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Die Psychologie der Rache: Was steckt hinter dem Drang nach Vergeltung? Von Rache-Mythen in der Literatur bis zu Polizeiprotokollen unglaublicher Verbrechen: Rache ist allgegenwärtig – aber bisher weitgehend unerforscht. Der renommierte Gerichtspsychiater und Therapeut Reinhard Haller beleuchtet in diesem Sachbuch Ursachen und Hintergründe dieser Gefühlsdimension. Er zeigt ihre Spielarten, die von Schadenfreude bis zum Rachekrieg reichen, und beschreibt, wie aus einer alltäglichen Kränkung oder Zurückweisung ein gewaltsamer Racheakt entstehen kann. - Schwer zu fassen: Rache, das unbeschreibliche Gefühl - Wissenschaftliche Erklärungsversuche: Was treibt uns zum Racheakt? - Vergeltung für Unrecht: Wie wir Racheaktionen vor uns selbst rechtfertigen - Von Politikern bis zu berühmten Kriminalfällen: die Psychologie des Rächers - Ursache und Wirkung: Was Rache mit uns macht Vom Gedanken zur Tat: Welche Triebfedern und Folgen hat Rache? Rache ist süß, heißt es. In die Tat umgesetzt, kann sie aber auch weitreichende und zerstörerische Folgen haben – für den Rächenden und das Racheopfer gleichermaßen. An bekannten Beispielen aus Politik und Kriminalgeschichte sowie berühmten Erzählungen demonstriert Reinhard Haller, wie sich Revanche und Vergeltung auswirken. Was treibt Menschen dazu, manchmal jahrzehntelang auf eine Gelegenheit zu warten, um es jemandem heimzuzahlen? Wie beeinflussen Rachefantasien unsere mentale Gesundheit? Ab welchem Zeitpunkt muss von krankhafter Vergeltungssucht gesprochen werden und wie gelingt es, aus diesem Gedankenkarussell wieder auszubrechen? Kenntnisreich und spannend erklärt der erfahrene Psychiater das Phänomen der Rache, geht der Psychologie hinter dem Gefühl auf den Grund und lädt zum Nachdenken über eigene Rachegelüste ein.
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REINHARD HALLER
Gefangen zwischenMacht und Ohnmacht
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1. Auflage
© 2021 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Palatino, Radikal
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich
ISBN 978-3-7110-0234-1
eISBN 978-3-7110-5256-8
Einleitung
1.Rache – das unbeschreibliche Gefühl
2.Von der Schadenfreude bis zum Rachekrieg
3.Wissenschaftliche Erklärungsversuche
4.Rachefantasie und Racheaktion
5.Ursachen und Motive
6.Rache und Gerechtigkeit: »Das ist so ungerecht.«
7.Rache – Sie macht stark. Sie macht schwach.
8.Rache als Strafe
9.Die großen Triebfedern
10.Unterschätzte Ursachen
11.Die Rache des Narzissten
12.Kränkung – die Saat der Rache
13.Rache in der Partnerschaft
14.Rache in Kultur, Philosophie und Religion
15.Bewältigung der Rache
Epilog
Dank
Literatur
Rache – welch ein Gefühl! So vielseitig und geheimnisvoll, so vertraut und rätselhaft, allgegenwärtig und trotzdem verdrängt, jedem bekannt und von allen gefürchtet, oft verherrlicht und noch häufiger verflucht, komplex und mysteriös – und voller Gegensätzlichkeit. Süß und bitter nennen wir die Rache, heilig und teuflisch, heißblütig und kaltherzig, verlockend und abstoßend zugleich. Rache ist in der realen Welt bedrohlich, als Phantasie tröstlich, in Beziehungen zerstörerisch, im Verbrechen mörderisch, im Kampf indes triumphal. Rache gibt uns Genugtuung, ruft aber auch ein schlechtes Gewissen hervor. Sie strebt nach Ausgleich und revolutioniert die Machtverhältnisse. Sie will Gerechtigkeit, aber schafft neues Unrecht.
Rache durchdringt unser Leben, das individuelle wie das gesellschaftliche. Sie steuert unser Verhalten und begleitet uns von der Kindheit bis zum Tod, manchmal darüber hinaus. Alles rächt sich: Das Schicksal und die alten Fehler, die Sünden der Vergangenheit und die fehlerhaften Entscheidungen, die falschen Freundschaften und die gebeutelte Umwelt, ja selbst die Rache rächt sich.
Rache ist ein Hauptthema der Weltliteratur, der alten Epen und modernen Science-Fiction-Geschichten, der griechischen Dramen und der Kriminalromane. Was wäre die Oper ohne das Rachemotiv, was die Filmindustrie ohne Rachegeschichten? Sind nicht alle großen Helden auch furchtbare Rächer, ob Achilles oder Robin Hood, ob Zorro oder Conan, der Barbar? Rache treibt zu Beziehungsdelikten und Verbrechen, ja zu Amok, Terror und Krieg. Sie nimmt einen breiten Platz ein – in der gesamten Kultur, in Philosophie und Soziologie, selbst in den Religionen. Von der Rachespirale werden Partnerschaften, Freundschaften und Bündnisse erfasst, sie heizt Wirtschaftskonflikte an und löst große Fehden aus. Rache kann Schicksale bestimmen und sich von Generation zu Generation fortpflanzen – untrennbar verbunden mit der menschlichen Wesensart.
»Wie geht es Ihnen mit der Rache?« oder »Haben Sie sich heute schon gerächt?« könnte man mit der gleichen Selbstverständlichkeit fragen, wie man sich nach den Rückenschmerzen oder der Qualität des Schlafes der vergangenen Nacht erkundigt. Doch Rache ist viel mehr – oder viel weniger – als Hass und tätliche Gewalt. Sie beginnt bei heimlicher Freude über das Unglück anderer und der Befriedigung durch die Niederlage eines Konkurrenten. Sie zeigt sich in schroffen Antworten auf lästige Fragen oder im demonstrativen Schweigen nach liebloser Behandlung. Der erigierte Stinkefinger im Straßenverkehr ist genauso ein Akt der Rache wie das Revanchefoul im Fußball, ein vorenthaltener Like bei Facebook ebenso wie das Hassposting im Internet. Und wenn Ihnen dieses Buch nicht gefällt, werden Sie sich durch eine Null-Sterne-Bewertung rächen oder zumindest Schadenfreude empfinden, wenn es von der Kritik zerrissen wird.
Ist Rache fehlende oder gestörte Empathie, jene böse Form des Hineinspürens, die nichts mit Sympathie und Mitleiden zu tun hat? Oder sind Rächende ganz im Gegenteil besonders einfühlsam, weil sie wissen, was dem Opfer am meisten weh tut, welche Werte ihm am wichtigsten und wo sie daher am verletzlichsten sind? Geht es bei Rache um Recht oder Bosheit, wie Dostojewski fragt? Kein Gefühl – bezeichnen wir die Rache denn als solches – ist so schwer zu beschreiben. Ihr Spektrum reicht von spontaner Revanche bis zu zwanghaft bohrenden Rachegedanken, von diffusen Rachebedürfnissen über Rachlust bis zur unstillbaren Rachsucht, von verständlichem Vergeltungswunsch bis zu nicht vorstellbarer Grausamkeit. Sie entspringt dem Verlangen nach Gerechtigkeit und soll der Wiedergutmachung und dem Ausgleich dienen. Ihre Triebfedern sind Kränkung und enttäuschtes Vertrauen, Eifersucht und Narzissmus, Neid und Hass. Die tiefsten Wurzeln liegen in versagter Positivzuwendung und der menschlichen Urangst vor Liebesentzug. Rache vereint in sich alle menschlichen Gefühle, die normalen und vertrauten, die krankhaften und bösartigen, ja sogar die guten.
Und wie sollen wir mit Rachegefühlen umgehen? Sie offen ausleben oder verdrängen, uns dazu bekennen oder sie verheimlichen? Genügen uns Rachephantasien oder sind wir erst nach der konkreten Handlung zufrieden? Geht es uns besser, wenn wir vergelten und damit den scheinbar gerechten Ausgleich herstellen, wenn wir Genugtuung erlangen? Sollen wir Gnade vor Recht und Großmut vor kleingeistiger Revanchelust walten lassen? Ist nicht Verzeihen die beste Rache, selbst wenn sie dem Wort des alten Spötters Oscar Wilde folgt: »Vergib deinen Feinden, nichts verdrießt sie mehr?«
Mit keinem anderen Gefühl ist es so schwierig, gut zurechtzukommen wie mit der Rache. Von der Freude werden wir getragen, die Liebe entrückt uns. Zorn und Wut überfluten den Menschen, die Trauer durchdringt ihn und die Depression legt dem Gemüt Fesseln an. Mit der Rache in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit tun wir uns schwer. Sollen wir sie ausleben und auskosten oder sollen wir sie überwinden und darauf verzichten? Dürfen wir sie überhaupt ansprechen? Ist sie eine Weltuntergangsmaschine oder eine den Fortschritt treibende Kraft? Trinken wir den bittersüßen Kelch der Rache, voll Lust und mit schlechtem Gewissen zugleich, sind wir tief befriedigt – und dabei selbst vergiftet. Wir können uns wieder und wieder rächen und die Rachespirale anheizen, wir können das Bedürfnis verleugnen und verdrängen oder rationalisieren. Aber können wir Rache auch überwinden oder gar konstruktiv nutzen?
Bei Recherchen zum Rachethema springt besonders der eklatante Widerspruch zwischen der enormen Bedeutung von Rachegefühlen im individuellen und gesellschaftlichen Leben, in der Menschheitsgeschichte sowie kulturellen Entwicklung und den geringen wissenschaftlichen Kenntnissen über dieses Phänomen ins Auge. Es ist schon erstaunlich: Da gehört Rache zur Urausstattung der menschlichen Gefühlswelt, zu einer maßgeblichen Größe im psychischen Apparat, zu den wichtigsten emotionsregulierenden und verhaltenssteuernden Kräften. Und trotzdem interessiert sich die Forschung kaum für das Thema, sodass es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zum Rätsel der Rache gibt. Meine langen Erfahrungen als Psychotherapeut haben mir gezeigt, wie weit Rachegedanken verbreitet sind – man muss nur danach fragen – und wie sehr sie verdrängt und tabuisiert werden, aber auch – das sage ich durchaus selbstkritisch – wie wenig man sie therapeutisch bearbeitet. Haben Sie schon einmal von Rachekonzepten, Rachetheorien, Rachediagnosen oder gar von Rachetherapie gehört?
Zurecht werden Sie fragen, weshalb zum Thema Rache ein ganzes Buch geschrieben wird, wenn das Phänomen ohnehin schwer durchschaubar, nicht wirklich zu erklären, wissenschaftlich kaum zu fassen, ja nicht einmal richtig zu beschreiben ist. Wenn alle Rachegeschichten tausendmal erzählt, alle Rachedramen ständig aufgeführt und sämtliche Rachefilme immer wieder gespielt werden? Die Antwort ist einfach: Rache kann nur entschärft und bewältigt werden, wenn man sie möglichst genau kennt, ihre Ursachen und Motive, ihre psychologischen Grundlagen und ihre verschiedenen Formen, ihre Wirkungen in der Seele und ihren Einfluss auf unser Verhalten. Der Anspruch des Buches besteht in der möglichst transparenten Darstellung einer der wichtigsten psychologischen Kräfte und in der Sensibilisierung für ein oft verdrängtes Thema. Es geht um Fassbarkeit und Begreiflichkeit eines komplexen, schwer durchschaubaren psychosozialen Phänomens und um den richtigen Umgang mit einem unserer wichtigsten Gefühle. Dabei war es nicht zu vermeiden, trotz der täglichen Fülle an neuen Rachegeschichten und schaurig-schönen Beispielen, auf einige bestens bekannte zentrale Racheereignisse, auf einzelne wohlvertraute Erzählungen und Überlieferungen einzugehen, da darin grundlegende Erkenntnisse zum Wesen der Rache enthalten sind.
Erwarten Sie von diesem Buch deshalb nicht nur dramatische Fallbeispiele und mehr oder weniger spannende Racheschichten, nicht nur moralisierende Verurteilungen eines bösen Gefühls oder psychotherapeutische Ratschläge zur Überwindung der Rachetraumen, sondern ebenso Analysen des befreienden und selbstwertstärkenden Effektes der Rache. Rache soll weder verteufelt noch verherrlicht, sondern erklärt werden, immer im Bewusstsein, dass all das Stückwerk bleibt. Aus der Weisheit der Mythen und Märchen, den Erkenntnissen von Wissenschaft und Forschung, aus großen Kriminalfällen und den vielen Geschichten des Alltags kristallisiert sich letztlich eine Erkenntnis heraus: Rache hält uns Menschen gefangen – zwischen den Gefühlspolen Macht und Ohnmacht.
Rache ist ein komplexes und ungemein vielgestaltiges, ja ein schillerndes Phänomen. Mehr als ein Gefühl, mehr als ein Gedanke, sogar mehr als eine soziale Interaktion. Schon ihre psychologische Einordnung ist schwierig, ein schlüssiges Erklären gelingt nie vollständig. Selbst die gefühlsmäßige Beurteilung bleibt höchst ambivalent.
Obwohl Rache überwiegend als moralisch verwerflich und sozial unerwünscht gilt, sind ihr auch zahlreiche psychologisch positive Seiten zu eigen. Denken wir nur an ihre innerlich entlastenden, das Gerechtigkeitsgefühl befriedigenden oder das Selbstvertrauen aufbauenden Effekte. Auf der einen Seite quält sie uns, führt zu Kränkung, Neid oder Hass und stellt den Gegenpol zu Vergeben und Verzeihen dar. Auf der anderen Seite verschafft sie uns Genugtuung und wirkt im Spannungsfeld unserer Beziehungen ausgleichend. Als eine der letzten Waffen des kleinen Mannes wird die Rache selbst von den Großen und Mächtigen noch gefürchtet und zeigt diesen, wie gefährlich es sein kann, die Kränkungsgrenze der Mitmenschen zu missachten. Rache ist nicht nur böse und schlecht, sie kann auch entlasten, befriedigen und den Selbstwert stärken. Mit Augenmaß und Achtsamkeit ausgeübt, kann sie fallweise sogar gesund sein. Die Gratwanderung zwischen Wiedergutmachung und Grenzüberschreitung, zwischen fairer Revanche und destruktivem Machtkampf ist allerdings schwierig und gehört zu den großen individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen. Darf Rache sein, muss Rache sein, brauchen wir Genugtuung um jeden Preis? Darf oder soll man Vergeltung üben, kann man sie in anderer Form erlangen oder gar darauf verzichten?
Die Rache lebt – immer und überall und jederzeit. Sie gehört zur Grundausstattung der menschlichen Gefühlswelt und ist Teil des tierischen Reflexverhaltens. Auch heute, im Hier und Jetzt, ist sie aktuell wie eh und je und wird es immer sein. Im individuellen Verhalten, im gesellschaftlichen Leben, in der großen Politik:
Gegen Ende seiner von vielen Racheaktionen geprägten Amtszeit geriet der abgewählte US-Präsident Donald Trump nach Meinung vieler Kommentatoren in einen wahren Blutrausch. In aller Eile ließ er, offensichtlich um einer Überprüfung der Rechtsmäßigkeit der Todesurteile zuvorzukommen und seine Rachebedürfnisse noch ausleben zu können, 13 Personen hinrichten, darunter einen Verurteilten, der zum Zeitpunkt der Tat gerade 18 Jahre alt war, und zum ersten Mal seit 70 Jahren auf bundesstaatlicher Ebene eine Frau. Mehrere Exekutionen wurden sogar gegen den Willen der Opferfamilien durchgeführt. Damit wurden in den letzten sechs Monaten von Trumps Regentschaft dreimal mehr Todesurteile vollstreckt als unter sämtlichen Präsidenten der 60 Jahre zuvor. Zudem ordnete die Justiz unter Trump, welcher bereits in seiner Zeit als Immobilienmogul die Hinrichtung von Jugendlichen befürwortet hatte, einen ausgerechnet am Heiligen Abend in Kraft getretenen Notfallplan an, nach welchem längst abgeschaffte grausame Hinrichtungsmethoden wie Gaskammer oder elektrischer Stuhl unter bestimmten Bedingungen erlaubt seien. Solche von vielen Kommentaren als moderne Lynchmorde bezeichneten Aktionen enthalten viele Racheelemente: Rache für die (drohende) Wahlniederlage, Rache an der Haltung des Wahlsiegers Joe Biden, einem deklarierten Gegner der Todesstrafe, stellvertretende Rache an den Wehrlosen sowie Rache als symptomatisches Verhalten eines durch und durch narzisstisch agierenden Menschen.
Rache ist nicht vergleichbar mit allen anderen Gefühlen, sofern sie überhaupt als Gefühl bezeichnet werden kann. Wir tun uns schon schwer, Rache zu definieren und zu beschreiben, ihre Ursachen zu erkennen und ihre Auswirkungen zu erfassen. Noch schwieriger ist der eigene Umgang mit diesem Gefühl, die Einstellung zu dieser ganz besonderen Emotion. Gibt sie uns Befriedigung oder löst sie ein schlechtes Gewissen aus, solle man sie verdrängen oder ausleben, suchen wir in der Rache Rehabilitation oder haben wir Angst vor Beschämung? Psychologisch ist nicht einmal geklärt, ob das Racheopfer wissen muss, weshalb es zu leiden hat, von wem die Racheaktion ausgeht, wer hinter der Schädigung steht. Genügt es der rächenden Person, wenn sie allein um ihre Rache weiß und sich gleichsam selbst befriedigt, oder muss dem Adressaten der Grund für die Strafe bewusst gemacht und die Rache demonstrativ vorgeführt werden? Die Meinungen von Wissenschaftlern und Psychotherapeuten sind in dieser Frage geteilt:
Elke lebte in einer glücklichen Partnerschaft. Dies zu sagen, sei vielleicht kitschig, meinte sie, und bediene nur ein Klischee, im Falle ihrer Ehe sei es aber richtig. »Uns geht es gut zusammen« oder »Wir lieben uns wie am Anfang«, sagte sie oft zu ihren Freundinnen – nach deren Geschmack allzu oft. Für längere Zeit verlor sie über ihre Ehe und ihrer beider Gemütszustand kein Wort mehr. Sie hatte nach einigen Wochen der Unruhe und des Zweifels, des Misstrauens und Bangens, hin- und hergerissen zwischen Kontrollzwang und Glauben an die Treue, Klarheit über eine Nebenbeziehung ihres Mannes gewonnen. Ob sie wollte oder nicht, musste sie zur Kenntnis nehmen, dass dieser für einige Monate wohl das gehabt hatte, was man als »Affäre« bezeichnet. Sie fühlte sich tief enttäuscht, verletzt und entwürdigt, spürte aber gleichzeitig die starken Grundfesten ihrer Beziehung und den unbedingten Wunsch zur Weiterführung der Ehe. Sie sagte ihrem Mann kein Wort von ihrer Entdeckung, präsentierte ihm weder Beweisstücke noch eine Indizienkette, schrie ihren Schmerz nicht hinaus, sie stellte ihn nicht einmal zur Rede. Dessen Affäre flog nie auf, wurde von allen Beteiligten verschwiegen und war bald Vergangenheit – aber für Elke noch nicht erledigt. Sie nahm Kontakt zu einem entfernten Bekannten auf, einem kurz vor dem Abschluss stehenden Studenten, der kürzlich bei einem gemeinsamen Fest auffallend oft auf ihr Dekolleté gestarrt hatte. »Donnerstag, 28. Januar 2016, 14:00 Uhr. Hotel XY, Zimmer 2010« lautete die SMS-Nachricht. Es kam, wie es auch im Film in solchen Situationen meist kommt: Sie wurde mit ihm intim. Der Seitensprung sei weder aufregend noch schön gewesen, bereut habe sie ihn aber nicht, obwohl so etwas für sie nie in Frage gekommen wäre. Es habe sich nicht um Ehebruch oder billige Rache gehandelt, es sei um Ausgleich gegangen. Sie habe danach das Gefühl gehabt, mit ihrem »unwissenden« Mann wieder auf Augenhöhe zu sein. Nie habe sie jemandem eine Silbe erzählt und vor ihren Freundinnen erwähnte sie wieder öfter, wie glücklich sie in ihrer Beziehung sei.
Meist geht es bei Rache um Ausgleich und subjektive Gerechtigkeit. Rache führt aber auch zu kognitiv-emotionalen Dissonanzen und kann beim Rächer eine Gefühlsdiffusion auslösen. Dies ist nur möglich, weil am Phänomen der Rache Gefühl und Verstand in eigenartiger Weise beteiligt sind, und das viel weniger abgegrenzt als etwa bei Liebe, Wut oder Trauer. Wenn es um Rachegedanken und -gefühle geht, sind wir hin- und hergerissen wie bei keinem anderen emotionalen Zustand. Es ist erstaunlich, wie hartnäckig sich dieser halten kann – oft über Jahre und Jahrzehnte, manchmal sogar über den Tod hinaus.
Bei keinem anderen Gefühl ist das Zusammenspiel von emotionalen und rationalen Elementen so komplex wie bei der Rache. Sie ist nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein Gedankengebilde und ein kognitiver Prozess. Sie erfasst sowohl das Gemüt als auch den Verstand. Die Liebe folgt keinen logischen Gesetzen, kann nicht erdacht und gedanklich kaum gesteuert werden. Sie überwältigt den Menschen in seiner Gesamtheit, und sie macht ihn gleichsam blind. Und erst recht das Glück, diese einzigartige Erfüllung menschlichen Wünschens und Strebens, das wir allen Definitionen zum Trotz nicht kognitiv erfassen und mit unzähligen Glücksanleitungen nicht wirklich lernen können, weil es sich letztlich um reine Emotionalität handelt. Glückszustände kann man auch mit Hilfe aller Ratgeber nicht ersinnen, und Glücksmomente lassen sich nicht planen. Sie unterliegen weitgehend den emotionalen Abläufen. Oder nehmen wir die Angst: Realangst ist rational begründet und somit für jeden nachvollziehbar und begreifbar. Sofern die Ängste jedoch krankhaften Charakter haben, entziehen sie sich großteils der Rationalität und sind dann unangebracht, können nicht nachempfunden werden und scheinen unlogisch. Somit ist neurotische Ängstlichkeit überwiegend, aber nicht ausschließlich, im emotionalen Bereich anzusiedeln. Depressionen kommen über den Menschen, oft als Reaktion auf belastende Ereignisse, oft ohne erkennbaren Grund, wie dunkle Wolken, die alles verdüstern, was es zu empfinden gäbe. Auch wenn es bei der Schwermut zu kognitiven Verzerrungen kommen kann, lässt sie sich weder gedanklich steuern noch rational begründen. Vielmehr bewegt sie sich durchgehend auf der emotionalen Schiene und spielt sich fast ausschließlich im Gefühlsleben ab.
Bei der Rache ist dies ganz anders. Sie setzt sich aus einem variablen Zusammenspiel von aggressiven und ausgleichenden Gefühlsimpulsen und planerischem Denken zusammen. Treffend wird dies mit dem Ausdruck »auf Rache sinnen« beschrieben. Darin sind permanent vorhandene Racheüberlegungen, destruktives Grübeln und zwanghaftes Ausbrüten von Racheplänen ebenso enthalten wie das gefährliche Abwarten, die Düsternis der Gefühlswelt und die nach Befreiung strebende negative Befindlichkeit. Bei unmittelbaren Rachereflexen und impulsiv ausgeführter Rache, bei Rachehandlungen ohne »Cool off«, dominieren Affekte und emotionale Motive. Je größer die zeitliche Distanz zwischen erlittener Schädigung und verwirklichter Rache, desto stärker tritt das rationale Element in den Vordergrund. Der Racheplan wird dann differenzierter und nimmt Form an. Die Rachehandlung wird durchdachter, der »Erfolg« wesentlich sicherer.
Neben dem charakteristischen Zusammenspiel zwischen emotionalen und rationalen Psychofaktoren unterscheiden sich bei der Rache die eigenen inneren Reflexionen wesentlich von jenen anderer Gefühle. Den positiven jagen wir ständig nach und bekommen von ihnen nicht genug. Von Wertschätzung und Anerkennung lässt man sich tragen, und von positiver Resonanz werden wir nie satt. Auf der anderen Seite will man der drückenden Depression entfliehen und sich von Kränkungen oder Ängsten mit allen Mitteln lösen. Der Rache hingegen begegnen wir mit großer Ambivalenz. Sie treibt uns in einen Zwiespalt, bei dem das Versprechen von anhaltender Genugtuung und unmittelbarer Befriedigung auf der einen Seite steht, das schlechte Gewissen auf der anderen. Für Rachegedanken muss man sich immer auch vor dem eigenen Gewissen geradezu rechtfertigen, da sie ja immer destruktive Strebungen beinhalten, auf die Schädigung eines Mitmenschen abzielen und Zeugnis für das in uns schlummernde Böse sind. Möglicherweise lassen sie uns sogar an unserem eigenen Gerechtigkeitsgefühl zweifeln. Wenn wir uns einmal der Frage stellen, wen wir mehr bewundern, einen Rächer der Witwen und Waisen oder einen geläuterter Charismatiker, der großzügig verzeihen kann, zeigt sich dieses Hin-und-Hergerissen-Sein.
Der innere Kampf um all jenes, das den moralischen Ansprüchen genügt und über die reine Befriedigung aggressiver Begierden hinausgeht, offenbart die ganze Ambivalenz unseres Umgangs mit der Rache. Dies erklärt auch, weshalb wir immer wieder versuchen, der hinter der angeblich gerechten Rache lauernden Bösartigkeit ein moralisch rechtfertigendes Mäntelchen umzuhängen. Wenn wir die Schuld jenen zuschieben, bei denen wir uns revanchieren wollen, zwingen uns diese geradezu zur Gegenattacke und sind dafür verantwortlich. Machtgelüste werden so zu legitimen Ansprüchen emporstilisiert, Aggressivität wird zur Selbstbehauptung umgedichtet und Sadismus als Notwehr verkauft.
Berühmt geworden sind die Worte Adolf Hitlers vor dem Deutschen Reichstag nach dem Überfall seiner Truppen auf Polen am 1. September 1939, der als Auslöser des circa 50 Millionen Menschenleben fordernden Zweiten Weltkrieges gilt: »Seit 05:45 Uhr wird zurückgeschossen«. Der Despot versuchte damit, einen durch nichts gerechtfertigten Angriffskrieg geradezu als Notwehr, als eine verständliche Aktion, zumindest als heldenhaftes Sich-Wehren darzustellen. In diesem Stil ging die Rede weiter: »Von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft. Wer selbst sich von den Regeln einer humanen Kriegsführung entfernt, kann von uns nicht anderes erwarten, als dass wir den gleichen Schritt tun.«
Mit demagogischer Rhetorik und enormem manipulativen Geschick missbraucht der »Führer« den Vergeltungsbegriff, um dem malignen Narzissmus seiner Person einen heroischen Charakter zu verleihen, das Verderben eines anderen Volkes als Dienst am Vaterland zu glorifizieren und die eigene bösartige Motivation als moralisch gerechtfertigt darzustellen.
Eine weitere Besonderheit des Rachephänomens ist dessen Hartnäckigkeit. Rachegefühle können akut aufbrechen, vorübergehend stärker oder schwächer werden und wieder vergehen. In aller Regel erweisen sie sich indes nicht als flüchtig, sondern leiten einen lang anhaltenden Prozess des Grübelns und Brütens ein. Dieser dauert bis zur Verwirklichung der Rache oder bis zu deren Überwindung, manchmal bis zur Entschärfung durch die Milde des Alters oder das demenzielle Vergessen. Meist drängen sich Rachebedürfnisse jedoch zwanghaft auf, abhängig von der Art der Verletzung und der Empfindlichkeit des Opfers, nehmen suchtartigen Charakter an und gären jahrelang vor sich hin, vergleichbar mit einer nicht verheilenden Wunde. Oft wird für die Rache bewusst ein hoher, ja ein viel zu hoher Preis bezahlt, etwa jener des erheblichen finanziellen Schadens oder des Verlusts der Lebensqualität. Dies scheint aber weniger ins Gewicht zu fallen als das Erleben von Genugtuung und subjektiver Gerechtigkeit:
Im März 2018 stürzte in Granada auf offener Straße ein 70-jähriger Mann, früher von Beruf Metzger, mit einem Messer mit den Worten »Ich werde dich töten« auf einen ihm scheinbar zufällig begegnenden Passanten zu. Wie die Ermittlungen ergaben, handelte es sich beim Opfer um den Mörder der Tochter des nunmehrigen Täters. Dieser hatte im Mai 1985 die damals vierjährige Ana Isabel in einem andalusischen Dorf in einen verlassenen Garten gelockt, um sich an ihr sexuell zu vergehen. Als sich die Kleine wehrte, versuchte er zunächst, sie zu erwürgen. Nachdem dies misslang, warf er das hilflose Kind in einen drei Meter tiefen Brunnen, deckte diesen ab und ging nach Hause. Das Mädchen erstickte an Wasser und Schlamm, ihre Leiche wurde einige Tage später gefunden. Bald schon konnte als Verdächtiger der damals 22-jährige Enrique Sánchez, ein Cousin der Mutter des toten Kindes, verhaftet werden. Er gestand die Tat und wurde zu 40 Jahren Haft verurteilt, von denen er 20 Jahre verbüßen musste. Der Vater des Opfers sah nicht nur das Leben seiner Tochter, sondern auch sein eigenes zerstört und konnte es nicht ertragen, den Mann in Freiheit zu sehen. So schritt er, seine eigene Verurteilung und einen Lebensabend in Gefangenschaft in Kauf nehmend, 30 Jahre nach der Ermordung seines geliebten Kindes selbst zur Rache.
Meist hat die Rache also einen langen Atem. Die ursprünglichen Verletzungen heilen nicht aus, sie vernarben höchstens mit dünner Haut, die jederzeit wieder platzen kann. Geringfügige Irritationen lassen die alten Wunden aufbrechen, die Racheimpulse bohren nun noch stärker als zu Anfang. Solche Abläufe erklären den bekannten Retraumatisierungseffekt, das erneute Erleben einer schon einmal erlittenen Verletzung, allerdings in gesteigerter Intensität und mit noch stärkerem Verlangen nach Wiedergutmachung und Rache. Rachegefühle sind hartnäckig, lassen sich lange Zeit verbergen oder verdrängen, liegen aber immer auf der Lauer. Der bekannte deutsche Soziologe und Essayist Wolfgang Sofsky schreibt dazu: »Die Zeit mag verstreichen, doch behält die Rache ihr Ziel im Auge. Sie hat ein langes Gedächtnis und kennt keine Verjährung. Geduldig wartet sie auf den Augenblick der Erfüllung.« Gerade das macht die Rache so bedrohlich und unheimlich.
Rache ist viel mehr als das, was in mehr oder weniger wissenschaftlichen Definitionen beschrieben wird. Vor allem psychologisch ist der Begriff wesentlich weiter zu fassen, da auch Schadenfreude, Revanche oder das, was wir als »Heimzahlen« bezeichnen, ähnlich motiviert sind wie die eigentliche Rache. Schon die indogermanische Wortwurzel »ureg«, welche so viel wie »drängen, treiben, verfolgen, stoßen« bedeutet, weist auf das breite Spektrum der Rachemöglichkeiten hin. Rache gilt als archaische Form des Vergeltens, welche dem modernen Rechtsdenken nicht mehr entspricht, ist aber in ihren diversen Formen auch heute im menschlichen Leben so allgegenwärtig wie zu allen Zeiten.
Gemeinhin wird unter Rache »eine von Emotionen geleitete, persönliche Vergeltung für eine als böse empfundene Tat, besonders als persönlich erlittenes Unrecht«, als »eine Handlung, die den Ausgleich von zuvor angeblich oder tatsächlich erlittener Ungerechtigkeit bewirken soll«, verstanden. Nach der Definition eines der bedeutendsten Racheforschers, des den Gerechtigkeitsgedanken in den Mittelpunkt stellende Psychologen Mario Gollwitzer, ist Rache »eine gezielte Schädigung einer oder mehrerer anderer Personen als Reaktion auf eine zuvor erlittene Ungerechtigkeit«. Eine weitere bekannte Rachedefinition stammt vom norwegisch-amerikanischen Sozialwissenschaftler und Gerechtigkeitsforscher Jon Elster. Dieser sieht in der Rache einen Versuch, »jemand anderen leiden zu lassen, weil er einen selbst hat leiden lassen, wobei oft große Risiken und Kosten für sich selbst in Kauf genommen werden«. Als Racheauslöser wird also die böse Absicht des Schädigers betrachtet, welcher dem Opfer nicht nur positive Zuwendung versagt, sondern rücksichtslos dessen Kränkungsgrenze überschritten hat.
In der Soziologie wird Rache als Reaktion auf Herabsetzung in der sozialen Wertschätzung definiert. Sie sieht in der Rache ein Gegenstück zur Dankbarkeit, welche zwar ebenso durch eine »gebende Tat« ausgelöst werde, allerdings in die gegenteilige Richtung gehe. Rache sei eine »negative Gabe, mit der auf eine negative Gabe« geantwortet werde. Im Mittelpunkt der soziologischen Betrachtungsweise steht somit der Ausgleich.
Anders als mit dem deutschen Wort »Rache«, dem englischen »Revenge« oder dem italienischen »Vendetta« wird das Wesen der Rache mit der griechischen Bezeichnung »Ekdikese« beschrieben. Wörtlich übersetzt heißt dies »außerhalb des Strafprozesses« (Dike war die antike Göttin der Gerechtigkeit). Durch Rache wird also versucht, so sagt der griechische Begriff, den Schädiger jenseits der Legalität zu bestrafen, sei es, weil die gerichtlichen Strafen als zu milde eingeschätzt werden, kein Vertrauen zur Justiz besteht oder Rache als naturgegebenes Urrecht auf Vergeltung nach einer persönlich erlittenen Schädigung oder Ungerechtigkeit betrachtet wird. Solche Sichtweisen lösen auch heute noch schwere Straftaten aus:
Der damals 46-jährige russische Bauingenieur Witali Kalojew verlor bei der durch mehrere unglückliche Umstände zustande gekommenen Flugzeugkollision von Überlingen am 1. Juli 2002, die 71 Opfer forderte, seine Frau und seine beiden Kinder. Der schwerst getroffene Mann reiste knapp zwei Jahre später in die Schweiz und erstach am 24. Februar 2004 den Fluglotsen Peter Nielsen, der zum Zeitpunkt des Unglücks am Zürcher Flughafen Dienst hatte. Als Motiv nannte Kalojew Bestrafung des Fluglotsen, der entscheidende Fehler gemacht habe. Er wurde im Oktober 2005 wegen fahrlässiger Tötung vom Obergericht des Kantons Zürich zu acht Jahren Haft verurteilt, in der Berufungsinstanz wurde die Strafe wegen verminderter Schuldfähigkeit auf fünf Jahre und drei Monate reduziert. Nach Verbüßung von zwei Dritteln der Haftstrafe kehrte Kalojew in seine Heimat, die im Nordkaukasus gelegene russische Republik Nordossetien-Alanien, zurück. Dort wird er bis heute als Held verehrt. 2008 wurde er zum stellvertretenden Bauminister ernannt und bei seiner Pensionierung im Jahr 2016 mit höchsten staatlichen Auszeichnungen bedacht, darunter mit der Medaille »Zum Ruhm Ossetiens«. Kalojew hat wieder geheiratet und ist Vater von Zwillingen geworden.
Von »verschobener Rache« spricht man, wenn sich die Rache nicht gegen jene Person richtet, die einem den Schaden zugefügt hat, sondern gegen Unbeteiligte aus der Familie, dem Gesinnungskreis oder dem sonstigen Umfeld des tatsächlichen oder vermeintlichen Schädigers. Nachdem wissenschaftlich lange Zeit darüber diskutiert wurde, ob verschobene Rache dieselbe Befriedigung bringe wie das direkte Zurückzahlen an den Schädiger, konnte die Forschergruppe um Mario Gollwitzer nachweisen, dass auch verschobene Rache recht süß sein kann. Direkte Rache löst beim Rächer weniger Schuldgefühle aus und führt zu mehr Befriedigung als verschobene Rache, welche nur dann als mäßig befriedigend erlebt wird, wenn das unbeteiligte Opfer und der ursprüngliche Übeltäter einer untereinander eng verbundenen Gruppe angehörten. Nach Gollwitzer ist deshalb verschobene Rache, die wohl auch der Sippenhaft zugrunde liegt, nicht nur als Ausleben der eigenen Frustrationen an irgendeiner anderen Person und auch nicht als irrationaler Impuls zu betrachten. Vielmehr kann sie als zielorientierte Handlung dem Rächer eine gewisse Genugtuung bereiten.
Am 20. November 2019 ermordete in Berlin ein 57-Jähriger während eines Vortrages den damals 59 Jahre alten Dr. Fritz von Weizsäcker, Facharzt für Innere Medizin und Chefarzt einer Privatklinik. Der vorher strafrechtlich noch nie in Erscheinung getretene Täter hatte sich unter die Zuhörer gemischt, stürzte sich unvermittelt auf den Vortragenden und stach ihn nieder. Er konnte von einem unter den Zuhörern zufällig anwesenden Polizisten überwältigt und festgehalten werden. Laut Zeugen habe er bis zum Eintreffen der Polizei »seelenruhig« zugesehen, wie versucht wurde, das Opfer zu reanimieren. Bevor er abgeführt wurde, habe er geraunt: »Schaff ich es oder bin ich ein Versager?«. Auch in der Folge zeigte er nie Reue, sondern meinte wiederholt: »Ich bin froh, dass er tot ist. Für mich war es notwendig«. Bei den Einvernahmen nannte er sein Motiv: Rache an der Familie Weizsäcker. Besonders auf den Vater des Getöteten, den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, habe er seit Jahren einen Hass gehabt. Dieser sei als damaliger Vorstandschef einer deutschen Firma aus Ingelheim, die Säure für die Produktion von Entlaubungsmitteln lieferte, für deren Einsatz im Vietnamkrieg verantwortlich, bei dem 100.000 Vietnamesen getötet oder vergiftet worden waren. Sein nunmehriges Opfer aber kannte der Täter gar nicht, war von ihm nie behandelt worden und hatte noch nie mit ihm gesprochen. Als Einzelgänger in spartanischen Verhältnissen lebend, habe er 1991 einen Spiegel-Artikel mit der Überschrift »Der Tod aus Ingelheim« über die »Operation Ranch Hand« gelesen, was ihm die Augen geöffnet habe. Die Staatsanwaltschaft ging im Verfahren davon aus, dass der Attentäter, der sich selbst als »Zwangsneurotiker, Ex-Nazi und verkrachte Existenz« bezeichnete, psychisch krank wäre. Da er sich aber weigerte, mit einem psychiatrischen Gutachter zu sprechen, konnte dies nie genau geklärt werden. Trotz der ersichtlichen wahnhaften Züge des Täters, der sich selbst als »keinesfalls krank« bezeichnete und im Gefängnis mit den »nicht kranken Mördern« eingesperrt werden wollte, wurde er zu zwölf Jahren Haft verurteilt. In seinem Plädoyer sprach er an, wie befreiend die Rache auf ihn gewirkt habe: »Ich habe mich als Deutscher für die Verbrechen in Vietnam schuldig gefühlt und diese Schuld sühnen wollen. Nun fühle ich mich von jeder Schuld befreit.«
Wie ambivalent und unsicher wir in unserer Einstellung zur Rache sind, zeigt sich in der Vielzahl von Ausdrücken und Begriffsabstufungen, mit denen wir ihr einen harmloseren Namen geben. Dies beginnt mit eigentlich wohlmeinend klingenden Formulierungen wie »Ich werde dir helfen« oder »Ich werde es dir zeigen«, unter denen jedoch stets eine Drohung und das Ankünden einer Racheaktion verstanden wird. Wenn wir von »Revanche« sprechen, hört sich dies sportlich an. »Zurückzahlen« oder »Heimzahlen«, englisch »pay back«, wirkt schon bedrohlicher, zielt aber ausschließlich auf ein Wiederherstellen