Rastavati - Jutta Weber - E-Book

Rastavati E-Book

Jutta Weber

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Beschreibung

Drei Frauen, drei Generationen, ein großer Unbekannter Sommer 1963: Helga ist schwanger und hat keine Ahnung, wer der Vater ist. Zur Welt kommt ein Mädchen mit dunkler Haut und krausem Haar, und Helga grübelt: War es dieser Jamaikaner? Sie erinnert sich an Jazz, sehr viel Rum und einen Hotelflur, sonst nichts. Nicht mal an seinen Nachnamen. Helga macht Schluss mit dem wilden Leben, und die kleine Jutta wächst behütet auf. Sie erfährt zwar, dass ihr Erzeuger ein karibischer Saxofonist ist, macht sich aber erst Jahrzehnte später auf die Suche. Über Umwege und mit der Hilfe ihrer eigenen Tochter kann sie den unbekannten Vater endlich ausfindig machen – und eine turbulente Spurensuche beginnt …

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Jutta Weber • Ella Carina Werner

Rastavati

Wie ich meine jamaikanischen Wurzeln fand

 

 

 

Über dieses Buch

Drei Frauen, drei Generationen, ein großer Unbekannter

 

Sommer 1963: Helga ist schwanger und hat keine Ahnung, wer der Vater ist. Zur Welt kommt ein Mädchen mit dunkler Haut und krausem Haar, und Helga grübelt: War es dieser Jamaikaner? Sie erinnert sich an Jazz, sehr viel Rum und einen Hotelflur, sonst nichts. Nicht mal an seinen Nachnamen. Helga macht Schluss mit dem wilden Leben, und die kleine Jutta wächst behütet auf. Sie erfährt zwar, dass ihr Erzeuger ein karibischer Saxofonist ist, macht sich aber erst Jahrzehnte später auf die Suche. Über Umwege und mit der Hilfe ihrer eigenen Tochter kann sie den unbekannten Vater endlich ausfindig machen – und eine turbulente Spurensuche beginnt …

Vita

Jutta Weber, geboren 1964, ist Kinderärztin und Psychotherapeutin und lebt mit ihrer Familie in Krefeld.

 

Ella Carina Werner, Jahrgang 1979, ist Redakteurin des Satire-Magazins Titanic. Sie veröffentlichte zahlreiche humorvolle Texte, u.a. in der taz, dem Missy Magazine, in der FAZ und auf ZEIT Online.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung FinePic®, München

ISBN 978-3-644-57181-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Fi mi fambly

Teil Eins

I have a dream

Wem als Kind Mutter oder Vater fehlt, für den ist der andere Elternteil umso wichtiger. Mein Vater war nicht da, war nichts als ein Traumbild, eine Fata Morgana mit Rastalocken, und meine blonde, leibhaftige Mutter war mein Ein und Alles.

Schön, stolz, lebenshungrig und voller Freiheitsdrang, schienen mein Glück oder Unglück allein von ihr abzuhängen. Sie konnte über Kleinigkeiten lachen, bis ihr die Tränen herunterliefen. Sie konnte sämtliche Elvis-Lieder pfeifen und gleichzeitig dazu tanzen, und sie konnte wunderbar Geschichten erzählen, wobei ihre Augenbrauen zuckten und ihre Stimme an- und abschwoll. Es waren immer dieselben zwei Dutzend Geschichten, die sie mir in meiner Kindheit erzählte, mit denen sie mir ihr Leben erklärte. Diese Geschichten waren für mich wie ein Mantra, sie beruhigten mich, und ich wollte sie immer wieder hören.

Es gab drei Sorten: Schaurige Geschichten, schöne Geschichten und Geschichten rund um ihre Schwangerschaft und meine Geburt, von denen ich nie genau wusste, ob sie nun schaurig oder schön waren oder beides zugleich.

Es war ein Spätsommertag im Jahr 1963. In Washington feilte Martin Luther King gerade an seiner berühmten «I have a dream»-Rede, die Russen tüftelten in Moskau an einer neuen Weltraumsonde herum, und Konrad Adenauer machte es sich im Bonner Kanzleramt mit einem Feigenschnaps gemütlich, da stapfte meine Mutter missmutig durch die Straßen von Düsseldorf.

«Sie sind schwanger, Fräulein Nielsen!»

Die Worte des lächelnden Frauenarztes, aus dessen Praxis sie vor einer Stunde gestürmt war, hallten unheilvoll in ihrem Kopf nach.

Schwanger, verdammt. Mit einundzwanzig. Wo das Leben gerade begann, Spaß zu machen. Ihren schönen Job im Plattenladen, Männer, Tanz und Rock ’n’ Roll, mehr wollte sie nicht, vielleicht ab und zu noch ein Gläschen Martini … aber sicher kein quengelndes Kind am Rocksaum, für das sie Tag und Nacht verantwortlich sein sollte.

Zwei Frauen in mausgrauen Mänteln kamen ihr auf der Straße entgegen, schoben ihre Kinderwagen glückstrahlend vor sich her. Bei dem Gedanken, im kommenden Frühling genauso umherzulaufen, wurde ihr speiübel.

Meine Mutter sog an ihrer Zigarette, lief weiter, kämpfte mit den Tränen. Emotional gesehen war ihre Lage verheerend – rational betrachtet auch. Sie hatte nicht einmal eine eigene Wohnung. Und sie hatte keinen Mann. Genauer gesagt keinen Mann, mit dem sie sich ein gemeinsames Leben vorstellen konnte. Mit Männern tanzen, lachen, in ihren Armen liegen und aus ihren Portemonnaies eine Cola-Rum spendiert bekommen brachte sie in Hochstimmung, aber mit einem Mann zusammenzuleben, jeden Tag, mit seinem Geruch, seiner Zahnbürste neben der ihren und seinem dösigen Blick am Morgen, war völlig ausgeschlossen, und ihn am Ende sogar zu heiraten – niemals!

Um welchen Mann ging es eigentlich? Der Gedanke kam ihr erst jetzt. Wer war der Vater? Sie versuchte, sich an die Wochenenden vor zwei, drei Monaten zu erinnern. Da war allerhand passiert. Die Männergesichter, die in Frage kamen, zogen an ihr vorbei wie Fahndungsfotos, und sie, die einzige Zeugin, sollte den Täter identifizieren. Da waren: der charmante, steinreiche und elegante Robert; dann Ralph, der Indonesier; außerdem dieser Altstadtflirt, groß und dunkelhaarig … wie hieß er noch gleich?

Ein hupendes Auto riss sie aus ihren Gedanken. Aus dem trostlosen Gewirr an der Kreuzung leuchtete ihr ein Café entgegen. Ein Lichtblick in all der Trübsal. Sie eilte über die Straße und stieß die Tür auf. Drinnen war es voll und verqualmt. Meine Mutter schob sich an den überfüllten Tischen entlang, vorbei an Fönfrisuren und Schmalzlocken, bis zur Damentoilette. Dort starrte sie in den Spiegel. Bis auf die verlaufene Wimperntusche sah sie ganz passabel aus, mit ihren schön geschwungenen Lippen, den großen grünen Augen und dem blonden, hochtoupierten Haar. Sie putzte sich die Nase, wischte die Wimperntusche ab und zog Kajal- und Lippenstift nach. Dann ging sie zurück, setzte sich an einen kleinen Tisch, zündete sich eine Zigarette an und bestellte Kaffee. Aus der Jukebox wummerte ihr Lieblingslied, «Rock Around the Clock» von Bill Haley. «We’re gonna rock, rock, rock till broad daylight …», und ehe sie sich’s versah, wippte ihr Stöckelschuh auf und ab.

Genug Selbstmitleid! Irgendeine Lösung würde sich schon finden.

Blaue Flecken

Ihre eigene Mutter war gestorben, als sie gerade zwanzig war. Um ihrem cholerischen, verbohrten und häufig betrunkenen Vater endlich zu entkommen, hatte sich meine Mutter zwei Jahre zuvor auf ein Zeitungsinserat gemeldet und war als Untermieterin in die Villa der alten Frau Dönberg gezogen, ins noble Meerbusch-Büderich. Wenn sie überhaupt einmal zu Hause war, bewohnte sie das ehemalige Dienstmädchenzimmer im Keller, welchen Frau Dönberg «Suterä» nannte. Die alte Dame sagte auch «Pardon», «Kanapee» und solche seltsamen Sachen, stellte bei jeder Gelegenheit ihre großbürgerliche Herkunft und ihr lupenreines Französisch zur Schau.

Es war eine leicht muffig riechende, beängstigend große Villa, die ihre besten Jahre längst hinter sich hatte. Herr Dönberg hatte es mit seinem rheinischen Elektro-Imperium zu einem Vermögen gebracht. Jetzt war er tot, die Kinder fortgezogen und Frau Dönberg allein. Halb taub und fast blind, drückte sie, wenn sich Mutter nach einer durchtanzten Nacht früh am Morgen in die Villa stahl, ein trübes Auge zu und nahm selbst das Tuscheln der Nachbarinnen in Kauf, heilfroh, nicht immer allein zu sein in diesem riesigen Haus.

An jenem Abend, nachdem sie den Nachmittag im Café verbracht hatte, schloss sich meine Mutter im Badezimmer ein, ließ heißes Wasser in die Wanne einlaufen und goss noch siedend heißes Wasser aus dem Kochtopf hinzu. Dann kippte sie ordentlich Rosmarinöl hinein, setzte sich in die überheizte Brühe und wartete. Eine Bardame hatte ihr einmal zugeraunt, dass dies eine todsichere Methode sei, eine Schwangerschaft zu beenden. Doch außer roten Flecken auf Armen und Beinen passierte nichts.

Am nächsten Tag stieg meine Mutter auf einen Stuhl, den sie auf den Tisch gestellt hatte, und sprang hinunter. Unsanft kam sie auf. Sie zählte die blauen Flecken an Oberschenkeln und Hüften und wartete auf irgendein Zeichen ihres Körpers, aber es kam nichts. Am Folgetag sprang sie von der Treppe – vergeblich. Auf jede erdenkliche Art versuchte sie, das Kind in ihrem Bauch wieder loszuwerden. Doch nichts half.

Ich, ihr Baby, hatte mich festgesetzt.

Abtreibung stand in den sechziger Jahren strikt unter Strafe. Dennoch gab es ein paar wagemutige Ärzte und windige Kurpfuscher, die den Eingriff heimlich vornahmen. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen. Also holte sich meine Mutter bei einem geschäftstüchtigen Medizinstudenten, der seine illegale Praxis in einer Düsseldorfer Industriebrache betrieb, einen Termin.

An jenem Morgen – sie hatte sich bei der Arbeit mit der Erklärung entschuldigt, sie habe Fieber – wollte sie gerade ihren Mantel vom Haken nehmen und die Sache ein für alle Mal hinter sich bringen, als Frau Dönberg plötzlich hinter ihr stand, in der Tiefe des lichtlosen Flurs. Agathe Dönberg, groß und hager wie eine dürre Tante, sah in ihrem altrosafarbenen Brokat-Hauskleid aus wie eine Opernsängerin in der Künstlergarderobe, die ihre besten Tage längst hinter sich hatte.

Frau Dönbergs sonst so beherrschtes Lächeln war aus ihrem Gesicht gewichen. Irgendwie hatte sie Lunte gerochen und stellte ihre Untermieterin zur Rede, quetschte meine überrumpelte Mutter aus. Frau Dönberg, katholisch, gottesfürchtig und vierfache Mutter, hob den perlmuttfarben lackierten Zeigefinger und drohte meiner Mutter bei der heiligen Maria, sie bei der Polizei anzuzeigen, wenn sie ihren Plan nicht aufgab.

«Zwei Jahre Damenzuchthaus für Babymörderin» hatte kürzlich in der Rheinischen Post gestanden. Die Schlagzeile hatte sich meiner Mutter eingebrannt. Eine Weile starrten sich die beiden Frauen schweigend an. Dann hängte meine Mutter wortlos ihren Mantel zurück an die Garderobe, nicht ohne die kompromisslose Greisin (der ich nicht weniger als mein Leben verdanke!) mit einem eisigen Blick zu bedenken.

 

Die Würfel waren gefallen. Das Kind würde bleiben und wachsen und irgendwann sogar herauskommen. Aber bis dahin dauerte es noch eine Weile. Nach wie vor ging meine Mutter jedes Wochenende tanzen in den zahllosen Musikbars. Theke, Tanzfläche und Livemusik, fertig waren die angesagtesten Tanzschuppen von Düsseldorf. Selbst in der kleinsten Spelunke war Platz für ein paar Musiker, die Jazz oder Rock ’n’ Roll spielten, auf engstem Raum drängten sich Schlagzeuger, E-Gitarristen, Saxophonisten und Kontrabassisten zusammen.

Es waren die frühen sechziger Jahre, die Nachkriegszeit schien abgehakt, jetzt sollte endlich gefeiert werden. Elvis Presley war auf der Höhe seines Erfolges, und der Rock ’n’ Roll zog die Liebe der Jungen auf sich wie den Groll der Alten.

Wenn die ersten Gitarrenriffs erklangen, vergaß meine Mutter alle Sorgen. Sie tanzte in ihrem engen Bleistiftrock, auf ihren Stöckelschuhen mit den Pfennigabsätzen, wackelte mit Knien und Hintern und wirbelte über das Parkett. Von hinten war sie weiterhin so schmal, dass die Männer ihr nachschauten.

Einmal tippte ihr ein Typ auf die Schulter, sagte: «Na, du kleine Zuckerperle?», dann bemerkte er ihren Bauch, der sich unter dem Kleid wölbte. Sofort hob er erzürnt seinen Zeigefinger und scholt sie eine Rabenmutter, die gefälligst zu Hause bleiben solle, wie jede andere anständige Frau in diesem Zustand auch.

Je größer der Bauch meiner Mutter wurde, desto mehr streiften sie strafende Blicke. Ein Mann raunte ihr am Tresen zu, laute Musik fördere körperliche Missbildungen und Idiotie. Selbst ihre Freundinnen riefen ihr über die Tanzfläche zu: «Hömma, das wird ja taub und seekrank, dein Baby!»

Was wollten sie alle von ihr? Sollte sie daheim auf dem Sofa liegen, ein trauriges Walross im Umstandskleid, sollte sie Jäckchen und Mützchen stricken und Monogramme in Spucktücher sticken?

Als sie schließlich beim besten Willen nicht mehr in ihre engen Röcke und taillierten Kleider passte, zog sie nicht mehr mit den anderen los. Sie hatte sich zwar ein paar todschicke Umstandskleider zugelegt, aber in Bars konnte sie in diesem Aufzug unmöglich gehen.

Wenige Wochen vor der Geburt gab sie sogar ihren geliebten Job im Plattenladen auf. Sie zögerte die Kündigung so lang wie möglich hinaus, weil es kaum einen Ort gab, an dem sie sich wohler fühlte. Die «Plattenbörse Roberts» war ein kleiner, verwinkelter Laden in der Altstadt von Düsseldorf, vollgestopft mit dem feinsten Vinyl von Liverpool bis San Francisco. Es war der einzige Ort, wie sie später gern sagte, wo sie den ganzen Tag von Menschen umgeben war, die sie wirklich mochte: Elvis, Bill Haley und Co.

Das erste Mulattenbaby der Stadt

In den sechziger Jahren war ein Krankenhaus ein Ort von beeindruckender Nüchternheit. Die obersten Gebote lauteten Sterilität und Hygiene. Langsam und bedächtig bewegten sich Personal und Patienten durch die Krankenhausflure, die nach Bohnerwachs, Äther und Desinfektionsmittel rochen. Die Farbe Weiß und der alles beherrschende süßlich-chemische Geruch zogen sich leitmotivisch durch sämtliche Stationen. Kurz: Die Krankenhauswelt hatte mit der realen Welt da draußen nicht das Geringste zu tun. Es war eine kalte Gegenwelt, ein komplettes Paralleluniversum. Und ein ziemlich betriebsames.

Es war das Jahr 1964, die Hochphase der Babyboomer. Die Anti-Baby-Pille war erst seit wenigen Jahren auf dem Markt. Die Lebensfreude war groß und die Lust zu verhüten klein. Das Wirtschaftswunder versprach eine rosige Zukunft, und auf den Krankenhausfluren drängten sich die Kugelbäuche und die vor Wehen stöhnenden Frauen.

Dass die Väter bei der Geburt anwesend waren, war zu dieser Zeit noch unvorstellbar, sodass niemand aufsah, als meine Mutter an diesem sonnigen Morgen im Mai ganz allein zur Entbindung erschien. Im Kreißsaal wurde sie von einer rundlichen, dick bebrillten Hebamme empfangen, die eine blütenweiße gestärkte Tracht mit Häubchen trug. Diese hievte meine Mutter auf das Kreißbett, betastete den Bauch und urteilte fachmännisch: «Dat dauert noch wat, Kindchen», ehe sie sich gemütlich mit ihrem Strickzeug auf einem Stuhl niederließ. Mit zunehmender Wehenstärke steigerte sich Mutters Wut über die tiefenentspannte Hebamme, die sich, seelenruhig strickend, nach der ein oder anderen Reihe mit der freigewordenen Nadel an der Kopfhaut unter ihrem Schwesternhäubchen kratzte.

«Verfluchte Hölle, jetzt tun Sie doch was, verdammt noch mal!», schimpfte meine Mutter, wenn sie gerade von einer kräftigen Wehe überrollt wurde, um sich in der darauffolgenden Wehenpause wieder zu entschuldigen. Irgendwann legte die Hebamme ihr Strickzeug endlich beiseite, klinkte sich in das Geschehen ein und befahl, kräftig zu pressen.

Zögerlich schob ich mich auf die Welt – ein kleines, schreiendes Mädchen mit milchkaffeebrauner Haut und dichtem schwarzem Haar.

Die Hebamme stieß einen Seufzer aus. «Ach, du grüne Neune, is die dunkel! Äh, süß. Wirklich goldig! So wat hab isch noch nit jesehen! Renate, komma!», begrüßte sie in tiefstem rheinischem Singsang das wahrscheinlich erste Mulattenbaby, das in diesem Krankenhaus das Licht der Welt erblickt hatte.

Erschöpft, völlig aus der Puste, rieb auch meine Mutter sich die Augen und betastete staunend die Haut des brüllenden, blutverklebten Bündels, das ihr die Hebamme reichte. Ein Mädchen! Und tatsächlich, die Haut war braun, geradezu karamellfarben – was die Zahl der in Frage kommenden Väter deutlich übersichtlicher machte. War es nun der Indonesier? Oder vielleicht doch dieser Jamaikaner, an den sie sich nur vage erinnerte?

Sie war viel zu erschöpft und außerdem grenzenlos erleichtert, die langwierige und schmerzhafte Geburt hinter sich zu haben, um sich ernsthafte Gedanken zu machen. Sie wollte ausruhen und das Baby bestaunen, ehe es die Hebamme zum Wiegen und Waschen mitnahm. Über das lästige Vaterthema konnte sie später noch nachdenken.

Die Nachricht eines frischgeborenen Halbmohren verbreitete sich im Krankenhaus wie ein Lauffeuer. Jeder wollte einen Blick auf das Baby werfen, sogar die Kantinenkräfte. Das Personal drängte sich vor der dicken Scheibe des Säuglingszimmers, in dem die Neugeborenen dicht an dicht in ihren Bettchen lagen. Alle staunten über die langen, dichten Haare und die vollen Lippen. Wie putzig dieses Kind war! Aber natürlich auch fremdartig.

Am Nachmittag kam ein Arzt ans Krankenbett meiner Mutter. Betrachtete mich, betastete fachmännisch den dunklen Haarflaum, der noch mein ganzes Gesicht umrahmte, kratzte sich das glattrasierte Kinn und murmelte: «Sieht aus wie ein kleiner Affe.»

Den Blick meiner Mutter streifend, deren linke Augenbraue sich bereits bedrohlich anhob, die schon die Lippen öffnete, kurz davor, ihn in Grund und Boden zu schimpfen, schob er eilig hinterher: «Ein süßer, versteht sich!»

Am Abend, als es ruhig und dunkel im Krankenhaus war und nur das Schnarchen ihrer Zimmernachbarin die Stille durchbrach, schlich sich die Vaterfrage wieder ein.

Nach einigem Grübeln fällte Mutter eine pragmatische Entscheidung. Der Indonesier musste es sein. Von dem Jamaikaner wusste sie schließlich nicht mal mehr den Nachnamen. Aber an Ralph erinnerte sie sich gut. Er war ein schlaksiger, hübscher Barmann, der als Jugendlicher nach Deutschland gekommen war, die besten Cocktails der Stadt mixte und die schillerndsten Komplimente machte. Eine Zeitlang hatten sie sich regelmäßig getroffen. Als er jedoch zu anhänglich wurde und schließlich zu wortreichen Liebesmonologen anhob, in denen bedrohlich oft das Wort «Heirat» vorkam, wurde meiner Mutter die ganze Sache lästig.

Auf seinen letzten schmachtenden Brief hatte sie nicht mehr geantwortet. Ein paarmal hatte er sich noch seine rehbraune Nase sehnsuchtsvoll an der Scheibe ihres Plattenladens platt gedrückt, dann hatte er es aufgegeben. Die Affäre wäre wohl für immer in der Bedeutungslosigkeit versunken, hätte nicht der kleine Zwischenfall eines gemeinsamen Kindes die Karten neu gemischt.

Tatkräftig, wie meine Mutter war, erhob sie sich gleich am nächsten Morgen aus dem Bett, schlurfte zu dem riesigen weißen Wandtelefon auf dem Gang, ließ sich von der Auskunft seine Nummer geben, bekam Ralph an die Strippe und setzte ihn ohne Umschweife von seiner Vaterschaft in Kenntnis.

 

Als sie nach einer Woche mit ihrem Baby das Krankenhaus verließ, stand Ralph wie verabredet am Ausgang. Zielstrebig trat er auf sie zu, beugte sich über die Tragetasche, besah prüfend das dunkle, zerknautschte Köpfchen, befühlte das dichte schwarze Haar, sah sogar in die Ohren und nickte schließlich. Ja, es sei seines, ein echter indonesischer Spross. Er akzeptiere die Vaterschaft und sei bereit, Alimente zu zahlen, fünfzig Mark pro Monat, wenn sie ihrerseits versprach, niemandem von seiner Vaterschaft zu erzählen, insbesondere nicht seiner neuen, bezaubernden Verlobten.

So schnell, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder und ließ meine Mutter allein. Immerhin zahlte er fortan mit angenehmer Zuverlässigkeit seine Alimente.

Eine Stunde später stand meine Mutter vor Frau Dönbergs Villa, hob die Tragetasche mit dem schlafenden Säugling über das schmiedeeiserne Gartentor, vorbei an den neugierigen Blicken der benachbarten Witwen, die in den oberen Stockwerken hinter ihren Tüllgardinen hockten – meine Mutter hätte schwören können, eine hielt sogar ein Opernglas.

Der Anblick war empörend. Eine blonde Frau, fast noch ein Kind, ohne Mann, mit einem dunklen Baby – ein vielfacher Verstoß gegen Sitte und Moral. So was Aufregendes hatte es in Meerbusch-Büderich seit dem Einmarsch der Amerikaner im Jahr 1945 nicht mehr gegeben.

Frau Dönberg öffnete die Haustür, wie gewohnt in ihrem rosafarbenen Hauskleid, beugte sich über die Babytrage, richtete sich wieder auf, schlurfte in den Hausflur und holte ihre Brille, um das Unerwartete mit maximaler Sehkraft zu bestaunen.

«Jesses, Maria und Josef!», flüsterte sie, als stünde der morgenländische König Caspar leibhaftig vor ihrer Tür. Sie, Agathe Dönberg, hatte schon vieles erlebt, zwei Weltkriege, die Geburten ihrer vier Kinder und den plötzlichen Tod ihres geliebten Mannes, aber so was Verrücktes war ihr noch nicht untergekommen.

Die Alte wich einen Schritt zurück, hielt sich am Türrahmen fest, suchte nach ihrer gewohnten Contenance. Man sah, wie es in ihr arbeitete. Um die Abtreibung zu verhindern, hatte sie sich bereit erklärt, das Kind als weiteren Untermieter zu akzeptieren. Ein Kind, unehelich – und jetzt war es auch noch schwarz!

Und doch, versprochen war versprochen. Nie würde eine Dönberg ihr Ehrenwort brechen. Außerdem, was machte das noch, ihre Nachbarinnen tratschten ohnehin seit geraumer Zeit über das Lebemädchen, das sie bei sich wohnen ließ.

Nun, solange nicht auch noch der Vater des Kindes seine schwarzen Zehen über ihre Hausschwelle setzte, würde sie sich schon irgendwie damit arrangieren. Und alles war besser, als allein zu sein. Frau Dönberg sah sich vorsichtig um, ob eines der faltigen Klatschmäuler ringsum guckte, dann bat sie Mutter und Baby herein.

Wilde Gerüchte in Meerbusch

Meine Mutter konnte nicht mehr im Plattenladen arbeiten, da es niemanden gab, der ihr Baby betreuen konnte. Stattdessen erledigte sie für ein Taschengeld und freies Logis Haushaltsarbeiten für Frau Dönberg. Abends leistete sie der Alten im «Salon» Gesellschaft, ließ ihre Geschichten eines einst glanzvollen Lebens über sich ergehen, während sie gemeinsam Patiencen legten oder Likörchen tranken.

Doch wann immer meine Mutter Zeit fand, schob sie den neuen Kinderwagen aus dunkelblauem Leinen mit seinen großen Speichenrädern durch die breiten, von knorrigen Eichen gesäumten Meerbuscher Alleen und pfiff versonnen Einschlaflieder oder Songs von Elvis vor sich hin.

Bei ihrer ersten Spazierfahrt kreuzte ein älteres Paar ihren Weg, riskierte einen Blick und stiefelte von dannen. Nach fünfzig Metern machten sie kehrt und gingen noch einmal an meiner Mutter vorbei, wobei sie deutlich interessierter in den Kinderwagen schielten als zwei Minuten zuvor.

Dunkelhäutige Menschen waren in den frühen sechziger Jahren hierzulande noch äußerst selten anzutreffen, vor allem in Meerbusch, diesem wohlhabenden, verschlafenen Rheinland-Städtchen, einer der reichsten Gegenden der ganzen Bundesrepublik. Alteingesessene Industriellenfamilien lebten hier und Millionäre mit sorgsam gepflegten Stammbäumen, die zurück bis zu Karl dem Großen reichten.

Farbige Menschen waren hingegen so selten, dass sich einmal eine Passantin sogar so dezent wie möglich bekreuzigte, als sie mich erblickte. Manch einer kam beinahe in den Kinderwagen hineingekrochen, um den putzigen Krauskopf von nahem zu betrachten.

Wochenlang wurden Bilder von mir bei «Foto Fritsche» im Schaufenster ausgestellt, thronten mittig zwischen blondlockigen Bräuten und pastellweißen Babys.

«Wie goldig», hauchten alte Damen mit Filzhüten und drückten ihre Nasen an der Fensterscheibe platt. War das putzige Ding da karamellfarben? Schokofarben? Oder doch haselnussbraun?

«Darf ich mal anfassen?», fragte einmal gar eine vorwitzige Fremde und streckte bereits ihre reichlich beringte Hand in Richtung meines Köpfchens aus. «Niemals! Ich käme doch auch nicht auf die Idee, Ihre Perücke zu betätscheln!», gab meine Mutter genervt zurück und blies den Rauch ihrer Zigarette in Richtung der Dame, die flugs pikiert weiterzog.

Es war in dieser ersten Zeit, dass meine Mutter sich schwor, ihr Baby gegen jeden Strohkopf zu verteidigen, von denen es ihrer Ansicht nach im Rheinland nur so wimmelte. Wer immer ihr kleines Mädchen beleidigen würde, der sollte ihre Krallen spüren, und das war angesichts von Mutters langen, spitz zugefeilten Fingernägeln kein Spaß. Sie hatte sich in ihrem jungen Leben schon oft durchgebissen, vor allem nach dem Tod ihrer Mutter – jetzt würde sie es eben für zwei tun.

Und ja, sie hatte ihr geliebtes Partyleben vorerst aufgeben müssen, aber sie hatte auch etwas hinzugewonnen, etwas Zuckersüßes, Lebendiges, Warmes, das ganz zu ihr gehörte. Wenn sie bislang auch noch nicht zu sagen vermochte, ob Letzteres Ersteres wirklich aufwog, fühlte sich doch die Existenz dieses Kindes gar nicht mal so schlecht an.

Und so wuchs mit jedem Stoßseufzer der Leute nicht nur die Wut meiner Mutter, sondern auch ihr Stolz. Schon immer wollte sie anders sein. Jetzt war dieses exotische Baby ein Ausweis ihrer Andersartigkeit, ein Zeichen, dass sie anders leben wollte als alle anderen, auch wenn sie nur eine vage Ahnung hatte, wie dieses Leben aussehen sollte.

 

So putzig, wie die Leute mich als Baby fanden, so zweifelhaft, ja skandalös schien ihnen meine Entstehungsgeschichte. Denn wie dunkel erst der Herr Papa war, konnte man sich ausrechnen, und so rankten sich um die Vaterschaft bald die wildesten Gerüchte.

War er ein amerikanischer Soldat? Jeder hatte schon von deutschen Frauenzimmern gehört, die sich mit schwarzen Besatzungssoldaten eingelassen hatten. Aber in diesem Landstrich waren vor allem die Briten stationiert, und unter ihnen gab es so gut wie keine Schwarzen.

Oder war er ein Diplomat auf Durchreise? Gar ein afrikanischer Prinz? Auf jeden Fall ein Mann von «da unten», von der Südhalbkugel. Von deren Potenz und Sexualverhalten hatte man so allerlei gehört. Die waren eben näher am Urstadium des Menschen dran, waren in der Evolution noch nicht so weit vorn, da schlug das Tierische, Triebhafte noch durch – klar, dass die sich nicht zügeln konnten, enthemmt waren und nimmersatt, das wussten selbst sittsame rheinische Witwen, auch wenn niemand etwas Derartiges in Gegenwart meiner Mutter aussprach.

Nur ihre Friseurin Inge knuffte sie einmal, als sonst niemand im Laden war, in die Rippen: «Sag mal, stimmt das, was man sich so erzählt? Sind schwarze Männer wirklich so gut gebaut?», tuschelte sie mit glühenden Wangen.

«Ist eine Erfahrung wert», antwortete meine Mutter vielsagend.

Ein Haufen Probleme

Meine Mutter zog es mit dem Baby oft nach draußen, weil es ihr in der alten Villa bei Frau Dönberg immer unerträglicher wurde. Das immer gleiche Kartenspiel langweilte sie zu Tode. Wie eine eingesperrte Wildkatze hockte sie hier, sah nie etwas anderes als die vollgekleckerten Lätzchen ihrer mittlerweile einjährigen Tochter und das faltige Gesicht der alten Dame. Außerdem mischte sich die Alte entschieden zu oft in Erziehungsfragen ein, steckte in alles ihre blass gepuderte Nase.

Meiner Mutter fehlten Menschen, mit denen sie in ganzen Sätzen reden und lachen, denen sie ihre Sorgen erzählen konnte. Sie hatte ihre Tochter, aber dennoch fühlte sie sich einsam. Sie musste dringend unter Leute.

Eines Abends nach der Tagesschau folgte Frau Dönberg einer Duftspur aus Haarspray und fand meine Mutter vor dem Spiegel im Kellerflur, die sich pfeifend das Haar auftoupierte.

«Nanu, haben Sie etwas vor?»

«Tanzen gehen», nuschelte meine Mutter, eine Haarnadel zwischen den blutrot geschminkten Lippen.

«Ach. Und wer passt auf die Kleine auf?»

«Die schläft.»

«Und wenn sie aufwacht?»

«Dann schläft sie wieder ein.»

«Und wenn nicht?»

«Dann wäre es schön, wenn Sie ihr ein Lied singen», sagte meine Mutter. «‹Guten Abend, gute Nacht› hört sie am liebsten.»

«Ich soll nachts die Treppe runter?», erwiderte Frau Dönberg entrüstet. «Ich bin dreiundachtzig!»

«Das ist doch prima! Da haben Sie doch jede Menge Erfahrung, als Mutter und Großmutter», spottete meine Mutter, griff nach ihrem scharlachroten Mantel und verschwand in die Nacht.

 

Monate später nahm ein weiteres Problem Kontur an, in Gestalt des vermeintlichen Vaters, der plötzlich aus seiner Statistenrolle heraustrat. Stets hatte Ralph seine Alimente pünktlich gezahlt. Nie hatte er, zur Erleichterung meiner Mutter, irgendeinen Kontakt gesucht. Doch jetzt, ich war gerade zwei geworden, hatte sie ihn auf einmal an der Strippe, sodass ihr vor Schreck der Hörer fast aus der Hand fiel.

Seine Verlobung sei geplatzt, seine Bar pleite, er plane, nach Indonesien zurückzugehen, und wolle mich, seine Tochter, sein eigen Fleisch und Blut, noch einmal zu Gesicht bekommen.

Meine Mutter konnte ihm diesen bescheidenen Wunsch nicht abschlagen. Also kaufte sie mir ein rosafarbenes Kleidchen, band mir ein paar Schleifchen ins Haar, nuschelte etwas von einem «entfernten Freund», der mich kennenlernen wollte, und fuhr mit mir per Straßenbahn nach Düsseldorf.

Seit ich denken kann, liebe ich Straßenbahn fahren. Menschen, Häuser und Bäume am Fenster vorbeiziehen zu sehen war für mich schon als kleines Kind das Größte. Straßenbahnfahrten gehören zu meinen frühesten Erinnerungen, und auch an diese entscheidende Fahrt glaube ich mich noch schemenhaft zu erinnern, vervollständigt durch die Erzählungen meiner Mutter. Erinnerung und Erzählung ergänzten sich für mich schon immer, flossen ineinander wie die Farben eines Aquarells.

Das große Wiedersehen fand in einem Café in der Düsseldorfer Altstadt statt. Im Schaufenster glitzerten riesige, farbenfrohe Sahnetorten und Obstkuchen. In dem übervollen Raum entdeckte meine Mutter Ralph und zog mich, die ich sehnsüchtig auf die Glastheke mit noch mehr bunten Torten spähte, hinter sich her. Auch Ralph hatte uns mittlerweile entdeckt. Wir setzten uns zu ihm an den Tisch.

Eine Weile starrte er mich wortlos an. Ich starrte zurück. Was wollte dieser Fremde? Warum betatschte er mein Haar, als wäre es ein Wollknäuel im Woolworth? Mein Haar, das sich in den letzten zwei Jahren mehr und mehr gelockt und schließlich zu einem wilden Afro gekräuselt hatte.

Aber ich hatte größere Sorgen. Ich war unentschlossen, ob ich eine Schokoladentorte oder einen Apfelkuchen wollte, schielte auf das Tortenbuffet. Gleichzeitig sah ich, dass der Mann ganz seltsam guckte.

Dann polterte er los: «Bei meiner Urgroßmutter in Sulawesi, niemals ist das mein Kind! Kein Indonesier hat solche Locken! Und sieh dir diese Nase an! Breit und rund wie eine Marzipankartoffel! Was hast du mir da untergejubelt? Denkst du, ich bin blöd?»

Böse sah er aus und wütend. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Am liebsten wäre ich aus dem Café gelaufen. Nur die farbenfrohen Torten auf den Nachbartischen ließen mich hoffen, dass das Ganze noch ein gutes Ende nahm.

Plötzlich war es im Café ganz still. Neugierig ließen die Leute ihre Tortengabeln sinken, stellten das Plappern ein und warteten gespannt darauf, wie es weiterging.

Jetzt wurde auch meine Mutter zornig. Ihre Wangen glühten: «Spinnst du? Natürlich bist du der Vater! Bist du plötzlich zu geizig, die fünfzig Kröten pro Monat aufzutreiben, oder was? Außer dir kommt niemand in Frage. Was soll das überhaupt heißen – nicht der Vater? Du bist der Vater und damit basta!» Wutschnaubend wandte sie sich an die Leute am Nebentisch: «Dieser Mistkerl behauptet, er sei nicht der Vater meines Kindes!» Aus Angst, eine Stellungnahme abgeben zu müssen, starrte das weißhaarige Paar auf seine Tortenstücke, während Ralph wieder das Wort ergriff: «Wie konnte ich nur so blöd sein und die ganze Zeit zahlen! Ich will mein Geld zurück, verdammt noch mal!»

Alle Augenpaare waren jetzt auf meine Mutter gerichtet.

Sie hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder klein beigeben oder scharf kontern – und wer meiner Mutter je begegnet ist, weiß, welchen Weg sie wählte: «Also, diesen Mist höre ich mir nicht länger an!», gellte sie schrill. «Ich werde eines Tages meiner Tochter erzählen, was für ein Mistkerl ihr Vater ist – und sie wird dich noch in ihren Träumen hassen!»

Heute, fünfzig Jahre später, frage ich mich, was gewesen wäre, wenn Ralph die Vaterschaft nicht angezweifelt und mich bis ans Ende seines Lebens als seine Tochter akzeptiert hätte. Die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Mein Leben wäre ein anderes geworden, und auch dieses Buch hätte ich niemals geschrieben. Danke für Ihren kritischen Blick, Ralph Tedjasukmana!

Meine Mutter griff nach meiner Hand und zog mich hinter sich her, um den Ort der Schmach so schnell wie möglich zu verlassen. Ich beeilte mich, ihrem strammen Schritt zu folgen, froh, dem Wüterich entkommen zu sein, aber auch betrübt, nicht den kleinsten Bissen Kuchen ergattert zu haben.

Auf der Heimfahrt in der Straßenbahn stieß meine Mutter Flüche aus, die ich nicht kannte. Hässliche, wortreiche Schimpftiraden brachen aus ihr hervor, wobei sie unter anderem den Herrn im Himmel bemühte, den Teufel persönlich und alle nichtsnutzigen Mannsbilder dieser Welt.

Und doch klang ihre Wutrede von Haltestelle zu Haltestelle immer weniger entschlossen. Der Groschen fiel auf dieser Fahrt vermutlich pfennigweise. Denn ja, das kam ihr erst jetzt wieder in den Sinn, da hatte es auch noch diesen Jamaikaner gegeben. Aber unmöglich, das war doch nur eine Nacht! Was heißt eine Nacht – eine Stunde! Sie erinnerte sich an hochkarätigen Rock ’n’ Roll, an sehr viel Bacardi Cola und nebelhaft an einen Hotelflur, sonst nichts. Nicht mal an seinen Namen.

Andererseits: Die Nase ihrer Tochter, so niedlich mit der flachen Nasenwurzel und den breiten Nasenflügeln, ähnelte der von Ralph tatsächlich nicht im Geringsten. Und genau betrachtet waren auch die Haare völlig anders. Sollte dieser Lump am Ende doch recht haben? Schließlich schob sie die Frage einfach beiseite. Das Leben war schon kompliziert genug.

Die Zahlung der Alimente stellte Ralph sofort ein. Mehr noch, eine Woche später flatterte ein Brief ins Haus. Ein Anwalt teilte meiner Mutter mit, sein Klient Ralph Tedjasukmana verlange seine fälschlich gezahlten Alimente zurück, D-Mark für D-Mark. Das Gerichtsverfahren sei bereits eingeleitet, um zu beweisen, dass sein Klient mit dem Zustandekommen des Kindes rein gar nichts zu tun hatte.

Wohin, weiß der Himmel

Auch wenn sie darin geübt war, allzu große Sorgen einfach vom Tisch zu wischen, schien meiner Mutter ihre Lage mehr und mehr über den Kopf zu wachsen. Da war der aufziehende Alimente-Krieg und das plötzliche monatliche Haushaltsloch von fünfzig Mark. Da war außerdem der ausufernde Zwist mit Frau Dönberg, dieser wachsamen, sie permanent bemutternden Hausherrin, deren Gegenwart meine Mutter kaum noch ertrug. Diese verfluchte Abhängigkeit! Meine Mutter wollte frei und niemandem etwas schuldig sein, sie wollte endlich ein selbstbestimmtes Leben führen.

Eines späten Abends, nach einem heftigen Streit im «Salon», in dem es unter anderem um Art und Zeitpunkt der Sauberkeitserziehung bei Kleinkindern ging, weckte mich meine Mutter jäh aus dem Schlaf. Ihre Augen waren tränenverquollen und flatterten unruhig hin und her. «Nicht weinen», flüsterte sie mit bebender Stimme, «ich ziehe dir nur rasch deine Jacke über. Wir gehen weg. Wohin, weiß der Himmel!»

Sie steckte mich in den Kinderwagen, aus dem meine mittlerweile fast dreijährigen Beine längst herausbaumelten, stopfte eine Tasche voll Kleidung unten in die Ablagefläche, schob ihr ganzes Hab und Gut entschlossenen Schrittes durch Frau Dönbergs Vorgarten und hinaus auf die dunklen Alleen von Meerbusch.

Nun musste sie eine Entscheidung fällen. Wohin sollte sie gehen? Zu ihrem Vater, der über alles und jeden schimpfte und der ihr schon immer so fremd und unangenehm gewesen war, dass sie sich oft gewünscht hatte, er wäre nicht ihr Vater? Niemals! Dann lieber drei Häuserblocks weiter zu ihrem Cousin Udo, zu dem sie jedoch kaum noch Kontakt hatte.

Einen Sohn hatte er und eine missmutige Frau namens Gisela, die unter ihrem Haarnetz, durch das Lockenwickler hindurchschimmerten, eine lange Miene zog, als sie meine Mutter und mich, sterbensmüde und verzweifelt lächelnd, nach Mitternacht vor ihrer Tür stehen sah. Aufgrund des guten Zuredens ihres Mannes ließ Gisela uns in der Wäschekammer schlafen, machte aber deutlich, dass wir ihre Großzügigkeit nicht überstrapazieren sollten: Spätestens nach sechs Wochen hätten wir wieder zu verschwinden.