Raus aus der Globalisierungsfalle - Nikolaus Kowall - E-Book

Raus aus der Globalisierungsfalle E-Book

Nikolaus Kowall

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Beschreibung

Turbo-Kapitalismus, Klimakrise, Ungleichheit: Wie schaffen wir die sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft? Ein Plädoyer für Demokratie und Markteingriff. Ungezügelte Märkte und Hyper-Globalisierung haben uns in die totale Abhängigkeit des Weltmarkts geführt. Aber wie wegkommen von Rohstoff-Raubbau, Soja, Fast Fashion und anderen billigen Import-Drogen? Und jetzt auch noch die Dekarbonisierung schaffen? Ist das der Todesstoß für unsere Industrie? Es ist eine echte Chance, meint Nikolaus Kowall. Denn die ökologische Transformation führt zu höherer regionaler Wertschöpfung. Importe von Rohstoffen und Energie werden durch Eigenproduktion und Recycling ersetzt, die Wegwerfgesellschaft durch die Kreislaufwirtschaft. Damit der grüne Umbau der Wirtschaft nicht durch ruinösen Wettbewerb verhindert wird, brauchen wir aber mehr Demokratielogik und weniger Marktlogik. Wachen wir auf, sonst passiert die Zukunft ohne uns.

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RAUS AUS DER

GLOBALISIERUNGSFALLE

Nikolaus Kowall

RAUS AUS DERGLOBALISIERUNGSFALLE

Wie wir die sozial-ökologische

Transformation schaffen

Kremayr & Scheriau

INHALT

VORWORT

KAPITEL 1 — DAS ZEITALTER WIRTSCHAFTSPOLITISCHER INTERVENTION

Ein globaler Interventionismus

Interventionismus in Westeuropa

Als die Staaten noch das Sagen hatten

Kreiskys Wirtschaftspolitik und ihr Ende

KAPITEL 2 — DAS ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG

Tektonische Plattenverschiebungen in der Weltwirtschaft

Die Globalisierung der Wirtschaft

Globalisierung der Peripherie

Wandel durch Handel

Der Zeitgeist der 2000er-Jahre

Die Globalisierung Österreichs in Zahlen

Österreichs Wirtschaft während der Globalisierung

Die Schokoladen- und die Schattenseiten der Globalisierung

KAPITEL 3 — DER STAAT ALS WIRTSCHAFTSSTANDORT

Ist Wettbewerb ein Problem?

Standortwettbewerb am Beispiel Österreich

Die Tabelle zeigt, wie stark die internationale Wirtschaftsverflechtung Österreichs seit dem EU-Beitritt 1995 zugenommen hat. Dadurch entstanden Sachzwänge, durch die politische Regulierungen, die sich bisher als nützlich erwiesen, plötzlich kontraproduktiv wirken können – oder zumindest lässt sich so eine Wirkung glaubwürdig behaupten. Demokratische Entschlüsse können somit ausgehebelt werden. Mehr internationale wirtschaftliche Verflechtung bedeutet demnach automatisch mehr Markt und weniger Staat und wirkt wie ein Regulierungshemmnis: Regierungen werden sich hüten, Standards zu setzen, die (tatsächlich oder vermeintlich) zu Wohlstandsverlusten führen könnten. Deshalb nimmt mit Zunahme der Außenhandelsverflechtung die Handlungsfähigkeit des demokratischen Nationalstaates ab. Der Marktliberalismus kann Europa nicht vereinen

Entwertung und Nationalismus

Marktkonforme Demokratie

Die Nation als Forstinger-Filiale

KAPITEL 4 — WETTBEWERB VERSUS INTERVENTION

Die Grenzen der Industriepolitik

Das Salz in der Suppe

Der Neoliberalismus ist keine Verschwörung

KAPITEL 5 — DIE RÜCKKEHR DER DEMOKRATIE IN DIE ÖKONOMIE

Sind grüne Finanzinvestitionen mehr als Greenwashing?

Umrüsten statt Outsourcen

Dreckige Importe sind billige Drogen

Die Regionalisierung der europäischen Wirtschaft

Die Handlungsmacht der EU

KAPITEL 6 — BAUSTEINE DER NACHHALTIGKEITSWENDE

Ökosoziale Handelsregulierung: Reporting, Lieferkettengesetz, CO2-Zoll

Energiewende

Kreislaufwirtschaft

Rohstoffsubstitution

Cleantech

Verkehrswende

Industriepolitik abseits der Nachhaltigkeit

Aufbruch in Richtung regionaler Wirtschaftskreisläufe

Warum die EU den Weltmarkt dennoch braucht

KAPITEL 7 — DIE SOZIAL-ÖKOLOGISCHE TRANSFORMATION ÖSTERREICHS

Ökologische Wirtschaftsdynamik

Eine neue Industriepolitik

Die Dekarbonisierung der Industrie

Kreislaufwirtschaft und Recycling

Chancen der Transformation nützen

Die Arbeits- und Konsumkultur neu denken

FAZIT

ANMERKUNGEN

QUELLEN

VORWORT

Rund um die Jahrtausendwende waren die Gefahren des Phänomens Globalisierung in aller Munde. „Schwarzbuch Globalisierung“, „Die Schatten der Globalisierung“ oder „Grenzen der Globalisierung“ lauteten die Buchtitel, die den damaligen Zeitgeist einfingen. Zu den bekanntesten Globalisierungskritiker:innen zählten Naomi Klein, Noam Chomsky oder Jean Ziegler, während Filmemacher Michael Moore den Spirit auf die Leinwand brachte. Aber auch Finanzinvestor George Soros, Tony Blairs Haus-und-Hof-Intellektueller Anthony Giddens und der deutsche Star-Soziologe Ulrich Beck meldeten sich mit Buchtiteln zum Thema. Die damaligen Spiegel-Redakteure Harald Schumann und Hans-Peter Martin landeten 1996 überhaupt einen weltweiten Bestseller. Das in etliche Sprachen übersetzte und Hunderttausende Mal verkaufte Buch trug den Titel „Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand“. Darin beschreiben sie Entwicklungen jener Globalisierung, die sich in den 1990er-Jahren vor ihren Augen Bahn brach. Sie garnieren ihre Beobachtungen sowohl mit scharfsinnigen Prognosen als auch mit einigen reißerischen Szenarien, die einer dystopischen Netflix-Serie entsprungen sein könnten. Wenig überraschend sind die Schauerprognosen in der öffentlichen Diskussion am stärksten aufgegriffen worden. Das verdeckt die eigentlichen Stärken des Buches, wie beispielsweise die weitsichtigen politischen Vorschläge.

Die beiden Autoren argumentieren 1996, dass die Globalisierung, insbesondere in ihrer neoliberalen Ausprägung, dazu neigt, den Einfluss von multinationalen Unternehmen und Finanzmärkten zu verstärken, während sie gleichzeitig die Souveränität der Nationalstaaten untergräbt. Sie betonen, wie internationale Handelsabkommen oft dazu führen, dass nationale Regierungen politische Entscheidungen an übergeordnete Institutionen delegieren, die wenig transparent sind. Supranationale Organisationen wie die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Welthandelsorganisation (WTO) treten an die Stelle demokratischer Entscheidungen. Richtig auf Touren bringt den neuen Turbo-Kapitalismus der globale Standortwettbewerb, der den Radius demokratischer Steuerung auf nationaler Ebene empfindlich limitiert.

Schumann und Martin sagten eine Zunahme der sozialen Ungleichheit im Zuge der Globalisierung voraus. Multinationale Unternehmen könnten beispielsweise Produktionsstandorte in Länder verlagern, in denen die Arbeitskosten niedriger sind, während gut bezahlte Arbeitsplätze in den Industrieländern abgebaut werden. Die Wohlstandsschere würde größer, die Mittelschicht kleiner und die soziale Marktwirtschaft zum Auslaufmodell. Diese Entwicklung verlief in Österreich letztlich schaumgebremster als in Deutschland und dort wiederum deutlich weniger markant als in Großbritannien und den USA. Dennoch sind diese Prognosen weitgehend eingetroffen.

Zu den ökonomischen Vorhersagen kamen Sorgen um die Demokratie, die wachsende Popularität populistischer Parteien und Bewegungen, die sich oft durch nationalistische Ideologien oder fremdenfeindliche Positionen auszeichnen. Martin und Schumann beschreiben in ihrem Buch, wie radikale Populisten die Ängste und Unzufriedenheit vieler Bürger:innen ausnutzen. Als Ursachen der Ängste vermuten sie wirtschaftliche Unsicherheit, soziale Ungleichheit, kulturelle Veränderungen und das Gefühl vieler Menschen, von den Eliten und vom politischen Establishment entfremdet zu sein. Sie zeigen auf, dass extremistische Hetzer oft einfache Lösungen für komplexe Probleme anbieten und Sündenböcke für gesellschaftliche Probleme suchen. Die Globalisierung und ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft, so die beiden Autoren, seien ein Nährboden für den Aufstieg populistischer Bewegungen.

Konsequenterweise sehen Martin und Schumann die Europäische Union (EU) als eine Akteurin, die in der Lage sein könnte, den negativen Auswirkungen der Globalisierung entgegenzuwirken. Die EU als größter Binnenmarkt der Welt habe eine starke Verhandlungsposition gegenüber anderen globalen Akteur:innen, einschließlich multinationaler Konzerne. Darüber hinaus betonen sie die Bedeutung einer gemeinsamen europäischen Politik zur Bewältigung der sozialen Ungleichheit, der Untergrabung demokratischer Prozesse durch die Globalisierung sowie der Umweltzerstörung. Sie fordern eine ökologische Steuerreform, die umweltschädliche Aktivitäten verteuert und nachhaltiges Verhalten belohnt. Dies könne nicht nur dazu beitragen, Umweltschäden zu verringern, sondern auch Innovationen in umweltfreundlichen Technologien fördern. Sie fordern auch eine Vereinheitlichung der Besteuerung von Unternehmen und Superreichen innerhalb der EU sowie sozial-ökologische Mindeststandards im Welthandel. Wortwörtlich heißt es: „Nur ein geeintes Europa kann im entfesselten Global-Kapitalismus neue Regeln des sozialen Ausgleichs und der ökologischen Umgestaltung durchsetzen.“

Genau 20 Jahre nach Erscheinen der „Globalisierungsfalle“ wurde Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt. Drei Jahre später, 2019, begann die EU-Kommission eine politische Agenda zu verfolgen, die wesentliche von Schumann und Martin geforderte Aspekte berücksichtigt. Noch einmal drei Jahre später versetzte Wladimir Putin der durch Corona-Pandemie und Lieferkettenprobleme morsch gewordenen Weltordnung des Freihandels den nächsten schweren Schlag.

„Mögest du in interessanten Zeiten leben“, lautet ein chinesischer Fluch. Tatsächlich wissen wir nicht, ob das Zeitalter der Turbo-Globalisierung zu Ende geht oder nur in eine neue Phase eintritt. Noch ist nicht klar, ob die ökologische Transformation als Chance begriffen oder als Bedrohung verworfen wird – mit allen Folgen für Klimaerhitzung und globale Ressourcenkämpfe. Unklar ist auch, ob wir die nächsten Jahrzehnte in einer liberalen Demokratie zubringen oder in einer illiberalen.

Wir wissen jedoch, dass es die Chance gibt, die Turbo-Globalisierung hinter uns zu lassen und durch aktive demokratische Steuerung die sozial-ökologische Transformation zum zentralen gesellschaftlichen Projekt einer ganzen Generation zu machen. Die geopolitischen Spannungen zwischen dem Westen sowie China und Russland sind paradoxerweise förderlich für diese Transformation. Denn was wir politisch als fundamentale Unsicherheit erleben, bedeutet Rückenwind für die Regionalisierung und Ökologisierung von Wirtschaftskreisläufen. Mit diesen jüngeren geopolitischen Entwicklungen konnten Schumann und Martin nicht rechnen. Sie hielten – völlig zu Recht – eine Herrschaft des Weltmarkts über die Demokratie für das Hauptproblem ihrer Zeit. Ebenso wenig konnten sie mit den Fridays for Future und dem enorm gestiegenen Interesse am Thema Nachhaltigkeit rechnen. Dieser Trend hat nicht nur das gesamte technokratische Brüssel erfasst, sondern auch Konzernzentralen und Finanzmärkte. Für die Politik auf nationalstaatlicher Ebene besteht nun die konkrete Chance, durch die grüne Umrüstung der Wirtschaft eine neue wirtschaftliche Lebensader zu erschließen. Die nachhaltige Transformation kann und soll zum Kraftzentrum unserer Volkswirtschaft werden. Und hier sind wir beim wichtigsten Unterschied zur „Globalisierungsfalle“ von 1996: In diesem Buch geht es nicht um Sorgen, sondern um Chancen. Um Chancen für einen Weg raus aus der Globalisierungsfalle.

KAPITEL 1DAS ZEITALTER WIRTSCHAFTSPOLITISCHER INTERVENTION

Um zu verstehen, wo wir stehen, müssen wir klären, was passiert ist. Das macht die Anziehungskraft der Geschichtswissenschaft aus. Deshalb hier ein Rückblick auf die letzte bemerkenswerte politische Figur, die das Haus Habsburg hervorgebracht hat, nämlich Erzherzog Johann.

Seine Leistungen bei der Modernisierung der Steiermark in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts können fast nicht überschätzt werden. Neben zahlreichen Initiativen zur Förderung der Landwirtschaft, der Bildung, des Versicherungswesens und der Kultur ist hier vor allem die Gründung der Montan-Universität Leoben von Bedeutung. Diese hat Erzherzog Johann nicht in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien errichten lassen, ja nicht einmal in der steirischen Landeshauptstadt Graz. Nein, er platzierte die Montanuniversität 1840 direkt an den Ort des Geschehens, im Rücken des Erzbergs, auf dem seit dem 12. Jahrhundert Eisenerz abgebaut wird. Weil der schöne Ort Vordernberg aber dennoch etwas weit vom Schuss ist, wurde die Universität kurze Zeit später 30 km südlich nach Leoben verlegt.

Nun ist für technische Lai:innen (Volkswirt:innen eingeschlossen) wichtig zu wissen, dass das Montanwesen nicht nur den Bergbau umfasst, sondern auch die sogenannte Verhüttung. Sprich, das erzhaltige Gestein muss nicht nur in einem riesigen Steinbruch – in diesem Fall dem Erzberg – abgebaut werden, sondern auch aus dem Gestein herausgelöst werden. Dieser Prozess findet im Hochofen statt, wo die Hitze so groß ist, dass das Eisen schmilzt, das Gestein aber noch nicht. Das alles geschieht in der Eisenhütte. In der Montanuniversität Leoben ging es also von Beginn an nicht nur um Bergbau, wie der Name nahelegen könnte, sondern auch um Verhüttung. Und damit hat Erzherzog Johann in Leoben praktisch die erste Denkfabrik der österreichischen Industrialisierung installiert.

Zwischen Vordernberg, am Fuße des Erzbergs, und Leoben befindet sich Donawitz. Hier gab es bereits seit dem 15. Jahrhundert Hammerwerke. Die erste Eisenhütte entstand aber im Zeitraum der Gründung der Montanuniversität und die Eisenverarbeitung erlebte einen enormen Aufschwung. Die Hütte Donawitz wurde zum Herzstück der 1881 gegründeten Oesterreichisch-Alpine Montangesellschaft, einer Vorläuferin der heutigen voestalpine.

Das Eisenerz wurde schon seit Jahrhunderten nicht nur nach Süden gebracht, sondern auch nach Norden. Vom Ort Eisenerz aus ist der Weg nach Norden frei. Über Täler gelangt man bis Steyr und somit auch bis Linz. Und in Linz erfolgte 1938, nur wenige Wochen nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, der Spatenstich für die Errichtung eines gewaltigen Stahlwerks, von den Nazis als „Hermann-Göring-Werke“ bezeichnet. Bau und Betrieb der späteren staatlichen VÖEST erfolgten – nicht zuletzt wegen der Mobilisierung der männlichen Bevölkerung für die Wehrmacht – zu einem enormen Anteil durch Zwangsarbeiter:innen.

Von den Nazis wurde in Linz eine industrielle Kapazität geschaffen, die in großdeutschen und imperialistischen Maßstäben dachte – zu viel für das kleine Nachkriegsösterreich. Das sorgte nach Kriegsende für viel Kopfzerbrechen und machte von Beginn an eine Exportorientierung der Branche notwendig. Überdies ist die Verhüttung nur der erste Schritt im industriellen Prozess, danach erfolgt die gesamte Veredelung zu verschiedenen metallurgischen Produkten. Ein entscheidender Punkt war die Entwicklung des Linz-Donawitz-Verfahrens (LD-Verfahren), einer technischen Innovation in der Stahlerzeugung, die bis heute in der globalen Stahlbranche dominiert. Das bahnbrechende Verfahren wurde 1949 von Ingenieuren aus Linz und Donawitz erdacht, was ein Indiz für die Thesen der Ökonomin Mariana Mazzucato ist, dass viele Innovationen Wurzeln im staatsnahen Bereich haben. Die beiden ersten LD-Stahlwerke in Linz und Donawitz wurden aus Mitteln des Marshallplans – und damit aus USamerikanischen Geldern – finanziert. Bis heute verfügt Österreich mit seiner Eisen- und Stahlindustrie (aber auch mit der Zementerzeugung) über einen im internationalen Vergleich hohen Anteil an Primärproduktion.1

Das Gedeihen der Metallindustrie hatte Effekte, die weit über die Metallverarbeitung hinausreichten. Ein Beispiel: Ein Hochofen muss mit einem Material ausgepolstert sein, das bei Temperaturen, bei denen Eisen schmilzt, noch hält. Dafür verwendet man Magnesit. Das beförderte nicht nur den Magnesitabbau in Österreich, sondern führte auch dazu, dass sich ein österreichisches Unternehmen auf die Verarbeitung dieses Rohstoffs spezialisiert hat, die RHI Magnesita. Diese Firma mit heute 12.000 Beschäftigten ist der Weltmarktführer im Bereich der Feuerfestprodukte für industrielle Hochtemperaturprozesse. Die RHI Magnesita ist ein Indiz dafür, dass die Dynamik der österreichischen Metallindustrie auf andere Sektoren überschwappt.

Die Eisenverarbeitung spielte sich historisch in einer Region rund um den Erzberg ab – die bis heute als Eisenwurzen bezeichnet wird –, weitete sich aber mit der Industrialisierung bis Linz, Graz und ins Wiener Becken aus. Noch heute ist der Anteil der Beschäftigten in der Metallindustrie an den Gesamtbeschäftigten in diesem Raum überdurchschnittlich hoch. Die Industrie ist nicht nur das historische Rückgrat der österreichischen Volkswirtschaft, ihr direkter Beitrag zur Wirtschaftsleistung des Landes (im ökonomischen Sprech „Wertschöpfung“) ist immer noch vier Mal so hoch wie jener des Tourismus. Das mag alle überraschen, die der Meinung waren, ganz Österreich habe die Corona-Lockdowns im Home Office verbracht. Nein, irgendwer hat dafür gesorgt, dass die Güterproduktion aufrechterhalten wurde. Industriebeschäftigte, Angestellte im industrienahen Dienstleistungssektor, Logistikmitarbeiter:innen und viele andere Berufsgruppen haben ihre Jobs jeden Tag ganz normal weitergemacht. Symbolische Anerkennung gab es aber nur für die Mitarbeiter:innen im Gesundheitssektor und im Lebensmittelhandel, weil das die einzigen sind, mit denen der politmediale Komplex im Alltag zu tun hat. Kaufen konnten sie sich darum auch nichts.

Abbildung 1: Beschäftigte in der österreichischen Metallindustrie nach Bezirken (je dunkler eingefärbt, desto mehr Beschäftigte) 2021 [Quelle: WKÖ]

Jetzt, wo sich die historische Bedeutung der österreichischen Industrie zumindest erahnen lässt, können auch die weitreichenden politischen Konsequenzen der damaligen Wirtschaftspolitik besser eingeordnet werden. Im Jahr 1946 wurde die österreichische Großindustrie verstaatlicht. Nach der Eingliederung der bis dahin unter sowjetischer Verwaltung stehenden Betriebe (u. a. ÖMV, Waagner-Biro) waren 1955 insgesamt 123.000 Personen in der Verstaatlichten Industrie beschäftigt. Ihr Anteil an den Gesamtbeschäftigten der Industrie lag zwischen 1951 und 1980 stets bei rund 20 Prozent, der Anteil an der industriellen Wertschöpfung sogar etwas höher. Neben der VÖEST und der ÖMV gehörten auch zahlreiche andere, heute noch existierende Unternehmen zur Verstaatlichten, wie AT&S, die Salinen Austria oder die AMAG. Die OMV-Tochter Borealis ging zu erheblichen Teilen aus der ehemaligen Chemie Linz AG hervor, die Bahnsparte von Siemens aus der ehemaligen Simmering-Graz-Pauker AG, beides Staatsbetriebe.

Über staatliche Banken wie die Creditanstalt oder die Länderbank hatte der Staat obendrein Kontrolle über etliche weitere Industrieunternehmen, die quasi indirekt in öffentlichem Eigentum standen. Das bekannteste Beispiel ist Steyr-Daimler-Puch – 1975 der drittgrößte Industriekonzern Österreichs. Das Unternehmen war kein Autozulieferer, sondern stellte selbst Fahrzeuge her. Hinzu kamen noch etliche andere Unternehmen wie beispielsweise die Maschinenbauer Andritz und Waagner-Biro, die Baukonzerne Wienerberger und STUAG, die Lenzinger Zellulose- und Papierfabrik AG sowie der Reifenhersteller Semperit. Unabhängig von der Industrie standen außerdem noch einige Dienstleistungsbetriebe wie die Austrian Airlines, die Austria Tabak (inkl. Produktion), die (heutige) Telekom Austria sowie mehrere öffentlich kontrollierte Banken und Versicherungen im Eigentum des Staates. Bemerkenswert ist auch, dass der größte Handelskonzern Österreichs, die 1995 insolvent gegangene Supermarktkette Konsum, im Eigentum des Österreichischen Gewerkschaftsbundes stand. Genauso wie die Bank für Arbeit und Wirtschaft (BAWAG), die viertgrößte Bank des Landes, die 2006 insolvent wurde. Die BAWAG besaß ihrerseits einige Industriebetriebe, wie die Papierfabrik Steyrermühl. Insgesamt kontrollierten öffentliche und andere nicht-private Akteure Hunderttausende Arbeitsplätze in Österreich.

Zu den offiziellen Leitlinien der Verstaatlichten Industrie gehörten Versorgungssicherheit, Arbeitsplatzsicherheit, Vollbeschäftigung und Berücksichtigung des Allgemeininteresses. Im Sinne einer Gemeinwohlorientierung waren neben betriebswirtschaftlichen Erwägungen also auch noch andere Aspekte wichtig (nichtsdestotrotz arbeitete die Verstaatlichte über Jahrzehnte grosso modo wirtschaftlich). Somit hatte die Demokratie über die Verstaatlichte Industrie unmittelbaren Einfluss auf das Wirtschaftsleben. Durch dieses Buch zieht sich die Frage, wer Einfluss darauf nimmt, wohin sich die gesamtwirtschaftliche Produktion einer Volkswirtschaft entwickelt: Was wird in welchen Mengen und auf welche Art produziert? Soll diese Frage vorwiegend dem Markt überlassen werden, oder sollen sich andere in die Entscheidung einmischen? Diese anderen werden in diesem Buch schlicht als „die Demokratie“ bezeichnet. Oftmals sind damit Weichenstellungen demokratischer Institutionen wie Parlament und Regierung gemeint. Demokratie kann sich aber auch in Form innerbetrieblicher Mitbestimmung bemerkbar machen, kann sich auf Ebene der Sozialpartnerschaft abspielen oder Behördenhandeln einschließen, wie beispielsweise der Finanzmarktaufsicht, der Wettbewerbsbehörde oder der Zentralbank. Es geht also um jene Einflussfaktoren auf das Wirtschaftsleben, die einer Demokratielogik und nicht einer Marktlogik entspringen (hingegen stehen Fragen wie die Ausweitung demokratischer Verfahren auf Betriebsebene, oder ob private Unternehmen genossenschaftlich oder staatlich geleitet werden sollen, nicht im Fokus dieses Buches). Die genannten Leitlinien der Verstaatlichten Industrie im Nachkriegsösterreich entspringen jedenfalls nicht primär einer Marktlogik und sind ein Indiz für den unmittelbaren Einfluss der Demokratie.

In einer Welt ohne EU-Binnenmarkt, ohne globales Regelwerk der Welthandelsorganisation (WTO) und ohne intensive Globalisierung hatte der Staat aber auch mittelbar, über die Wirtschaftspolitik, wesentlich mehr Einfluss als heute. So waren etwa viel mehr direkte und indirekte protektionistische Maßnahmen erlaubt. Das sind Instrumente, um die außenwirtschaftlichen Beziehungen zu steuern, etwa Zölle, Einfuhrverbote, Importquoten oder Kapitalverkehrskontrollen. Beispielsweise wollte die deutsche Bundesmonopolverwaltung für Branntwein in den 1970er-Jahren die Einfuhr eines französischen Likörs unterbinden, weil dessen Alkoholgehalt nicht den deutschen Bestimmungen entsprach (der Fall Cassis-de-Dijon). Österreich hatte vor dem EU-Beitritt 1995 wiederum einen Deal für Zollbegünstigungen mit Japan, wodurch das Unternehmen Semperit über Jahre große Mengen an Autoreifen in das Land der aufgehenden Sonne exportieren konnte. Beide nationalen Regelungen – das Importverbot und die Zollregelung – wurden irgendwann von der EU gekippt. Ohne die Sinnhaftigkeit dieser nationalen Eingriffe an dieser Stelle zu bewerten, lässt sich sagen: In den Nachkriegsjahrzehnten mischte sich der Nationalstaat ein, welche Waren und welches Kapital ins Land kommen durften und welche das Land verlassen durften. Das trug dazu bei, dass die Wirtschaftsverflechtung mit anderen Staaten nicht so hoch war wie heute.

Die österreichische Volkswirtschaft hat eine doppelte nationalstaatliche Orientierung: einmal aufgrund des unmittelbaren staatlichen Einflusses und einmal aufgrund der damals relativ geringen außenwirtschaftlichen Verflechtung der Volkswirtschaften. Tatsächlich begründete Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP) im Jahr 1960 den 1946 gefassten Entschluss zur Verstaatlichung erheblicher Teile der österreichischen Industrie unter anderem damit, „einen zu großen Einfluss ausländischer Kräfte auf die österreichische Volkswirtschaft auszuschließen“. Anfang der 1980er-Jahre mobilisierte die Sozialistische Jugend gegen die Errichtung eines General-Motors-Werks in Wien Aspern. Die Begründung: Ausländisches Kapital sollte nicht zu viel Einfluss auf Österreich haben. Diese Ereignisse, die am Anfang und am Ende der Nachkriegsjahrzehnte stehen, verdeutlichen den Fokus der Wirtschaftspolitik auf den Nationalstaat während dieser Epoche. Und dieser Fokus ging einher mit einer hohen Bereitschaft zu staatlichen Eingriffen in das Wirtschaftsleben. Diese Eingriffe nennen wir im Wirtschaftssprech Intervention.

Ein globaler Interventionismus

Die USA gingen 1945 nach dem gewonnenen Zweiten Weltkrieg als großer politischer und moralischer Sieger vom Platz. Das Land wurde, so die Einschätzung des brasilianischen Ökonomen Luiz Carlos Bresser-Pereira, zu einer Art Leuchtturm, der die Welt erhellte, ein Beispiel für hohen Lebensstandard, technologische Modernität und Demokratie. Die ökonomische Modernität basierte auf zwei Säulen: auf der fließbandbasierten Massenproduktion, die in der Fachliteratur als „Fordismus“ bezeichnet wird, und auf der staatlichen Konjunktursteuerung, die als „Keynesianismus“ bekannt ist. Der Fordismus bezieht sich auf den US-amerikanischen Industriellen Henry Ford und seine Fließbandproduktion von Autos ab den 1910er-Jahren. Ford war aber auch der Auffassung, dass seine Arbeiter:innen seine Kund:innen werden sollten, und verdoppelte 1914 mit einem Schlag die Löhne. Dieser Schritt war historisch einzigartig. Dennoch wurde ein kontinuierlicher Anstieg der Löhne, für gewöhnlich entlang der Steigerung der Produktivität, Mitte des 20. Jahrhunderts zur Norm in westlichen Industriestaaten. Die Lohnerhöhungen wurden oftmals von Gewerkschaften erwirkt, die damit die Preisbildung auf dem Arbeitsmarkt erheblich beeinflussten. Die industrielle Massenproduktion, gekoppelt mit dem Massenkonsum, wurde zur Grundlage für eine völlig neue Gesellschaftsordnung.

Der Keynesianismus wiederum bezieht sich auf den britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Seiner Auffassung nach war die Marktwirtschaft in regelmäßigen Abständen nicht in der Lage, selbstständig aus einer Wirtschaftskrise herauszufinden. Dies habe Arbeitslosigkeit und soziales Elend zur Folge. Im Falle eines solchen Marktversagens solle der Staat die Konjunktur steuern. In einem Abschwung ist es demnach die Aufgabe der Regierung, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Vereinfacht gesagt war die Idee folgende: Wenn die fordistische Koppelung aus Massenproduktion und Massenkonsum ins Stocken kam, dann sollte der Staat einspringen und die Maschine wieder in Gang setzen. Typischerweise umfasst ein Konjunkturprogramm entweder staatliche Investitionen – den Ausbau einer Bahnstrecke z. B. – oder eine Steuersenkung, damit sich die Menschen wieder mehr Konsum leisten können – etwa mehr Besuche im Restaurant. Die Intervention der Gewerkschaften findet am Arbeitsmarkt statt, der Staat hingegen interveniert am Gütermarkt (dieser umfasst alle Branchen, von der Bauwirtschaft bis zur Gastronomie).

Während der Begriff Fordismus also eine Produktions- und Konsumweise beschreibt, bezieht sich das Wort keynesianisch auf die wirtschaftspolitische Steuerung. Die Kombination von beiden wird wiederum als „fordistisches Akkumulationsregime“ bezeichnet (Akkumulation lässt sich stark vereinfacht mit Wachstum übersetzen). Dieser Begriff bezeichnet jenen Produktionsmodus, der die Wirtschaft antreibt. Das fordistische Akkumulationsregime bestand in einer Koppelung aus industrieller Massenproduktion mit einer Lohnentwicklung entlang der steigenden Produktivität sowie einer keynesianischen Konjunktursteuerung. Das ist eine supertechnische Beschreibung für eine schleichende soziale Umwälzung. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch schreibt in seinem Buch „Postdemokratie“ über diese Zeit: „Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus ging man davon aus, dass die Ökonomie nur gedeihen könne, wenn es auch der Masse der abhängig Beschäftigten einigermaßen gut ginge.“

Die neue Wirtschaftspolitik der USA und anderer westlicher Industriestaaten läutete nach 1945 ein globales Zeitalter wirtschaftspolitischer Intervention ein. Am krassesten war die Intervention in der kommunistischen Hemisphäre, wo der Markt überhaupt ausgeschaltet und durch Planwirtschaften ersetzt wurde. Der Ökonom Rainer Land beschreibt die stalinistische Industrialisierung als planmäßige Übernahme der fordistischen Produktionsstruktur. Tatsächlich waren in den 1930er-Jahren US-amerikanische Ingenieure direkt an der Implementierung dieses Wirtschaftsmodells in der Sowjetunion beteiligt. Zur kommunistischen Zone gehörte neben dem Ostblock, der von der innerdeutschen Grenze bis an den Pazifik reichte, nach der Revolution von 1949 auch China. Oftmals übersehen werden die ebenfalls sehr interventionsfreudigen blockfreien Staaten. Dieser Staatenbund wurde vom sozialistischen Jugoslawien initiiert, darunter waren viele Länder, die zwar keine kommunistischen Diktaturen mit Planwirtschaft etablierten, aber ein erhebliches Ausmaß an staatlicher Intervention in die Wirtschaft aufwiesen. Viele dieser Staaten betrieben beispielsweise eine Politik der Importsubstitution – d. h. sie versuchten, sich durch den gezielten Aufbau nationaler Industrien von Importen aus hochindustrialisierten Ländern unabhängig zu machen. Zu den Blockfreien gehörten einige arabische Staaten, oder Indien, das unter Langzeitpremier Jawaharlal Nehru eine sozialistische Ausrichtung der Wirtschaftspolitik vornahm. Das Ausmaß der Intervention war in den kapitalistischen Staaten des Westens geringer, der Zeitgeist machte sich aber überall bemerkbar.

Interventionismus in Westeuropa

„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.“ Dieses Zitat aus 1947 entstammt dem Ahlener Programm der christdemokratischen CDU in der britischen Besatzungszone und gibt einen Einblick in den gesellschaftlichen Konsens der späten 1940er-Jahre in Deutschland. In dem Programm ist die Rede von „gemeinwirtschaftlicher Ordnung“ sowie einer „Wirtschafts- und Sozialverfassung“, die „dem Recht und der Würde des Menschen entspricht“. Diese Ausrichtung der CDU erkennt man etwa an der Einführung eines öffentlichen und solidarischen Umlagesystems für die Rente 1957. Überdies war die Aufschwungphase der 1950er- und 1960er-Jahre geprägt von Reallohnzuwächsen und Arbeitszeitverkürzungen. Der damals starke arbeitnehmerorientierte Flügel der CDU setzte sich in den ersten 20 Nachkriegsjahren, in denen die CDU ohne SPD regieren konnte, nicht immer so deutlich durch. Vor allem nicht in der Wirtschaftspolitik.

Im Jahr 1966 bekamen die Wirtschaftswunderjahre in Westdeutschland einen – aus heutiger Sicht kleinen – Dämpfer. Die Arbeitslosenquote stieg leicht von unter ein auf etwas über zwei Prozent an. Die aktuelle Arbeitslosenquote, die in Deutschland zwischen fünf und sechs Prozent liegt, wird heute als gering wahrgenommen. Aus damaliger Sicht war ein Anstieg auf über zwei Prozent jedoch alarmierend, retrospektiv übertriebene Krisenangst machte sich breit. Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) setzte auf die Selbstheilungskräfte des Marktes und lehnte staatliche Eingriffe in den Wirtschaftsprozess ab. Daraufhin zerbrach die Regierungskoalition aus CDU und FDP, Erhard musste als Bundeskanzler zurücktreten. Stattdessen trat die SPD in die Regierung ein und eine große Koalition wurde gebildet.

„Bei dieser Ausgangslage ist daher eine expansive und stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik das Gebot der Stunde“, verkündete der neue Bundeskanzler der großen Koalition Kurt Georg Kiesinger (CDU) in seiner Regierungserklärung im Dezember 1966. Expansiv steht für keynesianisch und zeigt den Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik. Diese orientierte sich an der Globalsteuerung, die der neue Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) propagierte: Die freie Marktwirtschaft bleibt erhalten, aber die Politik gibt volkswirtschaftliche Ziele vor – etwa eine hohe Beschäftigung oder eine stabile Bilanz im Außenhandel – und der Staat steuert dazu die Konjunktur. Auch der Abschwung sollte durch Konjunkturprogramme überwunden werden (Bahnausbau, Straßenbau etc.). Tatsächlich konnte die Rezession 1966/67 rasch überwunden werden. In Deutschland wurde die moderate Staatsintervention in der Wirtschaftspolitik über eine halbe Generation hinweg zum Leitprinzip.

Aus heutiger Perspektive reibt man sich die Augen: Wegen eines Anstiegs der Arbeitslosigkeit auf wirklich niedrigem Niveau kam es in Deutschland zu einem Sturz des Bundeskanzlers, zu einem Wechsel der Regierung sowie zu einem Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik? Daran sieht man, wie sehr die desaströsen politischen Folgen der Massenarbeitslosigkeit der 1930er-Jahre bis hin zur Machtergreifung der Nazis der Gesellschaft noch in den Knochen steckten. Eine gesamte Politikergeneration wurde von dieser Beschäftigungskrise geprägt. Beispielsweise Helmut Schmidt (SPD), der von 1974 bis 1982 deutscher Bundeskanzler war und wegen seiner ökonomischen Versiertheit halb spöttisch, halb ernsthaft als „Weltökonom“ bezeichnet wurde. „Kein anderer Begriff tauchte in den Interviews, die wir vom Spiegel mit Schmidt während seiner Kanzlerschaft führten, so häufig auf wie der einer Weltwirtschaftskrise“, schrieb Wolfgang Kaden in einem Nachruf auf Helmut Schmidt im November 2015 im Spiegel. Ergebnis dieser tiefen Prägung ist Schmidts wirtschaftspolitisches Credo, das er im Wahlkampf 1972 auf eine simple Formel brachte: „Fünf Prozent Preisanstieg sind leichter zu ertragen als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.“ Diese Aussage zeigt, dass das Ziel einer hohen Beschäftigung für Politiker:innen wie Schmidt eine höhere Bedeutung hatte als andere ökonomische Ziele, etwa eine geringe Inflation. Das österreichische Pendant zu dieser Aussage bezieht sich auf das Verhältnis von Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung. Es ist ein berühmter Ausspruch von Bruno Kreisky aus seiner Zeit als Bundeskanzler in den 1970ern: „Und wenn mich einer fragt, wie denn das mit den Schulden ist, dann sage ich ihm das, was ich immer wieder sage: dass mir ein paar Milliarden Schulden weniger schlaflose Nächte bereiten, als mir ein paar hunderttausend Arbeitslose mehr bereiten würden.“

Diese Aussagen fangen den Zeitgeist und die Prioritätensetzung der Nachkriegszeit ein. Die Sichtweise der Sozialdemokraten Schmidt und Kreisky war auch Konsens in vielen konservativen Parteien. Etwa in der Democrazia Cristiana Italiens, in der sich ab den 1960er-Jahren die Reformer um Aldo Moro durchsetzten, die dafür eintraten, dem Markt durch staatliche Intervention den Weg zu weisen. In Frankreich wird der Begriff „planification“ mit den Konservativen rund um Präsident Charles de Gaulle assoziiert. Dabei geht es um staatliche Maßnahmen zur Zähmung des Marktes mit dem Versuch, Investitionen in vorrangige Wachstumssektoren zu lenken und Unsicherheit zu reduzieren. Und wie eingangs beschrieben, standen auch breite Teile der deutschen Christdemokratie der Staatsintervention offen gegenüber, vor allem im Bereich der Sozialpolitik.