank Top. Er steckte die Hände schließlich in die Hosentaschen und sagte: »Wieso?«

»Man hört es dir an, wenn du was getrunken hast«, sagte sie. »Bist du mit dem Wagen gekommen?« Sie beantwortete sich die Frage selbst. »Klar, bist du. Nicht gut, Dennis! Nicht gut!«

»Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen«, sagte er. »Warst du beim Fitness?«

»Ich wollte«, sagte sie. »Hab mich schon mal umgezogen. Aber es ist mir immer was dazwischengekommen. Egal. Oben am Bahnhof gibt es einen Club, da geh ich nachher noch hin. Der hat rund um die Uhr auf.«

»Und was ist dir dazwischengekommen?«

»Unser Freund geht mir nicht aus dem Kopf. Slatan.«

Dennis zog die Jeansjacke aus, hängte sie an den Edelstahl-Kleiderständer und schlenderte zu ihr. »Dann geht es dir so wie mir.«

Sie sah zu ihm hoch. Mit dunklen Augen, die ihn distanziert musterten. Sie hatte ein hartes Gesicht: breite Wangenknochen, eine scharf geschnittene Nase, schmale Lippen, ein kräftiges Kinn. Für Dennis war es das schönste Gesicht, das er kannte.

Die halblangen blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht.

»Und was willst du jetzt hier?«, wollte sie wissen.

»Ich möchte mich entschuldigen«, sagte er.

Sie zog sarkastisch die Augenbrauen hoch. »Wofür?«

»Es tut mir leid wegen heute Nachmittag. Das war … das war einfach unprofessionell. Scheißunprofessionell.«

Laura nickte. »Das war es.«

Mit dem rechten Handrücken wischte er sich Schweiß von der Stirn. Ihm war heiß im Büro. »Aber fuck auch, ich hätte nie gedacht, dass sich der Arsch das Hirn wegpustet. Einfach so. Ich habe die Situation falsch eingeschätzt. Ich dachte, er macht nicht ernst. Macht auf dicke Hose. Oder auf Clown. Oder auf Jammerlappen, der sich einfach gern bemitleiden lässt.«

»Da hast du dich getäuscht, mein Lieber.« Laura drehte sich auf dem Bürostuhl, saß jetzt vor ihm, lehnte sich zurück und streckte die langen Beine aus.

Er sah auf sie hinab.

Sie hatte eine verdammt gute Figur.

Anders als seine Frau. Evelyn war eher der weiche Typ. Mit recht ansehnlichen Rundungen an den richtigen Stellen.

Laura hatte kräftige Schultern, kräftige Arme, eine passable Oberweite. Kein Gramm Fett auf den Rippen. Er wusste es. Sie war die erste Frau mit einem Sixpack, mit der er geschlafen hatte.

Aber er wusste auch, dass es einige Stellen an ihrem Körper gab, die nicht so schön aussahen.

Narben. Verdammt tiefe Narben.

Sie redete nicht darüber. Mit niemandem. Nicht mal mit ihm.

Ihr waren seine Blicke nicht entgangen. Sie sagte: »Was ist?«

Er sah zur Seite. »Was ich nicht ganz verstehe: Du kennst Slatan seit ein paar Jahren. Er hat dir immer mal wieder ein paar Infos gesteckt. In Ordnung. Aber du hast selbst gesagt, so richtig große Tiere hat er nie ans Messer geliefert. Warum hast du es dann so eilig mit ihm gehabt? Warum bist du gleich aufgesprungen, als er dich angerufen hat? Hätte das nicht Zeit gehabt? Er war doch nur ein kleiner Fisch.«

Laura drehte sich mit einem raschen Schwung wieder ihrem PC zu, beugte sich vor zur Tastatur. »Guck mal hier drauf«, sagte sie. Er stellte sich neben sie, blickte über ihre Schulter auf den Bildschirm.

Das Bild eines schmalgesichtigen Jungen mit großen Augen erschien. »Slatan, 1999«, sagte sie. »Kurz nachdem er nach Deutschland gekommen ist.«

Das nächste Bild. Das gleiche Gesicht. Es war etwas fülliger geworden. Die Nase war flach und breit. Offensichtlich gebrochen. »Slatan, 2006. Am Anfang seiner kriminellen Karriere.«

Ein Klick mit der Maus. Ein weiteres Bild. Slatan mit Backenknochen, so spitz, dass sie fast die Gesichtsknochen durchstachen. »2012«, sagte Laura. »Hat voll im Drogenhandel gesteckt. Ist zweigleisig gefahren. War damals schon kokain- und heroinabhängig. Hat immer wieder Jobs für die großen Bosse des organisierten Verbrechens gemacht und gleichzeitig als Spitzel gearbeitet.«

Ein weiterer Klick mit der Maus, und das bullige Gesicht eines Mannes mit hellen Haaren, hellwachen Augen, einer kurzen, kräftigen Nase und einem Dreitagebart erschien. »Victor Hansen. Du kannst dir Slatans kriminellen Lebenslauf ab 2006 vornehmen, du kannst auf jedes Jahr tippen und wirst auf Hansen stoßen. Immer wieder Hansen. Slatan hat richtig Geld verdient bei Hansen, aber er hatte auch Angst vor ihm. Ich war mir sicher, dass er früher oder später über Hansen auspacken würde.«

Dennis kratzte sich am Kopf, als würde es ihn auf einmal furchtbar jucken: »Hansen? Du hast gehofft, er würde über Hansen auspacken? Über den Victor Hansen? Das kann nicht dein Ernst sein!«

Sie sah zu ihm hoch. Nickte. »Das ist mein voller Ernst.«

»Sagt dir das Jahr 2015 etwas?«, fragte Laura. »In dem Jahr verschwanden einunddreißig ukrainische Frauen zwischen siebzehn und fünfundzwanzig Jahren spurlos an der polnisch-deutschen Grenze. Menschenhändler haben sie ihren Familien abgekauft oder mit Versprechungen über das paradiesische Deutschland aus ihrer Heimat weggelockt. Die Menschenhändler haben damals entweder mit Victor Hansen kooperiert oder direkt für ihn gearbeitet.«

Ein Klick mit der Maus, und auf dem Monitor erschien ein Victor Hansen in voller Größe und etliche Jahre jünger. Schwer, stämmig, Stiernacken, lange Haare, Vollbart und in der Kluft des Rockerclubs Hellraisers. Er stand breitbeinig und mit verschränkten Armen im Hof eines Etablissements. Über dem Eingang ein blauer Neon-Schriftzug: Blue Velvet.

Laura sagte: »Victor Hansen hat damals in Deutschland mehrere Laufhäuser kontrolliert und sie mit sogenanntem Frischfleisch versorgt. Man geht davon aus, dass er damit Millionen verdient hat. Wir haben von den ukrainischen und polnischen Behörden Hinweise erhalten, was die Aktion mit den einunddreißig Frauen betrifft. Das LKA war vorbereitet. Irgendwann hieß es, sie würden mit einem Lastwagen über die Grenze kommen. Aber es kam nie ein Lastwagen mit Frauen an. Damals hat das LKA Slatan wegen einer Bagatelle hochgenommen. Beim Verhör ist er dann ins Faseln gekommen, hat behauptet, dass er der Zweitfahrer bei dem Transport damals gewesen sei. Als wir ihm auf den Zahn fühlten, hat er kurze Zeit später wieder alles geleugnet.«

Sie machte eine Pause. Fuhr dann fort: »Ich hatte bei ihm von Anfang an das Gefühl, dass er keinen Unsinn erzählte.«

»2015«, sagte Dennis. »Du warst damals schon mit dem Fall befasst?«

»Es ist mein erster großer Fall nach dem Studium gewesen. Ich war natürlich nur ein kleines Licht. Teil einer Ermittlungskommission …«

»Und dabei hast du Slatan kennengelernt?«

»Genau.«

»Und du hast Slatan immer getraut?«

»Er war ein Schwätzer, ein Aufschneider, ein Angeber, aber was die verschwundenen Frauen betraf, ist er immer ziemlich kleinlaut gewesen. Selbst wenn er geleugnet hat, hat man ihm ein schlechtes Gewissen angemerkt.«

Sie sah zu Dennis auf. »Er wusste etwas. Und auch wenn er damals nicht selbst hinterm Steuer saß – er wollte irgendwann mit irgendetwas rausrücken.«

»Ich weiß nicht so recht, Laura«, sagte Dennis und kratzte sich wieder am Kopf. »Vielleicht bist du ja auch nur angepisst, weil es dein erster Fall war und weil er immer noch ungelöst ist. Willst du wissen, wie mein erster Fall ausgesehen hat?«

»Nein«, sagte Laura. »Interessiert mich nicht. Slatan war kein übler Kerl, obwohl er ein Kleinkrimineller war. Ich wusste, irgendwann wäre er so weit, dass er mir alles erzählen würde.«

»Ach was, komm schon, Laura. Er hat dich verarschen wollen. Stimmen von Frauen. Geht es noch pathetischer? Vielleicht war er ja verknallt in dich. Vielleicht wollte er dir ein wenig imponieren. Vielleicht wollte er sich heute auch von dir retten lassen bei seinem beschissenen Selbstmordversuch. Ich bin mir sicher, dass du auf dem Holzweg bist, was Slatan angeht.«

Ein Klick mit der Maus, und Laura zeigte auf ein aktuelles Foto von Victor Hansen. Wieder in voller Größe, diesmal im Anzug. Solo vor der Fotowand des Presseballs des deutschen Mittelstands. Er wirkte eleganter, nicht mehr ganz so schwer, war glattrasiert, trug eine rote Designerbrille. »Du hast Schiss vor Hansen, stimmt’s?«, sagte Laura,

Dennis schüttelte den Kopf. »Das hat nichts mit Angst zu tun. Das hat damit zu tun, dass Hansen nicht mehr länger ein kleiner Motorradfahrer ist, der gerne dicke Backen macht. Er ist Immobilienunternehmer. Eine große Nummer. Hat hervorragende Connections zu den Regierungsparteien und zur Wirtschaft. Er macht was her. Vor zwei Wochen – hast du ihn nicht gesehen? Mittwochabend? Im dritten Programm? Beim Politiktalk? Thema: ›Deutschland – eine Servicewüste‹.« Er sah fast mitleidig auf seine Kollegin hinab. »Laura, der Mann ist ein Medienstar.«

»Er hatte Dreck am Stecken und hat ihn immer noch.«

»Behauptest du. Man hat ihm nie was nachweisen können.«

»Und das macht ihn in deinen Augen sofort zu einem Unschuldigen?«

»Und in deinen Augen sofort zu einem Schuldigen?« Er hob die Hände und ließ sie resignierend fallen. »Er ist eine Nummer zu groß für dich, Laura. Für das gesamte LKA.«

»Nur weil er auf seriös macht, ist er noch lange nicht seriös geworden.«

»Du kannst den alten Fall nicht ruhen lassen?«

»Einunddreißig Frauen sind verschwunden. Spurlos verschwunden. Einunddreißig Frauen. Warum soll ich so einen Fall zu den Akten legen?«

»Weil es vielleicht nach all den Jahren keine Spuren mehr gibt? Weil es vielleicht einfach keinen Fall mehr gibt? Vielleicht weil damals die Frauen einfach wieder über Umwege in ihre Heimat zurückgekehrt sind?«

»Du glaubst noch an den Weihnachtsmann.«

»Und du glaubst an Zeugen von der Qualität eines Slatan Irgendwiewowitsch. Mit solchen Typen wie Slatan kommst du nicht weit, Laura. «

Er deutete mit dem Zeigefinger auf das Foto von Victor Hansen, der selbstbewusst und kumpelhaft in die Kamera schaute. »Mit solchen Typen kannst du so einen wie Hansen nicht aufs Kreuz legen. Dazu brauchst du ein anderes Kaliber.«

»Du wirst schon sehen«, sagte Laura. Sie klickte das Bild weg. Schloss das Programm, ging aus dem System heraus. Der Monitor wurde dunkel.

»Wie meinst du das?«, fragte Dennis.

Ohne zu antworten, erhob sie sich, ging rüber zum Kleiderständer, schlüpfte in ihre Sportjacke und machte den Reißverschluss zu.

Für Dennis ging das alles zu schnell. »Gehst du jetzt?«

»Nach was sieht es denn aus? Da gibt es noch ein paar Maschinen im Fitnesscenter, die auf mich warten.«

Sie lächelte spöttisch, als sie ihre Sporttasche ergriff und sie unter den Arm klemmte. »Ein Tipp, Dennis: Geh nach Hause. Geh zu deiner Frau und deinen Kindern!«

2 DEADMANFIGHTING

FREITAG, 23. OKTOBER

»Was soll ich sagen, Siggi?«, fing Dr. Wohlfahrt an und platzierte die Patientenakte von Siegfried Mahlke exakt bündig mit der Schreibtischkante vor sich. »Hundert wirst du keine mehr.«

Mahlke, groß, knochig, zäh, antwortete seinem langjährigen Hausarzt: »Hundert will ich auch nicht werden. Jetzt sag schon, wie lange hab ich noch?«

Dr. Herbert Wohlfahrt, ein rundlicher Herr mit Halbglatze, schlug die Patientenakte auf, warf einen kurzen Blick hinein, schloss sie wieder und sagte: »Am 20. Januar nächsten Jahres, also in knapp drei Monaten, wirst du zweiundsechzig. Ich nehme mal an, den Geburtstag wirst du noch erleben. Aber ich kann dir nicht versprechen, ob du viel von ihm mitbekommen wirst.«

Siegfried Mahlke strich sich die langen grauen Haare nach hinten. »Ich hab’s gewusst«, sagte er. Er blickte kurz zur Decke, dann wandte er sich wieder dem Arzt zu. »Frag mich nicht, woher, aber ich hab’s verdammt noch mal gewusst. Wie heißt der Drecksack, der mich da fertigmachen will?«

»Der Drecksack heißt Glioblastom Grad4«, sagte Dr. Wohlfahrt. »Ein extrem aggressiver, schnell wachsender Hirntumor. Ergebnis der Computertomografie. Man könnte noch eine Gewebeprobe entnehmen, wenn du willst, aber sie wird mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit nichts anderes ergeben.«

Dr. Wohlfahrt begann an der Unterlippe zu nagen. »Es tut mir leid, dass ich keine erfreulicheren Nachrichten für dich habe.«

»Schon okay«, sagte Mahlke. Er holte tief Luft – und ließ sie mit einem Seufzer entweichen. Er hatte einen grauen Anzug und ein weißes Hemd an. Eine Marotte von ihm. Seit mehr als dreißig Jahren ging er so zu seinem Hausarzt Dr. Wohlfahrt, einem Freund aus Kindertagen.

»Wenn du früher gekommen wärst, Siggi, hätte man vielleicht noch was machen können. Wann, hast du gesagt, hast du zum ersten Mal gemerkt, dass was nicht mit dir stimmt.«

Mahlke zuckte die Achseln. »Vor fünf oder sechs Wochen. Ich bin da einfach umgekippt. Am helllichten Tag. Einfach so. Hatte nichts getrunken. Auch kein Zeug eingeschmissen. Bin am Flughafen aus dem Auto ausgestiegen, umgefallen und konnte mich nicht mehr bewegen. Musste die Leute beschimpfen, damit sie keinen Notarzt holten. Als ich dann wieder aufstehen konnte, wusste ich, dass da was mit mir nicht stimmte.«

Er kratzte sich am Handrücken und fuhr fort: »Es dauerte nicht lange, bis die Kopfschmerzen anfingen. Das waren keine normalen Kopfschmerzen. Oh Mann, ich hatte in meinem Leben schon allerhand Kopfschmerzen. Vom zu vielen Saufen bis zu der Gehirnerschütterung bei einer Schlägerei mit Motorradketten. Nee, du! Das war diesmal anders.«

»Du hättest damals schon herkommen sollen«, sagte Dr. Wohlfahrt leise.

»Und dann? Hätte ich dann noch eine Chance gehabt? Auf ein richtig langes, schönes Leben?«

»Vielleicht hätte man dich operieren können. Mit einer Chemo- und Strahlentherapie hättest du unter Umständen noch bis zu einem Jahr draufgekriegt.«

Mahlke machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, Scheiß drauf. Weißt du, in meinem tiefen Innern hab ich gewusst, dass es zu Ende geht mit mir. Ich bin im Laufe meiner, sagen wir mal, Karriere dreimal angeschossen worden.« Er deutete dabei mit dem Zeigefinger auf die Hüfte, den linken Arm und die linke Schulter. »Ich habe insgesamt achtmal mit dem Motorrad einen Crash gemacht. Sag mir einen Knochen, der bei mir nicht gebrochen ist. Aber weißt du, die ganze Zeit – selbst als man auf mich geballert hat – hatte ich keine Todesangst. Mir war immer klar gewesen, dass ich die Sache überlebe. Aber jetzt, als ich immer wieder umgekippt bin und die Kopfschmerzen immer stärker wurden, da wusste ich, dass Siggi Mahlke bald Geschichte sein würde. Nenn es von mir aus sechster Sinn, nenn es, wie du willst. Ich wusste es einfach.«

»Und was nimmst du gegen die Kopfschmerzen?«

Mahlke grinste. »Oxycodon. Haut bei mir besser rein als Morphium. Ich hab das eine oder andere ausprobiert, bis ich wusste, was bei mir wirkt.«

Dr. Wohlfahrt nickte. »Wo du das herhast, will ich lieber nicht wissen. Aber sag mal: Wenn dir doch angeblich von Anfang an klar war, wie es um dich steht, warum bist du dann überhaupt zu mir gekommen?«

Mahlke zuckte mit den Achseln. »Ich wollte wissen, wie lange ich noch habe. Mehr nicht.«

Sein Handy klingelte.

Er musste es erst noch in dem für ihn ungewohnten Jackett suchen. Dann sah er den Namen des Anrufers auf dem Display.

Victor Hansen.

Sein Chef.

»Es ist gerade ungünstig«, sagte Mahlke und schielte zu Wohlfahrt hinüber, der sich müde wirkend in seinem Schreibtischstuhl zurücklehnte.

»Ungünstig?«, sagte Victor Hansen mit tiefer Baritonstimme. »Ungünstig? Willst du mich verarschen?«

»Wie meinst du das?«, fragte Mahlke zurück.

»Willst du mir in den Rücken fallen? Willst du mich ausbooten? Willst du mich – pardon my french – ficken?«

Mahlke warf seinem Hausarzt einen erneuten Blick zu. Der wandte sich ab, verschränkte die Hände über dem Bauch und schaute zum Fenster hinaus.

Mahlke stand auf, hielt die Hand vors Mikro seines Handys und sagte zu seinem Arzt: »Du entschuldigst mich kurz, ja!«

Dr. Wohlfahrt nickte.

»Bin gleich zurück«, sagte Mahlke schritt zur Tür, verließ das Sprechzimmer und stand kurze Zeit später im Freien.

Dunkelgrauer Himmel, ein kühler Wind. Ein unfreundlicher Oktobernachmittag.

»Was ist, Victor?«

»Was ist?«, machte Hansen ihn nach. »Herrgottsakrament, Siggi. Komm her! Aber pronto!«

»Hab gerade keine Zeit. Bin beim Arzt.«

»Was zum Teufel machst du beim Arzt?«

»Routine. Herz-Kreislauf-Check.«

Eine kleine Pause entstand. Dann: »Hast du Probleme mit deinem Herz?«

»Nichts Besonderes.«

»Nichts Besonderes. Also gut: Dein Herz-Check ist mir so was von scheißegal. Ich muss dich checken. Komm einfach her. Bin in der WERKSTATT. Wir haben hier ein Problem.«

»Und das Problem bin ich?«

»Das werden wir sehen, Kurzer.«

Kurzer! Mahlke war einen Meter zweiundneunzig groß. Sein Chef beliebte, wie so oft, zu scherzen.

Kurz vor sieben kam Siegfried Mahlke mit seinem Ford Mustang Baujahr 1972 bei der WERKSTATT an. Es war in der Zwischenzeit finster und kalt geworden. Ein typischer Oktoberabend.

Die WERKSTATT befand sich auf dem Gelände einer alten Ziegelei, die vor dreißig Jahren zugemacht hatte. Seitdem war alles, was früher wie geleckt aussah – die Zufahrtsstraße, die Hofeinfahrt, die Stellplätze – von Unkraut überwuchert worden und marode geworden.

Victor Hansen hatte sich schon vor Jahren eine Halle unter den Nagel gerissen und sie zu einer Werkstatt für Oldtimer umfunktionieren lassen. Manchmal standen hier mehr als zwanzig Wagen aus aller Herren Länder und aus den verschiedensten Produktionsjahren. Alte Kumpels von ihm schraubten in der Freizeit, an den Abenden oder an den Wochenenden an den alten Teilen herum. Für die Arbeit an seinen Lieblingsmodellen ließ er so einiges springen.

Der Lärm von Motoren, Winkelschleifern und Hard Rock war hier zu Hause. Es gab keine Nachbarschaft, die sich daran stören konnte.

Wenn Victor Hansen jedoch alleine in der WERKSTATT war, hörte er gerne klassische Musik, Klavierkonzerte. Am liebsten Chopin.

Als Siegfried Mahlke an diesem Abend zu ihm kam, war er allerdings nicht alleine.

»Du kennst Sven?«, fragte Victor Hansen – weißer Anzug, Weste, Krawatte, tausend Euro teure Schuhe – ganz beiläufig. Hatte Hansen bis vor einigen Jahren selbst gerne noch stundenlang an den alten Maschinen herumgeschraubt, so machte er sich jetzt nur noch selten die Finger an Öl und Fett schmutzig.

»Hab ihn schon mal gesehen«, sagte Mahlke und warf einen Blick auf den Jungen, der mit verschränkten Armen an einem Werkzeugspind lehnte.

Hansen schlenderte missmutig um einen roten Jaguar E-Type herum, der wie neu blitzte und blinkte, dem aber der rechte Kotflügel fehlte. »Die Arschlöcher, die mir den Wagen herrichten sollten, wollten mir eine Replik andrehen«, sagte er zu Mahlke. »Heißt das so? Replik?«

Mahlke zuckte mit den Achseln.

Hansen fuhr fort: »Ich habe ihnen gesagt, ich will nur Originalteile. Nichts anderes. Und wenn sie im tiefsten Teil von Afrika danach suchen müssen.«

Er blieb schließlich vor Mahlke stehen und musterte ihn von oben bis unten. »Du im Anzug? Scheiße, ich hab dich in all den Jahren noch nie im Anzug gesehen. Was verschafft mir die Ehre? Oder warst du gerade bei einer Beerdigung?«

»Nee, hab’s dir doch gesagt. War bei meinem Arzt. Der legt Wert auf eine gepflegte Garderobe.«

»Ah ja, stimmt! Wie geht’s deiner Pumpe?«

»So lala.«

Hansen grinste und breitete die Arme aus. »Komm, Kurzer, eine Umarmung muss drin sein. Unter Männern im Anzug.«

Er drückte Mahlke an sich und klopfte ihm kumpelhaft auf den Rücken. Mahlke überragte Hansen nur wenig, aber während er grobknochig wirkte, war Hansen breit mit einem fassähnlichen Brustkorb, dicken Armen und großen, runden Pranken. Er hatte die Statur eines in die Jahre gekommenen, gemütlich gewordenen Schwergewichtsboxers. Eines Schwergewichtsboxers, der mit der roten Designerbrille und den straff nach hinten gegelten hellbraunen Haaren großen Wert auf sein Äußeres legte.

»Um was geht es?«, fragte Mahlke, als sich die beiden Männer voneinander gelöst hatten. »Du hast irgendwas erzählt, ich wollte dich ficken? Oder habe ich das falsch verstanden?«

Hansen sagte: »Sven hat mir erzählt, du hättest Scheiße gebaut.« Ohne Mahlke aus den Augen zu lassen, rief er laut mit kräftigem Bass: »Das hast du doch, nicht wahr, Svennie?«

Der Junge stieß sich von dem Werkzeugspind ab. »Ja, also, so habe ich das nicht gemeint.«

Hansen drehte sich zu ihm um: »Und wie hast du es dann gemeint?«

Sven – etwa zwanzig Jahre alt, ein kindliches Gesicht mit dem Körper eines weißhäutigen, testosteronaufgepumpten Bodybuilders – musste schlucken. Er hatte hautenge Jeans und ein hautenges Muscle-Sweatshirt an. Er fing an, die Hände zu kneten und ließ dabei seine Bizepsmuskeln hüpfen. »Ich hab gesagt, dass mir da was aufgefallen ist, was vielleicht nicht ganz sauber war.«

Hansen lehnte sich an eine Werkbank und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir sind ganz Ohr, Svennie.«

»Also«, sagte Sven, »das war vor … vor etwa einer Woche, am Freitag. Also, da waren Hendrik, Lutger, Ivo, Wlad, ich und, na ja, auch Mahlke am Bahnhof. Also, hinter dem Bahnhof, bei dieser türkischen Spedition. Dort machen wir ja immer die Übergabe der Frauen. Also das war abends, also so nachts. Die Bulgaren waren schon da. Zwei Lkws mit Klamotten. Und ganz hinten hatten sie die Frauen. Vierundzwanzig bulgarische Frauen. Also, die haben die Frauen gebracht, wie abgemacht. Wir haben durchgezählt, und jetzt warten wir nur noch auf die Hellraisers. Damit sie die mitnehmen und auf die einzelnen Häuser verteilen. Aber die Hellraisers kommen und kommen nicht. Lutger hat ’ne SMS gekriegt, dass wir warten sollen. Wegen unvorhergesehener Ereignisse. Und als die dann kommen und sie die Frauen für das Exotic Paradise, für das Lover Paradise und für was weiß ich noch verteilen, sind nur noch dreiundzwanzig Frauen da. Wir zählen alle noch mal, und die Bulgaren werden ganz fickrig. Die gehen die ganzen Papiere durch, die haben ja den Fotzen die Papiere weggenommen. Und ja, da fehlt tatsächlich eine. Da kann man nichts machen. Den Hellraisers ist es irgendwann egal. Sie zahlen das Geld für die dreiundzwanzig Nutten, wir kriegen die Vermittlungsgebühr, den Bulgaren geht es irgendwann auch am Arsch vorbei, und dann hauen sie ab.«

»Nette Geschichte«, sagte Hansen, erblickte einen Kasten Bier am Boden neben der Werkbank, bückte sich und nahm zwei Flaschen heraus. Mit einem Schraubenzieher hebelte er beide auf und reichte eine an Mahlke weiter. Sie stießen miteinander an und tranken einen Schluck.

Sven rieb sich die Handflächen an seiner Jeans trocken. Er wirkte nervös und leckte sich über die Lippen. »Kann ich auch ein Bier haben?«

»Nein«, sagte Hansen. »Alkohol ist nicht gut für so jemanden in deinem Alter.«

Sven nickte verdrießlich und fuhr dann fort: »Also gut, wir sind also am Aufbruch, also Lutger, Ivo und … und … die anderen, als ich seh, dass er«, er deutete auf Mahlke, »dass also er jemanden in seinem Wagen hat. Eine Frau. Und ich wette, dass das die Frau war, die gefehlt hat.«

Er sah Hansen an und wartete darauf, wie er reagieren würde. Hansen zuckte mit den Schultern: »Und weiter?«

Sven rieb sich wieder die Handflächen an der Hose ab. »Ja, und was ich noch gesehen habe. Die Frau hatte noch ein Kind bei sich. Also im Arm. Ein Baby.«

»Ein Baby«, wiederholte Hansen. »Was du nicht sagst!« Er nahm wieder einen Schluck Bier und blickte dann hinüber zu Mahlke. »Und? Was meinst du? Das sind schwerwiegende Vorwürfe. Richtig verflucht-verfickt mächtige Vorwürfe. Wie kannst du dir das erklären mit dieser Bulgarin und dem Balg in deinem Auto? Lass mich bloß nicht hängen, Kurzer.«

Mahlke blieb ganz ruhig, nahm einen großen Schluck aus der Flasche, stellte sie auf der Werkbank ab und sagte: »Da war keine Bulgarin, und da war auch kein Baby in meinem Wagen. Keine Ahnung, was der Penner gesehen hat.«

Hansen sagte: »Keine Bulgarin, kein Baby. Okay. Aussage gegen Aussage. Aber die Anschuldigung steht nun mal im Raum, du hättest hinter meinem Rücken unsere Vermittlungsrolle zwischen den Bulgaren und den Hellraisers ausgenutzt, um dir selbst Frischfleisch zu besorgen.«

Mahlke blickte ihn gelangweilt an. »Eine bescheuerte Anschuldigung!«

Hansen grinste. »Egal. Jedenfalls, wenn Svennie recht hätte, hieße das, du betrügst mich. Mehr noch, du betrügst in meinem Namen auch unsere bulgarischen Freunde und die Hellraisers. Und auch wenn ich schon seit ein paar Jahren nicht mehr der President der Hellraisers bin, so liegt mir mein Ex-Club immer noch am Herzen. Was ich sagen will, ist: Wenn Svennie recht haben sollte, dann ist das natürlich voll Scheiße für dich, Siggi.«

»Das wär voll Scheiße.« Mahlke begann in seinen Hosentaschen zu wühlen und hielt dann Hansen einen Schlüsselbund vor die Nase. »Hier sind meine Wohnungsschlüssel. Lass alles durchsuchen. Dreh alles um Kein Problem. Was soll’s. Ich hab nix zu verbergen.«

Hansen grinste Mahlke an und rief über seine Schultern: »Hast du das gehört, Svennie?«

Sven zog die Schultern hoch und versuchte, cool zu grinsen. »Vielleicht hat er die Frau ja gar nicht in seiner Wohnung.«

»Hör mal zu, Arschgesicht«, sagte Mahlke. »Wenn du behauptest, ich hab die Frau und ihr Baby mitgenommen, dann ist es doch naheliegend, dass ich sie zu mir mitgenommen habe. Und dann ist es auch naheliegend, dass man dort zuerst nach ihnen sucht. Kapierst du die Bedeutung von ›zuerst‹, Arschloch?«

Svens Gesicht wurde rot. Mit zwei Schritten war er ganz nah bei Mahlke. »Noch nie was von Respekt gehört, alter Mann?«

»Leck mich, Hosenscheißer«, sagte Mahlke vollkommen respektlos.

Hansen quetschte sich zwischen die beiden und drückte sie auseinander. »Also wisst ihr, Leute, das geht mir jetzt so richtig auf den Senkel. Klärt das unter euch.« Zu Sven sagte er: »Ich brauch eindeutige Beweise, dass mein alter Freund Siggi mich hintergangen hat, verstehst du?«

»Ich hab aber alles gesehen.«

»Das sind keine Beweise. Du behauptest etwas, und Siggi behauptet das Gegenteil. Und wisst ihr was? Mir geht das am Arsch vorbei. Wenn die Bulgaren und wenn die Hellraisers die Sache mit der Frau geschluckt haben, dann ist das für mich gebongt. Vielleicht hat sie sich in Luft aufgelöst – geht mir am Arsch vorbei. Was mir nicht am Arsch vorbeigeht, ist die Tatsache, dass ich keine Betrüger in meinen Reihen brauche, aber auch keine Sackratten, die über Kumpels herziehen. Also würde ich sagen – klärt das unter euch. Und zwar jetzt. Und zwar hier. Vor mir!«

Er deutete mit dem Kinn auf zwei Vorschlaghämmer, die neben der Werkbank in der Ecke lehnten. Sie lehnten dort alles andere als zufällig.

»Siggi, du weißt, was das bedeutet?«

»Ich weiß.«

Sven verzog sein Gesicht. »Was ist das? So was habe ich schon mal gesehen. Im Film. Das ist so ein Hammer-Ding.«

Hansen verdrehte die Augen. »Ein Kind der Großstadt!« Er stieß sich von der Werkbank ab, ging in die Ecke, hob so ein Hammer-Ding auf und warf es Sven zu. Der versuchte es zu fangen, ließ es aber fallen.

Den zweiten Hammer reichte er Mahlke.

Hansen sagte: »Ich wiederhol mich nur ungern. Macht es unter euch aus.«

Mahlke wog den Vorschlaghammer in den Händen, um ein Gefühl für das Gewicht zu bekommen. Dann griff er mit der linken den Stiel am hinteren Ende, mit der rechten packte er ihn in der Mitte.

Sven fing an, den Hammer auf und ab und von der einen auf die andere Seite zu schwingen. Er begann zu lachen. »Voll krass, das Teil!« Seine Muskeln hüpften. Er leckte sich über die Lippen. »Opa, ich hau dich platt.«

Er machte einen schnellen Schritt nach vorne, riss die Arme hoch, holte weit aus, und der Hammer sauste herab. An Mahlke vorbei. Auf den Betonboden. Funken stoben nach allen Seiten weg.

Hansen schüttelte den Kopf und trank sein Bier aus.

Wieder ein Angriff, wieder wich Mahlke aus. Wieder knallte der Hammer auf den Beton.

»Jetzt kämpf doch, verdammt noch mal«, keuchte Sven.

»Gegen einen Hosenscheißer wie dich?«, sagte Mahlke ganz ruhig.

»Hosenscheißer?«, rief Sven und raste auf Mahlke zu. Der wich im letzten Moment aus, stellte Sven ein Bein, der stolperte und zu Boden knallte.

Keuchend stand er wieder auf. Beim Sturz hatte er sich die Knöchel an beiden Händen aufgeschlagen.

Sven stolperte brüllend auf Mahlke zu und holte dabei mit dem Hammer aus. Doch Mahlke hatte seinen Hammer schon hoch über seinem Kopf. Als Sven nah genug heran war, fuhr Mahlkes Hammer mit voller Wucht herab. Er traf Svens Schädel, es gab einen dumpfen Schlag, Svens Beine gaben nach, er fiel auf die Knie, Blut schoss ihm aus Nase und Mund, die Augen drehten sich nach oben.

Der Oberkörper schwankte vor und zurück. Dann klappte er nach vorne. Mit dem Gesicht schlug Sven auf dem Beton auf.

»Was für ein Arschloch!«, sagte Hansen und schlenderte zu dem Jungen. »Eine verdammte Petze. In meinen Reihen! Das kann ich doch nicht dulden, Siggi. Oder was meinst du?«

»Passt nicht zu uns«, sagte Mahlke, legte den Vorschlaghammer auf die Werkbank und trank sein Bier aus.

Hansen blickte auf den toten Sven hinab. »Wenn’s nicht unsere WERKSTATT wäre, würde ich auf ihn pissen. Hat sich eigentlich ganz gut angelassen, der Junge. Aber dann ist er wohl größenwahnsinnig geworden. Will uns beide auseinanderbringen. Hat der sie noch alle?«

Er trat dem toten Jungen in die Seite. »So, das war’s jetzt für mich. Ich geh jetzt nach Hause. Zu Frau und Familie. Die haben mich den ganzen Tag noch nicht gesehen.«

Er warf Mahlke einen ernsten Blick zu. »Ach ja, noch was, Kurzer.« Er tippte ihm auf die Brust. »Die Sache gefällt mir nicht.«

»Welche Sache?«

»Die Sache mit deinem Herz. Diese Arztgeschichte. Du siehst kacke aus. Schon seit Längerem. Das kann ich nicht dulden. Ich sag dir eins: Lass dein Herz richtig checken. Wenn du einen Spezialisten brauchst, also einen richtig guten, keinen Schlappschwanz – komm zu mir. Ich kenn ein paar. Ich kann nicht auf dich verzichten.« Er grinste. »Ich wüsste nicht, was ich tun sollte ohne dich.«

»Ja, ja, immer die gleiche Leier«, sagte Mahlke.

»Noch was.« Er deutete auf den toten Sven. »Räum den Dreck hier weg, ja? Du weißt schon. Ich will von dem Schwachkopf nichts mehr sehen. Nicht einen Blutstropfen, keine Hautschuppe. Ich kann mich doch auf dich verlassen, Siggi?«

»Kannst du, Boss«, sagte Mahlke.

Er hatte wieder die Arschkarte gezogen.

Mahlke rief zwei Typen von den Hellraisers an, bei denen er noch was guthatte, damit er gemeinsam mit ihnen den »Dreck« wegräumen konnte. Svens Leiche wurde zu einem Leichenbestatter gefahren, der Hansen noch mehr als einen Gefallen schuldete. Sie würde nirgends mehr auftauchen.

Mahlke machte sich keinerlei Vorwürfe, ihn umgebracht zu haben. Der Junge war alt genug gewesen, um zu wissen, dass man nicht einfach so einen altgedienten Weggefährten und Kumpel von Hansen anschwärzen konnte. Mit einem Armdrücken im Clubhaus konnte man so eine Sache nicht aus der Welt schaffen. Und so, wie er aufgetreten war, hätte es ihn bei Hansen eher früher als später erwischt.

Er, Mahlke, hatte jedenfalls keine andere Wahl gehabt.

Dumm nur, dass die Sache mit Sven ihm nur Zeit verschafft hatte. Nur ein klein wenig mehr Zeit. Mehr nicht. Hansen witterte etwas. Mahlke kannte seinen Chef gut genug, um das zu wissen.

Es war kurz nach Mitternacht. Mahlke parkte seinen Ford Mustang vor einem Reihenhäuschen aus den Fünfzigerjahren. Sein kleines Reich. Er schloss die Tür auf und trat ein. Machte das Licht an. Ging in den Keller. Öffnete die Tür zur ehemaligen Waschküche. Er hatte sie schon vor längerer Zeit zu einem gemütlichen Hobbyraum mit Polstergarnitur umgestaltet. Eine junge Frau mit langen kastanienbraunen Haaren und einem Baby im Arm hatte sich in eine Sitzecke gekauert. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht, blickte ihn über die Schulter an.

»Luba«, sagte Mahlke. »Ihr müsst hier weg. Ihr seid hier nicht mehr sicher.«

Er hatte keine Ahnung, ob sie ihn überhaupt verstand.

3 DEADMANTALKING

MONTAG, 26. OKTOBER

Die Frau hatte hohe Wangenknochen, volle Lippen. Augen, in denen Angst und Verzweiflung standen. Ihr Kopf war kahlgeschoren, und die Nase fehlte. An ihrer Stelle waren zwei fleischige, längliche, ausgefranste Höhlen mitten in ihrem Gesicht.

Laura Stein hatte schon viele übel zugerichtete Frauen gesehen – in natura und auf Fotos. Als Leichen und noch lebend. Die Frau auf dem Foto lebte noch. Sie hatte in verschiedenen deutschen Großstädten anschaffen müssen, wurde übel misshandelt, sagte gegen ihren Zuhälter aus, der kam in den Knast, sie wieder in die Ukraine, und dort hatte man sie für ihren »Verrat« bestraft und ihr Gesicht verstümmelt.

Manche von Lauras Kollegen verhärteten mit der Zeit, wurden zynisch, wurden Alkoholiker. Manche drehten durch. Manche stumpften ab. Wenn sie so ein Bild sah, wurde Laura immer noch wütend.

»Wer ist das?« Dennis Thienemann. Er stand hinter ihr, sah über ihre Schulter auf den Monitor. Sie fragte sich jedes Mal, wie er es schaffte, sich ihr so lautlos zu nähern. Er wog gut und gerne an die hundert Kilo.

»Verena Saratschewo. Vor einem Monat abgeschoben.«

»Scheiße!«

»Du sagst es.«

Das Telefon klingelte. Kaum hatte sie abgehoben, sagte eine Stimme: »Spreche ich mit Laura Stein?«

»Genau. Und mit wem spreche ich?«

»Du bist immer noch hinter Victor Hansen her?«

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Hast du Zeit? Sagen wir mal in einer Stunde auf dem Autobahnrastplatz Weinberger Kreuz?«

Die Stimme war ihr von Anfang an bekannt vorgekommen. Tief. Knarzend. Träge.

»Siegfried Mahlke«, sagte sie.

Ein Lachen. »Schlaues Mädchen. Na, brauchst du ein paar Infos über Hansen?«

»Sie wollen über ihn auspacken?«

»Ich habe so einiges, was dich interessieren wird.«

»Wieso soll ich Ihnen glauben? Sie waren Hansen die ganzen Jahre über treu ergeben, und jetzt wollen Sie ihn mir ans Messer liefern. Warum?«

»Ich habe meine Gründe.«

»Geht es noch etwas genauer?«

»Genauer werde ich dann, wenn wir uns treffen.«

Laura merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. War das der verdammte Anruf, auf den sie seit Jahren gewartet hatte?

»Das ist Bullshit«, sagte sie.

Sie hörte ein Lachen. »Du gefällst mir, Mädchen. Immer geraderaus. Ohne Rücksicht auf Verluste.«

»Und um mir das Kompliment zu machen, haben Sie mich angerufen?«

»Genau. Wollte nur mit dir reden. Nicht mit irgendeinem von deinen Schwanzlutscherkollegen.«

»Ich fühle mich geehrt. Aber hören Sie auf, mich zu duzen.«

Wieder ein Lachen. »A 81. Weinsberger Kreuz. Da gibt es eine schöne Raststätte. Wir treffen uns dort in einer Stunde. Also – sagen wir: fünfzehn Uhr.«

»Ich hätte wetten können, dass du kommst.« Siegfried Mahlke, der mit einer Tasse Kaffee vor sich an einem Panoramafenster der Autobahnraststätte saß, blickte zu Laura auf und grinste.

»Schon vergessen?«, sagte Laura. »Diese Scheißduzerei können Sie sich sparen.«

»Hab dich nicht so. Wir kennen uns jetzt schon so lange.«

Laura zeigte auf Dennis und wollte ihn gerade vorstellen, als Mahlke ihr zuvorkam.

»Hab gedacht, du kommst alleine, aber der Junge ist auch okay«, sagte er und fing gleich an. »Dennis Thienemann. Zweiunddreißig Jahre alt. Verheiratet, zwei Kinder, Tochter dreizehn, Sohn elf. Beide gehen aufs Gymnasium.«

Dennis wurde bleich. »Woher …?«

Mahlke strich sich die grauen Haare nach hinten. »Ganz ruhig, ja! Kommt, setzt euch, Kinder.«

Laura und Dennis nahmen ihm gegenüber Platz. Dennis starrte Mahlke misstrauisch an.

»Denkt ihr, nur ihr kennt unsere Personalien, Schuhgröße und sexuelle Vorlieben? Hansen hat im Laufe der Jahre seine Kontakte spielen lassen, um rauszukriegen, wer sich bei den Bullen so um ihn kümmert. Wenn einer von euch vom LKA aufs Klo geht, kriegt er ein Update. Der kennt eure Blut- und Cholesterinwerte der letzten zehn Jahre.«

»Sie bluffen«, sagte Dennis.

»Dein Problem, wenn du es mir nicht glaubst. Ich und bluffen – wo gibt’s denn so was?« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend.

Dennis runzelte die Stirn. »Sind Sie besoffen?.«

»Besoffen? Ich?«, sagte Mahlke. »Nach zwei Bier bin ich noch lange nicht besoffen. Ihr nehmt mich jetzt doch nicht hops, weil ich was getrunken habe und noch Auto gefahren bin?«

»Hören Sie auf mit dem Gelaber«, sagte Laura. »Was haben Sie uns anzubieten?«

»Wir kennen uns jetzt schon wie lange?«, fragte er Laura. »Fünf Jahre? Sechs Jahre?«

»Ich kenne Sie, seit ich Polizistin bin. Siegfried Mahlke, einundsechzig Jahre alt. Hauptschule, Lehre zum Einzelhandelskaufmann, kaum mit der Lehre fertig ein Jahr Haft auf Bewährung wegen eines Drogendeliktes, dann …«

»Okay, okay«, sagte Mahlke. »Ich nehm’s dir ab, dass du meine Akten auswendig kennst.« Er hob die Tasse, nahm einen Schluck Kaffee und setzte sie wieder ab. »Du kennst mich aber vor allem, weil ich für Victor Hansen arbeite.«

»Genau. Weil Sie für ihn arbeiten. Und zwar schon so gut wie Ihr ganzes Leben lang. Und wahrscheinlich kennen Sie mich, weil ich, seit ich Beamtin bin, gegen Hansen ermittle.«

»Er hat Respekt vor dir«, sagte Mahlke.

»Hansen?«

»Er mag Menschen mit großen Zielen. Mit Visionen.«

»Und? Sind Sie ein Mensch mit Zielen und Visionen, Herr Mahlke?«

Mahlke blickte zum Panoramafenster hinaus. »Bin ich nicht. Hab keine Zeit für so was.«

»Sie sind ein einfacher Fußsoldat«, sagte Dennis. »Mehr nicht. Das Mädchen für alles. Einer, der immer hinterherputzt. Hansens fleischgewordener Laubbläser.«

Mahlke wandte sich wie in Zeitlupe Dennis zu. »So wie du mit mir redest – das zeugt von mangelndem Respekt. Eigentlich sollte ich dir gleich hier und jetzt die Fresse polieren. Und sag mir, dass ich das nicht fertigkriegen würde, mein Junge. Ich würde es fertigkriegen. Glaub mir.« Er grinste ihn abfällig an. »Aber ich tu’s nicht, weil ich zum einen ja um dieses Gespräch gebeten habe …« Er kratzte sich an der knochigen Brust. »… und weil du zum anderen verdammt recht hast.«

Laura mischte sich ein: »Okay, ihr beide habt jetzt genug Nettigkeiten ausgetauscht. Ihr mögt und versteht euch. Super! Aber, Mahlke, ich sag’s jetzt zum letzten Mal: Warum wollten Sie mit uns sprechen? Wenn Sie wieder rumeiern und dumme Sprüche reißen, sind wir ratzfatz weg.«

Mahlke starrte in seine Kaffeetasse und begann, sie auf dem Tisch gedankenverloren zu drehen.

Dennis fing neben Laura an zu schnauben. »Das wird nichts. Komm, hauen wir ab.«

Mahlke blickte Laura in die Augen. »Ich will was von dir wissen.«

»Was?«

Er beugte sich ganz weit vor zu Laura und winkte sie mit der Hand her. Sie kam ihm auf halbem Weg entgegen. Dann sagte er: »Wie sieht die Sache aus, wenn ich mich als Kronzeuge zur Verfügung stelle?«

Dieser Mahlke, das wusste sie, war eine verrückte Type. Sie wusste, was er auf dem Kerbholz hatte. Er konnte ein erbarmungsloser Schläger sein und manchmal ein Typ mit einem schrägen Humor. Sie war auf der Hut.

Sie grinste ihn an. »Kronzeuge? Gegen Hansen? Sie wollen mich verarschen!«

»Nein«, sagte er.

»Warum wollen Sie gegen ihn aussagen? Warum wollen Sie ihn uns ans Messer liefern?«

»Wegen Tausenden von Gründen. Aber vor allem aus dem Grund hier.« Er legte das Foto einer jungen Frau mit einem Baby auf dem Arm auf den Tisch.

Laura sah ihn ungläubig an. »Wer ist das?«

»Tut nichts zur Sache. Eine Freundin von mir und ihr Kind.«

Laura griff nach dem Bild und sah es sich genauer an. Die Frau hatte lange kastanienbraune Haare und eine vorwitzige Stupsnase. Das kugelrunde Baby drückte sie, in ein Blümchen-Handtuch gewickelt, an ihre Brust.

Sie gab das Bild zurück. »Sie wollen mir gerade durch die Blume zu verstehen geben, dass die beiden Ihnen nahestehen?«

Er grinste. »Nenn es, wie du willst. Ich will, dass vor allem die beiden von der Kronzeugenregelung profitieren. Sie sollen Schutz erhalten, nicht so einen Dreck wie Abschiebung und so. Richtigen Schutz. Hansen hat die Frau an irgend so einen Puff verkaufen wollen. Und mit dem Baby hatte er wohl was anderes vor. Fragt mich nicht, was. Da habe ich sie mir geschnappt und versteckt. Wenn ihr den beiden helfen könnt, dann helfe ich euch auch. Dann erfahrt ihr alles über Hansen, was ihr wollt. Und ach ja, es wäre nicht schlecht, wenn ihr schnell eine Entscheidung trefft. Ich habe so ein komisches Gefühl bei Hansen. Es könnte sein, dass er weiß, dass ich die beiden entführt habe.«

Er griff erneut nach seiner Tasse, trank sie leer und sagte: »Und ja, hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen: Ich hab’s auch noch aus einem anderen Grund eilig. Ich hab nicht mehr lange zu leben.«

»Ich traue ihm nicht«, sagte Laura zu Dennis. Sie waren nach der Arbeit zu ihr nach Hause gefahren. Zur Nachbesprechung. Unter vier Augen. Im Büro wäre das nicht möglich gewesen.

Sie standen an der langen gemauerten Theke in Lauras Loft, die die Küche vom übrigen Wohn-, Arbeits- und Sportbereich abgrenzte. Es war etwa fünfzehn Meter lang, zehn Meter breit und vier Meter hoch. Neben diesem Raum verfügte das Loft nur noch über ein Badezimmer und ein Schlafzimmer. Im Sportbereich neben dem Badezimmer war eine Klimmzugstange an der Wand befestigt, und von der Decke hingen ein Kletterseil und ein Boxsack herab.

Dennis nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche. »Und warum traust du ihm nicht?«

Sie strich sich eine Haarsträhne hinters linke Ohr und drehte ihre Bierflasche in der Hand. »Ich frage mich, ob jemand wie er, der jahrzehntelang mit Hansen durch dick und dünn gegangen ist, der ihn nie hinterfragt hat, ob so jemand von heute auf morgen so unzufrieden sein kann, dass er ihn verpfeifen will.«

»Da ist noch die Sache mit der Bulgarin und ihrem Baby.«

»Hast du es ihm abgenommen?«

Dennis zuckte mit den Achseln. »Er mag ein Oberarschloch sein. Aber so, wie er es erzählt hat, hat es ausgesehen, als wäre es ihm ernst. Die Sache geht ihm an die Nieren.«

»Er kann richtig gut schauspielern. Weiß, wie man auf die Tränendrüse drückt. Du glaubst nicht, wie viele von diesen Menschenhändler-Schauspielern ich kennengelernt habe, wenn es um die ach so armen Frauen aus Osteuropa geht, die man eigentlich alle nur beschützen will.«

Dennis stellte die Bierflasche ab, griff nach dem Metall-Lampenschirm, der über der Theke hing und kippte ihn in Richtung Laura. Sie kniff die Augen zusammen, das Licht blendete sie. »Sie sind ganz schön zynisch geworden, Frau Stein«, sagte er.

»Nicht zynisch«, sagte sie. »Ich habe in all den Jahren schon so viele Lügen gehört, dass es mir schwerfällt, der erstbesten traurigen Geschichte gleich zu glauben.«

Dennis ließ den Lampenschirm los, rutschte von dem Barhocker und begann, in dem Loft ein wenig herumzugehen. Er blieb vor dem Boxsack stehen, schwang den Kopf von einer Seite auf die andere, ließ die Halswirbel knacken und hämmerte ganz kurz eine Linke und eine Rechte auf das pralle Leder.

Laura beobachtete ihn eine Weile, dann stellte sie die Ellenbogen auf die Theke, senkte den Kopf und fing an, sich die Nackenmuskeln zu massieren.

Siggi Mahlke. Hansens Faktotum. Bietet sich als Kronzeuge an. Als der Anruf heute Mittag zu ihr durchgestellt worden war, war ihr Puls in lebensgefährliche Höhen hochgeschossen. Das war so, als würde man vor der Glotze sitzen, sich die Ziehung der Lottozahlen ansehen, jede Zahl mitschreiben, und am Ende hatte man sechs Richtige. Man würde am liebsten vor Freude laut aufschreien, aber man tut es nicht, weil man einfach nicht glauben kann, dass einem so etwas irgendwann passiert.

Und dann war das Gespräch nach dem anfänglichen Austausch von Nettigkeiten so verlaufen, wie sie es erhofft hatte. Er war bereit auszupacken. Wollte allerdings Sicherheiten. Die zwar weniger ihn als vielmehr die junge Mutter und ihr Kind betrafen. Doch das war nachvollziehbar. Klar. Logisch.

Alles erschien klar und logisch.

Und genau das gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht.

Die Anspannung fiel langsam von ihr ab. Ernüchterung machte sich breit. Frust.

Sie sah Dennis zu, wie er in ihrem Loft herumstromerte. Es war keine gute Idee gewesen, ihn mit hier hoch zu nehmen.

Das war ihr Reich. Ihr Domizil.

Er kannte es. Kannte auch ihr Bett.

Aber das war aus und vorbei.

Dennis bedachte den Boxsack noch mit einer kurzen Rechts-links-Kombination, dehnte dann die Schultern und kam lächelnd zurück zu ihr an die Theke. »Und was hältst du von seiner Erklärung, dass er auf seine alten Tage, sozusagen im Angesicht des baldigen Todes, einfach reinen Tisch machen will?«

»Alles klar. Aber bei einem wie Mahlke klingt das irgendwie – kitschig.«

»Versetz dich in seine Lage. All die Jahre ist er der Mann, der hinter Hansen sauber macht. Ein Mann, der nie murrt, nie mault. In Hansens Kleinganoven-Ära ist er an seiner Seite, ebenso in Hansens Hellraiser-Ära und auch noch, als Hansen sich vom Rockerdasein schon längst verabschiedet hat und auf Nadelstreifen-Bordellbesitzer macht. Wer schaut immer, dass die Marmorfliesen blitzeblank sind? Mahlke! Der wahrscheinlich gutes Geld verdient, aber Tag und Nacht auf Abruf bereitsteht.«

»Er hat es akzeptiert.«