Raumsoziologie - Martina Löw - E-Book

Raumsoziologie E-Book

Martina Löw

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Beschreibung

Martina Löw entwirft auf der Basis empirischer Untersuchungen und interdisziplinärer raumtheoretischer Reflexionen eine neue Soziologie des Raums. Ihr Konzept der »Dualität des Raums« zeigt, wie Einschließungen und Ausgrenzungen über Raum organisiert werden.

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Die Bedeutung des Raums verändert sich durch Cyberspace-Technologien, Hochgeschwindigkeits-Transporte, zeitgleiche Echtzeit-Übertragungen von Informationen auf dem Erdball sowie durch eine Verinselung der Lebenswelten. Dies zwingt die Sozialwissenschaften, neu über ihre Raumvorstellungen nachzudenken. Martina Löw entwirft auf der Basis empirischer Untersuchungen und interdisziplinärer raumtheoretischer Reflexionen eine neue Soziologie des Raums. Ihr Konzept der »Dualität des Raums« zeigt, wie räumliche Anordnungen durch Institutionalisierungen eine objektivierte soziale Geltung und durch Habitualisierungen eine subjektive Verstetigung erhalten. Einschließungen und Ausgrenzungen werden in dieser Weise über Raum organisiert.

 

Martina Löw ist Professorin für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt.

   Im Suhrkamp Verlag erschienen: Prostitution. Herstellungsweisen einer anderen Welt (es 2632, zusammen mit Renate Ruhne) und Soziologie der Städte (stw 1976).

Martina Löw Raumsoziologie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

 

 

 

 

 

 

 

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001

Der vorliegende Text folgt der 7. Auflage des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1506

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

 

eISBN 978-3-518-73208-3

www.suhrkamp.de

7Inhalt

 

 

Warum soll sich die Soziologie mit dem Raum beschäftigen? 

Raumvorstellungen im Kontext 

17 

2.1 

Absolutistische und relativistische Raumvorstellungen 

24 

2.2 

Soziologie des Raums 

35 

2.2.1 

Giddens, Hägerstrand und die Machtbehälter 

36 

2.2.2 

Stadtsoziologie ohne Raum 

44 

2.2.3 

Simmel und die Form 

58 

2.3 

Erste Zwischenbilanz 

63 

Veränderungen der Raumphänomene 

69 

3.1 

Raum in Bildungs- und Sozialisationsprozessen 

73 

3.1.1 

Verinselte Vergesellschaftung 

82 

3.1.2 

Räumliches Vorstellungsvermögen und Geschlecht 

89 

3.2 

Virtuelle Räume 

93 

3.3 

Globalisierung und »global cities« 

104 

3.4 

Zweite Zwischenbilanz 

108 

3.5 

Die Probe aufs Exempel: Körperräume 

115 

Wege zu einem soziologischen Raumbegriff 

130 

Die Konstitution von Raum 

152 

5.1 

Die Körper der Raumkonstitution 

153 

5.2 

Die Entstehung von Raum in der Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen 

158 

5.2.1 

Spacing und Syntheseleistung 

158 

5.2.2 

Der repetitive Alltag 

161 

5.2.3 

Räumliche Strukturen 

166 

5.2.4 

Geschlecht und Klasse 

173 

8Exkurs: Bourdieu und der Raum 

179 

5.2.5 

Abweichung und Veränderung 

183 

5.2.6 

Symbolik und Materialität 

191 

5.2.7 

Wahrnehmung 

195 

5.3 

Die Lokalisierung der Räume an Orten 

198 

5.4 

Die Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit des Raums 

204 

5.5 

Raum und soziale Ungleichheit 

210 

5.6 

Methodologische Konsequenzen 

218 

5.7 

Zusammenfassende Betrachtung der Konstitution von Raum 

224 

Exemplarische Analysen 

231 

6.1 

Gegenkulturelle Schulräume 

231 

6.2 

Geschlechtsspezifische Räume 

246 

6.3 

Städtische Räume 

254 

Grundlagen einer Soziologie des Raums – zusammenfassende Betrachtung 

263 

Literatur 

274 

91 Warum soll sich die Soziologie mit dem Raum beschäftigen?

»Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrükken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar« (Siegfried Kracauer: Über Arbeitsnachweise, 1929).

 

Mit der größten Selbstverständlichkeit gehen die meisten Soziologen und Soziologinnen von der Annahme aus, es gäbe keine menschliche Existenz außerhalb von Raum und Zeit. Dem ist wenig entgegenzusetzen, solange Raum und Zeit nicht essentiell verstanden werden, sondern als etwas, was konstituiert werden muß. Erstaunlich ist nun, daß mit der gleichen Sicherheit, mit der Zeit als soziale Konstruktion verstanden wird, mittels derer Menschen die Differenz von Vergangenheit und Zukunft organisieren, Raum als materielles Substrat, Territorium oder Ort entworfen wird. Namhafte Soziologen wie Peter L. Berger/Thomas Luckmann (19723, orig. 1966), Talcott Parsons (1977) und Anthony Giddens (1988a) verfahren in dieser Weise. Die Crux ist dabei, daß dieses Verständnis von Raum in erster Linie als materielles Objekt dazu führt, daß Raum in vielen soziologischen Projekten als nicht weiter bemerkenswert, bestenfalls als in Untersuchungen auszuschließende »Umweltbedingung« erachtet wird. Als Elisabeth Konau 1977 ihr Buch »Raum und soziales Handeln« veröffentlicht, spricht sie im Untertitel von »einer vernachlässigten Dimension soziologischer Theoriebildung«. Vierzehn Jahre später, 1991, kommt Dieter Läpple in seinem viel zitierten »Essay über den Raum« immer noch zu der Schlußfolgerung, daß die dominanten Gesellschaftswissenschaften von einer offensichtlichen »Raumblindheit« (Läpple 1991, 163) geprägt seien.

10Dies ändert sich nun. Zwar wird nach wie vor die Kategorie Zeit wesentlich systematischer als Mittel zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit diskutiert als die des Raums – mit der Biographieforschung etabliert sich geradezu eine Wissenschaft der Zeit[1] –, aber auch zum Thema Raum erscheint in den letzten Jahren eine Vielzahl von Aufsätzen. In einer kürzlich (1998) veröffentlichten Schrift von Ursula Nissen zu »Kindheit, Geschlecht und Raum« kommt diese erstmals zu dem Resümee, »daß nach langer Zeit der Vernachlässigung der Kategorie ›Raum‹ in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung seit den letzten zehn bis fünfzehn Jahren verstärkt Anstrengungen unternommen werden, diesen Zustand zu überwinden« (Nissen 1998, 136).

In dem neu entstandenen Interesse zeigt sich, wie sehr die Sicherheit über den Raum in eine Krise geraten ist. Durch schnelle Transporttechnologien, sekundengenaue Übertragungen von Informationen über die ganze Welt, schließlich auch durch die neuen Möglichkeiten, sich in virtuellen Räumen zu bewegen, scheint der Raum im Sinne eines materiellen Substrats völlig bedeutungslos zu werden.[2] In den Massenmedien wird deshalb gerne von der Auflösung des Raums gesprochen. Die Zeitung »Die ZEIT« veröffentlicht zum Beispiel regelmäßig Artikel in dem Tenor, daß der Mensch das »aus seiner Raumdimension gefallene Wesen« (Guggenberger 1985, 43) sei, der Schriftsteller und Regisseur Heiner Müller erklärt in einer TV-Produktion wie in der daraus folgenden Publikation Alexander Kluge gegenüber, daß das Schlimme sei, »daß es nur noch Zeit oder Geschwindigkeit oder Verlauf von Zeit gibt, aber keinen Raum mehr« (Kluge/Müller 1995, 80). Der französische Architekt und Philosoph Paul Virilio vertritt die viel zitierte These, daß von Menschen »nicht mehr der Raum, sondern die Zeit (...) bevölkert« (Virilio 1983, 16) werde.

11Tatsächlich ist es nicht der Raum, der »verschwindet«, sondern die Organisation des Nebeneinander ist grundsätzlich verschieden, ob ein Brief Wochen braucht, um von Europa nach USA zu gelangen, oder ob eine E-Mail in Sekunden übermittelt wird. Und obwohl diese Entwicklung, daß Informationen in immer kürzeren Zeitspannen übertragen werden können, nicht neu ist, scheint sie durch die neusten technologischen Errungenschaften, insbesondere dem Mythos, der vom Internet ausgeht, ins Bewußtsein zu dringen. Auch andere gesellschaftliche Prozesse wie die Umstrukturierung städtischer Räume, verinselte Vergesellschaftungserfahrungen und sich verändernde Körpervorstellungen tragen dazu bei, daß Raum wieder als Problem wahrgenommen wird.

Die zeitliche Distanz zu der u.a. territorial begründeten Expansionspolitik der deutschen Nationalsozialisten ermöglicht eine langsame Wiederannäherung an die Kategorie Raum. In der Nachkriegszeit ist es zunächst zu einer Tabuisierung jeder Bezugnahme auf Raum gekommen, um einen möglichen Verdacht von Argumentationen im Sinne einer »Volk ohne Raum«-Politik von sich zu weisen. Noch in den 70er Jahren gilt es häufig als reaktionär, sich mit Raum zu beschäftigen. So schildert zum Beispiel Michel Foucault, der sich in seinem wissenschaftlichen Werk durchgängig mit Raumphänomenen beschäftigt, in einem Gespräch mit Jean-Pierre Barou und Michelle Perrot einen typischen Disput:

»I remember ten years or so ago discussing these problems of the politics of space, and being told that it was reactionary to go on so much about space, and that time and the ›project‹ were what life and progress are about« (Foucault 1980b, 150).

Die bewegte Zeit gilt als Thema der Zukunft. Raum haftet nicht nur die Vorstellung des Starren an, sondern erinnert auch an die geopolitischen Argumentationen im 2. Weltkrieg. In der Soziologie führt die negative Besetzung des Wortes »Raum« – weit über die Grenzen Deutschlands hinaus – zu einer Abkehr von theoretischen Auseinandersetzungen um den Raumbegriff. Einige Autoren und Autorinnen fordern heute konsequenterweise, eine erneute Betrachtung von Raumphänomenen mit einer Theoriediskussion um den Raumbegriff zu verbinden (zum Beispiel Läpple 1991).

12Durch die Tabuisierung ist der Raumbegriff in den letzten Jahrzehnten kaum weiter ausgearbeitet worden. Heute ist zu beobachten, daß einerseits räumliche Neustrukturierungen als gesellschaftliche Prozesse empirisch erhebbar sind, andererseits der zur Analyse eingesetzte Begriff nur die Schlußfolgerung zuläßt, daß Raum abstrakt wird. Nun drängt sich die Frage auf, ob der angewendete Begriff die sozialen Phänomene und seine vermutlichen Entstehungsbedingungen noch erfaßt.

Dabei wird Raum durchaus als soziologischer Grundbegriff geführt, so zum Beispiel in Nachschlagewerken wie Bernhard Schäfers »Grundbegriffe der Soziologie« (19954), jedoch nicht ohne den Hinweis, daß es sich hierbei um ein gemeinhin vernachlässigtes Thema handle. An dieser Stelle nimmt die vorliegende Schrift ihren Ausgangspunkt. Die Frage, die dem Buch zugrunde liegt, lautet, wie Raum als Grundbegriff der Soziologie präzisiert werden kann, um aufbauend auf dieser Begriffsbildung eine Raumsoziologie zu formulieren. Im folgenden soll deutlich werden, daß die Soziologie nicht auf den Begriff des Raums verzichten kann, da mit ihm die Organisation des Nebeneinanders bezeichnet wird. Die Mikrosoziologie bedarf des Raumbegriffs, um jene Gebilde benennen zu können, die sich durch die Verknüpfung verschiedener sozialer Güter bzw. Menschen miteinander herausbilden und die als solche Handeln strukturieren. Die Makrosoziologie kann mit dem Raumbegriff die relationalen Verknüpfungen begrifflich fassen, wie sie infolge technologischer Vernetzungen oder städtischer Umstrukturierungen entstehen und als solche Lebensbedingungen prägen.

Dazu kann nicht umstandslos auf einen bereits entwickelten Raumbegriff zurückgegriffen werden. Die bisherige Nutzung des Raumbegriffs in der Soziologie oder in angrenzenden Disziplinen kann Ansatzpunkte bieten. Es wird deutlich werden, daß die Verwendung des Raumbegriffs für Territorien oder im Sinne einer Lokalisierung an Orten nur Aspekte der Konstitution erfaßt. Dies gilt auch für die vereinzelte Nutzung des Raumbegriffs im Sinne Kants als ordnendes Prinzip a priori.

Die aktuellen Arbeiten zu einem neuen Raumbegriff haben bislang noch selten den Charakter systematischer Ableitungen, sondern sind als Annäherungen an eine neue Sicht auf Räume zu lesen. Da es sich dabei meist um Aufsätze oder kurze Abhandlungen in Büchern zu einem anderen Thema handelt, bleibt dem 13raumtheoretisch ungeschulten Leser das Ausgeführte in der gebotenen Kürze meist unklar.

Die empirische Sozialforschung hat eine Reihe von Untersuchungen zur gesellschaftlichen Organisation von Räumen hervorgebracht, bislang fehlt aber eine theoretisch konsistente Vorstellung von den Verbindungen zwischen den einzelnen Phänomenen. So gibt es eine Vielzahl empirischer Untersuchungen z.B. über Nutzungsmöglichkeiten des gebauten Raums, strukturelle Ausschlüsse aus dem öffentlichen Raum, symbolische Wirkungen von Räumen etc., aber kaum Ideen über das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren: räumliche Strukturen, Handeln, Symbolik etc. Ohne eine theoretische Vorstellung, wie Räume entstehen und reproduziert werden – und dieser Prozeß soll mit Hilfe des Raumbegriffs kommunizierbar gemacht werden – lassen sich, wie ich im sechsten Kapitel zeigen werde, viele empirisch erhobenen Befunde nur unzureichend erklären.

Insbesondere die Konzeptualisierung von Raum als Ort oder Territorium kann diese Verknüpfung der verschiedenen Konstitutionsaspekte nicht leisten, da nicht der Prozeß der Konstitution erfaßt wird, sondern das Ergebnis dieses Prozesses – die Herausbildung von Orten, begrenzten Territorien etc. – vorausgesetzt wird. Die einzelnen Aspekte des komplexen sozialen Prozesses, in dessen Folge Räume entstehen oder reproduziert (bisweilen auch verändert) werden, bleiben unerkannt, da der Raum als Territorium oder Ort als bereits bekannt vorausgesetzt wird. Das Bild vom Raum als Territorium verleitet zudem zu einem metaphorischen Gebrauch des Raumbegriffs oder führt zu der Annahme, daß Raum geographischer, aber nicht soziologischer Gegenstand sei.

Um Konstitutionsprozesse und Veränderungen derselben analysieren zu können, werde ich im Lauf des Buches Raum aus der Anordnung der Menschen und sozialen Güter heraus ableiten, das heißt nicht länger zwei verschiedene Realitäten – einerseits den Raum, andererseits die Menschen und sozialen Güter – voraussetzen. Der Raum wird also in den Handlungsverlauf integriert und damit selbst als ein dynamisches Gebilde gefaßt werden.

Die Soziologie gewinnt hiermit einen Begriff, um relationale Verflechtungen sozialer Güter und Menschen, die eine eigene Potentialität aufweisen, untersuchen zu können. Inklusion und Ex14klusion über räumliche Verteilungen können erhoben werden. Veränderungen in der Organisation des Nebeneinanders werden als gesellschaftlicher Wandel in der Konstitution von Räumen begreifbar und erscheinen nicht länger nur als Auflösungsphänomene.

Hermann L. Gukenbiehl (19953) bestimmt die Funktion eines soziologischen Grundbegriffs in zweifacher Hinsicht:

»Zum einen stehen sie in Beziehung zur ›sozialen Wirklichkeit‹, die sie bezeichnen und über die sie informieren wollen und sollen. (...) Zum anderen stehen diese Begriffe im Zusammenhang mit theoretischen Modellen, mit fachlichen Gesamtvorstellungen über die soziale Wirklichkeit« (Gukenbiehl 19953, 13).

Soziologische Grundbegriffe dienen demzufolge sowohl als Kommunikationsmedium als auch der Analyse sozialer Wirklichkeit, welche, so muß man ergänzen, durch die Begriffswahl gleichzeitig auch konstituiert wird. Für die Ausarbeitung eines soziologischen Raumbegriffs ergeben sich daraus m.E. zwei Problemkomplexe:

a) 

Welche theoretischen Modelle stehen hinter verschiedenen Raumbegriffen?

b) 

Wie muß ein Raumbegriff konzipiert sein, um die in empirischen Untersuchungen erhobenen Veränderungen von Anordnungsstrukturen zu erfassen?

Um also die Frage, wie Raum als soziologischer Grundbegriff bestimmt werden kann, zu beantworten, ist es notwendig, die Raumvorstellungen, die bisher die sozialwissenschaftliche Forschung zu Raum beeinflussen, zu analysieren (Kap. 2). Ferner müssen empirische Untersuchungen daraufhin geprüft werden, welcher Raumbegriff das Analysierte zu erklären hilft, sowie auch umgekehrt das empirisch erhobene Wissen um die Konstitution von Raum die Entwicklung eines soziologischen Raumbegriffs erst möglich macht (Kap. 3). Das folgende Kapitel skizziert darauf aufbauend den eigenen Weg zum Raum. Neue sozialwissenschaftliche Raumvorstellungen werden ausgewertet und darauf aufbauend der eigene Blick auf den Raum konkretisiert (Kap. 4). Nun, mit Hilfe des Wissens um die theoretischen Vorarbeiten und die Vorstellungswelt zu Raum und auch über die empirisch bereits erhobenen Formen der Konstitution von Raum 15ist es möglich, in einem eigenen Ansatz, Raum als soziologischen Begriff herzuleiten. Dabei soll es nicht darum gehen, eine Kategorie zu entwerfen, die dann einer vielfältigen Realität übergestülpt wird. Vielmehr ist es das Ziel, einen prozessualen Begriff zu entwickeln, der den Konstitutionsprozess benennt, so daß die verschiedenen Artikulationsformen – zum Beispiel nach Geschlecht, Klasse, Ethnie, Alter, sexueller Identität etc. – zwar verstanden, aber nicht vereinheitlicht werden (Kap. 5). Schließlich soll der Nutzen des neu entwickelten Raumbegriffs in exemplarischen Analysen aufgezeigt und gleichzeitig geprüft werden (Kap. 6). Die Arbeit schließt mit einer systematischen Zusammenfassung der Grundlagen einer Soziologie des Raums (Kap. 7 und 8).

So ist es das Ziel dieses Buches, eine Soziologie des Raumes zu formulieren, die auf einem prozessualen Raumbegriff, der das Wie der Entstehung von Räumen erfaßt, aufbaut. Verschiedene Raumbegriffe bieten unterschiedliche Operationalisierungen von Problemen an. In Abhängigkeit zu den gesellschaftlichen Bedingungen weist der eine oder der andere Raumbegriff mehr oder weniger Erklärungswert auf. Begriffe sind daher nicht falsch oder richtig, sondern die Kriterien für die Beurteilung müssen der Erklärungsnutzen für empirisch beobachtbare Phänomene und die theoretische Konsistenz der Begriffsbildung sein.

Ich gehe dazu von einem Raum, der verschiedene Komponenten aufweist, aus. Das heißt, ich wende mich gegen die in der Soziologie übliche Trennung in einen sozialen und einen materiellen Raum, welche unterstellt, es könne ein Raum jenseits der materiellen Welt entstehen (sozialer Raum), oder aber es könne ein Raum von Menschen betrachtet werden, ohne daß diese Betrachtung gesellschaftlich vorstrukturiert wäre (materieller Raum). Analytisch gehe ich daher von einem sozialen Raum aus, der gekennzeichnet ist durch materielle und symbolische Komponenten.

Unterschieden wird zwischen Raumvorstellung, Raumbild und Raumbegriff. Der Raumbegriff ist ein Fachterminus. Er dient der Verständigung innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin. Ihn nutzend, sollen wesentliche Zusammenhänge als gedankliche Einheit formuliert werden können. Raumbilder sind, wie Detlev Ipsen in seinem gleichnamigen Buch herleitet, »Konfigurationen von Dingen, Bedeutungen und Lebensstilen« (Ipsen 1997, 6). Es handelt sich hierbei um einzelne Bilder von Räumen, 16an konkreten Arrangements geformt, die in großer Vielzahl in einer Gesellschaft existieren können. Eine Raumvorstellung ist im Unterschied dazu eine Idee vom Raum, eine Verdichtung dieser Raumbilder sowie deren symbolische Besetzung mit in wissenschaftlichen Disziplinen geltendem und/oder in den Alltag transformiertem Wissen um den Raum.

Der Ausgangspunkt meines Denkens ist die Giddenssche Theorie der Strukturierung, da hier der Dualismus von (objektiven) Strukturen versus (subjektivem) Handeln in eine Dualität übersetzt wird. Allerdings zeigt die Anwendung der Giddensschen Theorie auf Raum, daß weder sein Raum- noch sein Systembegriff übernommen werden können. Statt dessen werde ich mit Pierre Bourdieu stärker den Körper als Mittler zwischen Strukturen und Handeln betonen. Mit Bezug auf Reinhard Kreckels Arbeiten kann die Verknüpfung zwischen Materie und Symbolik geleistet werden.

Des weiteren zwingt das Thema Raum mit seinen vielfältigen Facetten dazu, die Annehmlichkeit eines ausschließlich handlungstheoretischen Rahmens bisweilen zu verlassen, erstens weil Aspekte der Konstitution von Raum, zum Beispiel Wahrnehmung und Atmosphären, dort nicht diskutiert werden, zweitens aber auch, weil in anderen Argumentationskontexten, z.B. in der Luhmannschen Systemtheorie, erhellende Ideen formuliert werden, die nicht zugunsten festgefügter Denktraditionen vernachlässigt werden sollen. So ist die hier vorgestellte Soziologie des Raums zwar aus der Theorie der Strukturierung hervorgegangen, geht aber über diese hinaus, verändert die Vorgaben und bietet mit der Entwicklung einer Soziologie des Raums auch Vorschläge für eine Novellierung der Theorie der Strukturierung.

Einleitungen enden heutzutage mit einem Hinweis auf den vergeschlechtlichten Sprachgebrauch. Ich wähle im folgenden je nach Kontext entweder die weibliche oder die männliche Form als Verallgemeinerung.

172 Raumvorstellungen im Kontext

»Erde und Himmel gibt es nicht mehr (...). Die Erde nicht, weil sie ein Gestirn des Himmels ist, und den Himmel nicht, weil er aus Erden besteht. Da ist kein Unterschied mehr zwischen Oben und Unten, zwischen dem Ewigen und dem Vergänglichen. Daß wir vergehen, das wissen wir. Daß auch der Himmel vergeht, das sagen sie uns jetzt. Sonne, Mond und Sterne und wir leben auf der Erde, hat es geheißen, und so steht es geschrieben; aber jetzt ist auch die Erde ein Stern nach diesem da. Er gibt nur noch Sterne!« (Bertolt Brecht: Leben des Galilei, 1938/1939)

Stellt man es sich normalerweise zur Aufgabe, die theoretischen Modelle hinter einem soziologischen Grundbegriff herauszuarbeiten, dann stößt man auf die üblichen Auseinandersetzungen zwischen Theorieschulen: Handlungstheorie versus Systemtheorie, Marxismus versus Strukturalismus usw. Beim Raum werden diese Diskussionen erst im zweiten Schritt relevant, zunächst zieht sich eine tiefe Spaltung durch die wissenschaftliche Literatur entlang einer historischen Kontroverse zwischen »absolutistischen« und »relativistischen« (von Weizsäcker 1986, 256ff.) Standpunkten. Zur absolutistischen Tradition zählt Carl Friedrich von Weizsäcker zum Beispiel Ptolemäus, Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton u.a., zur relativistischen Cusanus, Bellarmin, Leibniz, Mach u.a. Diese unterscheiden sich vor allem in der Einschätzung des Verhältnisses von Materie und Raum. Während Absolutisten einen Dualismus annehmen, d.h. es existieren ihnen zufolge Raum und Körper, sind relativistische Traditionen der Auffassung, daß Raum sich aus der Struktur der relativen Lagen der Körper ergibt.

Ich werde im folgenden zeigen, daß nahezu alle soziologischen Arbeiten zu Raum, d.h. mit Ausnahme der phänomenologischen, auf der einen oder der anderen Grundannahme basieren: entweder es wird dualistisch zwischen Raum und Körpern getrennt oder aber in der Tendenz monistisch Raum als Folge der Beziehungen zwischen Körpern hergeleitet. Die absolutistische Unterscheidung zwischen Raum und Körpern (Handeln) schließt die Annahme ein, daß Raum unabhängig vom Handeln existiert. Als Vorstellung verdichtet sich die absolutistische Perspektive in dem Bild, daß es einen Raum gibt, dem die Körper sind. In der relativistischen Raumtheorie dagegen wird Raum aus der Anordnung der Körper abgeleitet. Da sich diese Körper (Handlungen) immer in Bewegung befinden, sind auch die Räume in einen permanenten Veränderungsprozeß eingebunden. Räume existieren demnach nicht unabhängig von den Körpern. Während im absolutistischen Denken Räume die unbewegte und für alle gleichermaßen existente (deshalb homogene) Grundlage des Handelns sind, geht im relativistischen Denken die Aktivität des Handelns unmittelbar mit der Produktion von Räumen einher.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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