Vom Raum aus die Stadt denken - Martina Löw - E-Book

Vom Raum aus die Stadt denken E-Book

Martina Löw

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Beschreibung

Städte tragen einen Namen. Sie sind immer einzigartig. Als Räume jedoch sind Städte Orte in einem machtvollen Gefüge. In ihnen lagern eine Vielzahl von ungleichen, sich überlappenden, aufeinander verweisenden Raumstrukturen, die sich mit Gewinn gesellschaftstheoretisch lesen lassen. Eine raumtheoretische Perspektive auf Städte ermöglicht es, zwischen einer Differenzlogik von Räumen und einer Eigenlogik von Städten zu unterscheiden. Die raumtheoretische Sichtweise erlaubt zudem, die Brücke von der Soziologie zur Architektur und Planung zu schlagen. Vor dem Hintergrund internationaler und interdisziplinärer Debatten um Raum vereint Martina Löw Forschungen zur Eigenlogik der Städte mit raumsoziologischen Analysen und zeigt dadurch, wie Städte über Raum das soziale Leben strukturieren. Das Spektrum der Beiträge reicht von methodologischen Überlegungen zur Raumanalyse über Fallstudien zu grundlagentheoretischen Perspektiven auf Gegenwart und Zukunft der Raumsoziologie sowie der raumtheoretischen Stadtsoziologie.

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Seitenzahl: 281

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Editorial

Körper, Bewegung und Raum sind in den Sozialwissenschaften noch wenig etablierte Forschungsfelder. Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Soziale wesentlich über Körper, Bewegung und Raum konstituiert wird und dass diese Dimensionen des Sozialen wechselseitig aufeinander verwiesen sind. Dynamik gewinnt die Forschungsperspektive, wenn Körper, Bewegung und Raum nicht länger als ontologisch, physikalisch definiert oder materiell gegeben vorausgesetzt, sondern als sozial hergestellt angesehen werden. Da Körper, Bewegung und Raum als materialisierte Formen gelten, standen sie lange Zeit in der Soziologie als Forschungsgegenstand nicht zur Diskussion und galten gar als das Andere des Sozialen. Neue Forschungsfelder machen seit wenigen Jahren jedoch deutlich, dass Körper sozial produziert werden und auch über ihre Materialität unlösbar in gesellschaftliche Prozesse und soziale Strukturen eingelassen sind. Damit ist eine fruchtbare soziologische Kontextualisierung von Körper, Bewegung und den über Körper-Bewegungen konstruierten Raum in Gang gekommen. Die Reihe Materialitäten hat zum Ziel, die neu entstehende Soziologie von Körper, Bewegung und Raum zu dokumentieren und editorisch zu betreuen. Sie bietet eine profilierte und hochkarätige Plattform für sozialwissenschaftliche Texte, die dieses Themenfeld vermessen und vertiefen: Beiträge zur Theorie und zur Sozialgeschichte von Körper, Bewegung und Raum sowie empirische soziologische Analysen jener sozialen Felder, in denen Körper, Bewegung und Raum eine besondere Bedeutung gewinnen. Hierzu gehören Stadt und öffentlicher Raum, Sport und Spiel, Alltagskultur und populäre Kultur. Die Reihe will Anschlussstellen aufzeigen zu jenen Soziologien, die mit den Themenfeldern Körper, Bewegung und Raum eng verwandt sind – etwa Geschlechterforschung, Stadtsoziologie, Umweltsoziologie, Sportsoziologie, Medizinsoziologie. Und schließlich zielt die Reihe Materialitäten darauf ab, soziologische Forschung in diesen Themenfeldern zu bündeln und auf diese Weise Anknüpfungspunkte an interdisziplinäre und internationale Diskurse herzustellen.

Die Reihe wird herausgegeben von Gabriele Klein, Martina Löw und Michael Meuser.

MARTINA LÖW

Vom Raum aus die Stadt denken

Grundlagen einer raumtheoretischen Stadtsoziologie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, BielefeldDie Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Coverabbildung: ts-grafik.de/Photocase.de Korrektorat: Demian Niehaus, Nürnberg Print-ISBN 978-3-8376-4250-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4250-0 EPUB-ISBN 978-3-7328-4250-6

Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1.Einleitung, oder: Ménage à troisÜber die Liebesbeziehung zwischen Stadt und Raum (und die Zeit als ständige Begleiterin)
2.Zwischen Handeln und Struktur Grundlagen einer Soziologie des Raums
3.Die konflikthafte Re-Figuration von Räumen in der späten Moderne
4.Die Differenzlogik der Räume Mit Raumtheorie den Weiterbau von Städten denken
5.Doing and SayingMethodologische Überlegungen zur Raumanalyse
6.Blickfänge Räumlich-geschlechtliche Inszenierungen am Beispiel der Prostitution
7.Gemeindestudien heute Sozialforschung in der Tradition der Chicagoer Schule?
8.Die Eigenlogik der Städte Grundlagen für eine sinnverstehende Stadtsoziologie
9.Schwarzsein Zur Eigenlogik von Salvador de Bahia
10.Grundlagen einer raumtheoretischen Stadtsoziologie
Literaturverzeichnis
Quellennachweise

1.Einleitung, oder: Ménage à troisÜber die Liebesbeziehung zwischen Stadt und Raum (und die Zeit als ständige Begleiterin)

Der Raum lebt in einer Dreierbeziehung. Begriffe und Theorien der Geistes- und Sozialwissenschaften entwickeln sich in Relation zueinander. Welche Beziehungen zwischen den wissenschaftlichen Werkzeugen hergestellt werden, mag zuweilen systematische Gründe haben, häufig sind die Ursachen für Bezüge jedoch in historisch spezifischen Bedingungen, in Interessensfeldern der heute als klassisch geltenden Autoren und Autorinnen oder in institutionellen Rahmenbedingungen zu suchen. Raum denken wir in Relation zur Zeit und zur Stadt.

Die Relation zum Begriff der Zeit ist naheliegend und systematisch. Während der Raum die Ordnung des Nebeneinanders erfasst, wird über den Zeitbegriff das Nacheinander in ihrer Ordnung thematisiert. Fast sprichwörtlich ist heute die Formulierung vom »Raum-Zeit-Kontinuum«, die eine Verknüpfung der Dimensionen Raum und Zeit mit einem vierdimensionalen mathematischen Raum als Ausdruck für die Bezogenheit von Raum auf Zeit (und umgekehrt) meint. Gunter Weidenhaus (2015) zeigt in seinem Buch »Soziale Raumzeit«, dass Menschen zumindest in biografischen Erzählungen auch alltäglich (also nicht nur in wissenschaftlichen Modellen) Konstitutionsformen von Lebensgeschichtlichkeit und Lebensraum aufeinander beziehen.

Doch auch bei der Engführung von Raum und Zeit spielen nicht nur formal-theoretische, sondern auch institutionelle Bedingungen eine Rolle (die jedoch wiederum auf theoretisch-systematischer Intuition basieren können). In Frankreich, dem Land, dem wir die wichtigsten und meisten raumtheoretischen Impulse verdanken, ist die Lehre von der Zeit und die Lehre vom Raum in Form von Geschichte und Geografie institutionell eng verwoben. Bis 1940 galt die Geografie als Hilfswissenschaft der Geschichte und die agrégation, das Staatsexamen zur Rekrutierung der LehrerInnen für die Lycées, aber durchaus auch zur Rekrutierung für die Lehre an Universitäten und Collèges, beinhaltete in Geschichte immer auch einen Geografieteil. Seit 1944 gibt es zwar »zwei getrennte ›concours‹: eine ›agrégation‹ für Geschichte (mit dem Nebenfach Geografie) und eine ›agrégation‹ in Geografie (mit dem Nebenfach Geschichte)« (Gantet 2014, Abschnitt 16, kursiv im Original), doch bis heute gelten die beiden Disziplinen in Frankreich als untrennbar sich gegenseitig bedingende Perspektiven auf soziale Phänomene. Nicht zuletzt hieraus erklärt sich, dass in der französischen Theoriebildung – man denke z.B. an Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Henri Lefebvre oder Jean Rémy – die gleichzeitige Reflexion von Raum- und Zeitbezügen (weit über Geografie und Geschichtswissenschaft hinaus) eine viel zentralere und selbstverständlichere Rolle spielt als in anderen Ländern.

Viel überraschender ist die Engführung von Raum und Stadt. Die Stadt ist ebenso räumlich strukturiert wie ein Unternehmen oder die Familie. Selbst wenn man die Stadt als Raumform begreift, dann trifft diese Gegenstandsbestimmung über die Form ebenso auf den Nationalstaat oder die Architektur zu. Und dennoch wird selbstverständlich angenommen, dass die Raumsoziologie zur Stadtsoziologie gehört, und sie ist – zumindest in Deutschland – auch weitgehend aus der Stadtsoziologie hervorgegangen. Was also verbindet die Stadt mit dem Raum?

Man muss die Geschichte dieser Begriffs- und Theorieverbindung, gerade in der Soziologie, wohl mit Georg Simmel beginnend erzählen. Bekanntermaßen hat Simmel mit dem Text »Die Großstädte und das Geistesleben« (1903) die Grundlagen für die Herausbildung einer Stadtsoziologie und später der Urban Studies gelegt. Wie Johanna Hoerning und Gunter Weidenhaus (2018) aufzeigen, arbeitet Simmel in seiner Analyse großer Städte sowohl mit einer anthropologisch-räumlichen als auch mit einer historisierend-ökonomischen Argumentationsfigur. Georg Simmel, der zu Kants Materiebegriff promoviert und zu Kants Lehre von Raum und Zeit habilitiert hat, führt mit seinem grundlegenden Aufsatz zu einer »Soziologie des Raumes« (1903) zudem den Raumbegriff als Grundbegriff in die Soziologie ein. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass »Die Großstädte und das Geistesleben« sowie »Soziologie des Raumes« im gleichen Jahr verfasst wurden. Simmel, so zeigen Hoerning und Weidenhaus (2018), begreift die Großstadt sowohl über die sich durchsetzende Geldwirtschaft, mit der qualitative Unterschiede zwischen den Dingen und zwischen Menschen auf einen quantitativen Tauschwert reduziert werden, als auch über die räumliche Dichte von Unterschiedlichem, woraus sowohl eine indifferente Haltung als auch eine neue Freiheit resultiert. 1908 fügt Simmel den raumsoziologischen Text in leicht veränderter Form unter dem neuen Titel »Der Raum und die räumliche Vergesellschaftung« in sein Buch »Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung« (1992, Orig. 1908) ein und stellt damit Raum als eine wesentliche Form der Vergesellschaftung vor. Gesellschaft entstehe, so führt er einleitend aus, wenn das isolierte Nebeneinander zu Formen gestaltet werde (ebd., S. 19). Eine Form, mittels derer die Individuen zu Einheiten zusammengefasst werden, sei der Raum (ausführlich siehe Löw 2001, S. 58ff.). Der gedankliche Schritt von der »Stadt als Einheit« (Simmel 1995, Orig. 1903, S. 137) zur Stadt als raumstrukturelle Form, wie sie später in der Theoriebildung zur Eigenlogik von Städten entwickelt wurde, ist nur ein kleiner (Berking/Löw 2008; zur Relevanz von Simmel für die Eigenlogik-Forschung siehe auch Hoerning/Weidenhaus 2018). Bis heute wird Simmel regelmäßig als Gründungsvater der soziologischen Raum- und Stadtanalyse gewürdigt. Es steht außer Zweifel, dass er die gesellschaftswissenschaftlichen Schlüsselaspekte von Raum herausgearbeitet hat, und auch sein Stadtessay gilt als soziologischer Klassiker (Zieleniec 1997; Frisby 2000; Glauser 2006). Dass die Soziologie Simmel die Zusammenführung der Themenfelder Stadt und Raum verdankt, findet dagegen bislang noch weniger Berücksichtigung (zur Weiterführung der Stadt-Raum-Konstellation in der Chicagoer Schule siehe Kapitel 7).

Bei Simmel ist die Großstadt ein Ausdruck der modernen Gesellschaft und Raum ein analytischer Zugang zum Verständnis der modernen Gesellschaft. In der – vielleicht noch einflussreicheren – marxistischen Stadtsoziologie, wie sie Henri Lefebvre vertritt, wird der Raum selbst gemeinsam mit der Stadt (bzw. dem Urbanen) zum Produkt moderner Gesellschaften. Wie Simmel veröffentlichte auch Lefebvre jeweils einen Schlüsseltext zum Thema Stadt, »La révolution urbaine« (1970, dt. »Die Revolution der Städte«, 2014, Orig. 1972), sowie zum Thema Raum, »Production de l’espace« (1974, engl. »The Production of Space«, 1991, Orig. 1974). Lefebvre sucht, wie Ignacio Farias (2011) sehr passend zusammenfasst, die Antwort auf die Frage, wie fortschreitender Kapitalismus organisiert ist, nicht etwa – wie zu erwarten gewesen wäre – in der Reorganisation industrieller Produktion in Städten, sondern »suggested that capitalism was undergoing an urban revolution, in the sense that the production of (urban) space, and not industrial production, was becoming the main process determining the advancement and functioning of capitalism« (Farias 2011, S. 367f.). Immer hätten Gesellschaften Städte hervorgebracht, und zwar auf für die Gesellschaft typische Weise; das Neue am Kapitalismus sei die »globale und totale Produktion des sozialen Raums« (Lefebvre 2014, Orig. 1970, S. 165), der ein urbaner ist. Wie ich im Folgenden (vgl. Kapitel 2) noch genauer ausführen werde, argumentiert Lefebvre, dass im 16. und 17. Jahrhundert, beginnend mit Galileo, Menschen symbolisch ihren Platz in der Welt verloren und zugleich begonnen hätten, sich in den Städten selbst zu situieren (Lefebvre 1991, Orig. 1974, S. 272): »Space and time were urbanized.« (Ebd., S. 277) Parallel beginnt mit dem Kolonialismus die Geschichte der Homogenisierung von Raum durch Raumvermessung und -kontrolle. Der Kapitalismus bemächtigt sich des Raumes. Lefebvre spricht auch von der »homogeneous matrix of capitalistic space« (Lefebvre 1991, Orig. 1974, S. 227). Auf die Homogenisierung folgt die vollständige Verstädterung der Gesellschaft. »Das Stadtgewebe beginnt zu wuchern, dehnt sich aus und verschlingt die Überbleibsel des ländlichen Daseins.« (Lefebvre 2014, Orig. 1970, S. 9, kursiv im Original) Bei Lefebvre ist es der Staat, der die Rivalität von Stadt und Land ausnutzt, indem er von beiden Besitz ergreift und dann die Stadt fördert (ebd., S. 18). Die »Wiedergeburt des Logos« ist für Lefebvre Folge des »Wiedererstehens des Stadtwesens« (ebd.) – nicht umgekehrt. Die Stadt entwickelt sogar ihre »eigene Schrift: den Plan« (ebd., kursiv im Original). Folge der Stadtprojektionen auf den Plan, die zunehmend in ein geometrisches Koordinatensystem übertragen werden, sei: »Der idealistische und zugleich realistische Blick, der Blick des Geistes, der Macht, richtet sich auf die Vertikale, in den Bereich der Erkenntnis und der Vernunft, beherrscht und schafft so ein Ganzes: die Stadt.« (Ebd., S. 19) Über den Plan werde die räumliche Vorstellung von der Stadt als Ganzes zur sozialen Realität.

Auch Lefebvre arbeitet, wie zuvor Simmel, mit der Konstruktion der Form, um das Phänomen Stadt und die Verstädterung zu beschreiben. »Das Urbane ist also eine reine Form: der Punkt der Bewegung, der Ort einer Zusammenkunft, die Gleichzeitigkeit. Diese Form hat keinerlei spezifischen Inhalt, aber alles drängt zu ihr, lebt in ihr.« (Ebd., S. 128) Da die Stadt keine eigene Produktions- und Lebensweise mehr prägt, spricht Lefebvre oft vom Urbanen statt von der Stadt. Dieses Urbane ist an die Form gebunden und über die Form der Stadt ist das Urbane weitgehend kalkulierbar, quantifizierbar und planbar, bis auf das »Drama, das aus dem Nebeneinander […] der Elemente entsteht« (ebd., S. 129). Das Heterogene, ein notwendiger Ausdruck der Stadt, sei erstens unkalkulierbar und gebe zweitens der Stadt einen je spezifischen Inhalt. Mit dem Urbanen lebt die Gesellschaft im unauflösbaren Widerspruch zwischen Kalkulation/Plan/Quantität und nicht planbarer, als chaotisch erfahrbarer, je spezifischer Heterogenität. Weil die Stadt bzw. das Urbane Form ist (und eben nicht Inhalt, nicht Subjekt, nicht Objekt), also »räumliche Anordnung« (ebd., S. 126), ergeben sich, nach Lefebvre, räumliche Muster wie Zentralität und Peripherie, aber auch Polyzentralität, d.h. Streuung und Absonderung. Im Unterschied zum industriellen Raum ist der städtische Raum für Lefebvre ein differentieller. Anders gesagt: Der zunächst industriekapitalistisch homogenisierte Raum erfährt durch die Verstädterung eine erneute Heterogenisierung in Form der Einschreibung von Unterschieden. In den Worten von Lefebvre: »Das handelstreibende Bürgertum, die Intellektuellen, die Staatsmänner haben die Stadt geformt. Die Industriellen haben sie hauptsächlich zerstört. Die Arbeiterklasse hat keinen anderen Raum als den, der sich aus ihrer Enteignung, ihrer Verschleppung ergibt: den der Absonderung.« (Ebd., S. 138)

Seit den 1970er Jahren (häufig mit direktem Bezug auf Lefebvre) sind zahlreiche Publikationen erschienen, die nach der Rolle von Städten in der krisenhaften Reproduktion des entwickelten Kapitalismus fragen und dabei von der Annahme ausgehen, dass diese Rolle zugleich über eine kapitalistische Restrukturierung von Räumen zu bestimmen ist (z.B. Harvey 1973; Massey 1984; Smith 1984; Soja 1989). Insbesondere die angloamerikanische Geografie verfolgt diese Perspektive der Zusammenführung von Stadtforschung und Raumtheorie über Kapitalismuskritik sehr systematisch. Vielleicht am radikalsten definiert David Harvey (1973; 1985) Raum aus gesellschaftstheoretischer Perspektive. Harvey bestimmt, inspiriert durch Lefevres Buch »La révolution urbaine«, die Stadt in seinem Buch »Social Justice and the City« darüber, wie menschliche Praktiken verschiedene Konzepte von Raum nutzen: »The question ›what is space?‹ is therefore replaced by the question ›how is it that different human practices create and make use of distinctive conceptualizations of space?‹« (Harvey 1973, S. 13f.). Damit wendet sich Harvey gegen eine abstrakte (in seinen Augen philosophische) Raumdiskussion und hin zu empirisch bestimmbaren Kollektiven, die über die Realisierung von Raumkonzepten Gesellschaft prägen und reproduzieren. Human practice kann als alltäglicher Kampf gegen Raumverteilungen, wie sie sich z.B. in Gentrifizierung artikulieren, verstanden werden, wird in seinen Arbeiten aber zumeist als kapitalistische (Aus-)Nutzung von Raum übersetzt. Harvey stellt seine Analyse der sozialen Produktion von Raum in den Kontext eines historisch-geografischen Materialismus. Während der Kapitalismus danach streben muss, Zeit zu dynamisieren und Raumdistanzen zu annullieren (dazu ausführlich Kapitel 2), wird gleichzeitig, so Harvey, die physische Infrastruktur der Städte (als kapitalistische Zentren) immer neu umgebaut und Ungleichheit im Raum festgeschrieben. Städte sind »nicht nur Orte der geografischen Konzentration von Kapital und Arbeit sowie der damit verbundenen (Klassen-)Konflikte, sondern auch physisch-materielle und soziale Knotenpunkte bzw. Koordinierungsinstanzen einer übergreifenden, sich dynamisch verändernden kapitalistischen Raumökonomie (Wiegand 2013, S. 38). Stadt wird – und zwar ausschließlich – »in den Formen, Dynamiken und Widersprüchen einer genuin kapitalistischen Stadtentwicklung« (ebd.) untersucht.

David Harvey wird als »einer der bedeutendsten zeitdiagnostischen Theoretiker des globalen Kapitalismus« (Belina 2011, S. 240) gefeiert oder als »capitalocentric« (Gibson-Graham 1996) kritisiert. In jedem Fall hat er viele politische Debatten um Stadtpolitik angestoßen und wichtige Analysen kapitalgetriebener Stadtentwicklung vorgelegt. Doch zeigen sich an der Vorgehensweise grundsätzliche Probleme von Urban Studies, die sozialtheoretische Begriffsarbeit und Gesellschaftstheorie vermischen.

Sozialtheorie versucht die Grundbegriffe der Sozial- und Geisteswissenschaften zu bestimmen. Soziologisch steht hier die Frage im Vordergrund, wie das Soziale gesellschafts- und epochenübergreifend bestimmt und erfasst werden kann. Es geht um den wissenschaftlichen Zugang zum Phänomen des Sozialen. Gesellschaftstheorie arbeitet auf dem begrifflichen Fundament, das die Sozialtheorien gelegt haben, und bemüht sich darum, die Formen und Inhalte konkreter Gesellschaften (in der Regel die zeitgenössische moderne Gesellschaft) zu beschreiben oder in ihrer Wirkungsweise zu erklären (zur Unterscheidung von Sozial- und Gesellschaftstheorie siehe Lindemann 2014; Reckwitz 2016, S. 8ff.; Knoblauch 2017, S. 11ff.). Durch ihre Ergebnisse wird Sozialtheorie herausgefordert und muss sich verändern. Die sozialtheoretischen Begriffe sind so angelegt, dass mit ihnen unterschiedliche Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten analysiert werden können. Auch wenn das im Einzelnen oft scheitert und die Begriffsdefinitionen einen zeitgeschichtlichen Bias haben, ist es doch das Ziel sozialtheoretischer Arbeit, dass z.B. der Handlungs- oder Kommunikationsbegriff, aber auch der Raumbegriff, so gefasst sind, dass mit ihnen sozialistische wie kapitalistische, frühneuzeitliche sowie moderne Gesellschaften verstanden werden können. Georg Simmel z.B. will (über weite Strecken seines Textes) Raum sozialtheoretisch bestimmen, wohingegen er in seinem Stadtessay gesellschaftstheoretisch arbeitet. Max Webers Bestimmung des Handlungsbegriffs erfolgt auf der sozialtheoretischen Ebene, wohingegen »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« (2010, Orig. 1904/1905) gesellschaftstheoretisch angelegt ist. Und die grundbegrifflichen Bestimmungen wie auch die sozialtheoretische Klärung des Phänomenzugangs nutzt Weber für seine Kapitalismusanalyse.

Der Begriff Sozialtheorie ist nicht mit social theory im angloamerikanischen Sinne zu verwechseln. Social theory ist, insbesondere in den USA, ein Feld, in dem (in Abgrenzung zu der Anforderung, Theorie immer auf empirischen Aussagen aufzubauen) die Relevanz theoretischer Ableitung betont wird (Joas/Knöbl 2004). Eine Differenzierung zwischen dem Sozialen und dem Gesellschaftlichen wird hier nicht vorgenommen. Sie ist aber hilfreich, um die Bedingungen der Möglichkeit des Sozialen von den spezifischen Ausprägungen des Gesellschaftlichen zu unterscheiden.

Im Kontext der Kultur- und Wissenssoziologie, wie sie insbesondere (aber nicht nur) in Deutschland entwickelt wird, wird zumeist angestrebt, das Soziale über Begriffe wie Handeln, Interaktion oder Kommunikation zu begreifen. Allerdings erkennt Hubert Knoblauch (2017) an, wiewohl er es noch nicht theoretisch ausbaut, dass wir »[m]it dem Raum […] natürlich wieder auf eine grundlegende sozialtheoretische Dimension des kommunikativen Handelns zurück[kehren]« (S. 294). Tatsächlich scheint es mir für eine raumtheoretisch fundierte Stadtsoziologie unabdingbar, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie das Soziale räumlich – wie eben auch leibkörperlich – konstituiert ist (zum Begriff des Leibkörpers siehe Knoblauch 2017, S. 119ff.). Und diese Frage liegt auf einer anderen erkenntnistheoretischen Ebene als die gesellschaftstheoretische Frage, welche Raumformen die moderne Gesellschaft hervorbringt bzw. wie Raum genutzt wird, um in dieser Gesellschaft Handeln zu strukturieren. Das Projekt, eine raumtheoretisch ausgearbeitete Sozialtheorie zu entwickeln, auf deren Basis eine empirisch begründete Gesellschaftstheorie (insbesondere der räumlich-kommunikativen Re-Figuration von Gesellschaft) möglich wäre, steht noch aus.

Harvey, wie viele andere sogenannte kritische Geografinnen und StadtforscherInnen, arbeitet selbstverständlich mit sozialtheoretisch bestimmtem Vokabular und Annahmen, um die Form und den Inhalt der Gesellschaft zu bestimmen. Allerdings werden die neu in den historisch-materialistischen Kontext eingeführten Begriffe wie Stadt und Raum – bei Harvey explizit – direkt über die gesellschaftliche Praxis definiert. Auch wenn Harvey die Unterscheidung zwischen absoluten, relativen und relationalen Räumen einführt (auch dazu mehr in Kapitel 2), so beginnt er damit doch schon seine Kapitalismusanalyse. Das Gleiche gilt, wenn auch in abgeschwächter Form, für Lefebvres Bestimmung von Raum über räumliche Praxis, Repräsentationen von Raum und den Raum der Repräsentation (Lefebvre 1991, S. 38f.). Explizites Ziel dieses Trios ist es, nicht bei der repetitiven Alltäglichkeit der Produktion von Raum (räumlicher Praxis im Kapitalismus) und der wissenschaftlich-konzeptionellen Strukturierung des Entwerfens, Denkens, Planens (Repräsentationen von Raum) stehen zu bleiben, sondern ein mögliches Außen, ein Widerständiges, Queres zu denken, das als Raum der Repräsentationen gefasst wird.

Ignacio Farias (2011) stellt daher zu Recht die Frage, inwieweit die Stadt- und Raumanalyse in vielen Fällen nur Mittel zum Zweck ist, um Kapitalismus zu untersuchen. »The central question we need to pose is whether we study cities as an instance of something else, of capitalism in this case, or we engage in an inquiry into the city and urbanization as a positive, actual and self-entitled process.« (Farias 2011, S. 368) Auf ähnliche Weise haben Helmuth Berking und ich 2008 die konzeptionelle Idee der »Eigenlogik der Städte«-Forschung erläutert: »Nicht länger und ausschließlich in den Städten forschen, sondern die Städte selbst erforschen, ›diese‹ im Unterschied zu ›jener‹ Stadt zum Gegenstand der Analyse machen.« (Berking/Löw 2008, S. 7) Ziel ist es, die Städte nicht mehr auf ein Laboratorium für die großen soziologischen Fragen zu reduzieren.

Man wird kaum darüber diskutieren können, dass die Stadt nur gesellschaftstheoretisch relevant ist. Das heißt, dass es keine Definition von Stadt geben kann, die epochen- und kulturübergreifend ist. Schaut man sich z.B. Arbeiten im Fach Archäologie an, dann werden schnell die Schwierigkeiten sichtbar, nicht die jetzt beobachtbaren Städte der Moderne zum Ausgangspunkt der Analyse vergangener Stadttypen zu machen. Schon aufgrund der Datenlage ist es schwierig, Städte anderer Epochen jenseits der erfahrbaren städtischen Wirklichkeit zu verstehen. Vor allem aber wird man argumentieren müssen, dass die Konstitution des Sozialen ohne die Stadt konzeptualisierbar ist. Leitende Vorstellungen von Basisprozessen der Wirklichkeitskonstruktion sind auch für rein ländliche Gesellschaften formulierbar. Die Stadt wäre dann als empirisch zu bestimmendes Kollektiv zu verstehen, über das wesentliche Aspekte von Gesellschaft verstanden werden können.

Um die Vermischung von sozialtheoretischen Konzepten und gesellschaftstheoretischen Aussagen, um deren Problematik z.B. Simmel noch wusste, die aber in aktuellen sozialwissenschaftlichen Stadtanalysen häufig erfolgt, zu vermeiden, gilt es zwei Fehlschlüsse zu vermeiden. Erstens: Wenn die Stadt nur gesellschaftstheoretisch relevant ist, dann heißt das nicht, dass das Städtische über den Kapitalismus umfassend verstanden wird. Zweitens: Wenn die Stadt nur gesellschaftstheoretisch relevant ist, bedeutet das zudem nicht, dass die Heterogenität der empirisch zu bestimmenden Städte nicht relevant ist, um die wesentlichen Züge der Gesellschaft zu verstehen. Oder anders gesagt: Die Stadt kann als empirischer Gegenstand unsere Neugierde wecken, gerade weil sie sozialtheoretisch nicht bestimmbar, sondern spezifische Erscheinungsform ist. Und es bedeutet ferner: Die sozialtheoretische Bestimmung von Raum kann genutzt werden, um Städte in ihren Strukturen zu verstehen und zu vergleichen.

Blickt man zunächst auf den ersten möglichen Fehlschluss, so soll – um Missverständnisse zu vermeiden – noch einmal betont werden, dass viele Fragen der sozialen Ungleichheit, etwa Eigentum oder soziale Verteilungen in Städten betreffend, sehr gut über Kapitalismusanalyse verstehbar werden. Trotzdem deckt der politisch-ökonomische Kontext der Stadt nicht das Ganze städtischer Wirklichkeit ab. Die große Frage ist immer noch: Wie organisieren Städte (auch auf je spezifische, aber typisierbare Weise) soziales Leben? Oder, in den Worten von Farias: »The city confronts us indeed with fundamental facts of human existence: the transactional relation with the environment (Dewey 1988 [1925]), dwelling as world-making (Heidegger 1993), the gathering together of heterogeneous life forms (Ingold 2000).« (Farias 2011, S. 368) Auch in der Moderne bzw. gerade in der Spätmoderne sind die politisch-ökonomisch zu bestimmenden Dimensionen der Städte nur zusammen mit Strategien der Kulturalisierung und Ästhetisierung verständlich (Reckwitz 2012, insbesondere S. 269ff.; Steets 2008). Der als Rekonstruktion kommunizierte Neubau von Altstädten, Schlössern oder Gotteshäusern z.B. ist nicht nur eine kapitalistische Vermarktung städtischen Raumes, durch die soziale Ungleichheit manifestiert wird, sondern auch ein Kampf im Feld der Identitäts- und Erbepolitik (Vinken 2016). Der Bau von sogenannten Stararchitekturen ist nicht nur ein hegemonialer Ausdruck der »culture-ideology of consumerism in the interests of those who control capitalist globalization, namely the transnational capitalist class« (Sklair 2010, S. 136f.), sondern z.B. auch der Versuch, neuen Stolz in einer Stadt mit nationalsozialistischer Vergangenheit zu entwickeln (z.B. in Graz oder Wolfsburg, siehe Alaily-Mattar et al. 2018).

Eine Möglichkeit, eine analytische Perspektive auf Ordnung einzunehmen, die wenig Gefahr läuft, die Analyse zu schnell zeitdiagnostisch zu bewerten, ist die Raumtheorie. Doreen Massey (z.B. 2005) hat immer wieder betont, dass eine raumtheoretische Perspektive ermöglicht, sowohl die Gleichzeitigkeit des Platzierten (damit Raum sich aufspannen kann, müssen mindestens zwei Elemente platziert sein) als auch die Verbundenheit der gleichzeitig platzierten Elemente (nämlich die räumliche Abhängigkeit, die sozial erfahren wird) in den Blick zu nehmen. Der Raumbezug und damit die notwendige Perspektive auf gleichzeitige Platzierungen ermöglicht es dann auch, den zweiten Fehlschluss zu vermeiden und die verschiedenen städtischen Wirklichkeiten nicht vorschnell unter dem Label »Stadt« auszublenden. Eine raumtheoretisch fundierte Stadtsoziologie knüpft produktiv an das vielfältig etablierte Zusammendenken von Stadt und Raum (und Zeit) an. Raumtheorie bietet die Chance, erstens die Konstitution des Sozialen in seiner räumlichen Dimension zu begreifen und zweitens die gegenwärtigen Raumanordnungen, mit all den damit einhergehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen, in und an Städten zu untersuchen, um Gesellschaft zu verstehen.

Versteht man Raum nicht nur als ein Phänomen, das aus den Strukturen und Diskursen empirisch beobachtbarer Gesellschaften ableitbar ist (als Form der Organisation des Sozialen), sondern auch als konstitutiv für das Soziale (wie der Leibkörper auch), dann lohnt es sich, um die Relevanz von Raum nicht nur auf gesellschaftstheoretischer, sondern auch auf sozialtheoretischer Ebene zu ringen. Anders formuliert: Aussagen darüber, wie das Soziale grundsätzlich, d.h. empirisch vorfindbare Gesellschaften oder Ordnungen übergreifend, über Räume konstituiert wird, gehören in den Bereich der Sozialtheorie. Dahingegen gehören alle Aussagen, wie die moderne Gesellschaft spezifische räumliche Anordnungen hervorbringt, in den Bereich der Gesellschaftstheorie. Die Aussage, der Raum sei eine relationale Anordnung sozialer Güter und Lebewesen an Orten, ist nach meinem Verständnis eine sozialtheoretische Aussage, weil hier Handeln als verräumlichtes gedacht wird. Demgegenüber ist es eine gesellschaftstheoretische Aussage, wenn ich schreibe, dass die Moderne räumliche Anordnungen soziogenetisch als Staatsterritorium und psychogenetisch als absolut gesetzten Umgebungsraum homogenisiert (siehe dazu Kapitel 3). Gerade wenn man verstehen will, wie städtische Räume in der spätmodernen, d.h. einer durch Prozesse wie Globalisierung und Mediatisierung geprägten, Gesellschaft hervorgebracht werden, ist die Unterscheidung zwischen generalisierbaren Annahmen über das Soziale und spezifischen Bestimmungen der jetzigen Gesellschaft fundamental.

Raumtheorie hat als ein wesentliches Fundament der Stadtsoziologie (und selbstverständlich muss es in einem Gegenstandsfeld immer verschiedene Theorieangebote geben) den Vorteil, zunächst wenig in Theorieabgrenzungskämpfe verstrickt zu sein. Man baut ein theoretisches Fundament, mit dem nach Ordnung gefragt werden kann. Wenn das Handeln relational räumlich bestimmt und Raum als Anordnung gefasst wird, die eben nicht nur sozial konstruiert ist, sondern auch wirkend Bedingung für Handeln ist, kann in der Folge (und hoffentlich langfristig diese Bestimmung auch immer wieder herausfordernd) nach dem Wie der städtischen Ordnung gefragt werden. Das ist in aller Kürze das Projekt einer raumtheoretischen Stadtsoziologie.

Raum lenkt den Blick, wie oben mit Verweis auf Doreen Massey schon ausgeführt (siehe auch Kapitel 4), auf die Verknüpfung und Abhängigkeit von voneinander Verschiedenem. Die Verschiedenheit der Städte als Räume/Orte zu denken, ist eine raumtheoretische Operation, die Heterogenität städtischer Räume zu fokussieren, eine andere. Wir können eine »Differenzlogik von Räumen« und eine »Eigenlogik von Orten« unterscheiden.

Blickt man sozialwissenschaftlich auf eine Formation als Ort, oft mit der Einheit stiftenden Kraft eines Namens versehen, so rücken die lokalen Strategien und Strukturen (individuell und kollektiv) in den Blick: Überlieferungen, Erinnerungen, gemeinsame Erfahrungen. Ein Ort ist Platz, Stelle, konkret benennbar, meist geografisch markiert, aber zugleich kollektiv mit Sinn aufgeladen (vgl. Kapitel 7). In der Perspektive einer Eigenlogik von Städten als Orte und an Orten bleibt die Vielfalt möglicher Räume zunächst im Hintergrund, um das räumlich Ganze, den einen Raum, der an diesem Ort als Stadt erfahrbar ist, in den Blick zu rücken. Die Stadt als Ort wird zur »Wahrnehmungsganzheit«, wie Lea Rothmann schreibt, »über einen Spacing- und Syntheseprozess verwirklicht, und zwar als gemeinsame (sozialisierende und subjektivierende) räumende, das heißt Raum schaffende Wahrnehmungsleistung, die wir nicht alleine, sondern mit anderen und anderem vollbringen« (Rothmann 2018, S. 362). Diese Wahrnehmungsganzheit ist strukturell rückgebunden. Städte sind auch Formen im Sinne von Georg Simmel oder, in der Formulierung von Helmuth Berking und Jochen Schwenk, »raumstrukturelle Formen der Organisation von Größe, Dichte und Heterogenität« (Berking/Schwenk 2011, S. 11). Das Inkludierende in der Stadt rückt in den Blick: gemeinsame Erfahrungen, kollektiv reproduzierte Strukturen, mit anderen Worten: die Eigenlogik der Städte. »›Eigenlogik‹ markiert dann den für diese Stadt typischen Modus der Verdichtung von bebauter Umwelt, Material- und Stoffströmen, Verkehrs- und Menschenströmen.« (Ebd., S. 11f., kursiv im Original) Unterscheidbar sind Städte über die divergierenden Qualitäten der Verdichtung. Im größeren Maßstab greift hier wieder die Differenzlogik der Räume, die – wenn die Stadt als ein Raum erfahrbar ist – zugleich danach fragen lässt, in welchem relationalen Gefüge diese Städte zu anderen Städten stehen.

Aber die Differenzlogik, die dem Raumdenken innewohnt, ermöglicht auch die Frage nach den vielfältigen, sich überlappenden, aufeinander verweisenden Raumstrukturen in Städten, die sich mit Gewinn gesellschaftstheoretisch lesen lassen. Die Analyse städtischer Räume kann in viele Felder führen: Segregation, Architektur, Öffentlichkeit und Privatheit, Stadtplanung, Mobilität etc. Immer wird in der raumtheoretischen Lektüre das Geflecht von – häufig in sich widersprüchlichen – räumlichen Anordnungen in ihrem Abhängigkeitsverhältnis zueinander hervortreten und mit ihm die Relationen zwischen inkonsistenten sozialen Gruppen sowie die strategischen Knotenpunkte (vgl. Kapitel 4). Eine der großen offenen Fragen dabei ist, welche stabilen Raumformen eine hochmobile und stark digitalisierte Gesellschaft etabliert. Wir wissen, dass sich die Organisation des Sozialen durch Räume sowie die soziale Organisation von Räumen in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert hat (siehe Kapitel 3), haben aber zugleich nur sehr vage Vorstellungen davon, welche neuen räumlichen Anordnungen diese Re-Figuration hervorgebracht hat (Ansätze hier sind z.B. die Netzwerkgesellschaft bei Castells 2001, Orig. 1996; fluid spaces bei Law/Mol 2001; Schichtung/Lagerung/Knotenbildung bei Deleuze/Guattari 1997, Orig. 1980 sowie Foucault 1991) bzw. wie diese Anordnungen miteinander verknüpft werden. Zum Schließen dieser Forschungslücke wird die Stadtsoziologie Erhebliches beizutragen haben.

Sie wäre – gerade für die Analyse dieser neuer Raumformen – sicherlich ebenfalls gut beraten, auch Zeitfragen systematisch zu berücksichtigen, weil Zirkulation und Mobilität städtischen Alltag ebenso prägen wie die Spezifik der Raumformen (siehe dazu z.B. die Ausführungen zu Sonderwirtschaftszonen in Kapitel 3). Weidenhaus (2015) rekonstruiert auf überzeugende Weise drei Typen von Lebensgeschichtlichkeit: den linearen Typ, den zyklischen Typ und den episodischen Typ. Im Rahmen des Prozesses der Biografisierung, so fasst er zusammen, konstruieren Menschen eine geschichtliche Struktur des Lebens, indem sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein spezifisches Verhältnis setzen. Diese Verhältnisbestimmung folgt einem der drei genannten Muster. Wie eine Person räumlich in der Welt ist, unterscheidet sich dem Autor zufolge danach, wie sie Lebensräume zueinander ins Verhältnis setzt, wo und ob sie hierin ein Zuhause fixiert, ob sie die Vorstellung eines Zentrums etabliert und welche Rollen Grenzen, Verfügungsgewalt und identitäre Koppelungen darin einnehmen.

Die Pointe ist: Untersucht man nun die Lebensraumkonstitution im Zeitsample und die Geschichtlichkeitskonstitution im Raumsample, so stellt sich heraus, dass lineare Biografisierungen mit konzentrischen Lebensraumkonstitutionen einhergehen, episodische an eine Raumkonstitution als Netzwerk gebunden sind und Zykliker ihre Räume als Inseln konstituieren. Sollte sich perspektivisch der Verdacht erhärten, dass sich soziale Raumzeit nicht nur auf biografischer Ebene belegen lässt, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene Wirkung zeigt (also eine Parallelität von Sozio- und Psychogenese im Sinne von Norbert Elias angenommen werden kann), dann ergeben sich hieraus ganz neue Perspektiven. Zum Beispiel wird zu fragen sein, ob differierende Raumkonstitutionen in politischen Konflikten oder wirtschaftlichen Praktiken auch mit differierenden Geschichtskonzeptionen einhergehen, deren Berücksichtigung neue Handlungsoptionen eröffnen würde. Bevor diese Forschungslücke perspektivisch geschlossen werden kann (und damit die Ménage à trois angemessen theoretisch begleitet wird), will dieses Buch Grundlagen für eine raumtheoretisch fundierte Stadtsoziologie schaffen.

Diese Grundlagenarbeit verfolge ich seit der Publikation meines Buches »Raumsoziologie« im Jahr 2001. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich, abgesehen von dieser Einleitung, dem dritten Kapitel und dem Schlusswort als zehntes Kapitel um eine Edition mit Neuabdrucken bereits publizierter Aufsätze. Ich danke der Verlegerin Karin Werner, dass sie mir angeboten hat, eine solche Edition im Verlagsprogramm von transcript zu veröffentlichen. Ebenso danke ich Anke Poppen als Projektmanagerin für die reibungslose Realisierung des Publikationsprojektes und Demian Niehaus für die formale Vereinheitlichung sowie die Korrektur der neuen Texte. Zur besseren Lesbarkeit des Buches habe ich einige wenige Kürzungen und Aktualisierungen vorgenommen. Einige Titel habe ich geändert, um den Aufbau des Buches leichter nachvollziehbar zu machen.

Zum Aufbau des Buches: Im folgenden zweiten Kapitel wird die Frage verfolgt, wie stark mit Räumen (und nicht nur mit sozialen Handlungen) Wirkungen verbunden sind. Hierzu werden die Arbeiten von zwei Theoretikern, nämlich Henri Lefebvre und David Harvey, ausführlicher diskutiert, als das im Buch »Raumsoziologie« geschehen ist. Für die Stadtsoziologie ist diese Auseinandersetzung wichtig, um zu verstehen, wie Raumstrukturen städtischen Alltag, Stadt als Form und Stadt im Verhältnis zu anderen Einheiten prägen können.

Im anschließenden dritten Kapitel diskutiere ich, wie sich Räume seit den langen 1960er Jahren verändert haben, und lese diese räumlichen Veränderungen als Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Das Kapitel kann zugleich als Darlegung des aktuellen Forschungsstandes zum Thema Raum gelesen werden. Die stadtsoziologische Relevanz wird am Beispiel der Differenzierung von öffentlichen und privaten Räumen deutlich gemacht. Die Arbeit an diesem Kapitel wurde aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) innerhalb des Sonderforschungsbereichs SFB 1265 »Re-Figuration von Räumen« finanziert.

Im vierten Kapitel zeige ich, wie sich über die Differenzlogik von Raum neue Perspektiven für Stadtentwicklung denken lassen. Das fünfte Kapitel präsentiert methodische Überlegungen zur Analyse von Räumen. Diese betreffen vor allem das Verhältnis von Raumhandeln und Sprechen über Räume. Im sechsten Kapitel wende ich mich der Stadt zu. Am Beispiel der Sexarbeit – vor allem in Wien – analysiere ich ethnografisch die Räume und Orte der Prostitution. In dem Kapitel nähere ich mich durch Wien-Frankfurt-Vergleiche essayistisch auch der Thematik der Eigenlogik von Städten. Die Rolle von Geschlecht für Prozesse der Raumkonstitution wird in diesem Kapitel ebenfalls erkundet.

Im siebten Kapitel setze ich mich mit Gemeindestudien als stadtsoziologischem Forschungsweg auseinander. Gemeindestudien fragen nach dem lokal Spezifischen in einer scheinbar einheitlicher werdenden Welt, und zwar qualitativ nach den differenten Relevanzstrukturen und Interpretationsfolien. Das Kapitel vertieft die Stadt-Raum-Konstellation, die durch Georg Simmel eröffnet wurde (siehe oben), am Beispiel der u.a. von Robert Park entwickelten Gemeindestudien. Der Text wurde bereits 2001 verfasst. Heute wieder abgedruckt zeigt er einerseits erste Reflexionen über die Komplexität, mit der sich städtische Communities räumlich konstituieren (die ich heute stärker über Begriffe wie Translokalisierung und Polykontexturalität fassen würde, siehe Kapitel 3), andererseits lassen sich die Grundzüge erster Überlegungen erkennen, die später zur Eigenlogik der Städte ausgearbeitet wurden. Gemeindestudien werden hier zwar noch ausschließlich für Subkulturen bzw. Milieus und/oder Stadtteile bzw. städtische Gebiete gedacht, aber es wird bereits die Frage gestellt, wie das Gemeinsame einer städtischen Gruppe oder einer räumlichen Einheit über Wirklichkeitskonstruktionen unter Berücksichtigung der Raum-Ort-Konstellationen zu verstehen ist. Ähnlich wie in der Chicagoer Schule Städte zwar durchaus über einen gemeinsamen »state of mind« und »body of customs and traditions« (Park 1967, Orig. 1925, S. 1) definiert wurden, aber doch Milieustudien im Vordergrund standen, wage auch ich mich erst langsam an die Stadt als Ganzes heran.

Im achten Kapitel werden die Grundlagen einer raumtheoretischen Stadtsoziologie insofern weiter ausgeführt, als hier die Deutung des Sinns, den Menschen ihren Handlungen zuschreiben, in Bezug auf Städte und Räume diskutiert wird. Sinnverstehende Stadtsoziologie steht vor der Aufgabe der Deutung, wie sich im alltäglichen Leben mit anderen Menschen Stadt als Sozialwelt sinnhaft herstellt und reproduziert. Trotz der Existenz individueller und gruppenspezifischer Deutungen bleibt der Befund bedeutsam, dass eine Stadt (sagen wir, New York) Erzeugnis gegenwärtigen und vergangenen Handelns ist und als solches objektiviert wird, d.h. sie wird benannt, typisiert, institutionalisiert und habitualisiert. Im Akt der deutenden Setzung liegen, so wird im achten Kapitel argumentiert, zugleich rekonstruierbare Wissensbestände über die Städte im Allgemeinen wie im Konkreten. Im neunten Kapitel werden diese theoretischen Überlegungen am Beispiel einer Eigenlogikstudie zu Salvador de Bahia plausibilisiert. In diesem Kapitel wird auch besonders auf ethnische Dimensionen der Raumkonstitution eingegangen. Das Buch schließt mit dem zehnten Kapitel und einer zusammenfassenden Darstellung der Grundlagen einer raumtheoretischen Stadtsoziologie.

Folgende Ergänzung kann für die Lektüre des Buches hilfreich sein: Der Begriff »Raumkonstitution« wird mit Bezug auf Anthony Giddens verwendet, der für die Entwicklung dieses Raumbegriffs entscheidende Impulse gegeben hat. Giddens leitet constitution